Unwritten von Puppenspieler ================================================================================ April • Neverending Story ------------------------- Sie war hochgewachsen. Hübsch. Kurzes, schwarzes Haar, das wild von ihrem Kopf stand, ein Lachen, das durch die ganze Sporthalle schallte, und in ihren Augen lag eine Wildheit, die Tsuyuha vom ersten Augenblick an faszinierte. Ezaki Kaori war alles, was Tsuyuha nicht war, angefangen von dem hochgewachsenen Körper bis hin zum unbeirrbaren Selbstvertrauen und dem unerschütterlichen Talent, ihr Team mitzureißen, egal, was sie tat – und sie war der Grund, weshalb sie überhaupt bei Seijohs Volleyballclub geblieben war.   Eigentlich war es nur Neugier gewesen, die sie den Flyer hatte behalten lassen, den Seijohs damaliges Managerinnenteam ihr am Schuljahresbeginn in die Hand gedrückt hatte. Dass sie einen Sportclub wollte, war für Tsuyuha außer Frage gewesen – sie kam von einer winzigen Mittelschule ohne jegliches Angebot, wo sie als Mädchen ernsthaft nur Tennis hatte belegen können, was sie kaum gereizt hatte, abgesehen davon, dass es zur Bewegung taugte. Sie wollte Mannschaftssport. Basketball? Schwimmen? Lacrosse? Sich vornehmend, sich die Clubs der Reihe nach einmal anzusehen, begann sie mit Volleyball – und blieb dort. Das herzliche Lachen, das sie enthusiastisch willkommen hieß, und Augen, die sie an einen strahlenden Sommertag im Wald erinnerten, nahmen sie sofort gefangen, noch bevor es ihr bewusst wurde. Nach weniger als zwei Monaten war aus der ursprünglichen Neugier eine so tiefe Leidenschaft geworden, dass sie an ein Leben ohne ihr neues Team gar nicht mehr denken wollte.   Zwei Jahre war das jetzt her.   Zwei Jahre, seit Tsuyuha, damals noch scheu und sichtbar kleiner als heute, in die Sporthalle getreten war, um dem ersten Clubtreffen des Jahres beizuwohnen. Zwei Jahre, seit sie das erste Mal die waldgrünen Augen mit den Sonnensprenkeln gesehen hatte.   Jetzt stand sie vor dem dritten ersten Clubtreffen des Jahres ihres High-School-Lebens, doch im Gegensatz zu damals war sie nicht eine der letzten, die die Sporthalle betrat, sondern die erste. Die Sporthalle war erdrückend groß, so leer wie sie war, und Tsuyuha hatte den Eindruck, sie könne in den Fußstapfen versinken, die ihre Vorgängerinnen ihr hinterlassen hatten. „Du schaffst das“, hatte Ezaki ihr noch letzte Woche beim Kaffee gesagt, zuversichtlich und optimistisch, wie sie immer gewesen war. In dem Moment hatte Tsuyuha es ohne Diskussion geglaubt, und auch jetzt wurde es leichter, wenn sie nur daran dachte, wie sonnenstrahlengesprenkelte Augen sie aufmunternd angesehen hatten, stolz, und ein bisschen sentimental. Als wüsste Ezaki noch ganz genau, was für ein stilles, behutsames Ding Tsuyuha in ihrem ersten Jahr gewesen war. (Wahrscheinlich wusste sie es wirklich noch.) Sie holte tief Luft, straffte die Schultern. „Ich bin Captain!“, verkündete sie der leeren Halle laut. Ihre Worte hallten kraftvoll von den Wänden wider, so viel lauter, als sie vor einer Ewigkeit mal gedacht hätte, dass sie werden könnten. Sie grinste wild.   