Alpha EINS - Game 0n von Puppenprinzessin ================================================================================ Kapitel 5: Overkill ------------------- Gegen zwei Uhr nachmittags stolperte Katie eher in das kleine Café, als dass sie ging.  Zuvor war sie unter der Dusche fast eingeschlafen und hatte ihr Gelübde erneuert, irgendwann herauszufinden, wie man Koffein am besten intravenös einflößte. Wieso sie sich so hetzte, wusste sie nicht einmal genau, schließlich ging es nur um ein belangloses Treffen. Richtig? Während sie sich fertig gemacht hatte und mit den Gedanken bei dem Typen war, der sie eingeladen hatte, fiel ihr nach und nach ein, dass er ihr irgendwo her bekannt vorkam. Nicht, dass das ungewöhnlich wäre – an der Universität rannten eine Menge Studenten herum, weshalb sie Sichtkontakt schonmal nicht per se ausschließen konnte. Einen karamellfarbenen Pullover und eine etwas zerstört aussehende Jeans später wusste sie es immer noch nicht genau. Allerdings blieb ihr nun nicht mehr sonderlich viel Zeit, um auch nur halbwegs zu der besprochenen Zeit aufzutauchen. Ein passendes Paar Stiefel, die aus genau diesem Grund nur zur Hälfte geschnürt wurden, und eine Jacke komplettierten das Outfit, in dem sie gerade rechtzeitig aus der Tür fiel, um den nächsten Bus noch zu kriegen und nun etwas gehetzt und mit notdürftig zusammen geknoteten Haaren anzukommen. Es war voll. Hektisches Treiben umfing sie von einer auf die andere Sekunde und ihr ausgelaugtes Hirn hatte Schwierigkeiten, entsprechend umzuschalten. Diese Masse an Menschen hatte sie nicht erwartet; jeder der kleinen Tische war belegt und am Tresen reihte sich eine Schlange von mehr als fünf Leuten. Etwas orientierungslos ließ sie ihren Blick über die Sitzenden schweifen, bis – „Hier drüben!“ Dort, an einem Tisch am Fenster, saß James, die Hand in einer winkenden Bewegung erhoben. Er stand auf als sie sich durch das engstehende Mobiliar zwängte und – Dank des Hängenbleibens an einem der Stühle – fast in seinen Arm fiel. Katie fing sich im letzten Moment. „Hey. Ich, uhm – ich bin spät dran. Entschuldige.“ Auf dem Tisch stand bereits eine Tasse, die von ihrem Blickwinkel aus fast leer war. Nervös strich sie sich ein paar Haare aus der Stirn. „Oh! Oh nein, ganz und gar nicht! Setz dich doch.“ Er gestikulierte etwas aufgekratzt zu dem Tisch, an dem sie standen und sobald Katie sie auf die Sitzbank vor dem Fenster gesetzt hatte, zog er sich auch seinen eigenen Stuhl ran. „Wir haben ja keine feste Zeit ausgemacht und ich wollte ohnehin noch etwas nachlesen, also habe ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden.“ Sie bemerkte die Tasche, die unter dem Tisch stand; ein sehr bekanntes Lehrbuch schaute ihr aus ihr entgegen. „Du hast den Mikrotechnologie-Kurs bei Meyers?“ Die Jacke war gerade von ihren Schultern gerutscht und das Buch hatte direkt ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Da musste sogar ihre latente Müdigkeit zurückstecken. James schien überrascht. „Ja. Den für Fortgeschrittene inzwischen – wir waren zusammen im Grundlagenkurs. Für die Präsentation haben wir zusammengearbeitet.“ Er klang so selbstverständlich, dass es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Das erklärte seine Überraschung; wenn er gedacht hatte, sie wüsste, wer vor ihr stand? „Oh! Ich dachte, du kommst mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher!“ „Halbleitertechnik und Fertigungsprozesse.“ Das Kinn in die Hand gestützt grinste er sie an. „Klar – unser Referatstermin war der erste, deswegen war alles so hektisch. Ich erinnere mich wieder.