Calypsoklänge von _Delacroix_ ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Ein blecherner Knall zerfetzte die Luft. Vögel schrien; der Wind verstummte. Sein Körper glühte, doch er gehorchte nicht mehr. Die Welt schwankte und er mit ihr. Seine Finger berührten etwas Hartes. Er klammerte sich daran fest, doch es war nicht stabil genug.   Dicker Faden riss, Türkis fiel zu Boden und er – fiel ebenfalls.   Es klatschte, als der Fluss seinen unwilligen Körper empfing. Wasser brannte in seinen Augen, seine Ohren nahmen dumpf Pocahontas’ Stimme wahr, doch er vermochte ihr nicht zu antworten. Er sank und konnte nichts dagegen tun. „Schwimm“, befahl er seinen Beinen, doch sie rührten sich nicht. „Beweg dich“, forderte er von seinen Armen, doch nichts geschah. Langsam wurde es dunkel um ihn herum. Die Sonne verschwand hinter einem Vorhang aus Wasser und Blut und das bisschen Luft, das ihm noch blieb, schien plötzlich immer weniger zu werden. Seine Augen wurden schwer, irgendwo floh ein kleiner Fisch ...   Das war es also.   Sein Ende.   Am Grunde eines Flusses. Ganz allein.   Nur er, die Wellen und ... seltsam fröhliche Musik? Kapitel 1 ---------   Shake, shake, shake, Senora Shake your body line Shake, shake, shake, Senora Shake it all the time Work, work, work, Senora Work your body line Work, work, work, Senora Work it all the time       Der kleine, gelbblaue Doktorfisch schüttelte seine Rasseln, während Arista die fröhliche Melodie auf ihrer Klarinette vorzugeben versuchte. Ihre grasgrüne Kugelfischfreundin Pari schwamm ein wenig lustlos im Kreis herum, doch davon ließ sich Arista nicht aus dem Takt bringen. Sie war es gewohnt, dass die Kugelfischdame etwas zu meckern hatte und sich dadurch in den Mittelpunkt spielte.   Doch gerade ging es um Fabius, der endlich mal wieder ein bisschen Spaß zu haben schien. Seit Arielle sie für ein Leben an der Oberfläche verlassen hatte, war es ihm sichtlich schwergefallen, sich zu amüsieren. Und so hatte Arista ihn in aller Frühe geschnappt und war mit ihm zu den einsamen Unterwasserhöhlen an der Mündung eines Flusses geschwommen, um fern ab von neugierigen Ohren etwas zur allgemeinen Stimmungsverbesserung beizutragen.   Die fröhliche Melodie hallte von den Höhlenwänden wieder, ließ ihre Klarinette fast wie ein ganzes Orchester klingen und Fabius Rasseln verliehen dem Ganzen den letzten Schliff. Sie heizten die Stimmung auf und sorgten so dafür, dass selbst Pari es nicht schaffte, dem Takt gänzlich zu entkommen.   Arista schlug einen fröhlichen Salto, blies noch einmal in ihre Klarinette hinein, dann verneigte sie sich vor ihrer Freundin. Pari schnalzte mit der Zunge. „So viel Möh und so viel Mah, ist in der Klassik niemals da“, motzte sie provozierend.   Neben ihr rollte Fabius mit den Augen. „Wenn du möchtest, spielen wir dir gerne einen Trauermarsch“, schlug er vor. Pari schüttelte den Kopf. „Die Idee ist gar fein, die Antwort aber nein“, entgegnete sie schnippisch und schob schmollend ihre Unterlippe vor.     Arista schenkte ihr ein Lächeln. „Jetzt sei nicht so“, versuchte sie die Wellen zu glätten, „Dieser Ausflug soll doch unsere Stimmung heben.“   „Das tut er bisher nicht eben.“   „Es kommt einfach nur auf die Einstellung an.“   „Und was dann?“   Arista holte tief Luft. „Naja“, schnurrte sie, „Wir könnten ja auch ein aufmunterndes Tänzchen wagen!“   „Tanzen?!“, echote Pari und vergaß vor lauter Überraschung sogar, dass ihr Ausruf sich nicht reimte.   „Besser als Algen anzupflanzen!“, übernahm Arista das für sie. Sie lachte, während sie ihre Freundin mit sich zog. „Komm, lass dich einfach mal gehen!“, forderte sie, „Amüsier dich, Pari! Fabius kann das doch auch.“   „Ich bin ein echter Tanzfisch“, stimmte der ihr zu und wackelte prompt mit seinen Flossen herum.   „Ja, genau! Hau rein!“, feuerte Arista ihn an und sah zu, wie der kleine Fisch immer schneller zappelte. „Das nenn ich die richtige Einstellung! Super Fabius!“   Der Doktorfisch machte eine besonders gewagte Pirouette und drehte sich danach prompt noch ein paar mal weiter. Dann schwankte er zu ihnen zurück. „Tada!“, rief er triumphierend und versuchte krampfhaft nicht zu zeigen, dass er gerade ziemlich grün um die Kiemen geworden war.   Pari rümpfte die Nase. „Tada, nada. Ich tanze besser als du; ich zeig’s dir im Nu“, verkündete sie und schwebte mit der ihr eigenen Leichtigkeit in die Mitte ihres provisorischen Proberaumes. Einen Moment lang trieb sie reglos auf der Stelle, dann begann sie sich in einem stummen Takt zu wiegen, hob ihre hellgrünen Brustflossen und lugte immer wieder verführerisch hinter ihnen hervor. Ihr Körper wiegte sich in der schwachen Strömung, mal nach links, mal nach rechts und schließlich auch im Kreis herum. Ganz so, als folgte er einer fernen Melodie. Ihre Hüften kreisten, ihre Flossen schienen gleichzeitig überall zu sein, bis sie schließlich in der Bewegung innehielt und den Kopf anmutig nach oben hob.   Arista klatschte in die Hände. „Das war wundervoll Pari“, lobte sie.   