Es war nicht, als wäre sie erst seit gestern Captain. Die Drittklässler im Vorjahr waren nach der Inter High zurückgetreten, wie so oft. Aber es war einfach etwas anderes, die gleichen alten Gesichter zu führen, die man schon seit gut eineinhalb Jahren kannte, als sich auf neue Gesichter einstellen zu müssen. Erst jetzt fühlte sich der Captainsmantel wirklich schwerwiegend an. Bald würden die neuen Erstklässler kommen. Bald war es ihr Job, auf die Neulinge zuzutreten, zu strahlen, charismatisch und stark zu sein, und ihre Leidenschaft für Volleyball anzufachen. Das war die große Hürde ihres High-School-Lebens. Eine würdige Nachfolge zu sein für die Mädchen, die vor ihr hier gestanden und gekämpft hatten. Eine würdige Nachfolge für Ezaki sein, damit sie in zwei Wochen, wenn sie sich wieder einmal draußen in der Stadtmitte trafen, immer noch verkünden konnte, dass sie stolz war.   Mitten in ihre Gedanken hinein öffneten sich die Türen zur Sporthalle, um die ersten Spielerinnen einzulassen. Bekannte Gesichter, die Tsuyuha über die letzten beiden Jahre viel zu liebgewonnen hatte. Die anderen Drittklässlerinnen, Startaufstellung wie Ersatzbank gleichermaßen. Überpünktlich, wie immer. Wie immer fanden sie sich in Kleingrüppchen ein, um zu plaudern, bis das Training losging. Wie immer waren es die Reste der Startaufstellung, die sich in Tsuyuhas Richtung begaben. Neu war lediglich, dass Nozomi schrill kreischte bei ihrem Anblick. „Deine Haare!!!“   Pünktlich zum neuen Schulclubjahr hatte Tsuyuha es gestern erst abschneiden lassen. Seit sie denken konnte, war es lang gewesen. Beim Sport eine Pest, weil es schwer gewesen war und der Pferdeschwanz immer wild hin und her schlenkerte, aber sie hatte es behalten wollen. Gewohnheit. Es war ein Teil von ihr gewesen. Und dann, plötzlich, hatte sie es nicht mehr gewollt. Die Vorstellung, als Captain vor den anderen Mädchen zu stehen, vor den kleinen Erstklässlerinnen, die zweifelsohne mit ihren ganz eigenen Erstklässlersorgen und –Ängsten kommen würden, wie das immer so war, die scheu im Angesicht all der neuen Senpai wurden, und dann diesen strengen Pferdeschwanz zu tragen, hatte sie abgeschreckt. Objektiv wusste sie, dass es Blödsinn war, aber Captain-Sein verband sie viel zu deutlich mit Dingen, die von einem strengen Pferdeschwanz kaum weiter entfernt sein könnten.   Also hatte der Pferdeschwanz weichen müssen.   Jetzt war ihr Haar kurz und wild und stand in alle Richtungen ab, wenn sie sich einmal zu oft hindurchraufte, und sah sie in den Spiegel, entdeckte sie zumindest einen leisen Nachhall dieser Wildheit, die sie dazu gebracht hatte, am Ball zu bleiben, obwohl die ersten Monate in einer neuen Sportart oft frustrierend gewesen waren. Das Lachen ihres Captains hatte es alles wert gemacht – der Muskelkater vom harten Training, die Erschöpfung und Frustration, wenn einfach nichts so laufen wollte, wie Tsuyuha es wollte, die Tränen nach verlorenen Spielen. Sie grinste, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Es war immer noch ein fremdes Gefühl, wie es kurz über ihre Finger kitzelte, aber Tsuyuha mochte es. „Sieht gut aus, oder?“  „Ja schon, aber–! Tsuyuha!