“ Etwas beschämt rieb sie sich den Nacken und stellte sich dann noch einmal vor. „Ich bin Katie.“ „Ich weiß.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich wollte dich eigentlich damals schon fragen, ob du einen Kaffee mit mir trinken gehen möchtest, hab dich aber irgendwie nicht erwischt. Also – okay, ich hatte die Hälfte des Semesters nicht den Schneid und gen Ende habe ich dich nicht mehr erwischt.“ Natürlich wusste er es, dachte sie sich. Und nun saß sie hier, starrte ihn etwas entgeistert – wenn auch geschmeichelt – an und suchte nach den Worten, die ihr sonst immer so leicht kamen. Wie konnte man ihr einfach so absolut nonchalant mitteilen, dass man schon ewig versuchte, sie auszuführen? Quasi? Wie antwortete man auf sowas? „Ich… Ich hab den Fortgeschrittenen-Kurs vorgezogen.“ So nicht. Sie versuchte es noch einmal. „Ich hab den Kurs vorgezogen und ihn parallel zu den Grundlagen gemacht. Professor Meyers hat mich irgendwann beiseite genommen, um mir zu sagen, dass ich die letzten zwei Stunden nicht mehr besuchen muss, weil er befürchtete, ich würde mich mit beiden Kursen gleichzeitig übernehmen – und die Grundlagen sind ja Voraussetzung für die Fortgeschrittenen, also dachte er, ich müsse es bereits können…“ Katie endete ihren Monolog mit tiefem Luftholen und zog dann die Schultern hoch. Sie redete auch gern mal schnell am Stück, wenn sie nervös war. Ugh. „Sorry, ich hatte eine lange Nacht und mein Schlaf-Wach-Rhythmus ist total im Eimer. Ich bin etwas überdreht.“ „Das klingt, als könntest du einen Kaffee gebrauchen“, schlussfolgerte James mit einem Schmunzeln. Ihr fiel auf, wie gut ihm diese Art der Mimik stand und sie wurde gleich noch etwas mehr rosa um die Nase. „Kaffee klingt super.“   „Was tust du denn so, wenn du nicht gerade studierst und Dozenten verfluchst?“ Katie hatte ihr Kinn in die Handfläche gestützt, während sie sich mit dem Ellenbogen auf der Tischkante nach vorn lehnte. Ihre Tasse war inzwischen fast leer und die anfänglichen Small-talk-Problematiken hatten sich gelegt. Momentan genoss sie das Gespräch sehr; Es war so anders als das, womit sie sich tagtäglich beschäftigte, weshalb es eine willkommene Abwechslung darstellte. James lachte auf, zuckte dann nonchalant mit den Schultern. „Das Übliche? Die Uni nimmt viel Zeit in Anspruch. Ansonsten kümmere ich mich um meine Familie, fahre meine Schwester durch die Gegend oder mache Mountainbike-Touren.“ Scheinbar verzog sie daraufhin etwas zu offensichtlich das Gesicht. „Was?“ „Ich bin selbst total unsportlich – da bleibt mir übrig, die Leute, die Sport treiben, für den Sieg über den Schweinehund zu bewundern.“ „Es ist ein sehr angenehmer Ausgleich, wenn man sonst nur am Schreibtisch sitzt. Und man kommt viel rum, sieht einiges. Manchmal machen wir zu dritt Touren über mehrere Tage.“ „Das klingt schon ziemlich gut. Ein bisschen wie sehr anstrengender Urlaub.“ Katie grinste, leerte dann ihre Tasse. „Ich habe es früher mal mit Kickboxen und Ballett versucht. Ging beides nicht so richtig gut.“ „Das… ist eine sehr interessante Mischung. Ich hoffe, du hast nicht die Moves vertauscht.“ „Oh, einmal habe ich einer Ballerina einen Kinnhaken verpasst – das war aber wirklich ein Versehen. Sie hat es mir nicht geglaubt und ihre Mutter hat meiner Mutter eine Predigt gehalten, dass ich nicht sozialisierbar wäre.