AX-4 von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 3: ----------- 03 „Na schön ... Hast du einen Namen, Hübsche?“, fragte Schuldig nach und warf seine Jacke einfach über eine Stuhllehne. „AX-4“, gab sie in einem 'das-weißt-du-doch'-Tonfall zurück. Interessiert lief sie in Schuldigs kleinem Haus herum und sah sich alles an. Die Küche schien selten benutzt zu werden, auch wenn schmutziges Geschirr in der Spüle stand. Das schien schon länger dort zu stehen. Das Wohnzimmer wirkte dagegen sehr freundlich und wohnlich. Ein helles Sofa, hellbraune Möbel, luftige Vorhänge, ein paar immergrüne Pflanzen auf den Fensterstöcken. Der Fernseher war hypermodern, folglich verbrachte Schuldig wohl sehr viel seiner Zeit mit diesem Ding. „Ja, schon klar, das war die Bezeichnung deines Forschungsprojektes. Aber hast du keinen Namen ... was weiß ich ... mit dem du im Alltag angesprochen wurdest?“ Sie schüttelte den Kopf. Sie war einfach immer AX-4 gewesen. Auch die Mitarbeiter im Labor hatten sie stets so genannt. Und so lange gab es in ihrem Leben noch gar keinen Alltag. Bis vor wenigen Wochen hatte sie noch nichtmal ein Bewusstsein gehabt, geschweige denn die Möglichkeit, frei durch die Gegend zu laufen. Schuldig zog eine unzufriedene Flunsch. „Ich will dich aber nicht mit 'AX-4' anreden. Das ist mir zu synthetisch. Dann muss ich dir wohl selber einen Namen geben.“ Er schnappte sie am Handgelenk und zog sie neben sich auf das Sofa, damit sie aufhörte, hier herum zu laufen. Das machte ihn wuschig. „Mh ... Ah, ich weiß! Ich werde dich Ayax nennen. Klingt doch besser als AX, findest du nicht?“ „Wie du möchtest“, stimmte sie lächelnd zu und wandte ihre Aufmerksamkeit von der Wohnung ab und endlich ihm zu. „Du bist für eine Frau echt süß“, bemerkte Schuldig und legte ihr lose einen Arm um die Schultern. „Ich bin eine Waffe.“ „Du siehst aber aus wie eine Frau.“ „Ist das gut oder schlecht?“, wollte sie wissen. „Gut! Sehr gut!“, meinte Schuldig hingerissen. „Ein Glück. Ich dachte schon, du hättest ein Problem damit, dich von einem Mädchen beschützen zu lassen.“ Er zog sie herum und schloss sie ganz in die Arme, um sie fest an sich zu knuddeln. Ihr Körper war auf die typisch organische Art weich und warm. Undenkbar, daß das kein Mensch sein sollte. Labor hin oder her, Puppengesicht oder nicht, sie MUSSTE ein Mensch sein! Vielleicht genmanipuliert, oder was auch immer die Wissenschaftler Krankes mit ihr angestellt hatten, aber trotzdem ein Mensch, „Bist du eigentlich ... anatomisch korrekt gebaut? ... Auch so untenrum?“, schnurrte Schuldig verführerisch und streichelte über ihre Hüfte und ihren Oberschenkel, um zu verdeutlichen, welches 'untenrum' er meinte. „Ich weiß nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, Vergleiche mit anderen Weibchen anzustellen.“ „Hmmm~ Soll ich mal nachsehen?“, bot der Gedankenleser neckisch an und rutschte mit seiner Hand deutlich weiter Richtung Zentrum. Dabei drückte er sie rücklings auf die Sitzfläche seines Sofas, was sie auch willig zuließ, und kletterte auf sie. Mit seinem adretten Erscheinungsbild litt er zwar wahrlich keinen Mädchenmangel, aber wenn sie schon so toll mitspielte, warum nicht? AX-4 lächelte den rothaarigen Telepathen abermals ermunternd an und fuhr mit den Händen links und rechts über seine Rippen. „Das wäre schön.“ Auch davon, worauf er gerade hinauswollte, hatte sie eine sehr genaue Vorstellung, und wusste bestens Bescheid wie es funktionierte. Übrigens ohne es vorher jemals getestet zu haben.     