Fabius nickte. „Ganz große Klasse!“, pflichtete er ihr bei.   „Bravo!“   „Brava!“     Ihre Freundin knickste anmutig. „Das will ich wohl meinen, bei allem and’ren müsst ich wei- Was ist das? Barrakudas?“   Arista folgte Paris Blick nach oben, durch eines der unzähligen Löcher in der Höhlendecke, wo etwas Großes, Dunkles langsam näher kam.   „Das ist kein Barrakuda“, korrigierte Fabius, „Ich glaube, das ist Treibgut.“   „Treibgut?“, echote Arista, „Du meinst von den Menschen?“   Fabius nickte. „Arielle hat das immer eingesammelt. Da waren tolle Sachen bei. So lange, silberne Gabelteile für die Haare und schwammige Dinger zwischen zwei Deckeln, mit Farbklecksen drin und einmal, da hat sie ein Kästchen gefunden, mit so einer kleinen Figur, die hat -“   „So viel Geschnatter, welch ein Gemater!“ fiel Pari ihm unwirsch ins Wort, „Ihr wollt doch nicht bergen, was fremde Schergen, ins Wasser warfen, dort oben am Hafen! Das gefährlich! Wir sind nicht entbehrlich! Bitte Arista, lass diesen Mist da!“   Arista winkte ab. „Fabius sagt doch, es sei ungefährlich“, widersprach sie ihrer besorgten Freundin, „Das heißt, wir können doch mal gucken. Vielleicht finden wir dann auch so ein Teil für die Haare. Ich bräuchte dringend ein Neues. Weißt du, Aquata hat schon wieder meinen Muschelkamm konfisziert. Und warum? Weil da ein A in den Griff graviert war. Ein A! Was glaubt sie eigentlich, wie man Arista schreibt? Mit A natürlich. Es ist meine Initiale.“   „Schreibt man Aquata nicht auch mit A?“   Arista warf Fabius einen bitterbösen Blick zu, bevor sie auf das Treibgut zu zu schwimmen begann. „A oder nicht“, rief sie über die Schulter zurück, wohl wissend, dass die Anderen ihr folgen würden, „Es ist trotzdem meiner.“     🐟🐟🐟     Viel schneller als von ihr geplant, spürte sie Fabius neben sich. Der kleine Doktorfisch war gut im Training, war er doch immer ihrer Schwester nachgeschwommen, welche nachweislich die schnellste Meerjungfrau war, die Atlantica je gesehen hatte.   Arista dagegen strengte es schon an, die paar Meter so schnell aufzusteigen. Mühsam unterdrückte sie ein Schnaufen und verringerte ihre Geschwindigkeit. Im Zweifel würde sie halt behaupten, sie habe Sorge gehabt, ob Pari so schnell folgen konnte. Das war immer noch besser als japsend neben einem Schatz zu treiben.   Apropos Schatz! Der seltsame Gegenstand war in den letzten Sekunden noch größer geworden und irgendwie schien es ihr, als ginge etwas Rotes von ihm aus. Das Wasser um ihn herum hatte bereits die merkwürdige Färbung angenommen und -   „Ach du Schreck!“, entfuhr es Arista und plötzlich waren alle ihre guten Vorsätze vergessen. Sie schwamm wieder schneller. „D-Das ist kein Treibgut“, krächzte sie, „Das ist ein Mensch!“.   „Der sieht aber seltsam aus und auslaufen tut er auch. Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Fabius verunsichert.   „Er kann im Wasser nicht überleben. Er muss zurück an die Oberfläche.“   Fabius nickte. „Das hätte Arielle jetzt auch gesagt“, stimmte er zu. „Fass du da an und ich schiebe hier und dann -“   „Wartet! Macht mal eine Pause, das rote Zeug ist keine Brause. Bald ist es aus, da fließt zu viel von aus ihm raus“, fiel Pari ihm ein weiteres Mal ins Wort, „Wir müssen das heilen und wir sollten uns eilen.“   Zwei Fische warfen Arista einen erwartungsvollen Blick zu und ihr wurde spontan ganz anders „Ich?“, entfuhr es ihr, „Ich kann nicht mal einen Schnappmaulmuschelbiss verbinden! Und ich habe keine Ahnung, wo das rote Zeug überhaupt herkommt. Ich kann das nicht! F-Fabius, du bist doch der Menschenexperte hier. Hat Arielle dir irgendwas über das rote Zeug erzählt?“   Der Fisch schüttelte den Kopf. „Sie hat von ganz viel Zeug erzählt, aber nicht von so etwas.“   „Schon wieder Gemater, fast wie im Theater. Doch keine Panik, ich kenn die Mechanik, da ist ein Zauber, vielleicht nicht ganz sauber, der kriegt das hin, dann ist’s aus dem Sinn!“, blubberte Pari und schwamm neugierig eine Runde um den Menschen herum.   „Meinst du wirklich?“, fragte Fabius misstrauisch, doch Pari ignorierte ihn. Statt auf seine Bedenken einzugehen, drehte sie weitere Runden um den Menschen herum. Sie wurde schneller und schneller, grüne Funken sprühten, unbekannte Worte glitten über ihre Lippen:     ᛞᚢᛗᛗᛖᛇ ᚹᛖᛇᛖᚾᛗᛖᛁᚾ. ᚷᛖᛇᚢᚾᛞ ᚹᛁᛖᛖᛁᚾ ᚠᛁᛇᚲᚺ ᛇᛟᛚᛚᛇᛏ ᛞᚢ ᛇᛖᛁᚾ.     Der Mensch verschwand in einer grün blinkenden Wolke. Arista warf einen skeptischen Blick zu Fabius. „Denkst du, dass das so muss?“, wollte sie wissen.   Fabius zuckte mit den Flossen: „Vermutlich haben wir Glück, wenn wir nicht als Seewürmer enden“, klagte er.   Arista seufzte. Sie konnte es Fabius nicht verübeln, dass ihm die Begegnung mit der Meereshexe noch immer in den   Gräten steckten, doch eigentlich vertraute sie Pari. Und wenn sie sagte, dass sie das hinbekam, dann würde sie das ganz be-   „Oh!“   Arista zuckte zusammen. „Pari?! Pari, was hast du?!“, rief sie alarmiert und wäre beinahe in die giftgrüne Wolke hineingeschwommen, wäre ihr der Kugelfisch nicht schon entgegengekommen.   „Ich hab was vergessen, das könnte euch stressen“, erklärte Pari, kaum das sie aus der grünen Wolke heraus war, „Drum werd ich jetzt geh’n, auf Wiedersehen!“   Noch nie hatte Arista ihre Freundin so schnell paddeln sehen. „A-Aber, was ist jetzt mit dem Menschen?“, rief sie ihr hinterher, doch Pari reagierte schon nicht mehr. Besorgt blickte Arista zu Fabius. „Und was jetzt?“   Dieser plusterte sich auf. „Ich hol sie zurück. Sie kann jetzt nicht einfach gehen. Kümmer’ du dich um das da. Ich bin gleich wieder da!“   Arista öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen. Sie wollte die Rollen tauschen und selbst nach ihrer Freundin sehen, doch es war bereits zu spät. Fabius war mit schnellen Flossenschlägen los geschwommen und ließ sie mit der unheimlichen, grünen Wolke allein, die langsam begann, sich aufzulösen.   Kapitel 2 ---------     Under the sea Under the sea Nobody beats us Fry us and eat us In fricassee     Arista war entsetzt. Was auch immer Pari für einen Zauber gesprochen hatte, er hatte ganz und gar nicht so gewirkt, wie sie sich das vorgestellt hatte. Zwar war die rote Wolke verschwunden, aber der Mensch sah kein bisschen besser aus. Er war immer noch nicht wieder bei Bewusstsein und seine Beine waren einem großen, dunkelblauen Fischschwanz gewichen.   Es war eine Katastrophe!   Selbst wenn er aufwachte, so wie er jetzt aussah, konnten sie ihn nicht zurück an die Oberfläche bringen. Er konnte dort nicht leben. Vielleicht konnte er es nicht einmal hier.   Unsicher musterte sie das, was von ihm noch übrig war. Er sah anders aus als die Menschen, die sie bisher gesehen hatte. Seine Kleidung war schlichter, weniger verdeckend und da waren Federn und Steine, die farblos und schwer an seinem Hals hingen. Vorsichtig streckte Arista die Finger danach aus. Waren das die Schätze der Oberfläche, für die Arielle sie verlassen hatte? Waren sie nicht irgendwie ... ein bisschen farblos? Langsam fuhr sie mit der Fingerspitze über einen Stein. Er war fast genauso glatt wie die, die sie und ihre Schwestern manchmal im Sand des Palastgartens fanden. Die, von denen ihr Vater sagte, dass die Flut sie in Form geschliffen hätte. Hatte die Flut auch diesen Stein geschliffen? Stammte er aus dem Meer? Und wenn ja, wie war dieser Mann an ihn herangekommen?   Hatte er die Steine mit einem Netz aus dem Wasser gezogen, oder war er nach ihnen getaucht? Konnten Menschen überhaupt tauchen? Normalerweise starben sie, wenn sie den Kopf nicht über Wasser hielten, so wie die Fische starben, wenn sie sich zu nah ans Ufer wagten.   Arista schüttelte den Kopf. Solche Grübeleien waren nichts für sie. Sie machten sie nur traurig und das konnte sie sich nicht leisten. Sie musste hierbleiben und aufpassen bis Fabius und Pari wiederkamen. Sie musste auf den Menschen achten, nur für den Fall, dass er doch aufwachte und wenn ja, dann musste sie – Arista stockte. Eigentlich hatte sie keine Ahnung, was sie dann tun musste. Wahrscheinlich mit ihm reden, ihn beruhigen und erklären, dass sie den Zauber rückgängig machen konnten. Nur konnten sie das? Sie hatte keine Ahnung von Magie und Fabius kaum mehr als sie. Pari würde den Zauber rückgängig machen müssen. Entweder das, oder – Arista schluckte. Ihr Vater würde das alles ganz und gar nicht mögen, aber wahrscheinlich war dieser Weg der sicherste. Er konnte seinen Dreizack nutzen und dem Menschen seine Beine wiedergeben, so wie er sie auch Arielle gegeben hatte. Er wusste, was er tat und würde sich ganz sicher nicht verzaubern, so wie es Pari passiert war.   Wenigstens war all das nicht Aristas schuld. Niemand konnte etwas dafür, wenn ihm ein Ertrinkender quasi auf den Kopf fiel. Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ihr Vater würde das verstehen. Er musste es einfach.   „Wegen dir lasse ich mir ganz sicher keinen Palastarrest geben“, versicherte sie, obwohl sie genau wusste, dass der Mensch sie nicht hörte, „Das ist alles deine Schuld. Schließlich warst du am Ertrinken. Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Mit dem falschen Kugelfisch. Aber das werde ich Daddy so nicht sagen. Ich sage einfach - Ich weiß nicht? Wie erklärt man einen Fischschwanz? Falsche Ernährung? Aquatische Anpassung? Meereshexen?“ Arista ließ von seiner Kette ab. Ihre Erklärungsversuche klangen selbst in ihren Ohren kläglich. Menschen wuchsen nicht plötzlich Flossen, genauso wenig wie Meerjungfrauen auf einmal Beine bekamen. Dafür brauchte es Magie. Eigentlich sogar eine ganze Menge davon.   Nachdenklich ließ sie die Finger durch das schwarze Haar ihres Patienten gleiten. Hoffentlich würde Pari keinen Ärger bekommen. Die Kugelfischdame hatte zwar immer etwas zu meckern, aber hätte Arista nicht helfen wollen, Pari wäre überhaupt nicht in die Verlegenheit gekommen, ihre Magie an dem Menschen auszuprobieren. Arista strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war schon eindrucksvoll, dass ihre kleine, grüne Freundin so etwas hinbekam. Man musste schon etwas von Magie verstehen, um die Beschaffenheit eines Lebewesens zu ändern. Mit dem Dreizack auf etwas deuten und „Schieß“ sagen, das konnte beinahe jeder, aber für eine Verwandlung brauchte man Erfahrung. Man brauchte Können. Man brauchte ... Eine Meereshexe.   