Eckige Kurven von _Delacroix_ ================================================================================ Eckige Kurven ------------- Der Bildschirm des PiBooks flackerte in einem ungesunden Weiß und tauchte das Zimmer komplett in künstliches Licht. Tasten klapperten, ein Lüfter rauschte und irgendwo in der Nähe lief ein Fernseher. Er war so leise, dass Taichi den Nachrichtensprecher nicht richtig verstehen konnte, doch seine monotone Stimme hatte sich irgendwie bei ihm eingebrannt. Er wartete bestimmt schon eine Viertelstunde. Eine lange Zeit, wenn man in einem fremden Zimmer stand und nichts anderes tun konnte, als Agumon davon abzuhalten, Mrs. Izumo die Haare vom Kopf zu fressen.   Probeweise ließ er den Blick in Richtung Laptop schweifen, versuchte sogar über Koushiros Schulter zu spähen, doch mit den Zahlen auf dem Bildschirm wusste er nichts anzufangen. Neben ihm schmatzte Agumon. Es hatte einen großen Keks mit blauem Zuckerguss in seinen Krallen und verteilte überall kleine Krümel. Sogar auf dem Schreibtisch waren sie inzwischen gelandet. Dabei interessierte Agumon das Ergebnis der Berechnung noch viel weniger als ihn.   Lange Zeit passierte sonst nichts. Agumon kaute, Koushiro tippte und Taichi starrte kleine Krümel an, fast als wären sie eine potentielle Aufstellung für sein nächstes Fußballspiel. Dann piepte es überraschend. „Musch dasch scho?“, fragte Agumon schmatzend, während sich Koushiros Tipprate gefühlt noch einmal zu verdoppeln schien. Egal was das Piepen bedeutete, er war sicher bereits dabei, eine Lösung dafür zu finden. Der Lüfter röhrte, fast als wollte er protestierten, die Zahlen wechselten noch einmal schneller und dann … Dann flackerte der Bildschirm und sein Freund lehnte sich zurück. Neugierig schielte Taichi über seine Schulter.   Die Zahlen waren einem Diagramm gewichen. Es zeigte eine Kurve. Groß, rot und rund prangte es mitten auf dem Bildschirm. Ein bisschen wie eine kuriose Kopie, direkt aus seinem Mathebuch. „Wow“, rutschte es ihm heraus, „die ist perfekt.“ Neben ihm nickte Agumon. „Perfekt“, plapperte es ihm nach, „und sogar richtig rund.“   „Ich finde immer noch, Taichi-han sollte seine Hausaufgaben selber machen“, mahnte Tentomon und eigentlich hatte es recht damit. Er sollte es sein, der all diese Zahlen irgendwie zu etwas formte, was „sogar richtig rund“ war, nicht Koushiro. Und doch -   „Taichi macht seine Hausaufgaben selbst“, widersprach Agumon für ihn. „Er hat in der Schule schon lauter bunte Dreiecke gemacht.“   „Dreiecke?“   Das Wort hing einen Augenblick lang in der Luft, dann wurde Taichi klar, dass es nicht von Tentomon gekommen war.   „Wieso lässt du dir von einem Kurvenberechnungsprogramm Dreiecke ausgeben?“, fragte Koushiro und für einen Moment hätte Taichi Agumon erwürgen können. Er wusste ja, dass sein Freund dazu neigte, Dinge zu ausplappern, die mitunter nicht ganz angenehm waren – Verdammt, zuweilen war er selber nicht besser, aber das mit den Dreiecken hätte er wirklich nicht erzählen müssen.   „Das waren Kurven, Agumon“, verbesserte er eilig, „Sie waren nur ein bisschen eckig.“ Er schielte zu Koushiro, der ihm einen mehr als skeptischen Blick zuwarf und auch Tentomon wirkte nicht ernsthaft überzeugt. „Eckige Kurven?“, sprach es aus, was sie vermutlich alle dachten und brachte Taichi so dazu, nervös von einem Fuß auf den Anderen zu treten.   Er wusste, dass Kurven nicht eckig sein sollten, das hatte er im Unterricht gelernt. Was er nicht wusste, war, wie man es dem Computer erklärte. Sieben endlose Unterrichtsstunden lang hatte er es versucht, nur um schließlich genervt auf Yahoo nach den letzten Fußballspielen zu suchen, um überhaupt mal etwas Rundes zu Gesicht zu bekommen. Nicht, dass er das jetzt zugegeben hätte. Es war schon peinlich genug, dass Koushiro ihn ansah, als hätte er behauptet, ein Dreieck habe sieben Ecken. Da musste er nicht auch noch erfahren, dass -   „Du weißt, dass es einfacher zu programmieren wäre, wenn du von Ergebnissen ausgehen würdest, die weniger extreme Schwankungen aufweisen?“ Er nickte stumm. Das hatte sein Informatiklehrer auch gesagt. „Ich bin halt nicht gut in diesem Fach“, gestand er, „Und ich hatte es mir irgendwie... anders vorgestellt.“   „Eckiger?“ Tentomon knuffte Agumon in die Seite. „Wieso denn anders, Taichi-han?“, fragte es eilig, jedweden Protest von der Seite einfach ignorierend.   Taichi räusperte sich. „Ich dachte halt, es wird spannend.“   Erneut sahen ihn alle skeptisch an. Sogar Agumon machte den Eindruck, dass es diesen Gedanken dämlich fand. Vielleicht war die Idee ja auch dämlich gewesen, es war nur: „Bei Koushiro sieht es immer spannend aus.“   Es wurde still im Zimmer. Selbst der Lüfter des PiBooks schien beschlossen zu haben, dass jetzt der richtige Moment war, ihn im eigenen Saft schmoren zu lassen. Taichi legte eine Hand in seinen Nacken.   Es war plötzlich ziemlich warm und mit jedem Moment, den seine Freunde schwiegen, wurde es nur noch wärmer. „Ich wusste nicht, dass man dafür rechnen muss“, redete er weiter und dieser Satz schien zumindest Agumon etwas zu beruhigen. Das Digimon hatte erschreckend schnell begriffen, dass Taichi und Zahlen keine gute Mischung waren. Kein Wunder also, dass es ihm nun glaubte.   „Heißt das, du fällst gerade meinetwegen durch?“ Die Frage kam so leise, dass Taichi sie beinahe überhört hätte, doch der Inhalt hatte es in sich. Glaubte Koushiro wirklich - „Oh nein, nein“, beteuerte er eilig, „Ich falle natürlich nicht deinetwegen durch. Ich falle durch, weil ich keinen Plan von Technik habe.“ Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch irgendwie blieb es ihm halb im Halse stecken. Durchfallen war nicht witzig. Das war ihm sehr wohl bewusst.   Durchfallen hieß Nachhilfe, Sommerkurse und viele, viele verpasste Fußballspiele. Seine Eltern würden sauer sein, seine Schwester enttäuscht und Agumon – Gut, Agumon wäre es egal. Ihm aber nicht! Er konnte es sich nicht leisten, das Training zu verpassen und er konnte Koushiro nicht für den Rest des Jahres seine Hausaufgaben machen lassen. Er musste das hinbekommen. Irgendwie und am Besten außerhalb der Trainingszeit. Vielleicht mit einem Lehrbuch, oder einer Lern-Kassette, oder vielleicht mit einem entsprechenden Video. Er musste es machen wie Joey!   „I-Ich kann es dir erklären.“   Taichi stockte. „Wirklich?“, entfuhr es ihm. Es war, als würde plötzlich ein Sonnenstrahl seine Zukunft erhellen. Vielleicht würde er den Sommer doch nicht in Nachhilfezentren verschwenden müssen. Vielleicht würde er bei den Aufstiegsspielen antreten können! Vielleicht würde er doch Zeit mit seinen Freunden verbringen dürfen!   Oder zumindest mit einem Freund.   Langsam schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Danke“, murmelte er und zum ersten Mal seit Wochen wusste er wieder, warum er Informatik überhaupt belegt hatte. Es war nicht der Reiz des Neuen gewesen und auch nicht die Suche nach einem weiteren Hobby. Hobbys und Spannung hatte er genug.   Er hatte lediglich einen Weg gesehen, ein ganz klein wenig mehr von dem zu verstehen, was Koushiro immer vor dem Rechner tat. Und nun würde er es verstehen, zumindest wenn Koushiro sich wirklich die Zeit nahm und es ihm erklärte.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)