Mit einem unterdrückten Gähnen spazierte Crawford den Hausflur hinunter und kramte in der Jacke schon nach seinem Wohnungsschlüssel. Es war verdammt spät geworden. Er freute sich darauf, für heute Feierabend zu machen und einfach nur aufs Sofa zu fallen. Oder gleich ins Bett, mal sehen. Ein paar Schritte vor seiner Wohnungstür blieb er stehen. Irgendwas machte ihn hellhörig. Mit der Tür war zwar alles in Ordnung. Sie war geschlossen und unbeschädigt. Aber trotzdem stimmte etwas nicht. Als Hellseher wusste Crawford natürlich schnell, was es war: Da drin befand sich jemand und erwartete ihn. Eine Person. Männlich. Und interessanterweise nicht mit schlechten Absichten. Trotzdem angelte Crawford nach seiner Pistole, prüfte nochmal schnell den Füllstand des Magazins, und behielt sie dann direkt in der Hand. Er entriegelte das Schloss und stieß die Tür mit einem kräftigen Ruck auf. Ein Luftzug wehte ihm entgegen und ließ die Vorhänge sich dramatisch in dem bisschen Licht aufbauschen, das vom Flur hereinfiel. Und im Rahmen des sperrangelweit offenstehenden Fensters saß eine unkenntliche Silhouette. Das Fenster diente ganz offensichtlich als Fluchtweg, falls hier irgendwas schiefging. „Lass das Licht aus!“, verlangte die dunkle Gestalt bestimmend. Crawford sackte erleichtert etwas in sich zusammen und ließ auch die vorgehaltene Pistole wieder sinken. „Bombay ...“, stöhnte er. Wenigstens war der Eindringling jemand, den er kannte und einschätzen konnte, auch wenn der Kerl beileibe nicht zum Freundeskreis zählte. „Du kannst Omi zu mir sagen.“ „Meinetwegen auch das. Wie hast du mich hier gefunden?“ „Auch wir von Weiß haben so unsere Möglichkeiten.“ „Was willst du?“, verlangte Crawford zu wissen, steckte mit einer Hand die Pistole in seinen Hosenbund und knipste mit der anderen rigoros die Deckenbeleuchtung an. Auch wenn dieser Omi ihm etwas Gegenteiliges befohlen hatte. Er ließ sich doch in seiner eigenen Wohnung nicht verbieten, das Licht an und aus zu schalten wie er lustig war. Schon gar nicht vom Feind. Er musterte den kleinen Jungen, der auf seinem Fensterstock saß, streng. Einfach unglaublich, daß der seine Adresse herausbekommen hatte und auch noch die Dreistigkeit besaß, hier einzubrechen. „Wir müssen reden, Oracle.“ „Natürlich, gern. Willst du einen Kaffee?“ „Ääääh~ ...“ brachte Omi nur verwirrt heraus. „Jetzt ernsthaft?“, „NEIN, du Idiot! Das war Sarkasmus!“, pflaumte Crawford ihn ungehalten an. „Sieh zu, daß du aus meiner Wohnung verschwindest, sonst helfe ich nach!“, stellte er klar. Dabei war er sonst ein durch und durch beherrschter Mensch und ließ sich so gut wie nie zu irgendwelchen Ausfälligkeiten hinreißen. Aber die Tatsache, nichts Böses ahnend nach Hause zu kommen und ein Mitglied von Weiß in seinen vier Wänden aufzugreifen, war ihm dann doch zu viel. Wieso blies er dem Jungen nicht einfach eine Kugel durch das Spatzenhirn? ... Hm, nein, zu auffällig. Wenn der aus dem Fenster kippte und unten auf den Bordstein klatschte, gab es nur unschöne, polizeiliche Ermittlungen. Das konnte Crawford auch nicht brauchen. „Oracle, hör mir zu!“, bat Omi nachdrücklich. Crawford verzichtete darauf, dem Jungen gleichsam seinen echten Vornamen anstelle des Codenamens anzubieten. „Das ist wirklich wichtig! Glaubst du denn, ich bin zum Spaß hergekommen?“ „Du hast 30 Sekunden, dann wirst du meine Wohnung auf die eine oder andere Weise verlassen haben. Also fasse dich besser kurz.