Oder jedenfalls einen sehr, sehr begabten Kugelfisch.   Plötzlich schnappte ihr Patient nach Luft und Arista erstarrte. Er wachte auf! Der Mensch, er wachte auf! Etwas in ihr wäre am allerliebsten weggeschwommen und hätte sich in der Unterwasserhöhle versteckt, aber sie wusste, das konnte sie nicht tun. Er war verletzt und sicher auch verwirrt. Er brauchte sie hier ... Sie musste erklären -   Eine Hand schloss sich um ihren Unterarm und vertrieb jeden weiteren Gedanken an Flucht. Dunkle Augen starrten sie durchdringend an. Sie schluckte.   „H-Hi?“, presste sie irgendwie heraus und lächelte ihm dabei höchst schuldbewusst entgegen, „B-Bitte. Hab keine   Angst vor mir.“   Er blinzelte drei Mal, dann begann er zu husten.   „Oh nein, nein, nein. Langsam ... Du musst langsam atmen, sonst wirst du dich nicht an den Druck gewöhnen. Schau mal, hier. Ein und aus. Ein und aus. Immer mit der Strömung. So musst du das machen. Du ertrinkst nicht. Also ... glaube ich zumindest. He, wenn du ertrinkst, sagst du es mir dann? Also, damit ich Hilfe holen kann?“   Langsam ließ sein Husten nach, was Arista ein wenig beruhigte. Wenn er nicht mehr hustete, hieß das doch bestimmt, dass er das mit der Atmung in den Griff bekam. Also, hoffentlich, weil wenn Menschen still und heimlich starben, dann hatte sie ein noch viel größeres Problem als bislang angenommen.   Misstrauisch schwamm sie eine Runde um ihn herum. „Geht es dir gut? Funktioniert dein Schwanz? Kannst du dich bewegen?“, fragte sie ihn aus, doch er antwortete nicht. Arista schwamm noch eine Ehrenrunde, dann hielt sie vor ihm inne. „Du bist nicht gerade sehr gesprächig“, stellte sie spontan fest, „Vielleicht verstehst du mich auch nicht. Also jedenfalls, ich bin Arista und- und ich habe einen Plan. Wir kriegen das wieder hin. Mein Vater kann dich zurückverwandeln. Er hat einen magischen Dreizack. Ich werde dich einfach zu ihm bringen und dann schwimmst äh gehst du morgen schon wieder ganz normal an Land herum. Also, meinst du, du kannst schwimmen?“   Arista schenkte ihm einen hoffnungsvollen Blick, doch die Lippen ihres Gegenübers blieben fest verschlossen. Wahrscheinlich verstand er sie nicht.   Probeweise wackelte sie mit ihrem Fischschwanz. Erst einmal, dann noch einmal und schließlich noch ein Drittes, in der Hoffnung, er würde irgendwie verstehen, was sie von ihm wollte. So schwer war es ja auch nicht. Wenn er den Schwanz bewegen konnte, dann konnte er auch damit schwimmen.   Da, ein zögerliches Zucken. Das war gut. Ein Anfang. Sie strahlte ihm auffordernd entgegen und tatsächlich schlug er noch einmal mit seinem Fischschwanz. Das konnte funktionieren. Arista klatschte in die Hände. „Prima!“, entfuhr es ihr, während er die Bewegung tapfer wiederholte. Ein Schlag, dann noch einer und endlich kam so etwas wie Haltung in seinen Körper.   „Das machst du gut“, lobte Arista, obwohl sie inzwischen wusste, dass das ziemlich sinnlos war. Anscheinend verstand er sie wirklich nicht. Was schade war, denn sie hätte ihm nur zu gerne ein paar Fragen gestellt. Fragen über die glatten Steine, die Federn und wie er bei ihnen im Meer gelandet war. Aber andererseits, wenn sie ihn nichts fragen konnte, dann konnte er es auch nicht bei ihr tun. Und das verschaffte ihr eine Gnadenfrist, was seinen plötzlich existierenden Fischschwanz und ihre abtrünnige Freundin Pari betraf, die inzwischen bestimmt schon wieder Zuhause in Atlantica war und sich in ihr Bett aus rosa Schlafkorallen kuschelte, fern ab von allem, was vielleicht von der Oberfläche stammen mochte.   Der Mensch musterte sie, doch Arista vermochte nicht zu sagen, ob es nun Neugierde oder etwas anderes war. Seine   Miene war so unleserlich, wie die eines Hammerhais. Sie seufzte, dann streckte sie die Hand nach ihm aus. „Komm mit“, forderte sie, „Ich zeige dir den Weg nach Atlantica.“       🐟🐟🐟       Es stimmte schon, schwimmen lernte man am besten, indem man einfach schwamm. Schon nach wenigen Minuten waren die Bewegungen ihres Begleiters sicherer geworden, und als sie in der Ferne die Umrisse des Schlosses erkannte, war er schon fast so routiniert, wie ein echter Meermann. Arista fand das gut. Es wäre ihr peinlich gewesen, mit einem schlecht schwimmenden Meermann gesehen zu werden und er musste ja ins Schloss, wo immer regsame Betriebsamkeit herrschte und hinter jeder Ecke eine ihrer Schwestern darauf lauerte, etwas zu finden, womit sie die Anderen aufziehen konnte.   Aber ihr Begleiter schwamm, als hätte er nie etwas anderes getan und so war sich Arista sicher, selbst wenn sie den Weg über den Marktplatz nahmen, würde das niemand seltsam finden. Sie war einfach eine ganz normale Meerjungfrau in der Begleitung eines netten, jungen Meermannes, dessen einziger Fehler es war, dass er nicht den Mund auf bekam.   