Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 16: Grüne Augen ----------------------- Genetik ist eine faszinierende Sache. Ayumi war der beste Beweis dafür. Niemand in unserer Familie hatte grüne Augen und hellbraunes Haar. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Früher malte ich mir oft aus, wie wohl meine Mutter ausgesehen hatte. Da sie nach meiner Geburt verstorben war, hatte ich sie nie kennengelernt. Fotos hatten wir auch keine, und da Vater nie von ihr sprach, hatte ich keinen Anhaltspunkt, an den ich mich klammern konnte. Sie musste nicht zwangsläufig wie ich oder mein Vater schwarzes Haar und braune Augen haben. Genauso gut hätte sie blond und mit blauen Augen sein können. Solange die Gene meines Vaters dominierten, würde ich dieselben äußerlichen Merkmale aufweisen, wie jetzt auch. Doch in meiner Fantasie sah ich meiner Mutter ähnlicher als meinem Vater. Warum ich das unbedingt wollte? Weil es mir zuwider war, dem Mann zu gleichen, der seine Kinder sich selbst überlassen hatte, der in eine Depression verfiel und die Augen vor den grausamen Machenschaften seiner neuen Ehefrau verschloss. Wer würde so einem Menschen gleichen wollen, selbst wenn es bloß das Aussehen war? Aber die Sache mit der Vererbung war folgende: Man konnte sich leider nicht aussuchen, welche Merkmale man erbte. Ich wusste, dass ich meinem Vater sehr ähnelte - und ich verabscheute es. Deswegen freute es mich, als Ayumi mir sagte, meine Augen hätten einen grünen Schimmer. Es steigerte meine Hoffnung, dass ich nicht gänzlich so aussah wie er. Dass vielleicht doch ein Erbgut meiner Mutter sich durchgesetzt hatte und sich in meinem Äußeren widerspiegelte. Um mich davon zu überzeugen, hatte ich sogar einmal intensiv in den Spiegel geblickt, auf der Suche nach dem Grün, von dem Ayumi sprach, doch zu meiner Enttäuschung war die Iris schlicht und ergreifend braun. Als ich Ayumi davon erzählte, meinte sie jedoch, dass wäre normal. Es hing alles davon ab, wie sich das Licht in den Augen brach. Ich glaubte ihr, denn sie war klüger als ich, um solche Dinge zu wissen. Bis auf den einen Tag, an dem wir zusammen schwänzten, um stattdessen durch die Stadt zu bummeln und Eis zu essen, hatte sie den Unterricht kein einziges Mal verpasst. Sie hatte gute Noten und bemühte sich sehr. Das totale Gegenteil von mir. Doch obwohl ich auf Ayumis Kenntnisse vertraute, unternahm ich keinen weiteren Versuch, meine Augenfarbe zu inspizieren. Ich hatte Ayumis grüne Augen schon immer als etwas Besonderes betrachtet. In Japan war das ja auch ein seltenes Phänomen. Ich beneidete Ayumi darum, dass dieses Merkmal so ausgeprägt war. Obwohl sich unsere Gesichtszüge ähnelten, stach sie mit ihrem Aussehen meilenweit hervor. Sie konnte sich von unserer Familie abheben. Sie konnte wenigstens so tun, als gehörte sie nicht zu uns. Grüne Augen, Ayumis grüne Augen, waren wunderschön. Wie konnte man so etwas Einzigartiges hassen? Ayako hatte grüne Augen sogar als teuflisch bezeichnet. Welchen Grund könnte es für ihre Abneigung geben? Hasste sie womöglich den Vater der Kinder und übertrug diesen Hass auf die Kinder, weil sie die Augen ihres Vaters geerbt hatten? Konnte sie deswegen den Anblick grüner Augen nicht ertragen? Es war zwar ein banaler Grund, aber ich könnte ihn durchaus verstehen. So wie ich meinem Vater nicht ähneln wollte, so wollte Ayako nicht, dass ihre Kinder ihrem Vater ähnlich sahen. Aber bei der Verteilung der Gene hatte keiner ein Mitspracherecht. Niemand konnte sich sein Aussehen aussuchen. Es war wie ein Glückslos. Der eine ging als Gewinner hervor, der andere musste mit der Niete leben. Doch anders als beim Glückslos gab es keine zweite Chance. Ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen und es interessierte mich ehrlich gesagt auch nicht. Was ich wusste war, dass Ayako zwei Gesichter hatte. Hinter der Maske einer Heiligen verbarg sich eine Verrückte. Und mich quälte die Ungewissheit, ob ihre Missgunst gegenüber grünen Augen sich auf Ayumi übertragen hatte. Bis jetzt war mir nicht aufgefallen, dass sie Ayumi aufgrund ihrer Augenfarbe anders behandelte. Aber nachdem wir in ihrer Vergangenheit herumgewühlt hatten, hatte sich Ayako schlagartig verändert. Sie hatte Ayumi etwas in den Tee gemischt und mich hier unten eingesperrt, damit wir nicht fortgingen. Aber aus welchem Grund? Wollte sie auf diese Weise ihrer Einsamkeit entfliehen? Oder waren ihre wahren Absichten abgrundtiefer, als ich es mir vorstellen mochte? Je mehr ich mir den Kopf zermarterte, desto unruhiger wurde ich. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konnte ich in ihre Falle tappen? Warum hatte ich das nicht vorhergesehen? Warum nicht auf mein Gefühl gehört? Aus meiner Machtlosigkeit heraus, fluchte ich innerlich und raufte mir das Haar. Ayumi war jetzt ganz allein mit Ayako, während ich unter den Dielen eingesperrt war. Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde. Durch die Dielen über mir hatte man eine beschränkte Sicht. Man konnte nur erahnen, wenn jemand über einem vorbeilief. Ayako hatte das Sofa nicht wieder über die Falltür geschoben, sodass kleine Lichtstrahlen durch die Spalten hinabfielen. Ich horchte auf, um den Geräuschen zu lauschen, aber es war totenstill. „Ayumi!“, schrie ich, als ich es nicht mehr aushielt, und klopfte mit meiner Faust laut gegen die Decke. „Ayumi, hörst du mich?!“ Wie im Wahn klopfte ich und rief ihren Namen, als plötzlich ein Augenpaar in meinem Sichtfeld auftauchte und ich erschrocken zurückwich, soweit es eben ging. „Gib endlich Ruhe, Hyde. Ayumi schläft. Du willst sie doch nicht etwa wecken?“ Mein Herz klopfte wild in meiner Brust, ich konnte kaum einen richtigen Gedanken fassen. „Was wollen Sie von uns, Sie verdammte Hexe?! Lassen Sie uns gehen!“ Ich wusste, es war sinnlos mit ihr zu reden. Aber ich musste doch irgendetwas tun. „Ich kann euch nicht gehen lassen.“ „Warum?“ Ayako zog sich zurück, ohne mir eine Antwort zu geben. „WARUM?!“ Mein Ausbruch war vergeblich, denn sie ließ sich nicht erweichen. Nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte, spürte ich den pochenden Schmerz in meinen Fingerknöcheln.   Es war bereits Nacht, als Ayumi leise gegen den Boden klopfte. „Hyde?“ Ich befand mich im Halbschlaf, sodass ihr Flüstern sofort meine Aufmerksamkeit erweckte. „Ayumi! Geht es dir gut?“ „Ja. Und dir?“ „Ja, alles gut. Kannst du die Falltür öffnen?“ Ayumi verneinte. „Sie ist durch ein Schloss versperrt. Ayako muss den Schlüssel irgendwo versteckt haben. Ich werde ihn suchen und dich hier rausholen.“ „Ayumi, hör mir zu. Sei vorsichtig. Die Alte hat sie nicht mehr alle!“ „Ich pass schon auf. Diesmal werde ich dich beschützen, Hyde.“   Wegen der ganzen Aufregung hatte ich nicht daran geglaubt, noch einmal einzuschlafen, aber der Tag hatte mich geschafft. Ich konnte den Kampf gegen die Erschöpfung nicht länger bestehen und verfiel in einen tiefen Schlaf. In dieser Nacht träumte ich von grünen Augen. Sie verfolgten mich, waren überall, wo ich auch war. Wenn ich im Klassenzimmer saß, starrten sie mich von dem Buchumschlag an; wenn ich auf dem Dach meiner Schule lag, leuchteten sie am helllichten Tag von Himmel herab wie Sterne und wenn ich in den Spiegel sah, dann blickten sie mir entgegen: meine eigenen, grünen Augen. Ich wurde von einem lauten Krach geweckt. Mit Kopfschmerzen und steifem Nacken versuchte ich zu begreifen, was über mir vor sich ging. Mein beschränktes Sichtfeld war mir keine große Hilfe, nur die Geräusche ließen mich erahnen, was in der Hütte passierte. Plötzlich wurde es ganz still. Ich ahnte Schlimmes und rief Ayumis Namen. Doch es blieb weiterhin still. Wenn ihr etwas zustieß, würde ich mir das niemals verzeihen. Das war alles meine Schuld. Von dem Moment an, als mein Vater mich in den Wald verschleppte, bis zu diesem Augenblick der vollkommenen Hilflosigkeit. Ich hasste mich dafür, dass ich Ayumi immer in meine Probleme hineinzog, aber diese Erkenntnis half mir jetzt auch nicht weiter. Hätte ich bloß nicht so eine große Klappe gehabt, wäre das alles niemals passiert. Ich war hier unten eingesperrt, während Ayumi über mir ums Überleben kämpfte. Ich malte mir grausame Szenarien aus und bekam Panik. In meiner blinden Wut klopfte ich erneut gegen die Decke, sodass der Staub mir ins Gesicht rieselte. „Scheiße“, fluchte ich und rieb mir meine brennenden Augen. In meinen Ohren rauschte das Blut, ich kriegte kaum Luft. Das konnte doch nicht so enden... Etwas raschelte über mir und ich horchte auf. Als würde jemand versuchen, das Schloss zu öffnen. Ich duckte mich, soweit es meine Position erlaubte, und wappnete mich gegen das, was folgen würde. Wenn es Ayako war, musste ich die Gelegenheit ergreifen und sie überwältigen. Die Falltür wurde aufgerissen und ich blinzelte das helle Licht weg, das mir in die Augen schnitt. „Hyde...