“ Omi hopste mit einem unzufriedenen Laut vom Fensterstock auf den Fußboden und schloss das Fenster, damit nicht irgendein Nachbar mithörte, der zufällig gerade die Nase heraushielt, um eine zu rauchen, oder sowas. „Ihr seid heute bei MTF eingebrochen und habt ein Mädchen aus dem Labor entführt. Ich nehme an, ihr wisst, daß sie kein normaler Mensch ist, sondern eine synthetisch gezüchtete Waffe. Sie ist gefährlich. MTF hat begonnen, die Wissenschaftler zu liquidieren, die an der Entwicklung dieses Mädchens beteiligt waren.“ Tja, dumm gelaufen für die Forscher. Für Crawford hieß das bestenfalls, daß die Waffe voll einsatzfähig und die Arbeit an ihr vollendet war und die Medi Tec Foundation die Wissenschaftler nicht mehr brauchte. „20 Sekunden“, antwortete er humorlos. „Glaubst du, keiner wird diese Waffe suchen kommen? Eine Menge Leute sind hinter ihr her! Ihr werdet Probleme kriegen, wenn ihr sie behaltet!“     Schuldig stellte sein Glas in die Spüle, nachdem er es benutzt hatte, und überlegte, was er mit dem Abend noch anfangen könnte. Er hatte heute während der Mission einige Leute getötet, ohne vorher ausgiebig mit ihnen spielen zu dürfen. Er hatte von Takatori wortwörtlich eine auf´s Maul bekommen. Und er hatte ungefragt eine humanoide Waffe aufs Auge gedrückt bekommen, die jetzt einfach bei ihm wohnte, ob er wollte oder nicht. Irgendwie war dieser Tag zwar actionreich gewesen, stimmte ihn aber trotzdem unzufrieden. „Oh, da fällt mir ein ...“, entfuhr es ihm laut, was Ayax interessiert aufsehen ließ. „Ich hab da ja noch was im Keller, um das ich mich kümmern muss.“ „Du hältst einen Mann gefangen, den du foltern willst.“ Schuldig schaute die junge Frau etwas bedeppert an. Irgendwie war es unangenehm, daß sie das wusste. Er hatte unterschätzt, daß sie seine Gedanken genauso lesen konnte wie er ihre. Und er hatte unterschätzt, wie verunsichernd es sein konnte, seine Gedanken nicht geheim halten zu können und seine Deckung so aufgebrochen zu sehen. Er war ja bisher auch noch nie auf andere Telepathen gestoßen. „Willst du mitkommen?“, hakte er einfach mal nach. Sie nickte und sprang vom Sofa hoch. Schuldig stieg die steile Hühnerleiter in den Keller hinunter und knipste das Licht an. Eine Fehlkonstruktion, wie er immer wieder fand. Wieso hatte man den Lichtschalter nicht am oberen Ende der Treppe installiert? Wäre das nicht sinnvoller gewesen? Das panische Zappeln und das Klirren der Ketten hörte man schon in der Dunkelheit, bevor die trübe Glühbirne endlich flackernd zündete. Sein Opfer, das er hier gefangen hielt, war bereits gefesselt und geknebelt und konnte sich nur noch mit Mh-Lauten verständigen. Schuldig grinste vorfreudig. Der Kerl war ein älterer, schmieriger, dickbäuchiger Typ in verschlissenen, löchrigen Klamotten, unrasiert und nach billigem Alkohol und kaltem Zigarettenrauch stinkend. Ein Obdachloser von der Straße. Einer von der Sorte, die man nicht so schnell vermissen würde. Unwahrscheinlich, daß jemand die Polizei auf den Plan rief, um nach diesem Mann zu suchen. Sein Verschwinden würde im besten Fall ewig unbemerkt bleiben. Der Telepath spürte jetzt schon die aufsteigende Panik seines Opfers, das ihn mit großen Augen anstarrte. „So, Kollege. Da bin ich wieder. Ich habe dich ganz schön lange warten lassen, was?“, meinte er schadenfroh. „Mmmh-mh“, machte der Mann nur verängstigt und zog an den Ketten, die ihn an der Wand festhielten. Die Ketten waren lang genug, daß er sich stellen, setzen oder legen konnte, aber mehr als anderthalb Schritte Bewegungsradius hatte er nicht. Da ihm die Hände auf den Rücken gefesselt waren, konnte er auch gegen seinen Knebel denkbar wenig tun. Schuldig hob eine Reitgerte vom Boden auf und zog sie dem Kerl gleich erstmal knallend über den Rücken wie eine schlechte Begrüßung. Der bog heulend den Rücken durch. Schuldig freute sich über das Aufjaulen. Was ihm aber noch viel diebischere Freude bereitete, war, die Schmerzen seines Opfers auf der telepathischen Ebene haarklein mitverfolgen zu können. Nur zu sehen, wie das wehrlose Opfer sich lustig wand, war nicht halb so interessant wie die Emotionen und Panik mitspüren zu können. „Ach, solange du noch den dicken Pullover trägst, macht das ja gar keinen Spaß. Da merkst du ja gar nichts!