“ Sie stimmte in sein Lachen mit ein, zuckte aber die Schultern. "Ich mochte Ballett ohnehin nie wirklich gern und geprügelt habe ich mich in erster Linie mit meinem Bruder. Daher war es gar nicht nötig, mich auf andere Leute loszulassen." "Ahh, Geschwisterraufereien, das kommt mir bekannt vor. Mia ist sieben Jahre jünger als ich, aber das hat sie nie davon abgehalten, sich auf mich zu stürzen, wie eine Wahnsinnige. Natürlich musste ich mich regelmäßig unterlegen zeigen und ihr den Sieg gönnen." "Das scheint so ein Großer-Bruder-Ding zu sein. Wobei Matt es mir wirklich nie leicht gemacht hat. Ich habe mal einen Milchzahn dabei verloren. Meine Ma war unglaublich sauer." Katie stimmte in das Lachen mit ein, das James auf die Worte hin erfasste. In seeliger Erinnerung an jenen Tag musste sie den Kopf schütteln und bekam daher nicht mit, wie ihr Gesprächspartner auf ihre leere Tasse deutete. "Wollen wir vielleicht etwas spazieren gehen? Oder noch einen Kaffee trinken?" Mittlerweile, das stellte sie etwas amüsiert fest, wirkte er sicherer in derlei Fragen. "Warum nicht beides", erwiderte sie grinsend und erhob sich mit einem Deut Richtung Tresen. Sie konnten ja etwas zum Mitnehmen besorgen. Gemeinsam verließen sie das Café, nachdem James ihnen tragbaren Koffeinnachschub besorgt hatte. Es war kalt draußen und der Himmel verhangen. Für den Spätherbst wirklich ungemütlich und mit Temperaturen, die im Nullbereich vorhergesagt worden waren, eigentlich nicht sehr einladend. Dennoch wirkte die kühle Brise erfrischend und belebte Katies Lebensgeister auf andere Art als das Koffein es tat. Sie bogen hinter dem Lokal um eine Straßenecke und schlenderten auf einen nahegelegenen Park zu. Einige Studenten waren unterwegs und eilten mit vollen Taschen und Büchern in den Armen durch die Gegend. Sie zog ihre Jacke enger zu. "Ist dir kalt?", erklang es neben ihr. Der Braunhaarige hatte die Hand, die nicht den Kaffee hielt, in seiner Jackentasche verstaut, zog sie nun nach einem prüfenden Blick auf seine Begleitung heraus. "Es geht, ich hab nur meinen Schal -" Sie unterbrach sich, als James ihr genau in diesem Moment den seinen entgegen hielt. "- zu Hause liegen lassen. Das ist wirklich nicht nötig", versuchte sie es, war kurz in der Mitte des Gehweges stehen geblieben. "Nimm schon", schmunzelte er sie mit schief gelegtem Kopf an. "Ich habe ihn gestern aus der Wäsche genommen, er ist quasi wie neu, versprochen." Zögerlich streckte sie die Hand nach dem warmen Strickstoff aus. Der Schal war dunkelgrau und fühlte sich sehr weich an. "Aber dann frierst du." "Halb so wild", entgegnete er, um dann lächelnd wieder seine Jacke zu schließen, die er zuvor geöffnet hatte, um den Schal leichter abnehmen zu können. "Ich friere selten. Und ich kann nicht riskieren, dass du dich erkältest." Katie schob den rosigen Ton ihrer Wangen auf die Kälte.   Sie schlenderten einmal um die innerstädtische Grünfläche herum, redeten und brachten Katie zu dem Entschluss, dass das hier eigentlich ganz nett war. Für gewöhnlich war sie keine große Romantikerin oder ein Mädchen, an dem andere Leute romantisches Interesse hatten. Sie glaubte, dass sie zu eigenbrötlerisch war. Matt meinte, sie würde potenzielle Partner mit ihrem Intellekt abschrecken. Fakt war, dass sie ihre Energie nicht selten bereits so investierte, dass am Ende des Tages nur noch wenig für soziale Kontakte übrig blieb. Das zeigte sich nicht nur an ihrem dürren Romantikleben, sondern allgemein an dem Umstand, dass ihr Freundeskreis relativ klein war. Und mit James… schien es fast einfach. Zumindest, bis er sie nach ihren Freizeitbeschäftigungen fragte und sie einsehen musste, dass es Gründe gab, wieso ihre Sozialkontakte und ihre Prinzipien nicht immer harmonierten. „Oh, momentan investiere ich den Großteil meiner Zeit in die Uni“, hörte sie sich sagen. „Außerdem babysitte ich meinen Bruder und ich mag vieles, was mit Videospielen zu tun hat.“ Vorsichtiges Herantasten. Neben ihr lachte der Braunhaarige auf. „Echt? Das ist so gar nicht mein Ding. Ich schätze, ich hab noch nicht verstanden, wieso Menschen ihre Zeit vor Bildschirmen verbringen, wenn sie nicht müssen.“ „Jeder braucht ein Hobby“, zuckte sie die Schultern, nur um sie danach etwas höher zu ziehen. „Ich finde, virtuelle Welten haben etwas Faszinierendes an sich.“ „Dafür gibt es Bücher. Die Bevölkerung verliert den Blick auf die wirklichen Probleme, mit dem Eskapismus, den sie durch das Ausschöpfen des Kommerz betreibt.“ Seine Stimme klang nicht sehr ernst, hatte eher einen gelösten Unterton. Dennoch bekam er erst einmal keine Antwort. Es war genau der Punkt. Katie und ihr Bruder hatten nie öffentlich machen wollen, wer die Gehirne hinter einer dieser virtuellen Realitäten waren – einerseits, weil sie nicht bekannt werden wollten und andererseits, um ihr Herz nicht auf dem Silbertablett zu präsentieren. Dass James ihr Herzblut nun auf diese Art und Weise bagatellisierte und verurteilte, ließ sie frösteln. Es wäre schon unangenehm genug, wäre sie nur leidenschaftliche Gamerin. So aber fühle sie ihr Lebensprojekt angegriffen. Normalerweise mied sie das Thema gänzlich. „Uhm. Entschuldige, das klang hart“, riss er sie kurz darauf aus ihren Gedanken. Katie hatte nicht mitbekommen, dass sie sicher bereits die nächsten hundert Meter gelaufen waren, ohne dass sie ein Wort gesagt hatte. Dass sie in ihren Gedanken verloren gewesen war, musste sich in dem Blick zeigen, mit dem sie ihn nun von unten bedachte. Sie waren stehen geblieben. „Ich wollte das, was du gern tust, nicht in den Dreck ziehen. Du hast mir ja auch nicht gesagt, dass Radfahren scheiße ist.“ „Weil ich Radfahren nicht scheiße finde“, versuchte sie es, immer noch irritiert, mit fragendem Unterton. „Es ist dein gutes Recht, eine Meinung zu haben, James. Die Welt wäre sehr eintönig, wenn alle Menschen die selben Dinge mögen würden.“ „Damit hast du Recht. Dennoch. Ich neige dazu, mich in einer gewissen prototypischen Rechtschaffenheit zu verlieren – zumindest laut einem Freund. Eigentlich versuche ich auch, daran zu arbeiten, aber wenn ich mich wohlfühle fällt mein Sprachfilter häufiger mal aus.“ Er erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln, welches zu einem Grinsen wuchs, als Katie eine Augenbraue hob. „Du versuchst dich mit Charme aus einer vermeintlich brenzligen Situation zu manövrieren“, stellte sie trocken fest. Sie gab sich noch zwei Sekunden, ehe sie das Lächeln zuließ. „Und es funktioniert. Dir sei vergeben. Dieses Mal.“ Jenen Moment nutzte der inzwischen dunkler gewordene Himmel, um die ersten Schneeflocken des Winters auf sie herab rieseln zu lassen. Braune Augen wurden groß, als Katies Blick nach oben schweifte. Sie liebte Schnee. Am meisten zwar dann, wenn sie nicht zwangsläufig vor die Tür musste und seine Pracht entweder aus sicherer Distanz oder einpackt mit Schneestiefeln genießen konnte, aber der erste Schnee des Jahres hatte immer etwas sehr besonderes an sich. Tief sog sie Luft in ihre Lungen und schloss kurz die Augen, um das Streicheln von hauchzarter Kälte auf ihrem Gesicht zu erspüren. Das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie die Lider schließlich erneut heben, um ihm nachzugehen. James sah sie mit derselben Faszination an, die sie dem Wetterumschwung entgegen gebracht hatte und je länger sie seinen Blick erwiderte, desto wärmer wurde ihr. War das… ein Moment? Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und ihre Kehle trocken wurde und für einen Augenblick fragte sie sich, ob irgendetwas hier nicht reichlich schnell lief. Wenn sie aber die Verkettung der Umstände betrachtete, war es gar nicht so verwunderlich. Irgendwie. „Dann hab ich noch einmal Glück gehabt“, antwortete James schließlich verspätet und brach damit was auch immer sie gerade gehabt hatten. Augenscheinlich etwas peinlich berührt fuhr er sich durch die Haare und deutete an, dass sie sich wieder in Bewegung setzen könnten. Mittlerweile war es windstill und der friedlich fallende Schnee vermittelte ein Gefühl der Ruhe. Das Schweigen, das sich diesmal einstellte, war einvernehmlich und angenehm. Zumindest für einige Minuten. „Am Wochenende macht der Winter-Jahrmarkt am Stadtrand auf“, eröffnete der Braunhaarige ihr als sie ihre zweite Runde gedreht hatten. Unabgesprochen waren sie in Richtung der Bushaltestelle abgedreht. „Falls du noch nichts vorhast, würde ich dich gern einladen.“ Sie musste schon wieder lächeln. In ihrem Kopf schrieb sich eine To-do-Liste ganz von selbst. Wäre das zeitlich überhaupt machbar? „Gern. Ich muss abklären, ob das tatsächlich passt, aber ich würde gern mit dir dorthin gehen.“ Scheinbar würde sie es machbar machen… Katie hoffte, dass kein weiterer Software-Notfall ins Haus stand. „Daaaaaann überleg es dir und sag mir bescheid. Gern auch spontan, ich bin da relativ flexibel.“ Als sie an der Haltestelle angekommen waren, zog er ein Handy aus seiner Tasche und reichte es ihr mit geöffneter Maske zum Hinzufügen neuer Kontakte. „Du könntest mir deine Handynummer geben“, fügte er, beinahe unnötigerweise, hinzu. Katie nahm das Smartphone an sich und tippte ihre Nummer und ihren Namen ein. Anschließend drückte sie auf den ‚Anrufen‘-Button und legte auf, als es in ihrer Jackentasche vibrierte. „Hier. Ich melde mich bei dir, sobald ich mehr weiß“, versprach sie, als sie das Gerät zurückgab. Und James… nahm es nicht nur, sondern trat dafür noch einen Schritt auf sie zu und war plötzlich… sehr nah. Ihr Kopf ruckte überrascht hoch und von einem auf den anderen Moment war der Geruch, der auch von seinem Schal ausging, weitaus deutlicher wahrnehmbar. In ihrer Brust setzte ihr Herz kurz aus, ehe es schneller weiterschlug und sie sich tatsächlich fragte, was sie gerade verpasst hatte – er würde doch nicht…? Er küsste sie tatsächlich. Auf die Wange. „Der Bus kommt.“ Katie war rot bis zu den Ohren, als James wieder Abstand zwischen sie brachte und der sanfte Lufthauch, der mit den Worten ihr Gesicht gestreift hatte, ließ sie schaudern. Das war… Wieso hatte er so eine Wirkung auf sie? Sie war weggetreten genug, ihn für einige Sekunden nur verständnislos anzustarren und erst zu reagieren, als der Bus tatsächlich mit quietschenden Bremsen neben ihr hielt. Was war nur los mit ihr?! „Bis dann“, brachte sie nur etwas lahm hervor und drehte sich mit abgehackten Bewegungen zum Einstieg. Es fühlte sich ein wenig an, als würde sie die Flucht ergreifen. Dennoch suchte sie sich einen Fensterplatz auf Seite des Bürgersteiges, um James doch noch anzusehen, als der Bus anfuhr. Da stand er; gutaussehend, lächelnd, winkend… Katie schob sich eine Strähne hinters Ohr, bevor sie verspätet zurückwinkte. Ihre Wange kribbelte.   