“ Nozomi schüttelte ungläubig den Kopf. Sie winkte wild in die Richtung ihrer Klassenkameradin Mari, die gemächlich hinter ihr her trottete. Sie betrachtete Tsuyuha eingehend, als sie angekommen war, dann schüttelte sie den Kopf. In ihrem Mundwinkel lag ein Lächeln, das von sentimentalen Tränen kündete, ein Anblick, der Tsuyuha grinsen ließ. Es war vertraut geworden. Gewohnheit. Die grellblauen Augen des Mischlingsmädchens fixierten sie wieder, musterten ihre neue Frisur noch einmal, schienen in ihrem Gesicht etwas zu suchen. Dem zufriedenen Ausdruck nach zu schließen, den Mari zur Schau trug, als sie mit einem amüsiert-gerührten Schnauben den Blick abwandte, fand sie es.   „Die grünen Augen fehlen.“   Nozomi verstand erst jetzt. Riesige Augen starrten Tsuyuha wieder an, ihr Mund war zu einem hübschen, runden O verzogen. „Ich fass es nicht. Ich brauch ein Foto! Jetzt! Gestern! Das muss ich ihr unbedingt zeigen!“ „Kein Handy beim Training“, kommentierte Tsuyuha trocken. „Außerdem sieht sie es demnächst eh.“ Nozomis Mund verzog sich zu einer Schmollschnute. Ob wegen der obligatorischen Erinnerung an das Handyverbot, das sie gern einmal vergaß, oder weil Tsuyuha ihr die Genugtuung nahm, die neue Entwicklung weiterzutratschen, das sei einmal dahingestellt. Was es war, Nozomis Schmollen machte Tsuyuha keine Sorgen – sie kannte ihre Freundin. Sie ließ sich viel zu schnell ablenken, um lange böse zu sein. Und genau so kam es – kaum, dass die nächsten Mädels eintröpfelten, wirbelte sie schon herum, um jedem, der davon hören und nicht hören wollte, von Tsuyuhas neuer Frisur zu erzählen. Als hätte man die übersehen können.   Aufgestachelt von Nozomi war das Theater trotzdem größer als nötig, und es dauerte nicht lange, bis das halbe Team sich um Tsuyuha geschart hatte, um wild auf sie einzureden, ihren neuen Haarschnitt zu komplimentieren, und noch einmal Nozomis Geschichte zu hören, wie es zu der neuen Frisur gekommen war – und, natürlich, Bestätigung zu suchen, dass das auch wirklich stimmte. Besonders Hayashi, ihre winzige Libero, hatte einen Narren an der neuen Frisur gefressen; sie hing auf Tsuyuhas Rücken, um überhaupt bequem hoch genug zu kommen, um das kurze, wirre Haar nach Herzenslust noch mehr zu zerzausen, während sie wiederholt verkündete, wie unglaublich cool sie jetzt aussah. (Diskutabel, ob das ein Kompliment war, Hayashis Geschmack war beizeiten etwas eigenartig, und das nicht nur, wenn es um seltsame Snacks ging.)   Bis Hayashi endlich von ihr abließ, sah sie zweifelsohne aus wie eine explodierte Klobürste auf Beinen. Sie konnte nicht viel dagegen tun, also ließ sie es bleiben, konzentrierte sich lieber darauf, sich endlich aufzuwärmen. Bis die Erstklässler endlich kamen, war die Halle schon erfüllt vom Lärm eines trainierenden Volleyballteams. Mädchenstimmen, die durcheinanderriefen, Bälle, die auf den Boden klatschten… Tsuhaya hätte die aufgehenden Türen überhört, hätte sie im Augenwinkel nicht die Bewegung gesehen. Es waren eine Hand voll Mädchen. Nicht so viele, wie Tsuyuha sich gewünscht hätte, aber mehr, als sie gefürchtet hatte. Kunterbunt und unterschiedlich, wie es sich gehörte, aber allesamt sahen sie im Angesicht der neuen Umgebung eher zögerlich aus. Eine von ihnen stach ihr besonders ins Auge – hochgewachsen genug, um jetzt schon vielen Senpai allein in dem Bezug den Rang abzulaufen. Stellte sie sich gut an, sie konnte mühelos in die Startaufstellung kommen. Große, neugierige