“, entschied Schuldig und holte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche, um seinem Opfer die Kleidung vom Leib zu schneiden. Peitsche auf nackter Haut war gleich nochmal was ganz anderes. „Verbinde ihm die Augen“, schlug Ayax vor, die bisher schweigend danebengestanden und sich alles fasziniert angesehen hatte. Auch sie verfolgte telepathisch sehr wissbegierig mit, was in dem gefesselten Obdachlosen vorging. „Wozu? Er weiß, wie ich aussehe.“ „Mit verbundenen Augen gepeitscht zu werden, hat viel mehr Reiz. Man weiß nicht, wann der nächste Hieb kommt. Oder wo er auftreffen wird. Man kann sich mental überhaupt nicht auf den Schlag vorbereiten, man ist absolut ungewappnet.“ „Das ändert doch an den Schmerzen nichts“, meinte Schuldig irritiert. Er hatte nicht gedacht, daß Ayax ihm auch noch Tipps geben würde, wie es sadistischer ging. „Nö, um die körperlichen Schmerzen geht es auch nicht. Aber wir wollen doch mit ihm spielen. So fühlen wir seine Verzweiflung und Hilflosigkeit wesentlich stärker. Glaub mir, das wird Spaß machen!“     Schuldig spazierte zur sperrangelweit offenstehenden Tür herein, gefolgt von seinem neuen Dauer-Anhängsel Ayax, und schaute sich verwundert zwischen den ganzen Kartons und zerlegten Möbelteilen um. Dann gehörte der schon halb beladene Transporter unten im Hinterhof also Crawford. Die Wohnung wirkte ungewohnt leer, da bereits etliches fehlte. „Was tust du denn hier?“, wollte Schuldig wissen. Crawford fuhr nicht minder verdutzt zu ihm herum. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet. Und er war ja auch nicht 24 Stunden am Tag am Orakeln, um allen Eventualitäten zuvor zu kommen. Aber eine offene Wohnungstür hielt natürlich keine Besucher fern, das war klar. „Hi, Schuldig. Ich ziehe in eine andere Wohnung um.“ „Davon hast du gar nichts erzählt.“ „Nein, war eine sehr spontane Entscheidung. Ich bin hier von Bombay aufgespürt worden. Er weiß jetzt, wo ich wohne. Und da lege ich überhaupt keinen Wert drauf. Ich such mir auf der Stelle eine neue Bleibe.“ Schuldig zog die Stirn kraus. „Omi war hier? In deiner Wohnung?“ „Ja. Gestern.“ „Und du hast ihn wieder laufen lassen? Spinnst du?“ „Was hätte ich mit dem Jungen denn machen sollen? Ihn als Geisel festhalten? Ich hab keine Lust, mich mutwillig ins Visier von Kritiker und Perser zu manövrieren oder mir den Rest seiner Weiß-Truppe aufzuhalsen.“ „Du hättest ihn ausknipsen können! Ein Problem weniger!“ Crawford schloss kurz resignierend die Augen, als hätte er diese Argumentation schon viel zu oft mit Schuldig führen müssen. Dennoch blieb er völlig ruhig und sachlich, wie so meistens, wenn er mit dem rothaarigen Telepathen herumdiskutieren musste. Ihre Zusammenarbeit beruhte schon seit jeher auf gegenseitigem Respekt. Crawford hatte gegenüber Schuldig noch nie die Chef-Karte gespielt, weder im Dienst, noch privat. Er war zwar der Kopf von Schwarz, aber er befehligte Schuldig niemals entgegen dessen Einsicht herum. Er wollte, daß Schuldig die Gründe verstand, besser noch mit den Anweisungen einverstanden war, und nicht einfach nur die Klappe halten