Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 6: enttäuschte Hoffnung ------------------------------- einige Jahre zuvor, Tokyo Loriel stieg aus dem Zug und schaute sich suchend um. Da war er also wieder. Willkommen in Tokyo. War schon ein paar Jahre her, daß er sich das letzte Mal hier hatte sehen lassen. Aber die quirlige, laute, bunte Stadt hatte sich seither kaum nennenswert verändert. Der Shogu Tenshi war extrem hin und her gerissen zwischen mega schlechter Laune und leichter Sorge. Dieses Gefühl, das ihm letzte Nacht im 24-Stunden-Laden so auf den Magen geschlagen war, hatte sich bestätigt. Eine neue Verbindung zu einer anderen Seele hatte sich aufgetan. Er hatte wieder einen Schützling. Diese Verbindung, silberner Faden genannt, war eigentlich von Geburt an da, wurde aber erst so richtig aktiv, wenn sich bei dem menschlichen Schützling das erste Mal die magischen Begabungen zeigten. Das geschah für gewöhnlich irgendwann zwischen den Kindertagen und der Pubertät. Dann spürte der mit ihm verbundene Genius – der Schutzgeist – die Verbindung und lief wie in Trance los, um seinen Schützling zu suchen und für den Rest seines Lebens an dessen Seite zu bleiben. Nun hatte Loriel als Shogu Tenshi die zwiespältig zu betrachtende Eigenart, sehr alt zu werden. Mehrere Menschenleben alt. Wesen, die so alt wurden, hatten in der Regel im Laufe ihres Lebens irgendwann wieder einen neuen Schützling. Loriel selbst hatte bereits drei Schützlinge überlebt, was nicht direkt schön war, denn der Trennungsschmerz und die danach folgende Trauerphase setzten ihm genauso zu wie jedem Menschen auch. Nach dem 500. Geburtstag bekamen Shogu Tenshi allerdings keine neuen mehr, weil sie dann zu etwas Höherem aufstiegen. Dann wurden sie Cheruben, und die hatten keine Schützlinge. Nun, Loriel hatte jetzt jedenfalls einen neuen Schützling. Und das kaum zwei Wochen vor seinem wohlverdienten Ruhestand. Er war echt angenervt von dieser Tatsache. Das verzögerte seinen Aufstieg zum Cheruben nämlich um Jahre. Er würde jetzt so lange ein Shogu Tenshi bleiben und sich um seinen Schützling kümmern müssen, bis der irgendwann eines natürlichen oder unnatürlichen Todes starb und Loriel wieder frei war. Ein verdammter Mist war das! Loriel hatte in seinem Alter absolut keine Lust mehr darauf, einen Schützling ans Bein gebunden zu kriegen. Andererseits spürte er aber über die Verbindung bereits, daß sein neuer Schützling gerade massiv in Schwierigkeiten steckte. Auf der Zugfahrt hier her hatte es sich beinahe wie ein Todeskampf angefühlt. Schmerzen und pure Panik waren wie ein Wasserfall über ihn hereingebrochen. Und das machte ihm, ob er wollte oder nicht, doch Sorgen. Er sollte sich also besser beeilen, diesen seinen Schützling so schnell wie möglich zu finden. Inzwischen hatte sich der Mensch zwar wieder etwas beruhigt und schien außer Gefahr zu sein, auch wenn es ihm immer noch hundeelend ging, aber trotzdem durfte Loriel keine Zeit verlieren. Wer wusste schon, wie lange der außer Gefahr bleiben würde? Noch so ein Umstand, der Loriel ein wenig frustrierte. Da tat sich schon eine lästige Verbindung zu einem neuen Schützling auf, und dann musste der auch gleich noch akut in Problemen stecken. Konnte er nicht wenigstens einen Schützling haben, der es etwas ruhiger angehen ließ? Es war zum Heulen. Der Schutzengel kämpfte sich fast zwei Stunden lang kreuz und quer durch Tokyo, immer dieser undefinierbaren, mentalen Verbindung folgend, die ihn unweigerlich zu seinem neuen Schützling führen würde, und blieb irgendwann endlich vor einer abbruchreifen Ruine stehen, die mit Bauzaun abgesperrt und schon zum großen Teil mit Planen gesichert war, damit keine Mauerteile herunter fielen. Kein Zweifel. Sein Schützling war da drin. Loriel fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Das ist jetzt nicht dein verdammter Ernst, oder?