Augen, eine kindliche Frisur, die so gar nicht zu ihrem hochgewachsenen Körper passen wollte, und da war Unsicherheit in der Art, wie sie sich bewegte. Unsicherheit, Vorsicht, Scheu – ein leiser Zweifel, dass sie hier wirklich richtig war. Ein Kopf weniger, und es hätte ein Bild aus Tsuyahas Vergangenheit sein können. Sie erinnerte sich an wildes Haar und Augen wie ein Sommertag im Wald, an ein Lachen, das die ganze Halle erfüllte, und an die kräftige Stimme, die ihr sofort das Gefühl gegeben hatte, dazu zu gehören. Maris Hand stieß ihr sanft in den Rücken. Tsuyuha lachte, und die ganze Sporthalle füllte sich mit dem Laut, während sie auf die Neulinge zuging, die sie mit großen Augen, teilweise unverhohlen vorsichtig, musterten.   „Willkommen beim Seijoh-Mädchen-Volleyballclub! Los, kommt rein, vom Staunen und Herumstehen werdet ihr auch nicht warm!“ Mai • New Beginning ------------------- Der Team-Gruppenchat, den sie führten, seit Nozomi persönlich ihn im ersten Schuljahr eingeführt hatte, war verdächtig still geworden in den letzten zwei Tagen. Das kam manchmal vor. Vor Trainingscamps. Vor Valentinstag. Vor Weihnachten. Nozomi wusste, was das bedeutete:   Boykott.   Sie musterte ihr Handy mit gebührender Missbilligung, legte es dann zur Seite und seufzte theatralisch. Es war immer dasselbe. Seit nunmehr über zwei Jahren schlug sie diese verzweifelte Schlacht gegen ihr Team, weil sie einfach nur von Banausinnen umgeben war. Dabei könnte es so einfach sein.   Golden Week stand vor der Tür. Golden Week, und damit das alljährliche Golden-Week-Trainingscamp, das in der Schule abgehalten wurde. Etwas, das natürlich nicht nur ihr Club machte, sondern auch einige der anderen Sportclubs nutzte – unter anderem das Jungen-Volleyballteam. Fünf Tage in der Schule. Fünf Tage, die sie vierundzwanzig Stunden des Tages in unmittelbarer Nähe zu Oikawa Tooru verbringen würden. Fünf Tage, in denen sie ihm endlich den Liebesbrief überreichen konnte, den sie seit dem ersten Schuljahr, als sie ihn das erste Mal geschrieben hatte, regelmäßig überarbeitet hatte, damit er aktuell blieb. Inzwischen war sie bei Version dreiundzwanzig angekommen, und sie hatte sich ganz fest vorgenommen, dass dreiundzwanzig die magische Zahl sein sollte, die nicht bei den anderen Briefen in ihrer rosa Pappschachtel landen sollte.   Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte den Brief schon vor zwei Jahren abgegeben. Warum auch nicht? Sie war hübsch. Sie war selbstbewusst. Sie war sportlich talentiert. Sie hatte keinen Grund, es nicht zu tun. Warum sie es trotzdem nicht tat? Weil sie von Banausinnen umgeben war. Banausinnen, die sie seit zwei Jahren und mehr boykottierten, weil niemand in Seijohs Mädchen-Volleyballteam außer ihr einsah, was für ein umwerfender Mann Oikawa Tooru war. Es war eher das Gegenteil der Fall – die anderen Mädels hassten ihn. So sehr, dass sie einstimmig einig darin waren, dass sie ihn nicht in der Nähe ihrer Teamkollegin sehen wollten. Kurzum: Sie hinderten Nozomi ständig daran, ihren Brief zu überreichen. Mit unfairen Mitteln. Nutzten aus, dass sie sich ablenken ließ. Begleiteten sie selbst noch zur Toilette, damit sie bloß nicht die Gelegenheit bekam, etwas zu erreichen. