Traumtänzer von Calafinwe ================================================================================ Prolog: -------- Du bist gerade unterwegs, um ein paar schöne Fotos zu machen. Die Kamera hast du zur Hand, visierst dein Objekt an und drückst den Auslöser. Ein kurzes Blinzeln und schon bist du nicht mehr an Ort und Stelle. Stattdessen hörst du Klirren von Metall auf Metall, einen Kampfschrei und bist in einer dir völlig fremden Umgebung. Doch statt dies alles realisieren zu können, siehst du nach oben. Jemand flucht und nennt dabei einen Namen. Dein Kopf realisiert, dass Luche dich gemeint hat, ehe er an einen anderen Ort warpt, damit ihr nicht zusammen stoßt. Kapitel 1: ----------- Es blitzte, dieses Mal hatten die manuellen Studioblitze zeitlich so ausgelöst, wie ich es mir erhofft hatte. Trotzdem stimmte etwas nicht, das Gewicht meiner Spiegelreflexkamera hatte sich merklich verändert. Hatte ich unbewusst ein kleineres Objektiv angeschraubt, ohne mich daran zu erinnern? Ich wollte es gerade überprüfen, als ich jemanden über mir fluchen hörte. „Verdammt! Juno!! Pennst du?!“ Irritiert drehte ich den Kopf. Da stand ein dunkel gekleideter Mann neben mir und sprang dann schneller als ein Häschen auf der Hatz davon. Es blitzte erneut. Im nächsten Augenblick lag ich mit dem Rücken auf dem Boden. Ein Schatten kam heran und erhob sich drohend über mir. Ich versuchte, etwas zu erkennen und stellte fest, dass sich mein Körper seltsam taub anfühlte, kribbelte. Der blondhaarige Mann, der jetzt wieder neben mir stand, kam mir seltsam bekannt vor. Er starrte mich wütend an. „‘Tschuldige ...“, stammelte ich aus einem Reflex heraus. Die Benommenheit ließ etwas nach, mühevoll stemmte ich mich auf meine Arme, schüttelte den Kopf einmal, als ich aufrecht saß. Mein Gegenüber tat nichts, um mir auf die Beine zu helfen. „Hör endlich auf, mir dauernd im Weg zu stehen!“, fauchte er mich stattdessen an. Ich sah zu ihm hoch und erkannte endlich mehr Einzelheiten von ihm. Die strohblonden Haare hatte er mit Haargel lässig nach hinten gestylt. Er hatte ein kantiges Gesicht, doch das Kinn lief recht spitz zusammen. Seine blauen Augen funkelten mich an. Mehr noch als das Gesicht, das ich nicht nur einmal auf einem Bildschirm gesehen hatte, sagte es mir die schwarzgrau gestaltete Kampfausrüstung, dass ich hier eine Königsgleve vor mir hatte. Vor allem noch eine, die sehr real wie Luche Lazarus aussah. Er machte keinerlei Anstalten, mir aufhelfen zu wollen. Stattdessen verschränkte er die Arme und sah mir dabei zu, wie ich mich selbst auf meine zitternden Beine kämpfte. Sein Gesichtsausdruck wurde noch wütender. „Gaff mich nicht an, als wär‘ ich ein bunter Hund!“, keifte er. Er wandte sich um. Das Getöse, das um uns herum stattfand, nahm ich nicht wahr. Immer noch perplex sah ich dem blonden Mann hinterher, der mich an Ort und Stelle stehen gelassen hatte. „Luche warte!“, rief ich und stolperte ihm nach. Wider Erwarten blieb er stehen und drehte sich zu mir um. Grimmig betrachtete er mich einmal von oben bis unten, die Arme verschränkt.  ‚Falls das ein Cosplayer ist, ist er wirklich in-character!‘, ging mir durch den Kopf. ‚Wird wohl ein Traum sein ...‘ „Es tut mir leid, wirklich! Ich ...“, setzte ich an. „Juno!“, mahnte er. „Ich versteh wirklich nicht, wie du es zu den Gleven geschafft hast.“ Schon wieder dieser Name, den er vorhin auch schon erwähnt hatte. Meinte er mich damit? „Warum ...?“ „Klappe!“, fuhr Luche bedrohlich fort. „Ehrlich, der Boss muss beim Praxistest geschlafen haben, als du an der Reihe warst! Außer Theorie pauken kannst du nichts!“ Ich schluckte und sah verschämt zu Boden. Das klang ja wenig aufmunternd. Während ich meine Fußspitzen betrachtete, bemerkte ich, dass ich ebenfalls die Kampfausrüstung der Gleven trug. Geschiente Stiefel, in denen die gemusterte Lederhose steckte, dazu der schwarze Kurzmantel mit den auffälligen, silbernen Knöpfen, den ich offen trug und der ziemlich verdreckt war. Darunter war ein schwarzes Shirt. Interessiert betrachtete ich die Scheide, die sich an meinem linken Oberschenkel befand, die jedoch leer war. Ein Seufzen riss mich aus meinen Gedanken. Luche sah mich immer noch an, doch inzwischen schien sein Zorn Bedauern gewichen zu sein. Es stimmte ja, sportlich war ich nie besonders gut, so sehr ich mich auch bemüht hatte. „Es tut mir leid, wirklich!“, wiederholte ich lahm und kratzte mich verlegen am Hinterkopf. Er verdrehte die Augen. „Ich will ja niemandem absichtlich im Weg stehen“, fügte ich kleinlaut hinzu. „Es ist nur ...“ Luche stemmte die Hände in die Hüften. „... deine Augen-Hand-Koordination?“, beendete er meinen Satz. Ich schluckte. „Ich versteh’s nicht. Du musst doch selbst wissen, dass du genau da hinwarpst, wo Nyx seinen Magieflakon hinwirft, wenn du dein Kukri so lahmarschig wirfst. Und immer nur flach über den Boden!“, tadelte er. „Ihr solltet Diagonalwarp üben, nicht ‚wie bringe ich mich mit dem geringsten Aufwand in die beschissenste Position?‘! So kannst du dich ja auch gleich selbst umbringen.“ Ich sah ihn erschrocken an. Mir war nicht klar, wie genau der Fehler aussah, den ich begangen hatte. Aber Luches Beschreibung zufolge und seiner Reaktion direkt danach zu urteilen, muss es ein gravierender gewesen sein, ganz unabhängig davon, dass ich ihm wohl zusätzlich noch im Weg gestanden hatte. „Ehrlich, mich würde es nicht wundern, wenn du irgendwann im Boden stecken bleibst!“ „Entschuldige ...“, stammelte ich. „Würdest du ...“ „Nein! Ich bin nicht dein Kindermädchen!“ Sagte es und war verschwunden. Offenbar war er blitzschnell weggewarpt. Ich versuchte, ihn in meiner unmittelbaren Umgebung ausfindig zu machen, aber Luche war weg. Dafür nahm ich etwas anderes wahr. Ich befand mich innerhalb einer Arena, in deren Mitte einige Felsformationen in die Höhe ragten. Die Szenerie war von blauen Blitzen durchzuckt. Und viele andere Leute, die ebenfalls die Königsgleven-Uniformen trugen und hin und her warpten. „Definitiv ein Traum ...“, murmelte ich. „Ein sehr Realer.“ Der Mittelpunkt des Geschehens hatte sich zum Glück etwas entfernt, in meinem Bereich der Arena war ich offensichtlich für mich allein, wie ich mit einem schnellen Blick feststellte. Ich befand mich auf dem Trainingsgelände der Königsgleve. Mitten in einem Computerspiel. Ich schüttelte den Kopf, aber es half nichts. Das hier schien einer der echtesten Träume zu sein, die ich in meinem Leben haben würde. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Früher war es mir schon gelungen, bewusst aufzuwachen, wenn ich mich konzentriere und es sich bei dem Traum um einen so genannten Wachtraum handelte. Am häufigsten war mir das bei Alpträumen passiert. Als ich die Augen wieder aufschlug, befand ich mich nach wie vor auf dem Trainingsgelände. Zugegeben, der Traum war noch nicht angsteinflößend genug, obwohl Luche schon ziemlich gruselig war in seinem Verhalten. Ich wollte es gerade erneut versuchen, als neben mir etwas blau aufblitzte. Ich zuckte zurück und fiel auf meinem Hintern. Luche war es zum Glück nicht. Dieses Mal stand mir eine junge Frau gegenüber, Jumpsuit, überraschend kurz geschnittene Version der Glevenjacke mit kurzem roten Cape daran. Die welligen braunen Haare hatte sie in einem Dutt zusammengesteckt. „Hoppla!“, meinte Crowe freundlich und hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mir aufhelfen. „Danke ...“, hauchte ich. „Du musst mehr aufpassen. Luche verliert schnell die Geduld, vor allem wenn ihr Neulinge euch in seinen Augen dumm anstellt“, erklärte sie. Ein verschmitztes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, dann sah ich sie schüchtern an. „Bist du nicht der Meinung, dass ich mich dumm anstelle?“, fragte ich vorsichtig. „Nein“, meinte sie zu meiner Erleichterung nett. „Wir haben alle mal klein angefangen, selbst Luche. Nimm es dir nicht so sehr zu Herzen, was er zu dir sagt.“ Sie zögerte kurz. „Sag ihm nicht, dass ich das gesagt habe, okay?“, bat sie. „Klar!“ Meine Stimme klang schwach, gerade so, als hätte ich keine Kraft im Körper, keine in den Lungen. „Ich erklär dir am besten noch mal, wie das mit dem Warpen funktioniert.“ Ein Stein fiel mir vom Herzen, so erleichtert war ich darüber, dass Crowe mir ihre Hilfe anbot. Ich spitzte die Ohren. „Für’s Warpen benutzen wir in der Regel kleine Nachkampfwaffen, deren Kernelement aus einem seltenen Erz besteht. Standardmäßig handelt es sich dabei um Kukris. Diese gehören zur Standardausrüstung derjenigen, die im Nahkampf talentierter sind als in der Magie.“ Ich nickte, um ihr zu signalisieren, dass ich soweit verstanden habe. Dummerweise kam mir nichts von dem, was sie mir sagte, in irgendeiner Weise bekannt vor. Mir schien es eher so, als hätte ich heute meine allererste Theoriestunde in der Ausbildung der Königsgleven. „Einige andere Gleven, die vorwiegend Magie benutzen, haben in der Regel Kunai versteckt am Körper.“ Crowe hob ihr linkes Bein und zog mit der rechten Hand einen kleinen Knauf aus dem Stiefelschaft. Zum Vorschein kam eines der kleinen Wurfmesser. Sie steckte es wieder weg, nachdem ich es ausgiebig begutachtet hatte. „Unsere Hauptaufgabe ist es, den Gegner aus der Entfernung mit Magie zu bekämpfen, während die anderen sie im Nahkampf beschäftigen. Die Zauber, die wir wirken können, können sehr mächtig sein. Und fürchterlich schief gehen, wenn man sie falsch synthetisiert oder man den Magieflakon versehentlich auf die Kameraden oder nicht weit genug von sich selbst wegwirft. Merk dir das.“ „Üben wir das heute auch?“, fragte ich neugierig. „Nein. Wir müssen dir ja erst einmal das Warpen beibringen“, lachte Crowe. „Also pass auf. Die Kunst des Warpens können nur einige wenige Auserwählte erlernen. Üblicherweise stellen die in einem Praxistest fest, wer geeignet ist und wer nicht. Die Fähigkeit zu Warpen und Magie zu wirken, wird uns üblicherweise vom König gewährt. Falls du das schon wieder vergessen hast, lies es in unserer internen Datenbank noch mal nach.“ Ich nickte. „Beim Warpen wird auch ein kleiner Zauber gewirkt, den wir aber nur dadurch beeinflussen können, in welche Richtung wir unsere Waffe werfen.“ „Ist dabei schon mal etwas schief gegangen?“, erkundigte ich mich. Crowe sah mich schief an. „Wie meinst du das?“ „Na ja, ist schon mal jemand ...“, Luches Worte gingen mir durch den Kopf. „... in einer Wand gelandet?“ Sie sah mich abschätzig an. „Es kommt hin und wieder mal vor, dass sich jemand beim Werfen verschätzt. Das kann genauso schief gehen, wie wenn man zum Beispiel nicht weit genug wirft. Ich glaube, der schlimmste Unfall, den wir mal hatten, war ein gebrochenes Bein“, überlegte sie. „Aber lass dich davon nicht beunruhigen!“ Die Gleve hatte wohl meinen entsetzten Gesichtsausdruck gesehen. Ich seufzte einmal. „Beim Diagonalwarpen musst du deine Sinne sehr schnell koordinieren können. Anfangs ist es für den Körper ein Schock, wenn man das erste Mal erfolgreich warpt. Erinnerst du dich noch an das Übelkeitsgefühl?“, fuhr sie fort. „Ich hab damals für den Rest des Tages nichts mehr gegessen, so speiübel war mir.“ Ich schwieg. Crowe musste ja nicht wissen, dass mein Erinnerungsvermögen diesbezüglich einem schwarzen Loch gleichkam. „Ich hab‘ so meine Schwierigkeiten mit Höhe ...“, meinte ich stattdessen. Ein Umstand, der nicht einmal gelogen war. Ich hatte tatsächlich Höhenangst, die sich aber nicht jedes Mal bemerkbar machte, sobald es hinauf ging. In Flugzeugen oder Helikoptern zu fliegen, stellte kein Problem dar. Beides hatte ich schon gemacht und hatte meinen Frieden dabei, wenn es nicht zu starken Turbulenzen kam. Anders sah die Sache bei Seilbahnen oder wackeligen Aussichtsplattformen aus. Allein der Gedanke daran, dass ich in diesem Gelände wie eine echte Königsgleve herumwarpen sollte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Die Möglichkeit, aus Versehen in einer Wand zu landen, erschien mir gar nicht mehr so abwegig. Die junge Frau schien meine Unsicherheit zu bemerken. „Da musst du wohl durch. Oder du suchst dir einen anderen Job“, fand Crowe mitleidig. Ich schluckte. „Also, willst du’s noch mal versuchen? Wir bleiben vorerst hier in diesem Bereich des Geländes, dann kannst du in Ruhe üben. Ignorier die andern.“ „Okay ...“, stotterte ich. Ich sah an mir herab. Erst da fiel mir wieder ein, dass mir meine Waffe fehlte. „Huch?“ „Da!“ Mein Kukri lag einen Meter entfernt von mir am Boden. Hochrot hob ich es auf, ohne Crowe anzuschauen. Ich atmete einmal tief durch, um meine Nerven und meinen Puls zu beruhigen. Es klappte nur dürftig. „Konzentrier dich!“, mahnte die erfahrene Gleve. „Warp einmal senkrecht nach oben und dann wieder schräg auf den Boden. So brauchst du einen kleineren Radius und tust dich bei der Landung einfacher.“ Ich schnaufte noch einmal tief durch die Nase ein und wieder aus, aber es half alles nichts. Mein Herz, das mir mittlerweile bis zum Hals hoch klopfte, ließ sich nicht beruhigen. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und warf meine Waffe mit aller Kraft senkrecht nach oben. Als sich das Kukri dem Maximum seiner Flugbahn näherte, verspürte ich ein Kribbeln auf meiner Haut. Plötzlich zog sich mein Körper zusammen, im nächsten Augenblick fand ich mich einen Meter von meinem Kukri entfernt wieder. Zwanzig Meter über dem Erdboden, doch ich hatte keine Gelegenheit, mir darüber groß Gedanken zu machen. Fast wäre mir meine Waffe durch die Finger gerutscht. Ich bekam sie gerade noch so an der Klingenrückseite zu fassen, als mich die Schwerkraft schon wieder nach unten beförderte. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, warf ich die Klinge erneut, dieses Mal in die Richtung, in die mir Crowe gewiesen hatte. Dieses Mal kam das Kribbeln und Schrumpfen schneller, erneut tauchte ich plötzlich einen Meter von meinem Kukri entfernt in der Luft auf. Doch anstatt nach meiner Waffe greifen zu können, berührten meine Füße plötzlich den Untergrund und ich landete unsanft auf dem Boden der Tatsachen. Meine Knie gaben nach. Es gelang mir reflexartig, mich auf die Seite zu drehen und leicht abzurollen, wodurch ich den Aufschlag abmildern konnte. Trotzdem blieb es ein Aufschlag. Der Ohnmacht nahe blieb ich liegen. „Ahahaha, ist die Kröte wieder im Dreck gelandet ...?!“, hörte ich jemanden rufen. „Sei still!“ Verschwommen nahm ich wahr, dass Crowe weg warpte und einen Augenblick später wieder zurück war. Sie eilte an meine Seite. „Juno, geht’s dir gut?“ Ihr besorgtes Gesicht schob sich in mein Sichtfeld. „Mhm“, meinte ich tapfer und schob mich auf meine Ellbogen. Mir war speiübel. „Komm, du musst dich aufrichten, sonst übergibst du dich nur!“ Crowe griff mir unter die Achseln und zog mich in eine sitzende Position. Die Übelkeit ließ schnell nach, meine Sicht klärte sich wieder etwas. Vorsichtig bewegte ich meine Beine, ließ die Fußgelenke kreisen. Trotz der harten Landung schien ich nicht ernsthaft verletzt zu sein. „Kannst du aufstehen?“, fragte die Gleve. „Ja!“ Sie zog mich auf die Beine. Als ich in ihren Augen sicher stand, ließ sie mich los. Schwach lächelte ich ihr ins Gesicht und bückte mich dann nach meinem Kukri. Ich wollte es nicht noch einmal vergessen. Aufmunternd sah Crowe mich an. „Komm, wir lassen das mit dem Training für heute!“ Sie nahm mich am Arm und führte mich an den Rand der Arena. Ich folgte ihr auf wackligen Beinen hinein ins Gebäude, einmal um die Ecke nach links und dann den Gang entlang. Die ersten beiden Türen zu unserer Rechten standen sperrangelweit offen. Crowe schob mich in die zweite, bei der es sich um Umkleiden handelte. „Die lassen immer die Türen offen“, schimpfte sie gespielt. Sie schob sie zu und führte mich weiter in den Raum hinein zu Spinden an der Rückseite des Raums. Schräg gegenüber führte eine weitere Tür tiefer ins Gebäude. Nur am Rande nahm ich den Namen auf dem Schild am Schrank wahr. ‚J. Ofilius‘ stand dort. Es schien sich um meinen Spind zu handeln. „Zieh mal die Sachen aus, ich will sehen, wie schlimm es ist“, wies Crowe mich an. Ich starrte sie an. Und gehorchte. Schnell hatte ich mich der Jacke entledigt, die inzwischen eine gründliche Reinigung nötig hatte. Bei weitem zögerlicher öffnete ich den Knopf und den Reißverschluss meiner Hose und schob sie soweit über meinen Hintern hinab, dass ich sie problemlos im Sitzen ausziehen könne. Selbst durch meinen Slip hindurch fühlte sich die Sitzbank kalt an. Crowe hockte sich vor mich hin und betrachtete das, was von meinem linken Oberschenkel zu sehen war. Dort bildete sich gerade ein stattlicher blauer Fleck. „Das sieht übel aus“, kommentierte sie, als ich mich endlich der kompletten Hose sowie der Stiefel entledigt hatte. „Fühlst du sonst irgendwelche Schmerzen?“ Inzwischen tat mein ganzes linkes Bein an der Seite, auf der ich so unsanft gelandet war, weh. Vorsichtig bewegte ich noch mal meine unteren Extremitäten, wie ich es zuvor schon auf dem Platz gemacht hatte. Die Tatsache, dass ich alles bewegen konnte, auch die Zehen ließen sich spreizen, beruhigte mich ungemein. Einen Nerv hatte ich mir offensichtlich nicht eingeklemmt. „Es tut nur höllisch weh!“, meinte ich tapfer. „Und hier?“, fragte sie und kniff mir an meinen linken Oberarm. „AU!“, entfuhr es mir. „Dacht ich’s mir.“ Crowe stand auf und sah besorgt zu mir runter. Ich sah, dass ihre Gehirnzellen arbeiteten. „Hey, das tut nur ziemlich weh, aber es scheint nichts gebrochen zu sein.“, versuchte ich, ihre Sorgen abzuwiegeln. „Trotzdem, das hätte nicht passieren dürfen. So kannst du die nächsten Tage nicht trainieren.“ Ich ließ die Schultern hängen. Das fing ja gut an! „Na ja, es hilft alles nichts. Jetzt schauen wir erst einmal, dass wir dich unter die Dusche bekommen, du bist komplett verschwitzt!“ Ich starrte sie entgeistert an, während Crowe ganz ungeniert anfing, in meinen Hosentaschen zu kramen. Sie förderte einen kleinen Schlüsselbund zu Tage und schloss mit einem Kurzen meinen Spind auf. Ich räusperte mich. „Hm?“, machte sie. „Das ist privat“, erklärte ich und stand auf. Wenn einem Gefahr drohte, entwickelte man ungeahnte Kräfte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie ich es schaffte, die Gleve bestimmt von meinem Spind wegzuschieben. Ich hatte selbst keinen blassen Schimmer, was sich in dem Schränkchen alles finden würde. Crowe verzog sich in eine andere Ecke des Raums, als ich sie nicht weiter beachtete. An der Innenseite der Tür hing eine geknitterte Schwarzweiß-Fotografie. Sie zeigte mich und noch zwei andere Personen, die ich nicht erkannte. Ich starrte eine ganze Weile auf das Bild, ehe mich ein Knall aufschrecken ließ. „Brauchst du Hilfe beim Duschen?“, fragte Crowe durch den Raum. Ich sah zu ihr hinüber. Sie hatte sich komplett ausgezogen und hielt ein Handtuch ziemlich schlampig vor ihren Körper. Ich konnte einen Großteil ihrer rechten Brust sehen und spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie zuckte mit den Schultern. „Dann wohl nicht ...“, meinte sie nur und verschwand durch die andere Tür. Kurz darauf könnte ich Wasser aus einem Duschkopf rauschen hören. Ich wandte mich wieder meinem Schrank zu und wühlte schnell durch die Sachen. Oben fand ich Handtücher und diverse Hygieneartikel, mehrere Sätze Unterwäsche, Haargummis sowie verräterisch kleine, quadratische Plastikpäckchen, bei denen es sich nur um Präservative handeln konnte. Ich überlegte, ob ich noch mal versuchen sollte, endlich aus diesem Traum aufzuwachen. Andererseits waren die Schmerzen auf meiner linken Körperseite inzwischen viel zu real, als dass es sich dabei um einen Traum handeln konnte. Peinlich berührt von den Kondomen wandte ich meine Aufmerksamkeit der Handtasche zu, die versteckt unter der Kleidung auf dem Kleiderbügel hing. Zu meiner Enttäuschung befand sich darin keine Geldbörse und bei dem Mobiltelefon, das mir in die Finger geriet, scheiterte ich am Zahlencode. ‚Scheiße!‘, dachte ich frustriert. ‚Ich weiß weder was über mich, noch hab ich Geld zur Verfügung.‘ Vielleicht hatte ich ja Glück und jemand rief mich an, dann würde ich das Gerät benutzen und den Code ändern können. Sicherheitshalber fühlte ich an den Seiten der Handtasche entlang, nachdem ich jedes innen- und außenliegende Extrafach doppelt auf seinen Inhalt geprüft hatte. Es gab nicht die kleinste versteckte Extratasche. Also verfügte ich momentan über Lippenbalsam, einen kleinen Kugelschreiber aber keinen Block dazu, Papiertaschentücher und einem Handy, dessen Nutzung mir vorerst verwehrt blieb. „Scheiße ...“, murmelte ich. „Du stehst ja noch immer da!“, meinte jemand hinter mir. Ich fuhr herum. Crowe stand da, vergleichsweise züchtig in ein Handtuch gewickelt, und sah mich an. „Ist alles in Ordnung?“, hakte sie nach. „Ja. Ich ... Es ist nur alles ein bisschen viel auf einmal“, seufzte ich. „Verstehe ... Was hältst du davon, wenn du heute Abend mitkommst und einen mit uns drauf machst?“, schlug die junge Frau vor. Ich schluckte. Meinte sie damit etwa den Besuch beim Spießchenstand irgendwo in den Tiefen Insomnias? Dann fiel mir etwas ein. „Entschuldige, ich hab offensichtlich meinen Geldbeutel daheim liegen lassen, und ...“, offenbarte ich. „Macht doch nichts! Ich lad dich ein! Dann kommst du auf andere Gedanken!“ Crowe grinste. Ich ließ die Schultern hängen. „Es wird dir bestimmt gefallen.“ Vielleicht war es ja tatsächlich ganz nett. Die Szene im Film hatte die Freunde zwar in gedrückter Stimmung gezeigt. Trotzdem hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass sie wirklich eng miteinander waren. Und genau das war einer der Gründe, warum ich mich nicht aufdrängen wollte. Ganz abgesehen davon, dass Luche wohl auch dabei sein würde. Aber das sagte ich nicht. „Na komm, unter die Dusche mit dir!“, forderte Crowe. „So stinkend kannst du nicht vor die Tür gehen!“ Sie kam wieder zu mir herüber, sah in meinen Schrank und griff nach den Handtüchern. Dabei löste sich der Knoten in dem Handtuch, das sie sich umgewickelt hatte. Stoisch in die Luft blickend nahm ich ihr meine Handtücher ab und stapfte an ihr vorbei zu den Duschen.   * * *   Der Bus ruckelte durch die Straßen, die Luft in dem Fahrzeug war trotz der gekippten Fenster stickig. Crowe hatte gemosert, dass schon wieder eins der alten Modelle ohne Klimaanlage fuhr, als er in die Haltebucht der Bushaltestelle gelenkt wurde. Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt und meine Handtasche an mich gedrückt. Wir waren nicht die einzigen Gleven, die den Fünfuhrbus in den Feierabend nahmen. Trotz des Gerangels schafften wir es, uns zwei Sitzplätze im hinteren Bereich zu sichern. Crowe ließ mich am Fenster sitzen, sie hatte ja gar keine Ahnung, wie dankbar ich ihr war. Danach hatten wir uns auf den Weg gemacht in die Untiefen dieses gefräßigen Schmelztiegels, der sich lucissche Hauptstadt schimpfte. Zunächst hatten wir noch eine weitere Haltestelle abgeklappert, auch der Gang war mittlerweile vollbesetzt. Danach hatte sich der Bus auf eine der Expressstraßen gezwängt, die sich auf Brücken durch die Großstadt schlängelten. Gebannt hatte ich die Aussicht genossen. Irgendwann hatte Crowe gekichert und gemeint, ich sähe aus, als wäre ich das erste Mal in einer Großstadt. Was natürlich nicht der Wahrheit entsprach, aber das verschwieg ich lieber. Tokio damals war schon sehr eindrucksvoll gewesen, aber gegen Insomnia kam die japanische Hauptstadt einem Fliegenschiss gleich. Die Skyline war atemberaubend. Ein Gebäude, das aus mehreren, miteinander verbundenen Towern bestand, überragte alles. Erst nach mehreren Minuten gebannten Draufstarrens wurde mir bewusst, dass es sich dabei um den Palast handeln musste. Ob sich König Regis und Prinz Noctis gerade dort befanden? Duzende solcher Fragen waren mir durch den Kopf gerauscht, aber auch keine hatte ich eine zufriedenstellende Antwort finden können. Lediglich soviel war mir klar, als dass es noch nicht zu jenem verhängnisvollen Tag der Vertragsunterzeichnung gekommen war, der in einem Blutbad und der Zerstörung der halben Stadt geendet hatte. Ein Schatten war mir übers Gesicht gehuscht. Der Bus folgte einer langgezogenen Kurve und der Palast verschwand wieder aus meiner Sicht. Immer wieder blieben meine Augen an Reklametafeln hängen, die vier ineinandergreifende Ringe zeigten, zusammen mit dem Spruch ‚Vorsprung durch Technik‘. Ich grinste jedes Mal, wenn wir an einem davon vorbeifuhren. Mein erstes Auto war seinerzeit ein Audi A2 gewesen, bevor ich auf einen Toyota Hybrid umgestiegen bin. Zahlreiche Erinnerungen verbanden mich mit meiner damaligen silbernen Suppenschüssel, die mich 13 Jahre lang sicher von A nach B gebracht hatte. Irgendwann verließ der Bus die Expressstraße und fuhr wieder hinab in die Häuserschluchten. Die Gehwege waren ziemlich voll. Läden mit den verschiedensten Waren reihten sich aneinander, Elektronikartikel, Klamotten- und Schmuckläden, vereinzelt Restaurants. Einmal erspähte ich sogar eine Spielhölle. Wir bogen mehrere Male ab, bevor Crowe mich an der Schulter zupfte. „Au ...“, keuchte ich, da es ausgerechnet die linke war. „Sorry“, meinte sie entschuldigend. „Die nächste müssen wir raus.“ Ich nickte. Wir standen auf und zwängten uns durch die anderen Fahrgäste hindurch zur Ausstiegstür. Mehrmals bekam ich Ellbogen oder Taschen an die linke Seite, wodurch sich meine Prellungen wieder bemerkbar machten. Ich bis die Zähne zusammen und hielt mich an einem der Griffe fest. Der Bus bog endlich in die Haltestelle ein und wir quetschen uns hinaus. „Endlich draußen!“, meinte Crowe. Sie tat es mir gleich und nahm einige tiefe Atemzüge. „Und jetzt?“, fragte ich. „Komm mit, wir müssen noch ein Stück weit laufen.“ Ich stolperte ihr hinterher und musste mich vorerst von meiner Umgebung abwenden, wenn ich den Anschluss nicht verlieren wollte. Crowe führte mich zunächst die Straße entlang, an der uns der Bus rausgelassen hatte. Nach mehreren hundert Metern – mir schien es, als kämen wir an einer weiteren Bushaltestelle vorbei – bogen wir rechts ab und folgten der Seitenstraße zwei Blocks. Danach lotste mich die Gleve einmal auf die andere Seite, wo es einen kleinen, umzäunten Platz rechts neben dem Hochhaus gab. Erst, als wir uns näherten, bemerkte ich, dass an der Rückseite eine etwa zwei Meter breite Eisentreppe in die Tiefe führte. Langsam stieg ich Crowe hinterher die Stufen hinab. „Alles okay?“, fragte sie besorgt. „Ja, mein Oberschenkel fängt nur grad wieder zu schmerzen an.“ Tatsächlich schlackerten mir die Knie, denn der Geruch von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase. Mein Magen machte sich lautstark bemerkbar. „Du meine Güte!“, lachte Crowe, als sie es wahrnahm. „Wann hattest du heute zuletzt was zu essen?“ Ich sah sie nur hungrig an und überwindete die letzten Stufen. Unten angekommen sah ich schon einen großen Tisch und drei Leute, die daran saßen, schwatzten und schmatzten. Ich schluckte. Wie ich es mir gedacht hatte, Luche war auch dabei. Bei den anderen beiden, die ihm gegenübersaßen und uns die Rücken zukehrten, konnte es sich nur um Libertus und Nyx handeln. Libertus Ostium war der einzige Angehörige der Königsgleve, den ich im Film bewusst als leicht übergewichtig wahrgenommen hatte. Und der Irokesenhaarschnitt von Nyx Ulric war einfach unverkennbar. Der Held der Geschichte musste einem ja schließlich auch optisch in Erinnerung bleiben. Pelna Khara war nicht dabei. Luche bemerkte uns als Erster. „Warum hast du die Kröte mitgebracht?“, fragte er, als er mich sah. „Halt die Klappe! Juno, hör einfach nicht auf ihn!“ Während sich die anderen beiden zu uns umdrehten, klappte der blonde Mann die Kinnlade einmal auf und wieder zu. Er warf mir noch einen wütenden Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf sein Abendessen. „Hi. Ihr habt ja lang gebraucht“, begrüßte Nyx uns. Libertus winkte nur und drehte sich dann wieder um. „Sorry, war nicht unsere Absicht“, meinte Crowe entschuldigend und wandte sich zu mir um. „Schon mal galahdische Spießchen gegessen?“ „Nee!“, kam meine prompte Antwort. „Na dann wird’s ja langsam Zeit!“ Meine Begleiterin und Mentorin, wie es mittlerweile den Anschein hatte, schob mich zum Grillstand hin. Crowe und der Bratmeister kannten sich offenbar. Fasziniert betrachtete ich die Spießchen, die über offenem Feuer vor sich hinbrutzelten. „Also? Welche willst du?“ „Dann wohl einmal von allem“, grinste der Verkäufer, als ich ihnen eine Antwort schuldig blieb. Ich beobachtete, wie er einen Teller zur Hand nahm und darauf von jeder Sorte ein Spießchen platzierte. Eigentlich war ich nicht so der Fleischesser, aber so ausgehungert, wie ich mich fühlte, würde mein Verdauungstrakt Zeter und Mordio schreien, wenn ich ihm jetzt Nahrung vorenthielt. Mit strahlenden Augen verfolgte ich, wie sich mir der Teller mit den Spießchen langsam näherte. „Ich mach das schon“, sagte Crowe schnell, als der Wirt Anstalten machte, mir Geld abdrücken zu wollen. „Einmal ihre Portion, und für mich das Übliche. Und zwei Bier.“ Ich hatte mich schon zum Tisch umgedreht, beim Stichwort Bier schluckte ich merklich. Auch Alkohol trinken gehörte nicht zu Dingen, die ich tat. Überhaupt hatte ich bisher sehr abstinent gelebt und war damit immer gut gefahren. Ich konnte nur hoffen, dass das hiesige Bier nicht dem Münchner Starkbier gleichkam. „Du meine Güte“, brummte Luche, als ich an den Tisch kam, und stand auf. Ich sah ihm forsch ins Gesicht, sagte aber nichts. Er lehnte sich ans Geländer, wie er es auch im Film getan hatte. Die Fleischspießchen forderten meine gesamte Aufmerksamkeit. Zuerst schnappte ich mir eines, an dem nur Fleisch hing. Eines der Spießchen hatte zusätzlich Lauch zwischen den Fleischstücken, das wollte ich mir deshalb bis zum Schluss aufsparen. Falls die anderen nicht schmeckten, konnte ich mit dem Lauch den Geschmack wenigstens etwas überdecken. Allerdings waren meine Sorgen völlig unbegründet. Die Spießchen waren würzig, aber nicht zu scharf. Das Fleisch fiel mir mehr wegen seiner Konsistenz auf und weniger wegen des Eigengeschmacks. „Nicht so gierig, junge Dame!“, mahnte Libertus. „Sonst überfrisst du dich!“ „Du brauchst grad reden!“, konterte Crowe, die ebenfalls an den Tisch gekommen war. Nachdem mein ärgster Hunger gestillt war, fiel mir Nyx‘ observierender Blick auf. Ich sah kurz zu ihm hin. „Entschuldige, ich hatte den Magieflakon heute echt dumm geworfen“, entschuldigte er sich. Ich verschluckte mich fast.  „Schon gut“, murmelte ich. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Luche wegging. Als ich ihn außer Hörweite wähnte, sah ich die anderen drei ernst an. „Ist er immer noch sauer auf mich?“ „Ach, vergiss Luche. Er regt sich nur darüber auf, dass er heute mit den Neulingen trainieren musste“, erzählte Nyx. „Das hat er noch nie gemocht.“ „Ah.“ Zu mehr war ich nicht imstande. Nyx hatte mir gerade, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine wichtige Information gegeben. Ich schien noch ein Neuling bei der Königsgleve zu sein. „Und hast du’s jetzt verstanden, wie es mit dem Warpen funktioniert?“, erkundigte sich Libertus. Er hatte sein Abendessen ebenfalls beendet und sah mich freundlich an. „Ich denke ... schon ...“, stammelte ich aufgeregt. „Ich werd‘ nur ... jede Menge üben müssen.“ „Mussten wir alle. Wenn es dich tröstet, mir wird davon immer noch schlecht und ich mach das schon seit Jahren“, fügte er hinzu. Nyx grinste dezent. „Wie lange hat es bei dir ... bei euch gedauert, bis ihr so gut Warpen konntet?“, fragte ich und griff zu meinem letzten Spießchen. Von dem Bier hatte ich bisher nicht getrunken, während Crowe ihre Flasche schon zur Hälfte geleert hatte. „Bei mir hat’s ein halbes Jahr gedauert, aber unser Nyx hier hat es nach drei Wochen Training gekonnt“, erzählte Libertus. Ich sah den Gepriesenen an, als wäre er Supermann. Im Grunde genommen war er das ja auch. In dem Moment, für mich. Er sah verlegen zur Seite, als er meinen bohrenden Blick spürte. „Du hättest es genauso schnell gelernt, wenn sich Drautos dich zur Brust genommen hätte“, wiegelte er bescheiden ab. „Worauf ich dankend verzichtet habe ... Isst du das noch?“ Libertus deutete auf mein Fleisch-Lauch-Spießchen. Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger und griff schnell nach dem Spieß, bevor er es mir stibitzen konnte. „Du solltest dringend das Werfen und vor allem das Zielen üben“, meinte Crowe, die rechts von mir saß. Ich nickte lahm. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Schweigen legte sich über unseren Tisch, während wir Frauen unser Mahl beendeten, Libertus anfing, auf seinem Handy zu tippen und Nyx seinen rechten Unterarm inspizierte, als ob er eine frische Wunde hätte. Fieberhaft überlegte ich, was ich als Nächstes fragen könnte. Ich hatte seit jeher meine Schwächen bei der Interaktion mit anderen. Small-Talk war kein Problem, aber für tiefgreifende Gespräche fehlten mir oft die Themen, die sich für meine Mitmenschen eigneten. Und in der gegenwärtigen Situation musste ich höllisch aufpassen. Selbst eine einfache Frage, wie was am nächsten Tag anstünde, erschien mir zu verräterisch. Was, wenn morgen Wochenende oder ein arbeitsfreier Feiertag war? Das nicht zu wissen, konnte Misstrauen auf mich lenken, das ich vorerst vermeiden wollte. Luche kam wieder an den Tisch zurück und setzte sich an die Stirnseite. Er ignorierte mich hartnäckig. „Wird Zeit, dass Pelna aus dem Urlaub zurückkommt“, meinte er. Die anderen drei sahen sich an. Mein verwirrter Blick suchte Augenkontakt mit Libertus, fand ihn aber nicht. „Jetzt lass mal gut sein, Luche“, meinte Crowe. „Du bist als Neuling genauso häufig auf dem Hintern gelandet.“ Offensichtlich ging es doch wieder um mich. Ich legte mein letztes Spießchen, das mittlerweile sauber abgeleckt war, auf den Teller vor mir und richtete mich kerzengerade auf. „Was ist eigentlich dein Problem?“, fragte ich den blonden Mann rundheraus. Zornig starrte er zurück. „Fühlst du dich etwa stark, weil du glaubst, hier jemanden auf deiner Seite zu haben?“, konterte er, ohne auf meine Frage einzugehen. Tatsächlich hoffte ich, dass wenigstens Crowe mir beistehen würde, doch ich wagte es nicht, Luches stechendem Blick auszuweichen. Angriffslustig starrte ich zurück. Er legte den Kopf leicht schief und zog einen Mundwinkel nach oben. „Okay, ist gut jetzt, Kinder!“, ging Crowe dazwischen. „Ihr müsst euch hier nicht kloppen.“ Ich sah sie an, sah meine Bierflasche und griff danach. Als mein Blick zufällig wieder zu Luche glitt, grinste er mich fies an. Das Starrduell hatte er gewonnen. Ich versuchte, meine aufkeimende Wut hinunterzuschlucken, und sah auf den leeren Teller meiner Sitznachbarin. „Na? Zufrieden für heute?“, fragte sie mich. „Zufrieden“, bestätigte ich. „Gut, dann bring ich dich jetzt besser nach Hause“, meinte sie und stand auf. „Ihr wollt schon gehen?“, fragte Nyx erstaunt. „Ja“, bestätigte Crowe. „Wenn’s nach mir ginge, würde ich noch bleiben, aber du weißt ja selbst, dass Juno eine Bruchlandung hingelegt hat. Da ist Ruhe wichtiger als ein Trinkabend. Also? Kommt du?“ „Ja“, stotterte ich und machte, dass ich auf die Beine kam. „Also, wir sehen uns morgen!“ „Gute Nacht“, verabschiedete mich. Nyx und Libertus wünschten mir alles Gute, während Luche schwieg. Zum Glück sah er irgendwo anders hin. Ich beeilte mich und folgte Crowe die Treppe hinauf.   * * *   Crowe hatte Wort gehalten und mich bis nach Hause begleitet. Was insofern gut für mich war, als dass ich auch gleich wusste, wo ich wohnte. Der Schlüssel zu meiner Wohnung fand sich an dem Schlüsselbund wieder, der sich heute Nachmittag in meiner Hosentasche gefunden hatte. Die Gleve hatte sich von mir verabschiedet und hatte sich auf den Heimweg gemacht. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, hetzte ich durch die Wohnung und fand nach kurzer Suche das, was ich jetzt brauchte. Eine Toilette! Seit geschlagenen fünf Minuten hing ich über der Schüssel und versuchte erfolglos, mich zu übergeben. Doch gerade in dem Augenblick, als die Lösung des Problems zum Greifen nahe war, schien es sich mein Magen wieder anders überlegt zu haben. Oder meine Nerven. Oder beides. Tränen rannen mir über die Wagen. Ausgelöst von der Anstrengung, mich zu übergeben, von dem unangenehmen Gefühl beim Warpen, von Luches Verhalten. Ich wusste es nicht. Vermutlich alle drei gleichzeitig. Vielleicht auch, weil ich partout nicht aus diesem Traum aufwachen konnte. Nachdem ich sicher war, dass ich mich heute doch nicht mehr übergeben würde, richtete ich mich vorsichtig auf und benutzte die Toilette entsprechend ihres ursprünglichen Zwecks. Wie im Wahn wusch ich mir danach die Hände und das Gesicht, betrachtete den langen Zopf dunkelbrauner Haare, der mir über die linke Schulter herabhing, ohne ihn davor richtig wahrgenommen zu haben. Schlurfte ins Schlafzimmer. Fiel ins Bett und fing das Heulen an. Irgendwann spät in der Nacht war ich eingeschlafen. Kapitel 2: ----------- „In was bin ich da nur rein geraten?“ Ich lag seit einer Stunde wach in meinem Bett. Nicht in meinem eigenen Flauschigen in dem Zimmer mit den grünen Wänden, sondern in „meinem“ Bett in Insomnia, in das ich tags zuvor völlig aufgelöst gefallen war. Nicht, dass es unbequem war, ganz im Gegenteil. Trotzdem war ich wieder kurz davor, in einen Heulkrampf auszubrechen. Diese Verrücktheit wollte einfach nicht aufhören. Ich sah zu meinem Wecker auf dem Nachttisch, ein altmodisches Gerät mit einem kleinen Hammer zwischen zwei Schellen. Der kleine rote Zeiger stand auf sieben Uhr. Jetzt war es sechs und ich fühlte mich nach wie vor erschöpft. Die wenigen Stunden Schlaf waren nicht erholsam, aber jetzt noch mal Einnicken kam nicht in Frage. Ich hatte am Vorabend nicht mehr darauf geachtet, ob ich einen Wecker stellen musste oder nicht. Die Uhr auf dem Nachttisch war mir erst heute Morgen aufgefallen und die Funktionen meines Mobiltelefons, das ich gestern in der Handtasche gefunden hatte, standen mir nach wie vor nicht zur Verfügung. Bisher hatte niemand angerufen. Ich richtete mich auf, es half schließlich nichts, planlos und verstört im Bett zu liegen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Ich inspizierte meine linke Körperseite. Soweit ich es in dem schummrigen Licht sehen konnte, hatte sich der blaue Fleck vom Vortag mittlerweile über den kompletten linken Oberschenkel ausgebreitet. Auch am linken Oberarm war die Haut verräterisch eingefärbt, allerdings nicht so schlimm, wie an meinem Bein. Beide Stellen taten mir nach wie vor weh. Als ich meine Beine aus dem Bett schob, spürte ich Schmerz in meinem Kniegelenk. Beunruhigt sah ich es mir genauer an, konnte aber keine Verfärbungen feststellen. Ich drehte das linke Bein etwas und sog scharf die Luft ein. „Offensichtlich verdreht ...“ Ich kämpfte mich auf die Füße und kippte nicht sofort wieder nach hinten auf die Matratze. Das machte mir Mut. Aber wie Crowe am Vortag schon meinte, Training ging so nicht. Überhaupt hatte ich keine Ahnung, was heute anstand. Ob es Wochenende war oder ein regulärer Arbeitstag.  ‚Ist trotzdem besser, wenn ich ins Hauptquartier fahre, sonst bleibe ich möglicherweise noch unentschuldigt der Arbeit fern ...‘, dachte ich. Ich sah mich in dem Zimmer um. Es war recht spärlich möbliert mit einem Bett und dem zuvor schon erwähnten Nachttisch. Sonst gab es nur noch einen Schrank und eine kleine Kommode. Ich stand auf und ging zu dem Fenster hinüber, welches auf einen kleinen Innenhof hinaus zeigte. Kein grün von Bäumen oder Wiese war unten zu sehen, nur gepflastert und mit mehreren großen Mülltonnen und einigen Fahrrädern zugestellt. Ob eines davon meines war? Sicher nicht, das würde eher noch am Hauptquartier rumstehen. Ich fluchte und wandte mich dann dem Schrank zu. Er enthielt recht viele Klamotten, die alle aber eher neutral gehalten waren, keine extravaganten Sachen, ein graues Kostüm nebst Bluse für Geschäftstermine und ein paar schwarzer Absatzstiefel. Ein Ordner lang quer zwischen den Klamotten, einige Papiere schauten daraus hervor, aber ich ignorierte es zunächst. Ich verschloss den Schrank wieder und nahm dann den Inhalt der Kommode in Augenschein. Unterwäsche, Schlafwäsche, Socken, ein paar Strumpfhosen und diverse BHs in verschiedenen Ausführungen. Nichts Besonderes. Ich ging zur Zimmertür und lugte auf den Gang hinaus. Sonderlich groß schien die Wohnung nicht zu sein. Auf dem Sideboard neben der Garderobe stand meine Handtasche, die ich gestern achtlos darauf geworfen hatte. Von meiner jetzigen Position sah ich, dass dort auch eine Geldbörse lag. Ich flitzte hinüber, schnappte sie mir und ging zu meinem Bett zurück.  Dort breitete ich den Inhalt des Portomais vor mir aus. Hiesiges Geld, zu meiner Überraschung keine Gil, sondern eine Währung, dessen Namen ich nicht aussprechen konnte. Diverse Karten, von denen mit Sicherheit eine von einer Bank sein musste, verschiedene Visitenkarten von Ärzten. Und ein Ausweis und etwas, das in meiner Welt glatt als Fahrerlaubnis durchgehen würde. Scheinbar durfte ich auch in Lucis ein Kraftfahrzeug führen. Ich nahm mir den Ausweis zur Hand und sah lange auf das Passbild und den Namen hinab. Juno Ofilius stand da. Das Gesicht auf dem Foto erinnerte mich wage an mich selbst. Mit dem Ausweis in der Hand humpelte ich ins Bad und sah in den Spiegel. Tatsächlich, das war ich. Juno Ofilius.  ‚Wer denkt sich denn so einen blöden Namen aus ...?‘, dachte ich, um dann schnell vor den Gedanken zurückzuschrecken. War mir das tatsächlich gerade in den Sinn gekommen? Ich kam mir furchtbar schlecht vor, denn sicher hatte ich auch in dieser Welt Eltern, die sich um mich sorgten. Hoffte ich zumindest. ‚Vielleicht würden sie mich ja mal auf meinem Handy anrufen?‘, dachte ich. Da klingelte es an der Tür und ich fuhr zusammen. Wer das wohl sein mochte? Vielleicht Crowe? Ich konnte mich nicht dran erinnern, was sie mir am Vorabend gesagt hatte. Wollte sie mich heute abholen? Es klingelte noch mal und ich machte mich daran, an die Eingangstür zu kommen. Schnell blickte ich durch den Spion. Nein, das war eindeutig nicht Crowe. Zögerlich griff ich nach der Klinke und öffnete die Tür einem jungen Mann mit dunkelbrauner Haut. Sein besorgter Gesichtsausdruck wich einem Strahlen. „Juno, da bist du ja endlich!“ Ich erkannte den jungen Mann als einen derjenigen, der mit mir gemeinsam auf dem Foto in meinem Spind abgebildet war. Er schien ein enger Freund zu sein und war trotzdem ein Fremder. Schweigend starrte ich ihn an. „Was ist los? Willst du mich nicht hereinbitten?“ „Äh, ... doch!“, stammelte ich und machte ihm Platz. Er trat ein und ich schloss die Wohnungstür hinter ihm. „Crowe meinte schon, dass du ein bisschen durch den Wind sein könntest.“ „Crowe schickt dich?“, fragte ich. „Klar, sie kann sich ja nicht ständig um uns Küken kümmern“, meinte der Fremde. „Also was ist? Willst du deinem Freund Lucius nicht erzählen, was dich in letzter Zeit so beschäftigt?“ ‚Himmel!‘, dachte ich erleichtert. Dass er mir von sich aus seinen Namen verraten würde, ließ mir einen Stein vom Herzen fallen. Aber wie hatte er das mit „meinem Freund“ gemeint? Wollte er damit sagen, dass wir ein Paar sind? Unsicher dachte ich an die Verhüterlis in meinem Spind. Andererseits hatte er aber bisher keine Anstalten gemacht, die körperliche Distanz zwischen uns mittels einer Umarmung oder vergleichbarem zu brechen. Freund schien also auf freundschaftlicher Basis gemeint zu sein. „Juno!“ Ich schnappte nach Luft. „Du liebes bisschen, was hast du eingeworfen?“ „Nichts“, stammelte ich. „Ich bin gestern nur etwas unsanft gelandet.“ „Das hörte ich. Geht’s dir schon wieder besser?“ „Den Umständen“, erwiderte ich und bedeutete ihm, mir ins Esszimmer zu folgen. Dort organisierte ich uns zwei Gläser und eine angebrochene Flasche Wasser. „Also? Was steht heute an?“, fragte ich, nachdem ich uns eingeschenkt hatte. „Nichts. Es ist Wochenende, da macht man, worauf man Lust hat.“ Ich beruhigte mich etwas. „Und worauf haben wir Lust?“ Lucius nahm einen Schluck, stellte das Glas wieder ab und beugte sich leicht nach vorne. „Ich weiß nicht, worauf du Lust hast. Ich für meinen Teil würde trotzdem gerne wissen, wie du es geschafft hast, dir Luches Zorn zuzuziehen.“ Ich ließ die Schultern hängen. „Das hat Crowe dir erzählt?“ Er nickte. „Das haben sie uns doch gleich am ersten Tag gesagt, dass mit dem Stellvertreter nicht gut Kirschen essen ist.“ „... Ich frage mich ja immer noch, warum er mit uns trainiert hat“, wich ich aus. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich, weil der Kommi es ihm befohlen hat?“ ‚Kommi? Meinte er damit Drautos, den Kommandanten der Königsgleve?‘, wunderte ich mich. Lucius zuckte mit den Schultern, als ich es nicht antwortete. „Jedenfalls hat er dich jetzt auf dem Kieker, wenn du meine Meinung wissen willst.“ Ich schluckte und fragte mich, wie viel Lucius über den gestrigen Tag wusste. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn gestern auf dem Trainingsgelände wahrgenommen zu haben. Ob er auch von meiner kleinen Auseinandersetzung mit Luche am Abend wusste? „Was wollen wir heute machen?“, fragte ich, um vom Thema abzulenken. „Wolltest du nicht schon seit Wochen zum Flying Diamond?“, grinste er. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er meinte, nickte aber gottergeben, um mir nichts anmerken zu lassen. Lucius grinste mich erfreut an. „Dann zieh dir mal was Ordentliches an, ich warte solange“, sprach er und kramte sein Handy hervor. „Okay.“ Ich ließ ihn sitzen, wo er war und ging ins Schlafzimmer. Aus einem Reflex heraus schloss ich die Tür. Auch wenn er in dieser Welt ein Freund zu sein schien, wollte ich ihn erst einmal näher kennen lernen, bevor ich aus Unachtsamkeit zu viel Preis gab. Ich ging zum Schrank hinüber und inspizierte den Inhalt. Da ich nicht wusste, wo genau wir hinwollten, hielt ich es für ratsam, lieber eine Hose statt eines Rockes zu tragen. Zu einer dunkelblauen Jeans wählte ich ein knallrotes T-Shirt. So sehr unterschied sich mein hiesiger Modegeschmack offensichtlich nicht von dem in meiner realen Welt. Ohne mich eines Blickes im Spiegel zu würdigen, trat ich wieder auf den Gang hinaus und ging ins Badezimmer. „Wir müssen dann unbedingt mit dem Riesenrad fahren ...!“, rief mein Besucher durch die Tür. „Na klar!“, antwortete ich spontan. ‚Riesenrad also, ob es sich bei dem Flying Diamond um einen Vergnügungspark handelt?‘, dachte ich, während ich mir die Zähne putzte. „Könwö wi fohin noc ma su anem Bäcka?“, nuschelte ich durch das Zähneputzen hindurch. „Hast du nicht gefrühstückt?“ Ich zuckte zusammen. Lucius stand in der Tür zum Bad und sah mich zweifelnd an. Schnell spülte ich meinen Mund mit etwas Wasser. „Noch nicht“, meinte ich. „Na dann ... Sonst bist du nicht so verplant.“ ‚Danke.‘ „Sorry, bin einfach noch etwas durch den Wind wegen gestern.“ „Dann ist ein Freizeitpark wohl das Beste, um auf andere Gedanken zu kommen.“ „Hm“, machte ich, wusch mir schnell das Gesicht und bürstete meine Haare. Lucius trat wieder auf den Gang hinaus. Ich folgte ihm und machte mich dann daran, meine Turnschuhe anzuziehen. ‚Ziemlich heruntergekommen‘, dachte ich und inspizierte skeptisch das kleine Loch an der rechten Schuhspitze. „Vergiss nicht wieder deinen Geldbeutel“, sagte Lucius. Mit roten Wangen packte ich meine Börse in meine Handtasche und griff nach meiner Jacke.. „Das hat Crowe dir auch erzählt?“ Er nickte. „Was hat sie noch alles von gestern erzählt?“, fragte ich. Lucius legte den Kopf schief. „Ah doch alles.“ Ich machte mir innerlich eine Notiz, in Zukunft in Crowes Anwesenheit vorsichtiger zu sein. Sie erschien mir in dieser Hinsicht mittlerweile wie ein Waschweib. „Juno, wenn du drüber reden willst, hör ich gerne zu.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ist nicht so schlimm, wie Crowe es vielleicht erzählt hat. Ich werde ihm am besten die nächste Zeit aus dem Weg gehen, soweit es möglich ist.“ „Wenn du dich da mal nicht täuschst.“ „Warum?“ Wir waren auf den Gang vor meiner Tür hinausgetreten. Ich schloss ab, vergewisserte mich, dass sie auch wirklich zu war und ging mit Lucius dann zum Treppenhaus. „Soweit ich weiß, hat Drautos bald Urlaub. Du kannst dir ja denken, wer ihn vertreten wird.“ Ich grummelte. Wirklich nichts schien so zu laufen, wie es gut für mich war. Und ich war noch nicht mal einen vollen Tag hier.  Wir verließen den Wohnkomplex und Lucius zog mich am Ärmel meiner Jacke quer über die andere Straßenseite. Wollte er wirklich ein Fastfood-Frühstück? Doch ohne groß zu widersprechen, betrat ich mit ihm das Restaurant und bestellte einen mittelgroßen Kaffee und zwei sirupgetränkte Pancakes zum Mitnehmen. Sobald ich wieder auf dem Gehsteig stand, begann ich, die Pancakes gierig zu verzehren. Wider Erwarten schmeckten sie ziemlich gut. Lucius grinste verschmitzt und lotste mich zur nächsten Bushaltestelle.   * * *   Auf wackeligen Beinen stieg ich die Treppe vom Kettenkarussell hinunter. Zum Glück war mir durch den Fahrtwind nicht schlecht geworden, wie es mir in meiner richtigen Welt häufig passiert war. Trotzdem war es sinnvoll gewesen, erst mit dem Karussell zu fahren und danach was zu Essen zu suchen. „Du bist ganz weiß um die Nase“, lachte Lucius. „Du hast gut reden!“, konterte ich. Trotz seiner neckischen Art fühlte ich mich bei ihm wohl. „Okay, Zuckerwatte, glasierte Früchte oder gebrannte Nüsse?“, fragte er mich. „Gar nichts davon?“ Ich wackelte durch die anderen Parkbesucher hindurch und kam am Rand des Kettenkarussells zum Stehen. „Erst mal eine Pause, vielleicht Goldfische angeln oder so und erst DANACH was zum Essen. Was Herzhaftes!“ Lucius lachte. „Beim Fischangeln muss man aber häufig recht lange Anstehen“, meinte er. „Ist mir egal. Bloß nicht noch mal was, was sich bewegt.“ Er sah mich schief an. „Zumindest vorerst“, fügte ich schnell hinzu. Meine Nerven hatten sich wieder soweit beruhigt und gemeinsam quälten wir uns durch die Schaustellerstraße. So schön ein Besuch in einem Freizeitpark auch war, so überlaufen waren diese an einem Wochenende. Der Flying Diamond in Insomnia machte da keine Ausnahme. Und ich hatte erfahren, dass es in Insomnia insgesamt drei Vergnügungsparks gab. Dazu noch zwei Spaßbäder und einen Zoo. Alles überdimensioniert, wenn man Lucius Glauben schenken konnte. Ein normales Bad, in dem es auch eine Sauna gab, würde mir vollends reichen, aber wenigstens in den Zoo wollte ich einmal kommen. Lucius schien allerdings nicht so tierbegeistert zu sein und hatte dankend abgelehnt, als ich ihn fragte, ob er mit mir hingehen würde. „Komm, wir müssen da rüber.“ Er zupfte mich am Ärmel und ließ sich von der Masse auf die linke Seite des Weges treiben. Ich versuchte, ihm so gut wie möglich zu folgen, hätte ihn aber beinahe aus den Augen verloren. „Und jetzt heißt es Anstehen“, meinte er, als ich zu ihm aufgeschlossen hatte. „Halb so wild, da kann sich mein Bein wenigstens wieder etwas beruhigen.“ „Hast du immer noch wackelige Knie?“, grinste er. „Nein, aber die Prellung von gestern hat sich im Karussell wieder etwas bemerkbar gemacht. Zum Glück drehte es sich im Uhrzeigersinn.“ „Sag aber Bescheid, wenn du nicht mehr kannst!“, mahnte Lucius. Ich nickte und versuchte, über die Köpfe der vor uns stehenden Personen etwas zu erkennen. Immerhin das Werbeschild für das Fischangeln konnte ich von hieraus sehen. 700 Yen für drei Versuche fand ich etwas teuer. Aber gut, auch hier wurden Erwachsene mehr zur Kasse gebeten als Kinder. Überhaupt schien in Insomnia alles ziemlich teuer zu sein. Lediglich das Essen war stellenweise ziemlich günstig zu bekommen. Gerne hätte ich Lucius dazu befragt, hatte mich bisher aber nicht getraut aus Angst, nach Dingen zu fragen, die für die anderen vermutlich selbstverständlich waren. Nachdem ich mich eh fast verraten hätte, als ich feststellte, dass die insomnische Währung dem Japanischen Yen zum Verwechseln ähnlich sah. „Sag mal, hast du das Fischangeln schon mal gemacht?“, fragte ich, um das aufgekommene Schweigen zwischen uns zu brechen. „Schon hundert Mal“, antwortete Lucius. Ich sah ihn mit großen Augen an. „Quatsch!“, grinste er. „Zwei- oder dreimal vielleicht, so häufig komm ich auch nicht dazu.“ Ich beruhigte mich wieder. „Und hast du schon mal welche gefangen?“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist viel schwieriger, als es aussieht. Vor allem, weil sie die Erwachsenen die großen Goldfische angeln lassen. Bei denen geht der runde Papierfächer sofort kaputt, sobald er einmal eingeweicht ist.“ „Hm.“ „Was willst du eigentlich mit dem Goldfisch, wenn du einen fängst?“ „Als Haustier halten, natürlich!“, antwortete ich prompt. Er schüttelte amüsiert den Kopf. Wir hatten inzwischen etwa drei Meter in der Schlange zurückgelegt. Trotzdem konnte ich nichts von den Wasserbecken sehen. „Ich mein, ein Goldfisch ist weit unkomplizierter als eine Katze, oder nicht? Bei einer Katze täte es mir leid, wenn sie den ganzen Tag allein zu Hause ist. Auf der anderen Seite ist ein Goldfisch leicht in der Handhabung, braucht vergleichsweise wenig Platz und noch weniger Futter.“ „Dir darf nur das Glas nicht runterfallen!“ „Lucius!“ Ich knuffte ihn in die Seite. „Aber mal ehrlich, Juno. Wenn du schon Katzenfan bist, warum holst du dir dann nicht zwei?“ „Weil ich’s mir von meinem Gehalt nicht leisten kann?“, antwortete ich prompt. „Katzen sind viel teurer in der Haltung als Fische. Schon allein wegen dem ganzen Futter. Und man muss sich mit ihnen beschäftigen.“ Tatsächlich wusste ich nicht mal, wie viel ich als Gleve in Ausbildung verdiente. Ich hoffte nur, dass es bei weitem mehr war, als ich damals in der Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten verdient hatte. Das Gehalt damals war vor allem im ersten Lehrjahr echt mickrig und manche Anwälte behaupteten noch, dass wir teuer bezahlte Arbeitskräfte seien. Ich brummte. „Hm?“ „Ach nichts. Sag mal, hast du ein Haustier?“ Lucius schüttelte den Kopf. „Nie eines gehabt?“ „Nein.“ „Nicht mal als Kind?“ „Nee, ich bin nicht so der Tierfan.“ „Hab ich gemerkt“, meinte ich nur. Die Schlange bewegte sich wieder um einen halben Meter. „Aber wenn du ein Tierfan wärst, welches ...“ „Eine Spinne!“ „Igitt!“ Ich verzog das Gesicht. „Dann frag nicht!“ „Och.“ „Überhaupt solltest du mindestens zwei Fische fangen. Einer alleine ist sonst einsam und geht ein.“ „Meinst du?“ „Klar, das ist bei den meisten Tieren so.“ „Hm. Ich glaub, ich kann schon froh sein, wenn es mir gelingt, einen zu fangen.“ „Musst du halt den Zweiten kaufen.“ „Mal schauen. Noch hab ich ja noch nichts gefangen.“ „Wieso willst du überhaupt ein Haustier?“, fragte Lucius. „Zur moralischen Unterstützung.“ „Huh?“ Er sah mich verwundert an. „Na ja, ab und zu fühl ich mich abends doch alleine und einsam. So ein bisschen Gesellschaft ist da nur förderlich.“ „Sind Diane und ich etwa keine guten Freunde?“ „Doch, natürlich!“, beeilte ich mich, ihm schnell zu versichern. „Nur ab und zu brauche ich jemanden, der schweigen kann, wie ein Grab.“ Lucius sah mich schief von der Seite an. „Du weißt, dass du mit mir über alles sprechen kanns, Juno?“ „Klar“, meinte ich ergeben. Er hatte ja keine Ahnung, dass ich eigentlich nicht die war, die ich vorgab zu sein. „Weißt du eigentlich was von Diane, warum sie heute nicht mitgekommen ist?“, fragte ich dann, um vom Thema abzulenken. Und weil ich mir denken konnte, dass sie die dritte Person auf dem Foto in meinem Spind war. „Liegt noch immer mit ihrer Erkältung im Bett, hast du das schon vergessen?