Zugegeben, es war schon etwas seltsam, dass er ihr nichts erzählen konnte, aber so hatte sie sich halt alle Mühe geben müssen, kein unangenehmes Schweigen aufkommen zu lassen. Sie hatte ihm vom Catfish Club berichtet, dem angesagten Jazzklub, den sie und ihre Schwestern manchmal besuchten, um dort zu musizieren, sie hatte ihm von ihren Schwierigkeiten beim Erlernen der Klarinette erzählt und sogar von den fiesen Behauptungen, mit denen ihr Aquata immer wieder ihre Sachen wegzunehmen versuchte. Doch keine ihrer Anekdoten hatte ihm eine großartige Reaktion entlockt.   Das Höchste der Gefühle war ein amüsiertes Lächeln gewesen, als sie, völlig versunken in ihre Geschichte, versucht hatte, ihm ein Bild von Ursula, der bösen Meereshexe zu vermitteln. Aber das war ziemlich anstrengend gewesen und so hatte sie die Vorstellung lieber früher als später beendet und sich darauf verlegt, ihm stattdessen all die Fische vorzustellen, die ihnen auf dem Weg entgegen kamen.   Hier begrüßte sie einen alten Bekannten, dort einen zufriedenen Bewohner des Unterwasserreichs. Manchmal winkte sie Kindern, ein anderes mal einer Schildkröte, die vielleicht schon älter war als der ganze Rest von Atlantica.   „Wir schwimmen gleich über den Marktplatz“, eröffnete sie schließlich, als sie sich den ersten Buden näherten. „Bleib in meiner Nähe und versuch nicht verloren zu gehen. Es ist hier immer ziemlich voll und ich will dich nicht suchen müssen.“   Schnell sollte sie sehen, wie recht sie damit hatte. Es war noch früh und zahlreiche Fische und Meermenschen drängelten sich um die bunten Stände herum. Hier verkauften sie einen Algenschneider, dort eine neue Schönheitslotion. Alle hatten es eilig und keiner nahm Rücksicht auf sie und ihren stillen Freund. Ein paar Mal musste Arista abrupt bremsen, um nicht über den Haufen geschwommen zu werden und einmal hielt nur der finstere Blick ihres Begleiters einen näher eilenden Schwertfisch auf.     Wirklich, sie mussten dringend Vorschriften einführen, was spitze Klauen, Zähne und Nasen im dichten Gewühl betraf. Vielleicht sollte sie es ihrem Vater vorschlagen ... Sobald er nicht mehr sauer wegen des Menschen war.   Arista warf einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter, um ihren Begleiter zu beobachten, der unauffällig die Stände zu mustern schien. Gab es an der Oberfläche keine Marktplätze, oder sahen sie bei ihm einfach anders aus als hier. Sicher verkauften dort keine Fische ihre Waren und es gab bestimmt auch keine Algen und Muscheln in den Auslagen. Nur was gab es dann?   Ein weiteres Mal bereute Arista, dass er sie nicht verstand. Die Frage hätte sie ihm wirklich gern gestellt. Aber vielleicht konnte sie ja - Spontan griff sie nach seinem Arm und zog ihn an eine der Buden heran. Wenn er keine Unterwassermarktplätze kannte, dann kannte er bestimmt auch keine Planktonpastete. Und jeder sollte Planktonpastete kennen. Sie war einfach viel zu gut, um es nicht zu tun!   Eilig nickte sie einem Kraken zu, der in jedem seiner Arme eine andere Schüssel hielt und die kostbaren Leckereien durch die Luft wirbelte, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Einen Moment lang sah sie ihm dabei zu, wie er in drei Schüsseln gleichzeitig Plankton schüttete, dann hielt er ihr zwei davon entgegen und Arista griff begeistert zu.   „Hier, versuch das“, sagte sie, als sie dem Menschen eine der Schüsseln reichte, doch er reagierte nicht sofort. Während sie sich auf den Inhalt ihrer Schüssel stürzte, schaute er nur skeptisch sein Plankton an. Erst als er merkte, dass sie ihn beobachtete, riskierte er einen Bissen.   Für einen Augenblick sah Arista ihm beim Kauen zu, dann löffelte er begeistert weiter und sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das war der Zauber von Planktonpastete. Niemand, absolut niemand konnte der leckeren Masse widerstehen. Scheinbar nicht mal die Oberflächenbewohner!   „Arista!“, erklang es plötzlich neben ihr und beinahe hätte sie ihre halb volle Schale fallen lassen. Eilig wirbelte sie herum.   „A-Attina!“, entfuhr es ihr überrascht. Zwar hatte sie ein bisschen darauf gehofft, eine ihrer Schwestern zu treffen, doch in ihrer Vorstellung war es immer Aquata gewesen, die sie mit neidvollem Blick angestarrt hatte.   Leider sah Attina ganz und gar nicht neidvoll aus. Ihre große Schwester hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte sie skeptisch. „Was tust du hier?“, verlangte sie zu erfahren und für einen Augenblick fühlte sich Arista, als wäre sie wieder zehn.   „Ich esse Planktonpastete“, versuchte sie es mit dem Offensichtlichen und hielt ihrer Schwester ihre Schale entgegen. „Willst du auch?“   Attina schüttelte den Kopf, doch Arista konnte den hungrigen Ausdruck in ihren Augen erkennen. Hätte sie nicht gemeint die große Schwester spielen zu müssen, Attina hätte sich mit Sicherheit auf die Schale gestürzt. Spielverderberin. „Wer ist dein Freund?“, erkundigte sie sich stattdessen und Arista wurde siedend heiß bewusst, dass sie auf diese Frage   keine Antwort hatte.   „Ach äh... ich hab ihn auf dem Markt getroffen“, log sie ein wenig unbeholfen, „Er kommt von ... weit her, da wollte ich ihm unsere Planktonpastete zeigen. Sie scheint ihm zu schmecken.“   „Er kommt aus einer Gegend ohne Planktonpastete?“, fragte Attina skeptisch und schenkte dem Menschen einen langen Blick. „Mein Name ist Attina, ich bin Aristas Schwester“, stellte sie sich vor.   Arista schüttelte eilig den Kopf. „Gib dir keine Mühe, er versteht uns nicht.“ „Er versteht uns nicht?“ Attina legte ihre Stirn in Falten, „Bist du dir da sicher, Arista?“ „Natürlich bin ich mir sicher!“, entfuhr es Arista, „Ich merke doch, ob man mir antwortet oder nicht!“ Ärgerlich stemmte sie die Arme in die Hüften. Was bildete sich Attina eigentlich ein? Nur weil sie ein paar Jahre älter war als sie, musste sie sich nicht aufspielen, als hätte sie die Weisheit mit Löffeln gefressen.   „Woah“, entfuhr es dieser, „Beruhige dich. Ich wollte ja nur wissen, ob du ihm schon mal eine Frage gestellt hast. So was wie: Wie heißt du?“   „Natürlich habe ich -“   „Kocoum.“   Fassungslos starrte Arista ihren Begleiter an. Er konnte ja doch sprechen und scheinbar konnte er sie auch verstehen. Ihr Blick fiel auf Attina, die ihr ein arrogantes Lächeln schenkte. „Siehst du?“, dozierte sie und Arista nahm sich fest vor, ihren nächsten Muschelkamm auf ihrem Schminktisch zu finden.   „W-Warum hast du nichts gesagt?“, fragte sie an Kocoum gewandt. Was hatte sie alles ausgeplappert, glaubend, dass er sie nicht verstand? Hatte er sie heimlich ausgelacht? War das ein dummer Scherz?   „Du hast nicht gefragt.“   „Ich habe nicht ...“, Arista holte tief Luft. Sie hatte nicht ... Natürlich hatte sie nicht. Sie war mit Wichtigerem beschäftigt gewesen, als auch noch daran zu denken, ihn zu fragen, ob er sie verstand. Sie hatte versucht, ihm irgendwie zu helfen, Pari zu decken und sich Sorgen um Fabius gemacht. Und er? Er hatte geschwiegen, weil sie ihn nicht gefragt hatte! Wütend setzte sie sich in Bewegung. Sollte sich doch Attina um ihn kümmern, wenn sie alles so viel besser wusste als sie. Scheinbar verstanden die Beiden sich ja eh hervorragend. Dann konnten sie das alles ja auch ihrem Vater erklären. Zumindest unter der Voraussetzung, dass der nicht vergaß zu fragen, ob der Mensch ihn auch verstand! Kapitel 3 --------- The difference is our differences Maybe small or great Variety add spice to life So we should celebrate       Arista wusste nicht, wie weit sie geschwommen war, doch den Marktplatz hatte sie bereits ein Weilchen hinter sich gelassen. Noch immer rauchte die Wut in ihr. Was sie diesem Menschen alles erzählt hatte, glaubend, dass er ohnehin nicht verstand, was sie von sich gab. Er musste sie ja für den letzten Dummfisch halten. Genau wie Attina. Dabei hatte sie es wirklich nicht gemerkt.   Wieso passierten solche Sachen immer ihr? Wieso konnte nicht mal Aquata die Dumme sein? Oder Andrina? Oder Ari -   Arista seufzte. Arielle hätte das alles bestimmt viel besser gelöst als sie. Dabei war sie die Ältere. Sie sollte in solchen Momenten den Durchblick behalten, so wie Attina ihn behalten hatte. Arista seufzte noch einmal. Attina ... Ein wenig grollte sie ihr immer noch. Warum hatte sie sich auch einmischen müssen? Gerade als sie angefangen hatte, sich mit dem Menschen zu amüsieren. Sie dachte an die Planktonpastete und versuchte nicht zu grinsen. Eigentlich war ihr Abstecher ein voller Erfolg gewesen, bis –   Etwas Warmes legte sich auf ihre Schulter und Arista machte vor Schreck einen kleinen Satz. „Wie? Was?“, entfuhr es ihr. „Oh, Kocoum...“ Arista wandte sich ab. Sie wollte ihn nicht sehen, auch wenn ihr die Frage auf der Zunge brannte, wie er es geschafft hatte, ihr so schnell zu folgen und warum er ihr überhaupt nachgeschwommen war. Die Hand auf ihrer Schulter bewegte sich keinen Millimeter und für einen Augenblick legte sich eine Grabesstille über sie.   „Es tut mir leid.“   Arista spitzte die Ohren. Hatte er gerade – „Warum hast du nichts gesagt?“, wollte sie wissen.   Er erlaubte es sich, reumütig auszusehen. „Ich wollte, aber dann hast du angefangen zu erzählen und da habe ich lieber zugehört. Du hast eine schöne Stimme.“   „Zugehört?“   Er nickte. „Ich hatte immer den Eindruck, Pocahontas schätzt es nicht sonderlich, wenn ich meine Meinung sage.“   „Wer ist Pocahontas?“   Er zögerte kurz. „Ein Mädchen aus meinem Stamm.“   Arista schwamm neugierig eine Runde um ihn herum. „Ist sie hübsch?“, wollte sie dann wissen.   Er nickte noch einmal.   „Dann ist sie deine Freundin?“   Stille.   „Kocoum? Jetzt sag schon.“   Einen Augenblick lang glaubte Arista, er würde wieder schweigen und sie wollte schon frustriert zu protestieren beginnen, da öffnete er doch noch den Mund. „Mein Stamm glaubt, man müsse auf das hören, was das Herz einem sagt und meines sagt, es hat sie an ein anderes Ufer verschlagen.“   „Hä?“   „Sie interessiert sich nicht für mich.“   „Oh.“ Arista zog eine Schnute. „Nun, sieh es so, es gibt noch viele andere Fische im Meer.“   Er nickte. „Offensichtlich.“           Arista kicherte, während sie durch das Palasttor schwamm. „Und du hast ihr wirklich ein ganzes Haus gebaut?“, fragte sie ungläubig.   Kocoum nickte. „Vom Boden bis zum Dach“, bestätigte er. „So verlangt es die Tradition.“   „Und was hat sie dazu gesagt?“     „Ehrlich gesagt hat sie es sich noch gar nicht angesehen.“   „Das ist schade. Ich wette, es ist ein hübsches Haus.“   „Nun, jedenfalls sieht es ganz anders aus als dieses hier. Wer hat es gebaut?“   Arista überlegt. „Bau-Kraken, nehme ich an.“   „Interessant.“   „Nein, eigentlich nicht“, entgegnete sie, „In Atlantica gibt es viele Grotten und Höhlen, die ein schönes Zuhause bieten würden. Ich finde es viel spannender, dass ihr das an der Oberfläche alles selber machen müsst. Ich meine, wie baut man ganz ohne Korallen eine Wand?“   „An der Oberfläche ... mit Lehm“, entgegnete Kocoum knapp.   Arista kicherte erneut. Eigentlich hatte sie keine Ahnung, was dieses Lehmzeug sein sollte, aber sie fand es interessant, dass er solche Dinge wusste. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man ein Haus baute. Sie hatte auch noch nie darüber nachgedacht. Ihr Zuhause war einfach schon immer da gewesen. Der Gedanke, dass es jemand gebaut haben musste, war ihr bisher nie gekommen.   Arista schwamm ein bisschen langsamer und hielt schließlich vor den goldenen Flügeltüren inne. „Hier ist es“, erklärte sie dann, „Das ist der Thronsaal. Wir schwimmen da jetzt rein und erzählen meinem Vater, dass du wieder zurück an Land musst. Und dann -“ Sie stockte. Die Vorstellung, dass er bald wieder an der Oberfläche leben würde, gefiel ihr nicht. Die Oberfläche war so schrecklich weit entfernt. Und wahnsinnig gefährlich. Als Arielle sie verlassen hatte, hätten sie sie fast verloren. Und Kocoum ...   Arista ließ den Kopf hängen.   „Ich kann dich besuchen.“   Ungläubig blickte sie wieder auf. „Kannst du das?“, fragte sie.   „Ich bin gut im Schwimmen, und wenn du ein Stück nach oben tauchst, können wir uns treffen. Kannst du über Wasser atmen?“   Sie nickte überrascht. „Manchmal schwimmen wir hoch zu Arielle.“   „Dann kannst du auch zu mir kommen.“     „Und dann erzählst du mir, was du gebaut hast“, schlug Arista vor.   Kocoum nickte.   „Und wie es mit Pocahontas läuft.“   Er hielt mitten in der Bewegung inne. „Ich sagte doch schon, dass sie mich nicht will“, erinnerte er sie.   Arista schüttelte den Kopf. „Sie wird schon noch merken, was ihr mit dir entgangen ist. Du wirst schon sehen. Vielleicht dauert es ein paar Gezeiten, aber ich bin mir sicher, dass sie es sich überlegen wird.“   „Vielleicht habe ich es mir inzwischen überlegt“, murrte er unzufrieden.   Arista kicherte ein weiteres Mal. „Gibt es denn noch andere hübsche Mädchen, die du kennst?“   Kocoum schwieg und Arista beschloss, dass das vielleicht auch besser war. Wenn es in seinem Stamm weitere Mädchen gab, die ihm gefielen, wollte sie das lieber nicht wissen. Zögerlich hob sie die Hand und klopfte an die Tür. Ein Zeichen dafür, dass sie keine weitere Antwort von ihm erwartete.   Sie geduldete sich ein paar Sekunden, dann griff sie nach der Klinke und schwamm in den Thronsaal hinein. Ein erster Blick bestätigte ihr, was sie, ob der fehlenden Antwort, schon befürchtet hatte. Der Thron ... war leer. Unsicher warf sie einen Blick zu Kocoum, der genauso unsicher zu ihr zurückblickte.   „Ist dein Vater auf die Jagd gegangen?“   Arista schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Ihr Vater ging nicht jagen. Vielleicht war er in einem anderen Zimmer, oder – „Vater?“, hob sie die Stimme, doch niemand antwortete ihr. Unsicher sah Arista sich um. Hatte sie einen Termin vergessen, oder war ihr Vater überraschend irgendwohin aufgebrochen? Doch immer wenn er das tat, hinterließ er eine Nachricht und Anweisungen. Meist in Form von - „Aha“, machte es hinter ihr, und als sie sich umdrehte, um zu schauen, was Kocoum diesen Kommentar entlockt hatte, sah sie eine kleine, rote Krabbe, die fast in seiner Faust verschwand.   Arista holte tief Luft. „Kocoum, lass ihn los“, forderte sie und atmete erleichtert auf, als dieser widerstandslos gehorchte.   „Unverschämtheit!“, schimpfte Sebastian und ließ sich unglücklich auf der Lehne des Throns nieder. „Hast du deinem Freund nicht beigebracht, dass man diese Krabbe nicht zerquetscht? Was glaubst du, was ich bin? Ein Krabbenhäppchen?“   Kocoum schenkte ihm einen unlesbaren Blick. Möglicherweise fand er die Häppchenidee gar nicht so schlecht. Immerhin war er ein Mensch und Menschen – Arista schüttelte sich. Sie wollte lieber nicht zu genau darüber nachdenken,   was Menschen alles aßen.   „Sebastian? Weißt du zufällig, wo mein Vater steckt?