und gehorchen musste. Auf dieser Basis funktionierten Loyalität und Vertrauen nicht. „Wir töten niemanden, ohne einen entsprechenden Auftrag von Takatori erhalten zu haben. Das weißt du“, erklärte Crawford also geduldig. „Ja-ja. Schon klar. Wir sind bezahlte, beauftragte Berufs-Söldner und keine Wahnsinnigen, die rumlaufen und willkürlich Leute platt machen“, betete Schuldig herunter, was Crawford ihm schon so oft vorgehalten hatte. Die Leier kannte er ebenfalls schon. „Wir sind Profis. Wir erledigen einen Job. Unsere persönlichen Befindlichkeiten haben da nichts zu suchen.“ „Willst du Weiß etwa in Schutz nehmen?“ „Nein. Ich sage nur, daß das zwischen denen und uns nichts Persönliches ist. Weiß und wir arbeiten für konträre Organisationen. Und wenn sich unsere Aufträge überkreuzen, kann keiner von uns was dafür. Wir tun unsere Arbeit und die tun ihre. ... Und ich wäre dir dankbar, wenn wir das nicht halb im Treppenhaus besprechen müssten.“ Schuldig drehte sich mit einem uneinsichtigen 'ts'-Laut um und verschwand erstmal im Bad, wohl um auf Toilette zu gehen. Der Hellseher schaute ihm vielsagend nach, bevor er sich wieder ins Packen seiner Kartons vertiefte. Manchmal war es echt kompliziert, Chef zu sein. Crawford kannte seine Männer sehr genau und wusste, wie er mit jedem einzelnen von ihnen umgehen musste, um eine zielführende Arbeitsweise zu erreichen. Mit Schuldig war es bisweilen allerdings schwierig, auf einen grünen Zweig zu kommen. Er mochte Schuldig. Sehr sogar. Er sah ihn über das dienstliche Teamkollegium hinaus als einen Freund an, obwohl er, der Chef von Schwarz, und Schuldig, das 'Personal', eigentlich auf ganz verschiedenen Ebenen rangieren sollten. Gerade diese freundschaftliche Ader zwischen ihnen machte es zu einem verfluchten Drahtseilakt. Schuldig gehorchte und vertraute ihm als Freund, nicht als Boss. Auf der einen Seite machte ihre Freundschaft Schuldigs Loyalität um Längen glaubwürdiger und gesicherter als die von Farfarello oder selbst die von seinem hassgesteuerten Ziehsohn Nagi. Obwohl man sich auf Schuldig beileibe nicht blind verlassen sollte, konnte man doch gewiss sein, daß der nie irgendwas Dämliches anstellen würde, was Crawford persönlich zum Schaden gereichen könnte. Schuldig würde auch niemals auf die Idee kommen, einen solchen Vertrauensbruch aufs Parkett zu legen wie etwa Crawford mittels seiner telepathischen Fähigkeiten manipulieren zu wollen, wohingegen er das bei Farfarello und Nagi durchaus häufiger tat. Aber auf der anderen Seite war es durch die kameradschaftliche Komponente auch schwerer, Schuldig im Notfall an der Kandare zu halten, wenn er Crawford nicht als Vorgesetzten sondern „nur“ als Gleichberechtigten wahrnahm. Der Telepath hatte einen recht durchtriebenen Charakterzug, einhergehend mit einem sehr ausgeprägten, eigenen Willen, einem raumfüllenden Ego und wenig Sinn für Unterordnungs-Verhältnisse. Und er würde sicher aus dem Team ausbrechen, wenn Crawford an seinem respektbasierten Umgang mit ihm irgendwas änderte und ihn zu einem Untergebenen zu degradieren versuchte, der sich sturen Befehlen zu fügen hatte. „Was ist denn 'Weiß'?“, wollte Ayax wissen, die sich schlagartig sehr alleingelassen vorkam, da Schuldig auf dem WC und Crawford mit der Nase in einer Umzugskiste steckten, und sich keiner mehr um sie kümmerte. „Selbstjustizler“, gab der Hellseher ihr abgelenkt Auskunft. „Eine Truppe von vier Kerlen, die sich um Verbrecher kümmern, die nicht vom Gesetz bestraft werden können. Leider kommen sie uns damit gelegentlich in die Quere.