“, murmelte er leise, als könne der noch unbekannte Mensch ihn hören. Seufzend nahm er kurz seine wahre Erscheinung an, damit seine über die Jahre schon etwas grau gewordenen Engelsflügel zu Tage traten und er über den Absperr-Zaun fliegen konnte. Denn einen anderen Eingang sah er auf die Schnelle nicht. Was die Passanten dazu sagten, war ihm egal. Er hatte ja keine Wahl, er musste da rein. Und sollte jemand die Polizei rufen, würde er es erklären können. Drüben nahm er wieder seine normal-menschliche Tarngestalt an. Die mit dem Bierbauch, dem strubbeligen, grauen Schnauzbart, den tätowierten Armen und den unrasierten Pausbäckchen. Chippy schaute verdutzt hoch, als sie das Klackern eines weggekickten Steins auf dem Boden hörte. Sie saß immer noch mit angezogenen Beinen und um die Knie geschlungenen Armen auf dem Boden, auch wenn die Tränen längst versiegt waren. Durch das Halbdunkel sah sie einen älteren, dicken Mann auf sich zukommen, der vorsichtig über den Schutt hinweg balancierte, der hier überall herum lag. Er kam sehr zielstrebig auf sie zu, als hätte er sie schon gesucht. Das Rocker-Mädchen machte vor Entsetzen riesige Augen. Sie war gefunden worden? Hier drin? Was wollte der Kerl von ihr? „Hey, keine Angst, ich hab nicht vor, irgendwem irgendwas zu tun“, grüßte der Mann sie, als hätte er ihren Schreck und ihren Argwohn bemerkt. „Wie bist du hier reingekommen!?“, wollte Chippy leicht hysterisch wissen. „Na, genauso wie du, vermute ich.“ Er blieb direkt vor ihr stehen und musterte sie. Chippy konnte körperlich spüren, daß er überhaupt nicht zufrieden mit dem war, was er sah. Sie beschloss, lieber nicht länger hier sitzen zu bleiben, sondern wenigstens aufzustehen, obwohl sie nicht das Gefühl hatte, Angst vor ihm haben zu müssen. Aber sicher war sicher. Vor Kenji hatte sie ja schließlich auch nie Angst gehabt, und dann hatte er plötzlich so eine Nummer mit ihr abgezogen. „Ich bin Loriel, dein Schutzgeist“, stellte der dicke Mann sich vor. „Mein WAS!?“ „Dein Schutzgeist. Dein Genius Intimus. Wir sind miteinander verbunden, weil du eine magische Begabung hast, die gerade erwacht ist. Jeder magisch begabte Mensch ...“ „Ich hab WAS!?“, unterbrach Chippy ihn in einem Tonfall, als wäre das das Dümmste, was sie je gehört hatte. „Eine magische Begabung!“, beharrte Loriel. „Ist klar. Und du hast einen an der Waffel!“ „Na schön, schau her!“, seufzte Loriel und nahm für sie abermals seine wahre Gestalt an. Die des Shogu Tenshi, des Schutzengels, die zwar abgesehen von den mächtigen Schwingen auch nicht viel schmeichelhafter war als seine bierbäuchige, menschliche Form, aber als Beweis würde es hoffentlich genügen. Da er in seinem Leben bereits drei Schützlinge gehabt hatte, besaß er inzwischen eine gewisse Routine darin, die erste Kontaktaufnahme zu diesem möglichst nutzbringend anzufangen. Chippy gaffte ihn mit offenem Mund an. Die mentale Verbindung, die sie trotz allen Leugnens sehr wohl auch spürte, ließ keinen Zweifel daran offen, daß alles stimmte, was dieser Loriel ihr einreden wollte. „Ich nehme an, du bist dir deiner magischen Begabung noch gar nicht bewusst!?“, warf Loriel ein, um das Gespräch irgendwie am Laufen zu halten. Anders konnte er sich ihre Reaktion jedenfalls nicht erklären. Sie schien weder von magischen Begabungen noch von Schutzgeistern irgendwas zu wissen. Das Mädchen schüttelte nur mit offenem Mund den Kopf. Der Shogu Tenshi sah ein, daß er noch viel Arbeit vor sich hatte. „Nagut, lass uns irgendwo anders weiter quatschen. Hol deinen Schulranzen.“ „Welcher Schulranzen?“ „Wenn ich so auf die Uhr schaue, solltest du doch eigentlich gerade in der Schule sitzen, oder nicht? Ich nehme an, du schwänzt den Unterricht!?“ „Ich hab noch nie eine Schule von innen gesehen!“, stellte Chippy klar. Jetzt war es Loriel, der dumm aus der Wäsche schaute. „Du gehst nicht zur Schule?“ „Nein.“ „Wie alt bist du denn?“ „16.“ Loriel blies die Backen auf und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Für das erste Auftreten ihrer magischen Begabung war sie ein echter Spätzünder. Es war eher ungewöhnlich, daß Magi ihr Talent erst in diesem Alter entdeckten. Aber mal abgesehen davon war sie mit 16 sehr wohl noch schulpflichtig. „Ich bring dich wohl besser erstmal nach Hause und rede mit deinen Eltern ...“ „Welches zu Hause?“ „Sowas hast du auch nicht?“ „Nö. Kein zu Hause. Keine Eltern. Ich bin Straßenkind.“ Loriel ließ den Kopf hängen. Ein Straßenkind. Verdammte Hölle. Womit hatte er das nur verdient? Erst handelte er sich 14 Tage vor seinem Ruhestand noch einen Schützling ein, und dann ausgerechnet auch noch so einen? Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Der Schutzengel widerstand dem Drang, sich überfordert an die Stirn zu greifen, und schaute wieder auf. „Schön. Dann lass uns eben in einem Cafe weiter reden. Jedenfalls nicht in diesem Abbruch-Haus hier. ... Verrätst du mir deinen Namen?“ „Ich bin Chippy“, gab sie knapp zurück. „Chippy. Und wie noch?“ Er drehte sich um und lief langsam los, in der richtigen Annahme, daß sie ihm folgen würde. „Nichts 'noch'. Nur Chippy.“ „Einen Familiennamen hast du also auch nicht?“ „Ich bin ein Straßenkind!“, erinnerte sie ihn. „Welcher Name steht denn auf deinem Ausweis?“ „Ich habe keinen Ausweis.“ Loriel atmete innerlich tief durch und beschloss, das Thema abzubrechen. Bei diesem Kind wunderte ihn inzwischen gar nichts mehr. „Ich frage lieber gar nicht erst, ob du einen Vormund hast. So einen hast du garantiert auch nicht“, murrte er nur und ging weiter zielstrebig voran, um diese Bruchbude hier zu verlassen. „Und wie war dein Name noch gleich, Mister?“, hakte das Rocker-Mädchen nach. Dieser Tonfall! Dem Shogu Tenshi sträubten sich die Haare. Aber er biss sich auf die Zunge, bevor er unhöflich wurde. Das hier war immerhin sein Schützling. Wobei der Begriff 'Schützling' tatsächlich ein falsches Bild vermittelte. In den allermeisten Fällen war der Schützling der Herr und Meister, erteilte die Anweisungen und sagte seinem Genius, was er zu tun und zu lassen hatte. Loriel war also nicht wirklich in einer guten Position, sich mit ihr umfassender anzulegen oder sie zu maßregeln. Auch nicht wenn sie so viel jünger war als er. „Mein Name ist Loriel.“ „Und weiter?“ „Engel pflegen keine Familiennamen zu haben, so wie ihr Menschen.“ „Du hast also demnach auch keine Eltern? Wieso machst du mir dann Vorhaltungen dafür, daß ich keine habe?“ Der Schutzengel holte Luft, um etwas zu erwidern. Zum Beispiel, daß er ihr keine Vorwürfe gemacht hatte, sondern nur nicht auf diese Tatsache vorbereitet gewesen war. Oder um klar zu stellen, daß er sehr wohl Vorfahren hatte und sein Leben irgendwann mal einen Anfang gehabt hatte, auch wenn man das bei Engeln nicht so direkt als Geburt ansehen konnte, wie es etwa bei Menschen oder Säugetieren üblich war. Aber Chippy unterbrach ihn schon wieder, bevor er auch nur das erste Wort heraus gebracht hatte. „Dann muss ich dir wohl einen geben.“ „Gute Idee. Wenn du mir einen anderen Namen geben willst, nur zu. Es ist sowieso besser, wenn du mich gegenüber anderen Personen nicht mit meinem echten Namen ansprichst. Das würde ihnen Macht über mich geben.“ „Okay, dein Name ist ab sofort ... äh ... Bierwampe!“ 'Ein freches Stück!', dachte Loriel außer sich. Dafür, daß sie sich noch keine zwei Minuten kannten, nahm sie sich ganz schön viel raus. Seine früheren Schützlinge waren ja auch nicht die Liebenswürdigkeit in Person gewesen. Aber das hier war schon arg. „Hör mal, wenn du nie zur Schule gegangen bist, kannst du dann wenigstens lesen, schreiben und rechnen?“, wechselte er mürrisch das Thema. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)