“, fragte sie, um ein bisschen von dem unleidlichen Thema abzulenken. Und tatsächlich, die kleine Krabbe räusperte sich umständlich, warf Kocoum einen letzten, bitterbösen Blick zu und erklärte: „Ihre Majestät ist losgeschwommen, um sich um einige Anomalien im südlichen Teil des Landes zu kümmern. Er wird in ein paar Tagen zurück sein. Ich soll ausrichten, dass er wie immer tadelloses Benehmen von seinen Töchtern erwartet und ...“   Arista blendete den Rest der Erklärung einfach aus. Das musste sie erst einmal verdauen. Ihr Vater war unterwegs und nicht zu erreichen und das, obwohl sie seine Hilfe gerade wirklich dringend brauchte.   Sie wusste nicht, wie sie es schaffte, Sebastian trotzdem dankbar zuzunicken und Kocoum mit sich zurück vor die Tür zu zerren, ohne das die Krabbe anfing Fragen zu stellen, doch irgendwie gelang es ihr.   Es war furchtbar. Eine Katastrophe! Ihr ganzer Plan war fehlgeschlagen!   Und Kocoum? Der schwamm einfach nur neben ihr her und sah so ruhig und gelassen aus wie immer. Hatte er keine Angst? War er ihr nicht böse?   Unsicher sah Arista ihn an. „W-Wir haben noch eine Chance“, murmelte sie, doch so ganz konnte sie nicht daran glauben. „Wir schwimmen gleich los. Ich weiß in etwa, wo Pari wohnt. Wir suchen ihr Zuhause und dann – dann muss sie eben sehen, wie sie das wieder hinbekommt. Sie hat dich einmal verwandelt, sie verwandelt dich bestimmt auch wieder zurück. Du musst nicht über Tage auf die Rückkehr meines Vaters warten. Das kann niemand von dir verlangen.“   Einen schrecklich langen Augenblick schwieg Kocoum sich einfach aus, dann schüttelte er überraschend den Kopf. „Vielleicht ist es besser, wenn wir warten“, erklärte er ihr.   Arista schenkte ihm einen überraschten Blick. „Wie kommst du darauf?“, erkundigte sie sich. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Um ehrlich zu sein, hatten die meisten ihrer Ideen eher mit einer langen Suche nach ihrer Kugelfischfreundin zu tun. Und Kocoum? Der wollte einfach aufgeben? Warum? Sie hatten es doch noch nicht einmal versucht?   „Ein paar Tage, sind noch nicht die Welt“, klärte er sie auf, „Und da oben erwartet mich nichts. Ich kann auch warten, bis dein Vater wieder nach Hause kommt.“   „Du weißt, dass das gut und gerne eine ganze Woche dauern kann?“     Er nickte knapp. „Eine Woche, zehn Tage und mit Pech auch noch ein paar Tage mehr. Ich habe schon verstanden.“   „Und trotzdem willst du warten?“   Er nickte noch einmal. „Es bietet eine einmalige Gelegenheit“, erklärte er ihr.   Arista sah ihn fragend an. „Welche?“, wollte sie neugierig wissen.   „Ich kann dich noch etwas besser kennenlernen.“   Arista spürte, wie sie rot um die Nasenspitze wurde. „U-Und dann?“, entfuhr es ihr.   „Was auch immer uns das nächste Ufer bringen mag ...“ Epilog: Epilog -------------- And I fortunately know a little magic It's a talent that I always have possessed.       Die Sonne strahlte und ließ das Meer in tausend Farben schimmern. Der Sand war mollig warm und weich. Seine Angelschnur spannte sich. Einen Moment lang zögerte er, überlegte sogar, seinen Fang einfach entkommen zu lassen und weiter zu dösen, doch dann griff er doch noch nach der Rute. Für einen Augenblick leistete der Fisch Gegenwehr und es kostete ihn mehr Kraft als erwartet, seinen Fang einzuholen, doch als er es endlich vollbracht hatte, sah er einen kleinen, grünen Kugelfisch, der seinen Haken lächelnd in den Flossen hielt.   „Danke fürs Einholen, Bruder“, erklärte er grinsend.   Thor schüttelte den Kopf. „Loki, hast du nichts besseres zu tun, als mir die Köder zu stehlen?“, fragte er nüchtern.   Dieser grinste nur noch breiter. „Natürlich habe ich das“, versicherte er ihm, „Und wenn ich dich so ansehe, könntest du dir ruhig ein Beispiel an mir nehmen.“   Thor rollte mit den Augen. Vielleicht sollte er fragen, was sein Bruder jetzt wieder verbrochen hatte, doch er wusste, das brachte nichts. Wenn er die Wahrheit wissen wollte, würde er ihr im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund gehen müssen. Und wollte er sich das wirklich antun?   Eigentlich nicht.   Wenn Loki ein Unheil heraufbeschworen hatte, würde es sicher irgendwann aus diesen Fluten steigen. Und dann würde er es zerschmettern, so wie er bisher noch alles zerschmettert hatte, was Loki auf ihn gehetzt hatte.   Entspannt ließ Thor sich wieder in den Sand sinken. „Weißt du, du solltest dich wirklich mal entspannen“, murrte er, während er genüsslich die Augen schloss, um Lokis Verwandlung nicht mit ansehen zu müssen. Viel zu viele leckere Sachen mochte er schon nicht mehr essen, weil irgendwann sein Bruder aus einem dieser Teile gestiegen war. Das musste ihm jetzt nicht auch noch mit Fisch passieren. Er mochte Fisch. Besonders den Großen, frisch gegrillten, mit den kleinen -     „Du sabberst“, informierte Loki ihn, doch er beschloss, es zu ignorieren. Er war ein Gott, und Götter sabberten nicht, ganz egal was ihre Brüder auch behaupten mochten.   „Warum gehst du nicht und spielst mit einer Meerjungfrau?“, brummte er in seinen Bart hinein.   Loki lachte. „Wenn du wüsstest, Bruder. Wenn du nur wüsstest...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)