Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 13: Jenseits der grausamen Welt --------------------------------------- Das Leben im Aokigahara Wald wurde nach und nach zu etwas Selbstverständlichem. Wie der natürliche Lauf der Welt, könnte man sagen, als würde auf den Sommer der Herbst folgen und darauf der Winter. Keiner fragte sich, warum es so war. Es war einfach eine unumstößliche Tatsache. Als wäre es etwas vollkommen Normales, dass zwei junge Menschen die Zivilisation verließen, um ihr Leben im Aokigahara fortzusetzen. Ich konnte mir dieses Gefühl nicht erklären, aber es fühlte sich richtig an. Und ich musste gestehen, dass es keinen anderen Ort gab, an dem ich in diesem Moment lieber wäre. Natürlich war das nur meine Empfindung, und objektiv betrachtet, war unsere Situation alles andere als normal. Aber nachdem ich merkte, dass es Ayumi genauso erging wie mir und sie sich hier wohl zu fühlen schien, fühlte ich mich in meiner Ansicht bestätigt. Wahrscheinlich dachten wir beide, dass es besser war hier zu sein, jenseits der grausamen Welt, die uns außerhalb dieses Waldes erwartete. Wenn ich an unser Zuhause dachte, an Vater, an Masami und daran, was sie uns alles angetan hatten, dann konnte man diesen Umstand, in dem verfluchten Selbstmordwald gelandet zu sein, als einen wirklichen Glückstreffer bezeichnen. Garantiert wären wir vor Hunger umgekommen, wären wir nicht auf diese Hütte und die großzügige Gastgeberin gestoßen. Nun drohte uns kein Hungertod mehr, sodass es keinen Grund mehr gab, den Wald schnellstmöglich zu verlassen. Und selbst wenn wir den Wald verließen, wohin sollten wir überhaupt gehen? Wir hatten unser Zuhause verloren, wir konnten nicht mehr zurück. Ich konnte nicht zurück Aber auch Ayumi würde nie ohne mich zurückkehren wollen. Vater hatte mich verstoßen und, grob gesagt, mein Todesurteil unterschrieben, indem er mich in dem Selbstmordwald aussetzte. Ich hätte gerne sein entsetztes Gesicht gesehen, als er heimkehrte und feststellen musste, dass Ayumi verschwunden war. Ich wünschte, er würde wissen, dass sie bei mir war. Dass das, was er verzweifelt verhindern wollte, eingetreten war. Ich gönnte ihm dieses Unwissen nicht. Natürlich würde ihn Ayumis Verschwinden in jedem Fall quälen, aber ich wünschte, er wäre sich der Ironie bewusst, die hinter all dem steckte.   Ayako, die Frau, die allein in der Hütte lebte, ließ uns ohne Einwände bei sich wohnen. Ohne sie überhaupt darum gebeten zu haben, kam der Vorschlag direkt von ihr. Als Gegenleistung sollten wir nur einige Aufgaben im Haushalt verrichten, doch dies erschien mir ein fairer Preis zu sein. Sogar ein ziemlich großzügiger Preis dafür, dass sie uns auf unbegrenzte Zeit bei sich leben ließ und dafür lediglich das Mindeste, was wir ihr geben konnten, verlangte. Aus diesem Grund erschien mir ihr Angebot zunächst sonderbar und meine Alarmglocken schlugen Bereitschaft. Kein Erwachsener tat je etwas aus Gutmütigkeit. Zumindest keiner, den ich kannte. Sie hatten immer Hintergedanken bei allem, was sie taten, und so war ich auf der Hut vor Ayakos zwielichtigen Absichten. Doch die Tage vergingen und nichts geschah, was mein Misstrauen geweckt hätte, und allmählich erlaubte ich es mir, mich zu entspannen. Allerdings verschwand meine Vorsicht nicht vollständig. Die Jahre hatten mich gelehrt, Erwachsenen nicht zu vertrauen. Deswegen war es gleichgültig, wie freundlich Ayako auch zu uns war, ich konnte mein eingebranntes Misstrauen nicht abstellen.   In den ersten Nächten konnte ich kaum schlafen. Wenn ich einnickte, wurde ich von seltsamen Träumen geplagt. Sie ließen mich nie lange schlafen, doch wenn ich dann schweißgebadet und mit klopfendem Herzen erwachte, erinnerte ich mich nicht mehr an deren Inhalt. Die Träume hinterließen lediglich ein qualvolles Gefühl in mir. Wie als versuchte man sich an einen wichtigen Gedanken zu erinnern, den man grade noch im Sinn hatte. Man wusste, es war etwas Wichtiges, doch man kam einfach nicht mehr darauf. Ayumi erzählte ich nichts von meinen Träumen. Ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Genauso wenig hatte ich ihr davon erzählt, dass ich das Gefühl nicht loswurde, Ayako von irgendwoher zu kennen. Wie sollte ich es auch meiner Schwester erklären, wenn ich es nicht einmal selbst verstand?   Trotz meiner schlaflosen Nächte ging es mir gut. Ja, man konnte fast sagen, es ging mir schon lange nicht mehr so gut. Ayako kümmerte sich liebevoll um uns. Sie kochte und verwöhnte uns mit köstlichen Gerichten und Leckereien, die wir noch nie in unserem Leben gegessen hatten. Manchmal half ihr Ayumi beim Kochen, während ich einige Sachen im Haus erledigte. Ich reparierte hier und da kaputte Gegenstände, putzte den Kamin, hackte Holz. Aufgaben solcher Art, die früher von unseren Bediensteten erledigt wurden. Bedienstete. Wenn ich jetzt daran zurückdachte, fühlte es sich nicht nach meinem Leben an, sondern das eines anderen. Vielleicht lag es daran, dass es schon so weit zurücklag. Damals war ich noch ein kleiner naiver Junge gewesen, der genauso wie Ayumi an Märchen und Happy Ends glaubte. Aber mittlerweile glaubte ich an gar nichts mehr, außer an eine ungerechte, grausame Welt. Die Ereignisse, die auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin meiner Familie folgten, überschatteten selbst die glücklichste Erinnerung. Somit war es nicht verwunderlich, dass es mir schwerfiel, unser jetziges Glück zu fassen. Vor einigen Tagen hätte ich gedacht, wir müssten verhungern, und jetzt durften wir uns die Bäuche vollschlagen. Ayumi schien das Leben hier dagegen in vollen Zügen zu genießen. Ich hatte sie schon lange nicht mehr so ausgelassen und glücklich erlebt. Ich freute mich über diesen Zustand sehr. Sie hatte dieses bisschen Glück mehr als alle anderen verdient. Obgleich ich wusste, dass es nicht ewig anhalten würde…   Als ich eines Nachts wieder aus einem meiner lebhaften Träume erwachte, sah ich eine Gestalt am Fuße des Sofas stehen. Da die Hütte nur über zwei Schlafzimmer verfügte, schlief ich im Wohnzimmer. Das Mondlicht fiel nicht ausreichend ins Zimmer, um die Person, die in der Dunkelheit stand, zu erkennen. Doch ich war mir sicher, dass es sich um Ayako handelte. Ayumi konnte es nicht sein, denn sie war kleiner als die Gestalt vor mir. Selbst wenn ich die Größe nicht richtig einschätzte, so würde Ayumi nie einfach dastehen und mich anstarren. Und dass mich diese Person anstarrte, spürte ich ganz deutlich. Ein Schauer durchfuhr mich, doch bevor ich wusste, wie ich reagieren sollte, wandte sich die Person bereits ab und verschwand in Ayakos Zimmer. Da war ich mir sicher, dass sie es war. Am nächsten Morgen wusste ich nicht recht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte und ich nahm an, es würde ihr genauso gehen, doch sie benahm sich nicht anders als sonst. Ich beschloss, den Vorfall nicht anzusprechen. Ayumi zu liebe. Vielleicht interpretierte ich auch zu viel in diese nächtliche Begegnung hinein. Am Ende wäre das alles nur ein peinliches Missverständnis.   An einem sonnigen Tag trat ich aus dem Haus, nachdem ich den Kamin gesäubert hatte, und entdeckte Ayumi auf der Wiese. Sie lag auf dem Bauch, die Beine abgewinkelt, die Ellbogen auf die Erde gestützt, und las in einem Buch. Ihre Haare waren zu einem langen, komplizierten Zopf frisiert, den ihr sicher Ayako geflochten hatte. Der Wind spielte mit den wenigen losen Strähnen, die sich nicht hatten bändigen lassen. Mein Herz klopfte schneller, je näher ich zu ihr kam. Ich genoss diese Zweisamkeit, besonders weil wir keinen verurteilenden Blicken ausgesetzt waren. Das lag wohl daran, dass Ayako nicht wusste, dass wir Geschwister sind. Irgendwie hatten wir den richtigen Moment verpasst, es ihr zu erzählen. Sie hatte uns nie etwas Persönliches gefragt, nur einmal hatte sie sich dafür interessiert, wie wir in dem Wald gelandet waren. Doch als wir mit Ayumi einen Blick austauschten, winkte sie ab und sagte, das wäre nicht so wichtig. Wahrscheinlich war ihr unser Blickkontakt nicht entgangen und sie verstand, dass wir nicht darüber reden wollten. Vielleicht hielt sie uns ja für ein unglücklich verliebtes Paar, das sich, aus welchen Gründen auch immer, in diesem Wald das Leben nehmen wollte. Ich war einfach nur erleichtert, dass sie uns nicht mit neugierigen Fragen nervte. Doch manchmal spürte ich ihren Blick auf uns ruhen. Er war nicht eindringlich, nicht einmal unangenehm. Einfach nur nachdenklich und interessiert. Ich nährte mich vorsichtig Ayumi, da ich sie nicht erschrecken wollte, und als mein Schatten sich auf sie legte, sah sie zuerst überrascht, dann lächelnd zu mir auf. „Hyde.“ Ich setzte mich zu ihr, stützte meine Arme hinter mir ab und hielt mein Gesicht in die Sonne. Die Sonnenstrahlen fühlten sich angenehm an, blendeten mich aber, sodass ich die Augen für eine Weile schloss. Einen Augenblick saßen wir stillschweigen da, gemeinsam, und doch jeder für sich. „Was liest du da?“, fragte ich und spähte zu ihr rüber. „Ach, das. Das sind Märchen. Hat mir Ayako gegeben.“ Ich deutete ein Nicken an. „Bist du hier glücklich, Ayumi?“ Meine plötzliche Frage schien sie zu irritieren. Sie sah von ihrem Buch auf. Ihr Zeigefinger lag auf der Stelle, wo sie aufgehört hatte zu lesen. „Natürlich“, antwortete sie in einem Tonfall, der einen an seiner Frage zweifeln ließ. Nach dem Motto: Was stellst du denn für dumme Fragen? Doch ich ließ mich davon nicht beirren. „Wir sollten uns bald auf den Weg machen.“ „Was meinst du?“ „Ich meine, dass wir hier nicht ewig bleiben können.“ „Aber…“ „Was aber? Wie lange willst du noch bleiben? Wir haben Ayakos Gastfreundschaft lang genug in Anspruch genommen.“ Da sie betreten dreinsah, fügte ich noch schnell hinzu: „Ich finde es ja auch schön hier, aber wir sollten Ayako nach dem Weg fragen und dann gehen. Oder willst du für immer hierbleiben?“ Es war lediglich eine rhetorische Frage, aber ich sah an ihrem Blick, dass sie genau das wollte. „Und wo sollen wir hin?“ Ich sah meine Schwester nachdenklich an. Sie hatte eine gute Frage gestellt. „Tja, wohin. Das weiß ich auch nicht.“ Bevor ich antworten konnte, stand sie auf und ging zurück ins Haus. Ich sah ihr kurz nach und seufzte resigniert. Ich konnte verstehen, dass sie hierbleiben wollte und wenn ich ehrlich war, wollte ich das zum Teil auch. Aber irgendwann mussten wir gehen. Wir konnten nicht ewig bei dieser fremden Frau, über die wir so gut wie nichts wussten, wohnen bleiben. Hm, warum eigentlich nicht? Dieser plötzliche Gedanke überraschte mich und brachte mich zum Nachdenken. Wenn Ayako nichts dagegen hatte, warum sollten wir diesen Ort verlassen? Vielleicht war der Gedanke, unser Leben bis ans Ende unserer Tage in dieser Hütte zu verbringen, doch gar nicht so abwegig. Ich schnaubte und griff nach dem Märchenbuch, das Ayumi vergessen hatte mitzunehmen, und las ein paar Zeilen jenes Märchens, welches sie vor wenigen Minuten auch gelesen hatte. Die Alte aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf und hatte, bloß um sie zu locken, ihr Knusperhäuslein gebaut. Und wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es tot, kochte es und aß es und das war ihr ein Festtag... Ich verzog das Gesicht und klappte das Buch zu. „Verrückte Alte“, murmelte ich entgeistert, als ich mich erhob, und klopfte mir den Staub von der Hose. Mein Blick wanderte, ohne mir dessen sofort bewusst zu sein, zu der kleinen Hütte. Etwas hatte sich in meinem Blickfeld geregt. Eine Gardine, die sich wie von Geisterhand bewegte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)