Ihr Schlüssel klackerte gegen die Tür, als sie ihre Wohnung aufschloss. Wärme und das leise Surren von Rover, ihrem Saugroboter, empfing sie. Eine kleine Lampe tauchte das Wohnzimmer in gemütliches Licht und Katie lauschte angestrengt, um herauszufinden, ob Matt zu Hause war. Vermutlich würde sie ihn in seinem Bett finden, wenn sie bedachte, wie lang und intensiv sie zuvor an der Behebung des Problems in Alpha EINS gearbeitet hatten. Schuhe und Jacke wurden abgestreift und sie trat tiefer in die Wohnung. Ihr Bruder schlief tatsächlich, was bedeutete, dass sie ihn nicht nach Neuigkeiten fragen konnte – das würde warten müssen. Hätte es Zwischenfälle gegeben, hätte er sie vermutlich bereits davon unterrichtet. Leise taperte sie in die Küche, kochte frischen Ingwertee und verkrümelte sich dann mit ihrem Laptop in ihr Bett. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt konnte sie den Schneeflocken dabei zusehen, wie sie gegen die Scheibe stoben; inzwischen war das Schneetreiben stärker geworden und im Dunkel hatte sich ein bizarres Schattenspiel entwickelt. Ihr Laptop zog nach dem Hochfahren alsbald ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie konnte ja zumindest herausfinden, was ihr Terminkalender bezüglich des Wochenendes sagte, unabhängig von etwaigen Katastrophen, die unabdingbar zeitnaher Behebung bedurften. Gedanklich war sie noch immer bei den Situationen am Park – zwei Mal hatte sie geglaubt, es hätte einen besonderen Moment gegen und allein die Tatsache, dass sie das glaubte, erschien ihr sinnfrei. „Reiß dich mal zusammen“, murmelte sie sich zu, ließ den Kopf kurz gegen die Wand sinken. Das war ja nicht auszuhalten. Glücklicherweise informierte sie das Betriebssystem des Laptops mit einer Willkommensmelodie über seine Bereitschaft, genutzt zu werden. Dann: „Guten Abend, Katie. Der Temperaturumschwung hat minus zwei Grad Celsius erreicht und der Schneefall soll zum aktuellen Zeitpunkt noch viereinhalb Stunden anhalten. Das perfekte Wetter für einen heißen Tee.“ „Hey Air. Scheinbar habe ich alles richtig gemacht. Hast du wieder in die Vitalparameter gelinst?“ „Du scheinst etwas aufgeregt, aber deine Werte sind im Normbereich. Es besteht kein Grund zur Sorge. Wie kann ich dir helfen?“ „Sag mir, wie die Serverauslastungen aussehen“, bat sie die künstliche Intelligenz. Noch als sie fragte, öffnete Katie ihr Mailprogramm und überflog die neuen Eingänge. Das Feedback-Team hatte rückgemeldet, dass die Resonanz auf die 24h-Bonusrunde ausgesprochen gut gewesen sei, jedoch einige Beschwerden laut geworden waren, wieso sie sie nicht angekündigt hatten. Air informierte sie daraufhin, dass die Server stabil und die zuletzt behobenen Bugs nicht mehr aufgetreten waren. „Gibt es sonst irgendwelche Auffälligkeiten?“ „Glücklich ist allein die Seele, die liebt“, antwortete die künstliche Intelligenz scheinbar zusammenhangslos. „Deine Endorphin- und Serotoninwerte sind erhöht. Außerdem hat dein Körper das Bindungshormon Oxytozin ausgeschüttet, was einer Auffälligkeit entspricht.“ Katies Brauen wanderten simultan gen Haaransatz. „Das meinte ich nicht“, gab sie zurück. „Ich rede von Alpha EINS.“ „Wenn du eine weise Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen.“ Sie verdrehte die Augen. „Air, hast du gerade Goethe zitiert? Zum zweiten Mal?“ „Mein Wissenspool ist unerschöpflich, dafür hast du gesorgt.“ „Alles klar“, seufzte sie und nahm die Teetasse zur Hand, um davon zu trinken. „Ich gehe davon aus, das bedeutet, dass es sonst nichts gibt.“ Air bejahte. „Gut. Dann öffne mir bitte meinen Kalender für das Wochenende und such schonmal die nächste Folge Pandoras Box auf Netflix raus.“ „Gegenüber der Fähigkeit, die Arbeit eines einzigen Tages sinnvoll zu ordnen, ist alles andere im Leben ein Kinderspiel. Viel Spaß, Katie.“ Es öffneten sich zwei Fenster, eines mit ihrem Kalender, ein anderes mit der Applikation für den Streaming-Dienstleister. Schlürfend überflog sie die Planung für das Wochenende und stellte fest, dass sie den Jahrmarkt wahrscheinlich noch irgendwie unterkriegen würde. Dass sie lächelte, merkte sie erst, als sie ihr Gesicht bis zur Nase in dem Schal vergraben hatte, der noch immer um ihren Hals lag. Er roch nach James. Den Kopf darüber schüttelnd, dass sie einem solchen Klischee anheimgefallen war, griff sie zu ihrem Handy und speicherte den neuen Kontakt ab. Zögernd wählte Katie dann das Chatsymbol aus. [Chat] Ich: Hey. Ich hoffe, du bist gut heimgekommen. [Chat] Ich: Ich denke, dass es am Wochenende irgendwie klappt. Wahrscheinlich Sonntag…nachmittag? Wenn Mein Bruder keinen Anschlag auf mich plant. Passt das? [Chat] Ich: & ich befürchte, ich habe deinen Schal temporär entwendet. Sorry /D Für einige Augenblicke sah sie auf die Nachrichten hinunter und ließ noch einmal Revue passieren, wie der Tag gelaufen war. Wie ihr Date gelaufen war. Es klang sogar in ihrem eigenen Kopf merkwürdig. Sie starrte immer noch, als sich die beiden Häkchen am Nachrichtenrand blau verfärbten und James zu tippen begann. Wundervoll, nun erweckte sie den Eindruck, sie würde am Handy kleben und hätte nichts Besseres zu tun, als auf seine Antwort zu warten. [Chat] James: Hey! Bin ich. Sonntag passt perfekt – wann immer du Zeit hast, passt es perfekt :) Wenn du den Schal wieder loswerden möchtest, kannst du ihn dann mitbringen. [Chat] James: Was machst du gerade? Auf deine Nachricht starren und über die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung philosophieren, dachte sie sich. Vielleicht war sie einfach nur übermüdet. Ja. Das musste es sein. [Chat] Ich: Charmeur! Ich halte dich auf dem Laufenden. Hab grad Netflix angeschmissen, werde aber höchstwahrscheinlich bei der ersten Folge einschlafen. [Chat] James: Was schaust du denn? So langweilig? Und ehe sie es sich versah, waren sie in eine tiefgehende Diskussion über Serien verschiedener Genres verwickelt, gaben sich gegenseitig Empfehlungen, die sie zu verfolgen gelobten und überlegten, woran sie vielleicht gemeinsam Spaß haben könnten. Nachdem die Auswahl eingegrenzt war und es sich anfühlte, als hätten sie ein weiteres Treffen ausgemacht, schweiften sie zu anderen Themen ab, die scheinbar ebenso viel Potenzial boten, sich in ihnen zu verlieren. Mitten in der Nacht hatte Katie den Laptop längst von ihrem Schoß auf ihre Fußknöchel und schließlich auf den Schreibtisch geschoben. Air hatte Netflix umsonst geöffnet und so müde sie auch war, es fiel ihr sehr schwer, das Gespräch mit James zu unterbrechen. Mittlerweile hatte sie sich unter die Laken gekuschelt und mühte sich, die Augen auf zu halten, um eine letzte Nachricht zu schreiben. Oder… einige. [Chat] Ich: Wir sollten schlafen, denke ich. Wenn ich mich recht erinnere, liegen die Kurse bei Meyers immer vormittags. [Chat] James: Tun sie :D [Chat] Ich: Ich hab jetzt schon schlechten Einfluss auf dich. Ab ins Bett D: [Chat] James: Ist gut, ist gut. [Chat] James: Schlaf gut, Katie. Danke für den schönen Tag. [Chat] Ich: Gleichfalls. Ich hatte mehr Spaß, als ich gedacht hab. & ich freue mich aufs Wochenende. :) Schlaf gut, bevor du das morgen noch in der Uni tust. [Chat] James: Ich freue mich auch! [Chat] James: Und ich bereue nichts. :* Der Chatverlauf erhellte das Display, bis es sich selbstständig in den Ruhemodus versetzte. Katie schlief mit einem seligen Lächeln ein und träumte von Schneegestöber und Riesenrädern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)