“ Ich zuckte zusammen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie sollte ich auch? Dann kam mir eine Idee. „Was hältst du davon, wenn wir sie nachher noch besuchen?“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Ist das nun ein Ja oder ein Nein?“ „Ein Ja, wenn du unbedingt willst.“ „Warum denn nicht?“ „Wir haben sie erst vorgestern besucht.“ Ups. Aber woher sollte ich das wissen? Fast wäre mir ein entsprechender Kommentar rausgerutscht, aber ich konnte es gerade noch verhindern. „Vielleicht finden wir hier ja was Nettes.“ Lucius ließ erschöpft die Schultern hängen. „Was denn? Machst du jetzt schon schlapp?“ Dieses Mal war es an mir, ihn zu necken. „Ab und zu frage ich mich, woher du die Motivation nimmst.“ „Ach, sie kommt einfach so über mich.“ „Schade, dass sie selten während dem Training kommt.“ Ich verschluckte mich fast an meinem Atem und sah ihn entgeistert an. „Bin ich wirklich so schlecht?“ „Na ja ...“, meinte Lucius verlegen. „Was ‚Na ja‘?“ Er druckste herum. „Zu den Besseren gehörst du halt nicht.“ Ich starrte ihn nur an und nahm mir vor, ihn beim nächsten Training zu beobachten, wenn es ging. „Dafür bist du in der Theorie top!“, fügte er schnell hinzu. „Na vielen Dank auch.“ Trotzdem war meine Stimmung in den Keller gerutscht und besserte sich nicht mal dann, als wir endlich an der Reihe waren. Lucius bedeutete dem Schausteller für zwei Erwachsene, doch anstatt mich von ihm einladen zu lassen, kramte ich stur meine Geldbörse hervor. Ich zählte 700 Yen ab und reichte sie dem Mann. Er gab uns die Papierfächer und mit Wasser gefüllten Becher und führte uns zu den hinteren Becken. Lauernd betrachtete ich die zahlreichen Goldfische in dem Becken vor mir, die fast so lang waren, wie meine Hand von der Wurzel zur Spitze des Mittelfingers. Lucius ging neben mir auf die Jagd, aber ich versuchte, ihn sowie die anderen Spieler so gut es ging zu ignorieren. Ein besonders farbintensiver Fisch hatte es mir angetan. Ich ließ langsam Becher sowie Fächer gen Wasseroberfläche gleiten, aber mein Ziel hat die Finte gerochen. Schnell schwamm der Fisch davon. „Dann halt du ...“, flüsterte ich ungeduldig einem etwas blasseren Fisch zu. Ich tauchte den Fächer vorsichtig ins Wasser und wartete, bis ihm das Exemplar meiner Begierde nah genug gekommen war, um ihm aus dem Wasser heraus in den Becher schlagen zu können. Platsch!, machte es einmal und ich hörte ein verräterisches Kichern neben mir. „Das Papier weicht wirklich schnell durch ...“, presste Lucius hervor und hielt mir seinen ebenfalls zerstörten Fächer entgegen. Wütend starrte ich erst auf sein Fanggerät, dann auf meines und griff zum nächsten Fächer. „Das kann ja nicht so schwer sein“, murmelte ich verbissen. „Versuch mal, den Fächer bis kurz vor deinem Schlag über der Wasseroberfläche zu halten.“ Ich erwiderte nichts, sondern konzentrierte mich wieder auf die Fische. Da insgesamt sechs Leute gleichzeitig auf Fischfang gehen konnten, waren die Tiere ständig in Bewegung von der einen Seite des Beckens auf die andere. Wieder hatten sich ein, zwei besonders Farbige in meinen Bereich verirrt und ich fixierte den einen. Dieses Mal schaffte ich es, beide Fangutensilien zu senken, ohne dass meine Beute Verdacht schöpfte.  Dennoch entwischte mir der Goldfisch. Es gelang mir zwar, ihn aus dem Wasser zu befördern. Jedoch war ich dabei so enthusiastisch, dass mir der Fisch über meinen Becher drüber fiel und er auf der anderen Seite wieder ins Becken fiel. Schnell war der Goldfisch nicht mehr zu sehen. Lucius seinerseits war mucksmäuschenstill. Er hatte wohl begriffen, dass ich gerade schlechte Laune hatte. Ich nahm meinen letzten Papierfächer und seufzte dann, als die 60-Jährige, die mir gegenüber auf Fischfang gegangen war, erfreut aufjubelte. ‚Was die Alte kann, kann ich schon lange!’, dachte ich mir frustriert. Inzwischen war es mir egal, welcher Fisch in meinem Becher landete. Hauptsache, ich ging nicht leer aus, denn erneut 700 Yen ausgeben – und mich davor vor allem wieder hinten anstellen – wollte ich nicht. Ich wartete, bis einer der Fische meinem Becher verräterisch nahe gekommen war und versuchte dann, ihn weniger drastisch als zuvor aus dem Wasser zu befördern. Ich war zu zimperlich, er berührte gerade einmal die Wasseroberfläche. Schnell schlug ich noch mal nach ihm, zu fest allerdings, denn fast hätte ich ihn aus dem Becken auf den Fußboden befördert. Neben mir schrie Lucius erfreut auf. Ich seufzte resigniert. „War ja klar“, brummte ich. Mein Begleiter nahm mich gar nicht wahr, sondern freute sich wie ein kleiner Junge über seinen Fang. ‚Und da sagt er noch, er macht sich nichts aus Tieren ...‘, dachte ich zerstreut. Der Schausteller kam in unsere Richtung, bewaffnet mit einem größeren Glas voll Wasser, das man oben zuschrauben konnte. ‚Na immerhin keine durchsichtige Plastiktüte, wie bei Mr. Bean.‘ „Herzlichen Glückwunsch!“, meinte er zu Lucius und nahm ihm den Becher mit dem Fisch ab. Ich stand nun ebenfalls auf und verfolgte das Schauspiel neidisch. Der Schausteller verfrachtete den Fisch vorsichtig in das Glas, verschloss es sorgfältig und reichte es Lucius. Er hob das Glas hoch, um den Fisch betrachten zu können. „Das machst du nur, um mich zu ärgern“, kommentierte ich. „Gar nicht!“, grinste er. „Komm, lass uns gehen.“ Ich folgte ihm mit hängenden Schultern.   * * *   „Warm ..., wärmer ..., kalt ..., warm ..., noch kälter ...“ „Mittlerweile glaub ich, du verarschst mich“, brummte ich. „Stimmt doch gar nicht. Juno, du weißt doch, dass Diane kein Marzipan mag.“ Wusste ich nicht, aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen. Stattdessen schwieg ich Lucius an. Wie zufällig glitt mein Blick zu dem Glas mit dem Goldfisch, das er auf dem linken Arm trug. „Inzwischen frag ich mich, ob du bei deinem Crash gestern einen Teil deines Gedächtnisses eingebüßt hast“, fuhr er fort und griff mit der Rechten zielsicher ins Regal. Er förderte eine Schachtel Pralinen mit Nougatvariationen zu Tage. „Ich werde nie begreifen, wie man Nougat mögen kann.“ „Ich frag mich generell, was ihr beide so an dem Süßkram findet.“ Ich verdrehte die Augen. „Brauchen wir sonst noch was?“ Lucius sah mich vielsagend an. „Was?“ „Na ja, sonst brauchst du doch immer ewig, um aus der Süßwarenabteilung rauszukommen.“ „Liegt vermutlich dran, dass ich pappsatt bin. Was hältst du davon, wenn du dem Fisch ein größeres Glas kaufst?“ Lucius‘ Blick senkte sich nun ebenfalls. „Ach was, ich glaub, die nächsten paar Tage wird er es so schon aushalten. Außerdem müsste ich dafür in einen Tierbedarfsladen. Hier im Supermarkt werden die keine Goldfischgläser haben. Allenfalls Einmachgläser ...“ Ich sah ihn entgeistert an. „Kannst du dieses Mal bezahlen?“ Ich überschlug kurz in Gedanken den Inhalt meiner Geldbörse. Dummerweise hatte ich schon recht viel im Vergnügungspark ausgegeben, aber für die Pralinen sollte es gerade noch reichen. Ich nickte und wir gingen zur Kasse. Während wir abkassiert wurden, machte ich mir innerlich eine Notiz, heute Abend einen Haushaltsplan aufzustellen und den Inhalt meiner Wohnung und ihren Zustand einmal gründlich zu inspizieren. Lebensmittel mussten regelmäßig bezahlt werden und hier im Supermarkt hatte ich schon eine ungefähre Ahnung bekommen, wie es mit den Lebensmittelpreisen aussah. Aber ich wusste zum Beispiel nicht, ob ich über eine Spülmaschine verfügte und wenn ja, wie funktionstüchtig sie sein würde. Oder wie viel Miete ich zu bezahlen hatte. „Juno!“ Ich zuckte zusammen. „Entschuldigung.“ Der Kassierer ließ sich nichts anmerken und reichte mir die Schachtel Pralinen, die er während meiner geistigen Umnachtung in eine Geschenktüte gepackt hatte. „Vielen Dank!“ Nur noch wenige Münzen befanden sich in meiner Geldbörse. Ich seufzte. Wir verließen den Supermarkt und wandten uns nach rechts. Lucius rümpfte die Nase. „Stimmt was nicht?“, fragte ich. „Die Luft ist ziemlich schlecht hier.“ „Mag vielleicht an der Hitze liegen? Im Freizeitpark hat man ja doch eher immer den Geruch von etwas Essbarem in der Nase. Hier, mit der Schnellstraße in direkter Nähe merkt man die Abgase mehr.“ „Ich hätte nur nicht geglaubt, dass an einem freien Tag am Nachmittag hier auch so viel los ist.“ „Ist ja ähnlich wie bei mir“, erzählte ich. „Meine Ecke der Stadt ist auch eher runtergekommen.“ „Runtergekommen.“ „Runtergekommen trifft es vielleicht nicht so? Weniger illuster?“ „‚Weniger illuster‘, das schreib ich mir auf!“ „Wie würdest du es denn nennen?“ „Ich glaub, ich bleib dann wohl eher bei runtergekommen.“ Lucius und ich gingen die Straße entlang. Obwohl viele Fahrzeuge unterwegs waren, waren die Bürgersteige eher wenig besucht. Neben dem Supermarkt gab es in dieser Gegend noch ein Fitnessstudio, ein Kapselhotel und einen sehr gut besuchten Waschsalon. Jedoch irritierte mich vor allem das Hotel, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die insomnische Bevölkerung so häufig in Herbergen abstieg. Und dass aus dem restlichen Lucis so viele Menschen kamen, hielt ich für ausgeschlossen. „Jedenfalls, falls ich mich dann irgendwann mal hochgearbeitet habe, möchte ich auch ein paar Stockwerke höher wohnen, wenn es geht.“ „Dann schau, dass du dich praktisch verbesserst. Ich hab mal gehört, dass die für den gehobenen Dienst nur Leute nehmen, die hervorragend in der Praxis sind.“ „Tatsächlich?“ Wir bogen in eine Seitenstraße, die von zwei mickrigen Bäumen flankiert wurde und ließen den Straßenlärm hinter uns. Obwohl die Sonne am Himmel stand und nur von wenigen Wolken getrübt wurde, war es relativ finster in dieser Straße. Nachts würde ich hier nicht alleine entlang kommen wollen. „Gleich haben wir’s geschafft.“ Lucius wies mich zu einem vierstöckigen Gebäude hinüber, das von den Häusern in dieser Straße noch den besten Eindruck machte. Es hatte kleine Balkone. Bevor wir jedoch an der Tür klingeln konnten, hielt er mich zurück. „Hör mal, Juno. Sag vielleicht nicht zu viel Negatives über Luche.“ Ich sah ihn perplex an. „Warum nicht?“ Er druckste herum. „Steht Diane auf ihn?“ „Ja, aber sie gibt es nicht zu.“ „Und das erzählt sie dir?“, fragte ich. „Nein. Ich vermute es nur“, gab er zu. „Aha? Ich werd’s versuchen.“ „Okay.“ Lucius drückte auf einen der Knöpfe. Wir warteten einige Augenblicke, ehe er erneut drückte. Sekunden später hörten wir das wohlvertraute Kratzen aus der Gegensprechanlage. „Ja?“, hustete uns eine entfernt weiblich klingende Stimme entgegen. Die Anlage hatte keine Videofunktion. „Juno und ich sind‘s. Können wir rauf kommen?“ Anstatt einer Antwort erklang der Türsummer. Ich drückte mich in den schmalen Gang. Hier standen ein Fahrrad und ein Kinderwagen, an dem der vordere rechte Reifen fehlte. Fast wie in meiner Heimatwelt. Auch hier stellten die Leute alles Mögliche in den Gemeinschaftsgängen ab, weil sie in ihren Wohnungen keinen Platz hatten oder die sperrigen Sachen anderweitig nicht unterbringen konnten, ohne dass sie geklaut wurden. Lucius führte mich in den ersten Stock und dann an die letzte Tür im linken Gang, die schon einen Spalt breit offen stand. Wir traten ein und wurden einem fruchtigen Geruch begrüßt, ich schätzte Tee. Höflich, wie wir waren, zogen wir unsere Straßenschuhe aus und schlüpften in die Hausschlappen, die in einem kleinen Weidenkörbchen bereit lagen. Unsere Jacken hängten wir an dafür vorgesehene Haken an der Wand. Danach machten wir uns auf die Suche nach Diane. Wir fanden sie in ihrer Version eines Wohnzimmers auf die Couch gelümmelt und in eine dicke Decke eingehüllt, ein Sportprogramm im Fernsehen auf lautlos gestellt. Ein Sammelsurium verschiedener Medikamente war feinsäuberlich aufgereiht auf dem Wohnzimmertisch. Die Namen sagten mir alle nichts. Wieder ein Punkt auf meiner Liste, den ich zeitnah lösen wollte. Welche herkömlichen Arzneimittel gab es in Eos, von den Tränken, Phönixfedern und diversen Mittelchen gegen Zustandsveränderungen einmal abgesehen. Halfen die überhaupt gegen so Wehwehchen wie Erkältung, Kopfweh oder Magenkrämpfe? Wir setzten uns ihr gegenüber in die zwei abgewetzten Sessel. Lucius stellte das Glas mit dem Goldfisch auf den Couchtisch. Diane betrachtete es interessiert, sagte aber nichts dazu. „Wart ihr nicht erst vorgestern hier?“, fragte sie stattdessen erstaunt. „Juno hatte Sehnsucht“, platze Lucius heraus. „Das hört man natürlich gerne“, grinste sie. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Doch anstatt etwas zu sagen, reichte ich ihr nur die Geschenktüte mit den Pralinen. Erst hinterher merkte ich, dass ich den Kassenbon mit in die Tasche gesteckt hatte. Der Beleg segelte fröhlich zu Boden, als Diane die Süßigkeiten hervorholte. Sie ignorierte es. „Das ist mein Lieblingsnougat!“, meinte sie erfreut, als sie die Marke erkannte. ‚Lucius weiß wirklich gut über sie Bescheid‘, dachte ich und hoffte, vielleicht auch irgendwann eine solch gute Freundin zu sein. „Geht es dir schon besser?“, fragte ich sie. Mit ihr ging es mir ähnlich, wie anfangs mit Lucius. Diane war meine Freundin, aber eine Fremde. Ich musste möglichst schnell herausfinden, was ich über sie, über die beiden wusste, welche Gemeinsamkeiten wir teilten, außer, dass wir alle drei in der Glevenausbildung waren. Worin wir uns unterschieden. Welche Dinge besser nicht zur Sprache kamen. Außer Luche. „Inzwischen ist meine Nase zum Glück nicht mehr so verstopft, aber der Husten ist die Tage doch wieder schlimmer geworden“, meinte sie. „Das hört man“, befand Lucius. „Da ist Nougat ja wie Honig auf deinem Rachen“, sagte ich. Diane lachte und fing dann sofort das Husten an. „Entschuldige!“ „Ach was. Wollt ihr Tee?“ Ich nickte, während Lucius ablehnte. Diane stand auf und ging in die Küche hinüber. „Man, lass sie doch auf ihrer Couch sitzen. Du siehst doch, dass es ihr dreckig geht“, flüsterte Lucius angestrengt und schlug mir mit der flachen Hand über die Schulter. „Aua ... Was zum ...?“ Schnell brach ich ab. Diane kam zurück und reichte mir einen Becher. Von unserer kleinen Auseinandersetzung merkte sie nichts. „Bedien dich.“ Ich tat, wie mir geheißen. „Meinst du, du kannst bald wieder an der Ausbildung teilnehmen?“, fragte ich sie. „Ich hab übermorgen noch mal einen Arzttermin. Insgeheim hoffe ich, dass sich mein Zustand bis dahin bessert. Mir fällt hier langsam die Decke auf den Kopf. Wie läuft es denn so? War das Training gut?“ „Äh ...“, machte ich. „Nicht?“ Lucius nickte mir aufmunternd zu. „Was denn?“, hakte Diane nach. „Ist was passiert?“ „Na ja, ich hab mich mal wieder hingelegt, wenn man so will“, sagte ich und starrte auf meine Turnschuhspitze mit dem Loch. „Oh, du Arme. War es sehr schlimm?“ Anstatt zu antworten, krempelte ich den linken Ärmel meines Shirts hoch, um ihr den Bluterguss zu zeigen. Sowohl Diane als auch Lucius sogen scharf die Luft ein. „Das hast du mir gar nicht gesagt“, meinte Letzterer vorwurfsvoll. „Ist halb so wild“, wiegelte ich ab. „Der Oberschenkel sieht schlimmer aus.“ „Wie schlimm?“, fragte Diane. Ich deutete ihr mit beiden Händen die Größe des blauen Flecks an. „Damit gehörst du ins Bett!“, mahnte sie. „Ach was, es tut eigentlich gar nicht so weh. Außerdem meinte Crowe, die schlimmste Verletzung sei mal ein gebrochener Arm gewesen. Oder so.“ Doch selbst Lucius sah mich jetzt streng an. „Wieso hast du nichts gesagt?“, wiederholte er. „In dem Zustand hätte ich dich nicht in die Achterbahn mitgenommen.“ „Achterbahn?“, hakte Diane mit spitzer Stimme nach. „Äh ...“ „Achterbahn? Wart ihr etwa im Flying Diamond? Ohne mich?!“, fragte sie aufgebracht. Vergessen war mein Unfall vom Vortag. Lucius sah verlegen zur Seite. „Juno brauchte etwas Ablenkung.“ „Ey, schieb nicht immer alles auf mich!“, ereiferte ich mich. „Die Idee mit dem Vergnügungspark kam von dir. In den Zoo wolltest du ja nicht!“ „Um Himmels willen, Juno und Tiere“, lachte Diane. „Allerdings frage ich mich, warum dann ausgerechnet du mit einem Goldfisch rumläufst.“ „Weil ich der Geschickteste von uns allen bin, natürlich!“ Wieder wurde Diane von einem Hustenanfall geschüttelt. Nachdem sie sich wieder soweit beruhigt hatte, trank sie einen Schluck Tee. „Aber jetzt erzähl mal von deinem Unfall. Ist es beim Warpen passiert?“ „Ja, beim Landen, um genau zu sein. Wir sollten Diagonalwarpen üben“, erzählte ich. „Und?“ „Der erste Teil hat prima geklappt. Senkrecht nach oben, ich hab das Kukri zu fassen bekommen, wenn auch nur knapp. Dann sollten wir auf den Boden warpen, um zu landen.“ Die beiden sahen mich erwartungsvoll an. „Ich hab das Kukri wohl etwas zu effektiv gen Boden geworfen.“ Diane wurde blass im Gesicht. „Na ja, also ich bin nicht hart gelandet oder so“, versuchte ich, sie zu beruhigen. „Ich hätte das Kukri fast gehabt, da haben meine Füße den Boden gestreift und ich kam ins Trudeln. Ich konnte mich noch halbwegs gut abrollen, aber ja. Elegant war es nicht.“ „Au weia! Aber mit der Prellung solltest du dich vielleicht krank schreiben lassen?“ „Iwo“, wehrte ich ab. „Solange es nur hin und wieder weh tut, kann ich ja immerhin den theoretischen Teil mitmachen. Trainingsverbot hab ich von Crowe aufgebrummt bekommen, aber das ist ganz klar. Deswegen zu Hause bleiben, finde ich jedoch etwas übertrieben.“ „Oh Gott, versuch bloß nicht, sie von ihren Büchern abzuhalten“, meinte Lucius gespielt. Ich grinste. „Haben wir denn was Wichtiges dran genommen?“, fragte sie dann. Ich stockte. Tatsächlich hatte ich keinen Plan von der theoretischen Glevenausbildung. Trotzdem sahen mich meine Freunde jetzt gespannt an. „Na ja, eigentlich nicht recht viel mehr als vorgestern“, nuschelte ich. Lucius zuckte mit der Wimper, sagte aber nichts dazu. Oh je, da hatte ich mich wohl in etwas reingeritten. Ein Klassenstreber zu sein, brachte eindeutig auch Nachteile. Alle erwarteten zu jeder Zeit, dass man über alle Themen Bescheid wusste. Wieder ein Punkt auf meiner persönlichen To-Do-Liste, der so schnell wie möglich erledigt werden musste. Mir stand wohl eine lange Nacht bevor. „Dann werde ich mir den alten Kram einfach noch mal soweit zu Gemüte führen. Falls ich aber nächste Woche doch noch nicht kommen kann, bringt ihr mir dann die neuen Sachen?“, fragte Diane. „Klar“, sicherte Lucius ihr zu. „Gute Freunde lassen einen nicht hängen, nicht wahr, Juno?“ Ich nickte. Wie er das wohl meinte? Und warum er meinen Namen betonte? Ich beschloss, den Besuch an der Stelle abzubrechen. „Können wir sonst noch was für dich tun? Brauchst du was vom Supermarkt oder so?“, fragte ich. „Nee, lass mal. Ich war gestern selber draußen, musste mir neue Medikamente holen und war dann auch gleich Einkaufen.“ Ich kratze mich verlegen am Hinterkopf. „Sonst irgendwas?“ „Nein, herrje, Juno. Es ist wirklich alles gut“, versicherte mir Diane. „Entschuldige, ich bin wohl tatsächlich etwas durch den Wind seit gestern.“ „Verständlich. Pass nächstes Mal bitte besser auf dich auf. Und jetzt mach, dass du nach Hause kommst.“ Ich sah sie überrascht an. „Ich hab schon verstanden, dass du gehen willst“, zwinkerte sie. Ertappt sah ich zwischen ihr und Lucius hin und her. Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich werd‘ mich aber auch auf den Weg machen“, meinte er dann. „Halt die Ohren steif und schau, dass du schnell wieder gesund wirst.“ „Und ruf mich an, wenn du doch was brauchst“, setzte ich hinzu. „Ja doch.“ Lucius nahm das Glas vom Tisch und wir standen auf. Diane begleitete und zur Tür und sah uns zu, wie wir unsere Schuhe anzogen. „Vielleicht solltest du ihn Juno überlassen“, meinte sie, als wir unsere Jacken anzogen. „Hm?“ „Den Fisch natürlich.“ Lucius und ich sahen zuerst auf den Goldfisch, dann uns an und dann zu Diane. „Jeder weiß doch, dass du’s nicht so mit Tieren hast.“ Sie hustete erneut. Ich schwieg. „Ich werd’s mir überlegen“, antwortete Lucius. Er umarmte Diane spontan. Als ich es ihm gleichtun wollte, hielt sie mich ab. „Bringt nichts, wenn ihr euch ansteckt. Es reicht, wenn eine von uns krank zu Hause bleiben muss.“ „Na dann nicht“, brummte ich. Trotzdem schenkte ich ihr zum Abschied ein aufmunterndes Lächeln. „Hoffentlich bis Übermorgen.“ „Ja, hoffe ich auch. Kommt gut nach Hause, ihr beiden. Und wer auch immer nachher den Fisch mitnimmt, kauft ihm um Himmels willen ein größeres Glas.“ Ich lachte, während Lucius betreten dreinschaute. „Dann bis demnächst“, meinte er und wir verließen Dianes Wohnung. Auf dem Weg nach unten kam uns einer ihrer Nachbarn entgegen, ein übergewichtiger Mittfünfziger mit beginnender Glatze und leichter Fahne. Ich verzog das Gesicht, als wir an ihm vorbei waren. Draußen auf dem Gehweg schnappte ich nach Luft. „Keine besonders einladende Wohngegend“, meinte Lucius. „Du sprichst mir aus der Seele. Und nun?“ Mein Freund sah mich nachdenklich an. „Hör mal, vielleicht solltest du dich wirklich um den Goldfisch kümmern“, meinte er dann und reichte mir das Glas. Überrascht nahm ich es entgegen. „Aber den hast doch du gefangen!“ „Ich weiß, aber Diane hat ja auch irgendwie Recht. Ich interessiere mich nicht so für Tiere. Die Gefahr, dass er bei mir verhungert, ist größer, als wenn er bei dir lebt. Und du scheinst dir ja wirklich ein Haustier zu wünschen, wobei ich nicht weiß, wie das auf einmal kommt.“ Als ich meinen Blick von dem Fisch abwandte, sah ich, dass Lucius mich noch immer musterte. „Und um Himmels willen, halt ihn bloß nicht in einem kleinen runden Glas.“ Ich überlegte kurz. „Hast Recht, ist eigentlich Tierquälerei“, stimmte ich zu.  Wieder ein Punkt auf meiner Liste, ein anständiges Aquarium und einen Zweitfisch besorgen. Das wird langsam doch teuer. „Ist noch was?“ „Du ... Hm, nee, nichts ...“ Ich spürte, dass ihm was auf der Zunge lag. „Was?“ „Nichts. Vielleicht täusche ich mich auch nur und es liegt tatsächlich an deinem Unfall. Schau, dass du dich ein bisschen ausruhen kannst.“ Ich nickte und wir wandten uns zur Hauptstraße und zur dort liegenden Bushaltestelle. Ich schätzte, dass ich von hieraus mindestens eine Stunde zu meiner Wohnung brauchte mit mehrmals Umsteigen. Es war inzwischen früher Abend. Die Passanten, die uns jetzt entgegenkamen, waren mehrheitlich schon in Feierlaune unterwegs, wollten in Diskotheken oder in Kinos und dergleichen gehen. Schweigend erreichten wir das Bushäuschen. „Also, ich verabschiede mich dann hier“, meinte Lucius. Ich schluckte meine Überraschung hinunter und ließ mich von ihm umarmen. „Komm gut nach Hause“, sagte ich. „Du auch. Und nutz den Abend, um etwas zu entspannen.“ „Ja.“ Er grinste mich noch mal an und wandte sich dann um. Ich sah ihm hinterher, bis er in einer Seitenstraße verschwunden war. Und hatte das Gefühl, dass ich nach wie vor nichts über ihn wusste. Nachdenklich setzte ich mich auf die Bank und wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis der Bus kam, was mir jedoch genug Zeit gab, meine Fahrstrecke und die Umstiegspunkte zu prüfen. Ich musste einmal am Hauptbahnhof umsteigen und verlief mich fast. Nicht nur, weil diese Ecke der Stadt verständlicherweise sehr zentral gelegen und größer als der Tokioer Hauptbahnhof war, sondern weil der Königspalast unglaublich nah lag. Ich schätzte, dass ich ihn in fünf Minuten zu Fuß erreichen könnte, verzichtete aber auf einen Abstecher. Nicht nur, weil ich den Goldfisch endlich von seinem Gefängnis erlösen wollte, sondern auch, weil sich meine Prellungen langsam bemerkbar machten. Und weil der Palast mit Sicherheit für die normalsterbliche Bevölkerung abgeriegelt sein würde. „Wieder ein Punkt auf meiner To-Do-Liste“, grummelte ich und machte mich daran, die richtige Bushaltestelle zu finden.   * * *   Ich stellte das Glas mit dem Goldfisch vorsichtig auf meiner Kommode ab, zog die Turnschuhe und die Jacke aus und ließ beides achtlos neben der Kommode liegen. War ich kaputt. Obwohl wir eigentlich gar nicht so viele Fahrgeschäfte besucht hatten, war die ständige Lauferei über den Tag verteilt doch ziemlich anstrengend. Und während dem Weg zurück von der nächstgelegenen Bushaltestelle zu meiner Wohnung hatte mein linker Oberschenkel zu pochen begonnen. Ich musste mich hinsetzen und ausruhen, bevor ich die Wohnung erneut inspizieren konnte. Ich setzte mich auf mein Bett und nahm die Beine hoch. Das stellte sich jedoch als die falsche Position heraus, denn sofort verstärkte sich der Schmerz. Vorsichtig hockte ich mich in den Schneidersitz und es ließ wieder etwas nach. „Auf jeden Fall muss ich dir heute noch ein größeres Becken organisieren, egal wie“, meinte ich zu meinem neuen Mitbewohner. Ich verfluchte mich dafür, dass ich vorgeschlagen hatte, Diane zu besuchen. Nicht, dass ich sie nicht auch kennen lernen wollte. Aber dem Fisch ein artgerechtes Becken zu organisieren – egal, ob es am Ende bei mir oder bei Lucius gestanden hätte – wäre bei weitem wichtiger gewesen. Ich konnte sehen, wie teilnahmslos der Goldfisch in dem engen Glas vor sich hin schwamm. „Das ist auch kein Dasein“, sagte ich zu ihm und stand wieder auf. In der Küche fand ich einige Kochtöpfe, doch von keinem stellte mich die Größe zufrieden. Mein Größter hatte einen Durchmesser von 20 Zentimetern und eine Tiefe von 30. „Es muss sich doch noch ein größeres Behältnis in meiner Wohnung befinden ...“ Im Bad wurde ich dann endlich fündig. Der viereckige Putzeimer würde bis zum nächsten Morgen sicher ausreichen. Er war 40 Zentimeter an den Seiten und einen halben Meter hoch. Zwar immer noch nicht artgerecht, weil nicht durchsichtig, aber als Übernachtungsmöglichkeit würde es sicher ausreichen. Ich spülte den Eimer mehrmals von innen und schrubbte ihn auch von außen sauber. Danach trocknete ich ihn soweit mit einem frischen Handtuch ab. Mein Fisch sollte nach dem Stress auf dem Jahrmarkt und der Tortur des restlichen Nachmittages nur das Beste bekommen. Als der Eimer soweit fertig war, ließ ich zu zweidritteln kaltes Wasser hineinlaufen. Danach trug ich in mein Wohnzimmer. „Wie gut, dass mein Bruder mal ein Aquarium hatte. Also, jetzt das Glas samt Fisch ungeöffnet in den Eimer stellen und warten, bis sich die unterschiedlichen Wassertemperaturen halbwegs angeglichen hat.“ So konnte sich mein Goldfisch langsam an die andere Temperatur gewöhnen und bekam keinen Schock. Vorsichtig ließ ich das Glas in den Eimer mit Wasser sinken. „Hm ...“ Ich ging zurück in die Küche und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Nicht nur für meinen Fisch, für den ich mir auch dringend einen Namen überlegen sollte, sondern auch für mich selbst. Seit den Karaage im Flying Diamond und dem Crêpe als Nachtisch hatte ich nichts mehr zwischen die Beißer bekommen. Beides war zwar deftig und gehaltvoll, aber eine Kleinigkeit am Abend würde nicht schaden. Ich fand noch ein paar Scheiben Toastbrot, die ich mir rationieren musste, um morgen noch ein Frühstück zu haben.  „Also morgen auch noch Lebensmittel kaufen ...“ Ich nahm zwei Scheiben aus der Packung und zwickte von der einen eine Ecke ab. Die würde mein Fisch nachher noch bekommen. Ich hatte noch eineinhalb Scheiben Käse, die ich gleichmäßig auf den Toasts verteilen konnte. Und eine überreife Banane kam auch noch zu meinem Abendbrot, bevor ich sie wegschmeißen musste. Warum eigentlich Bananen? Wenigstens wegen den Lebensmitteln musste ich mir keine Gedanken machen. Ich hatte an dem Supermarkt, in dem wir die Pralinen gekauft hatten, ein Öffnungszeitenschild gesehen. In Insomnia hatten die Märkte an jedem Tag geöffnet, anders als da, wo ich herkam. Lediglich das Aquarium konnte heikel werden, aber darum wollte ich mich morgen kümmern. Ich aß mein Mahl in der Küche und inspizierte sie währenddessen. Platz für das Aquarium hatte ich hier definitiv nicht. Der Raum war mit der kleinen Küchenzeile, dem Kühlschrank und der kleinen Tisch- und Stuhlgarnitur schon mehr als voll und ich schätzte, dass meine Kommode mit einem angemessen großen Aquarium komplett belegt sein würde. Trotz allem war ich relativ angetan von dem Zustand meiner Küche. Sie war zwar sehr klein und hatte keinen Geschirrspüler. Doch die Kochutensilien, das Besteck sowie das Geschirr waren in tadellosem Zustand. Keine wild zusammengewürfelten Teller, Gabeln und Messer, wie es häufig in Studentenbuden der Fall war, sondern meist alles von einer vermutlich erschwinglichen Marke. Auch die zwei Herdplatten, der Ofen und die Dunstabzugshaube funktionierten beim Test einwandfrei. Aus dem Wasserhahn kam heißes und kaltes Wasser. Dass ich scheinbar weder über einen Wasserkocher, noch über eine Mikrowelle verfügte, konnte ich problemlos verschmerzen. Mit der Brotecke schlurfte ich zurück in mein Schlafzimmer und wandte mich dem Fisch zu. Zeit, ihn aus seinem Glas in den Eimer zu lassen. Ich hob das Glas soweit an, dass beide Wasseroberflächen etwa gleichhoch standen, und schraubte vorsichtig den Deckel auf. Dann kippte ich das Glas leicht und tauchte es nach und nach tiefer in das Wasser des Eimers. So wurde das Eimerwasser nicht in das Glas gespült und der Goldfisch konnte sich selbst entscheiden, ob er heraus schwamm oder nicht. Er brauchte ein paar Augenblicke, bis er sich dazu durchgerungen hatte, aber dann konnte ich sein bisheriges Behältnis auch schon vorsichtig aus dem Eimer nehmen. Ich stellte es auf die Kommode, wo es einen nassen Fleck hinterließ, und gab dem Fisch Zeit, sich an seine neue Übergangsbehausung zu gewöhnen. Um mich etwas abzulenken, begann ich, mein Schlafzimmer noch mal zu untersuchen. Und vor allem einen Überblick über meine Finanzen und sonstigen Dokumente zu bekommen. In Eos musste es schließlich auch sowas wie eine Krankenversicherung und dergleichen geben, alltägliche Dinge, über die man sich nie Gedanken machte, wenn man ein Spiel spielte. Ich erinnerte mich an den unsortierten Ordner in meinem Kleiderschrank, holte ihn heraus und setzte mich mit ihm auf das Bett, um Ordnung in das Chaos zu bekommen. Ich fand heraus, dass ich im Monat etwas 200.000 Yen brutto verdiente. Davon wurden mir verschiedene Gebühren abgezogen. Mir sagten die einzelnen Begriffe nichts, aber ich schätzte, dass es sich dabei um Steuern und Versicherungen handelte. Am Ende bekam ich ein Gehalt von 170.000 Yen ausbezahlt, was für mich erst einmal nach viel klang. Mein gutes Gefühl dämpfte sich aber wieder, als ich herausfand, dass mich allein die Warmmiete für meine Unterkunft fast die Hälfte meines Nettogehalts kostete. ‚Für diese Bruchbude ...‘, dachte ich enttäuscht. Kein Wunder, dass Diane in einer so gammligen Gegend wohnte. Sie versuchte wohl, noch mehr bei der Miete zu sparen. Aber sicherlich würde es finanziell auch nach oben gehen, falls ich mich gut genug anstellte, um die Glevenausbildung erfolgreich abschließen zu können. Nähere Informationen zu Steuern, Versicherungen oder auch Arztrechnungen fand ich leider nicht, nicht mal zu den Ärzten, deren Visitenkarten ich im Portemonnaie hatte. Ich brachte den Ordner auf Vordermann, sortierte die einzelnen Dokumente nach ihrer Art und heftete sie dann chronologisch ab. Ich hatte keinen blassen Schimmer, welches Datum heute war, hoffte aber, dass der nächste Gehaltszettel nicht lange auf sich warten würde. Den Ordner stellte ich auf den Schreibtisch und griff danach zu dem Eckchen Toast. Mein neuer Mitbewohner schwamm inzwischen gemächlich hin und her, nicht mehr so apathisch wie in dem Glas. Ich wertete es als gutes Zeichen und dass er sich an seine neue Umgebung gewohnt hatte. Vorsichtig krümelte ich das Brot klein und ließ es dann auf die Wasseroberfläche fallen. Der Goldfisch bemerkte es und näherte sich den Krümeln. Er fing an, nach ihnen zu schnappen. „Scheinst es wohl doch halbwegs gut überstanden zu haben, na?“, sagte ich zu ihm. Ich betete, dass er am nächsten Morgen nicht mit dem Bauch nach oben in dem Eimer trieb. Müde machte ich das Licht meiner Nachttischlampe an und löschte das Deckenlicht. Die Schublade meines Nachttisches hatte ich mir noch nicht vorgenommen. Zu meinem großen Erstaunen fand ich in ihr eine Socke mit Geldscheinen und Münzen. Nicht nur Insomnische Yen, sondern auch Gil waren darunter, wie ich überrascht feststellte. „Ob man die hier wechseln kann?“ Vom Betrag her hatte ich mehr Gil als Yen, aber das musste nichts heißen. Gut möglich, dass der Umrechnungskurs zwischen den zwei Währungen mir etwas anderes sagte. Trotzdem stellte ich halbwegs zufrieden fest, dass ich um die 20.000 Yen in bar zur Verfügung hatte, nebst den kümmerlichen Resten in meiner Börse. ‚Dafür müssen sich doch Lebensmittel für die kommende Woche und ein gebrauchtes Aquarium auftreiben lassen‘, dachte ich beruhigt. Ansonsten fanden sich nur noch einige Stofftaschentücher und eine Modeschmuckkette in der Schublade, nichts Wertvolles. „Vermutlich für den Businessanzug.“ Ich schloss die Schublade wieder und seufzte. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Mir schwirrte der Kopf von den vielen Eindrücken, von Lucius und Diane, meinen Freunden, von dem Vergnügungspark, der so anders und doch so ähnlich war wie das, was ich aus meiner Welt kannte. Von Insomnia. Ich ließ mich ins Bett fallen und schaltete die Nachttischlampe aus. Ob ich morgen noch hier sein würde? Oder ob ich endlich aus diesem Traum aufwachen würde. Ob ich überhaupt aufwachen wollte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)