“ „Dann seid ihr von Schwarz also auf der Seite der Bösen?“ Crawford warf ihr einen stoischen Seitenblick zu. „Lass mich eines klarstellen, Kleine! Weiß sind Schwerverbrecher; keinen Deut besser als die, hinter denen sie her sind. Sie rennen rum und bringen Menschen um. Sie sind Mörder im Namen einer illegalen Einrichtung. Das ist nicht weniger strafbar als das, was wir tun. Nur weil ihre Opfer kriminell sind, macht das Weiß nicht gleich zu einer Truppe von Heiligen. Im Gegenteil. Diese Jungs rechtfertigen ihre juristisch und moralisch unhaltbaren Machenschaften mit dem Deckmantel vermeintlicher Gerechtigkeit, statt einfach zuzugeben, daß sie genauso sind wie wir.“ Ayax nickte verstehend, auch wenn Crawford seine vorrangige Aufmerksamkeit schon längst wieder dem Umzugskarton gewidmet hatte und es nicht mehr sah. „Wie stellst du dir eigentlich deinen weiteren Werdegang vor, Kind?“, hob Brad Crawford von selbst ein neues Thema an, als sie nicht weitersprach. „Ich bin Schuldigs Waffe“, erwiderte sie sofort überzeugt. „Und du stellst keine blöden Fragen?“ „Das ist nicht meine Aufgabe. Ich diene. Ich frage nur nach Informationen, die ich zum Ausführen meiner Aufgaben brauche.“ Crawford schüttelte unterschwellig den Kopf. „Du bist komisch ...“, entschied er. Dann klappte er den Karton zu, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand und sah sie endlich direkt an. „Wieso ausgerechnet Schuldig?“ „Ich bin mit seinen Fähigkeiten kompatibel“, erklärte sie ohne vorher überlegen zu müssen, ganz als hätte sie auf diese Frage bereits gewartet. „Er ist dazu in der Lage, mich einzusetzen. Alles Weitere war reiner Zufall.“ „Das ist alles?“ „Wieso fragst du das?“, wollte Ayax wissen. „Ist es für dich nicht in Ordnung? Sollte ich lieber dir dienen? Ich weiß, du bist der Kopf eurer Gruppe und ...“ Der Hellseher konnte sich ein kurzes Aufkichern nicht verkneifen. „Nein. Ich gönne Schuldig die Unterstützung, so ist es nicht. Es hat mich nur interessiert. Du tauchst aus dem Nichts auf, schließt dich uns völlig grundlos an, ohne Fragen zu stellen, und verteidigst einen Kerl mit deinem Leben, den du überhaupt nicht kennst und mit dem dich ansonsten auch nichts zu verbinden scheint. Ich glaube auch nicht, daß da so viel Zufall im Spiel war. Wenn du mich fragst, hast du dir Schuldig ausgesucht. Du hast ihn ja nichtmal gefragt, bevor du dich auf ihn 'personalisiert' hast.“ „Dazu war keine Zeit mehr! Auf ihn wurde geschossen!“ „Ich würde einfach gern verstehen, warum du das getan hast. Überhaupt würde ich dich gern besser verstehen, das ist alles.“ Ayax überlegte eine Sekunde lang sichtlich vor sich hin, weil sich ihr die Frage nicht erschloss. Themen in dieser Richtung waren ihr noch nie zur Diskussion gestellt worden. Sie war noch nie gefragt worden, warum sie etwas tat. Sie hatte sich das bisher noch nicht einmal selber gefragt. Was sie eben zu Crawford gesagt hatte, entsprach ja der Wahrheit. Und es irritierte sie, daß er ihre Aussagen trotzdem weiter hinterfragte. Unwahrheit kannte sie nicht. Wieso sollte ihr also jemand nicht glauben? AX-4 war in der Tat nicht für die Allgemeinheit zu gebrauchen. Es gab auf dieser Welt nur einen sehr niedrigen Prozentsatz an Menschen, die überhaupt dazu geeignet waren, mit einer Waffe wie ihr zu arbeiten. Man musste dafür eine besonders ausgeprägte mentale Gabe haben, und einen überdurchschnittlich geweiteten Geist. Es gab nur denkbar wenige, die eine so übernatürliche Wahrnehmung wie Hellsicht oder Aura-Sehen hatten oder eine Medium-Veranlagung besaßen. Schuldig als Telepath war ein solch seltener Mensch, der in der Lage war, einen Kanal zu einer mental gesteuerten Waffe wie AX-4 aufzubauen. Und in diesem Gefecht auf dem Parkplatz der Medi Tec Foundation war er glücklicherweise auch gerade für eine solche Verbindung offen gewesen, so daß sie sich spontan an ihn hatte binden können. Sicher, Farfarello hatte zwar direkt danebengestanden, aber seine Resonanzen und Instinkte waren für ein mentales Andocken nicht empfänglich. Ihn hätte sie nicht schützen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Das war der ganze Grund, warum ihre Wahl – sofern sie denn tatsächlich aktiv eine getroffen hatte – auf Schuldig gefallen war. Er war einfach die einzige, konvergente Person im Umkreis gewesen. Und jetzt fragte Crawford sie, warum? „Ich bin eine Waffe“, erklärte sie schließlich. „Mich muss man nur einsetzen. Mich muss man nicht verstehen.“ „Oh“, machte Crawford negierend, „ab dem Moment, ab dem mein Leben von dir abhängt, sehe ich das anders.“ Er schnappte seinen Karton und marschierte davon, um ihn hinunter zu bringen und im Transporter zu verräumen. Sie nahm sich ebenfalls eine wahllose, schon gepackte Kiste, und folgte ihm. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie ihm ja auch tragen helfen.   Hier fand gerade eine ganz klare Prioritätensetzung statt: Schuldig stand am offenen Fenster und rauchte, statt sich ebenfalls einen Umzugskarton zu greifen. Wenn er ausdrücklich darum gebeten wurde und Instruktionen erhalten hatte, an welche Kisten er gehen durfte und von welchen er die Hände zu lassen hatte, würde er sicher helfen. Sie waren ja schließlich Freunde. Aber bevor Schuldig nicht mindestens das geklärt hatte, weswegen er hier war, würde er keinen Finger rühren. So kannte Crawford ihn. Der rothaarige Telepath drehte sich vom Fenster weg, als Crawford wieder in die Wohnung zurückkam, und lehnte sich leger in den Rahmen. „Was hat der Mensch von Weiß denn gewollt, als er in deiner Wohnung war?“, fragte er nach. „Was soll er schon gewollt haben!? Sie natürlich“, informierte Crawford ihn und nickte dabei vielsagend in die Richtung von Ayax, die hinter ihm eintrat. Schuldig schüttelte leicht den Kopf. „Ein Amateur. Wieso ist Omi nicht zu mir gekommen? Wusste er etwa nicht, daß die Waffe bei mir ist?“ „Doch. Aber er wusste auch, daß du ihn kalt gemacht hättest, bevor er dir erklären konnte, was er will.“ Brad Crawford nahm einen weiteren Karton und drückte ihn dem sonderbaren Mädchen rigoros in die Arme. „Gehst du den bitte schon mal runterbringen, Kind?“ Er sah ihr nach, bis sie davongestiefelt und außer Hörweite war. Er wollte nicht, daß Ayax das hier so direkt mithörte. Als sie endlich wieder weg war, wandte er sich mit verschränkten Armen an Schuldig. „Hör zu, Omi wollte mich vor ihr warnen. Das ist etwas gänzlich anderes, als sie uns einfach nur streitig machen zu wollen.“ „Wie süß“, kommentierte Schuldig, zog ein letztes Mal an seiner Kippe und schnipste diese dann in hohem Bogen aus dem Fenster. In Japan war das eine unerhörte Frechheit, Zigaretten auf die Straße zu werfen und Crawford schenkte ihm auch einen tadelnden Blick dafür. „Der Junge macht sich doch nicht etwa Sorgen um uns?“, lästerte Schuldig geringschätzig weiter, wobei er diesen Blick geflissentlich ignorierte. „AX-4 tötet ihre Nutzer. Sie ist eine parasitäre Waffe. Sie hängt nicht an dir, weil sie dir loyal ergeben wäre und dir gehorchen will, sondern weil sie dich als Batterie braucht. Jetzt, wo sie das Labor verlassen hat und draußen ohne Energiezufuhr klarkommen muss, wird sie von deiner Energie gespeist. Sowohl von deiner Körperenergie als auch deiner mentalen Gehirnleistung. Nur darum ist sie mit uns gekommen.“ Schuldig zog nur verdutzt die Augenbrauen nach oben. Als Telepath wusste er, daß Crawford ihn gerade nicht auf den Arm nehmen wollte. Der meinte das ernst, soweit er sich seiner Sache selber sicher war. Aber: bitte was!? ... Nun, zugegeben, sie hatte von ihm bisher weder etwas zu essen noch zu trinken annehmen wollen. Die Frage, wovon sie eigentlich lebte, war nicht ganz unberechtigt. Aber wenn sie von seiner Körperenergie lebte, müsste er sich dann nicht entsprechend geschwächt und müde fühlen? Seinem eigenen Empfinden nach ging es ihm super. „Dieser Playboy da, Balinese, war dagegen, uns zu kontaktieren. Er meinte, wir sollen ruhig mit dieser Waffe arbeiten, damit wir denen endlich vom Hals geschafft werden. Aber Omi wollte uns davor warnen. Gegen den Rat seiner Kollegen. Und er ist ein ziemliches Risiko damit eingegangen, mich in meiner eigenen Wohnung abzupassen. Ich nehme also an, daß er vielleicht ein bisschen übertrieben, aber auf keinen Fall völlig geblöfft hat. Irgendwas wird schon dran sein.“ Schuldig ließ nachdenklich den Blick schweifen. „Aber welchen Grund sollte Omi haben, uns zu warnen, selbst wenn es wirklich so wäre? Was hätte er davon?“ „Ein gutes Gewissen vielleicht.“ „Unsinn. Er ist überzeugt von Weiß und von dem, was er dort tut. Als damals zur Debatte stand, daß er Takatoris Sohn sein könnte, hat er sich ganz bewusst gegen seinen mutmaßlichen Vater und für Weiß entschieden. Im Gegensatz zu dir ist das für Omi sehr wohl was Persönliches.“ Crawford zuckte mit den Schultern. Er wusste doch auch nicht mehr als das, was Omi ihm erzählt hatte. Er konnte in Omis Kopf ja nicht reinschauen. Wer von ihnen war denn hier der Gedankenleser? „Wie auch immer. Ich kann dir AX-4 nicht wieder wegnehmen. Aber tu mir einen Gefallen und beleuchte deine kleine, neue Freundin unter diesem Gesichtspunkt nochmal genauer.“ Schuldig enthielt sich einer Reaktion. Er wusste selber noch nicht, ob er einverstanden war oder diesen Auftrag als sinnlos einstufte. Das würde er später entscheiden. Fakt war jedenfalls, daß er Crawford ernst nahm, wenn der sowas sagte, also würde er in einer ruhigen Minute zumindest nochmal drüber nachdenken. „So, und was hat dich nun hergeführt? Du hast gar nicht gesagt, daß du mich besuchen kommst“, wechselte Crawford das Thema. „Ich hab eine Leiche im Kofferraum“, gab Schuldig ungerührt Auskunft. „Ich dachte, du hilfst mir vielleicht, sie zu beseitigen.“ Der Hellseher schloss frustriert die Augen. Nicht schon wieder. „Ist es jemand, den wir kennen?“ „Nein, nur ein fremder Kerl, mit dem ich etwas gespielt habe.“ „Wieso tust du das?“, wollte Crawford missmutig wissen. „Weil du es mir in den Medi Tec Laboren verboten hast“, lächelte Schuldig. „Wenn ich auf unseren Missionen nicht mit meinen Opfern spielen darf, dann suche ich mir eben in meiner Freizeit eins, mit dem ich das ausgiebig nachhole.“ „Dir macht das Spaß, oder?“ „Wenn es dir keinen macht, bist du in diesem Job echt falsch, Kumpel“, behauptete der Telepath überzeugt. Ja, er genoss es, andere Menschen zu quälen und Macht über sie auszuspielen. Na und? Crawford schob sich die Brille auf der Nase zurecht. „Tut mir leid. Wie du siehst, bin ich mit meinem Umzug beschäftigt“, würgte er das Thema ab. „Dann muss ich es halt mit Ayax alleine über die Bühne bringen.“ „Weiß sie etwa davon?“ „Natürlich. Sie hat ja fleißig mitgemacht. Ein sehr sadistisches Ding, diese Kleine. Ich glaube, ich mag sie.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)