“ Mein Blick traf auf grüne Augen, die mich voller Erleichterung ansahen. „Ayumi...“ Ich kletterte aus dem Drecksloch und drückte meine Schwester überschwänglich an mich. „Geht es dir gut?“ Ayumi schmiegte sich an mich, ihre Finger krallten sich in mein Shirt. Sie sagte nichts, vergrub nur ihren Kopf an meiner Brust. Es kam mir so vor, als würde sie nicken, aber ich war mir nicht sicher. Ich drückte Ayumi wieder leicht von mir und betrachtete sie. Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr Haar zerzaust und ihre Lippe aufgeplatzt war. Mit einem tieftraurigen Blick sah sie zu mir auf. Meine Sorge mischte sich mit Wut und zog wie eine dunkle Wolke über mein Gesicht. „War das Ayako? Ich werde sie umbringen!“, zischte ich und sah mich suchend nach ihr um. „Wo ist sie?!“ Ayumi hob ihren Arm und richtete den Zeigefinger auf die Kochnische. „Sie... sie wollte den Schlüssel zurück... da hab' ich mich gewehrt und...“ Ayumis Stimme versagte. Sie legte ihre Hände auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. „I-ich habe sie geschubst und irgendwie... hatte sie den Halt verloren und ist mit dem Kopf auf der Tischplatte aufgeschlagen...“ Ayumis Verzweiflung und Angst war aus jedem Wort herauszuhören und ich sollte sie trösten, doch meine Füße trugen mich automatisch in die Richtung, die mir ihr Zeigefinger wies. Ich entdeckte Ayako auf dem Fußboden. Sie lag bewegungslos da, ihre Augen geschlossen, ihr Kopf zur Seite gedreht. Ayumi hatte ihr wohl ganz schön zugesetzt. Diese Hexe hatte es nicht anders verdient, aber ihren Tod hatte ich mir keinesfalls gewünscht. Es war nicht so, dass ich Mitleid mit ihr empfand, vielmehr lag mir Ayumis Wohlbefinden am Herzen. Wenn sie Ayako getötet hatte, sei es nur aus Notwehr, dann würde es Ayumi niemals verkraften. Ich wollte nicht, dass an ihren Händen Blut klebte. Das würde sie für immer verändern. Und ich bezweifelte, ob ich dann jemals ihr Lächeln sehen würde. Ich hockte mich hin und fühlte Ayakos Puls. Er war schwach, aber sie war nicht tot. „Sie lebt. Alles gut, Ayu...“ Ayako packte meinen Arm, bevor ich Ayumis Namen zu Ende sprechen konnte. „Ihr undankbaren Teufel!“ Vor Schreck stieß ich einen Fluch aus und schlug reflexartig ihre Hand weg. Doch Ayako stürzte sich auf mich und schaffte es in einem Moment der Unaufmerksamkeit, ihre Hände um meinen Hals zu legen. „Ihr seid es nicht wert zu leben! Ihr seid ein grausamer Scherz der Natur! Ich werde euch dahin befördern, wo ihr hingehört!“ Ihre Worte ergaben keinen Sinn für mich, doch das war zweitrangig. Ich umfasste ihre Handgelenke und versuchte, mich aus ihrem Griff zu befreien, doch die vom Wahnsinn erfüllte Ayako hatte eine unglaubliche Kraft. Ich spürte, wie mir langsam schwarz vor Augen wurde, doch ich war nicht bereit, das Zeitliche zu segnen. Ich konnte nicht sterben, ich konnte Ayumi nicht alleine zurücklassen! Ayakos Körper sackte plötzlich auf mich und ich schnappte gierig nach Luft. Ayumis Schlag gegen ihren Kopf hatte sie außer Gefecht gesetzt. Ich schob sie von mir runter und kam schwankend auf die Beine. Ayumi hielt ein Stück Holzbalken mit beiden Händen fest umklammert. Es war einer von denen, die ich gestern für den Kamin gehackt hatte. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam mir vor, als wäre es vor einer Ewigkeit. Ich nahm den Balken behutsam aus Ayumis Händen und ließ ihn zu Boden fallen. Dann zog ich ihren zitternden Körper an mich und strich beruhigend über ihren Kopf. Sie stand unter Schock und rührte sich nicht. Nicht einmal ein Schluchzen gab sie von sich.   Draußen schien die Sonne warm und hell. Ihre Strahlen fielen sanft zwischen den Ästen auf unsere Gesichter, als wollten sie uns trösten. Ich sah mich um und überlegte, in welche Richtung wir gehen sollten, da holte Ayumi etwas aus ihrer Rocktasche hervor und hielt es mir hin. „Das habe ich gefunden, als ich nach dem Schlüssel gesucht habe.“ Ich faltete das Blatt Papier auseinander und weitete die Augen, denn ich konnte unser Glück kaum fassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)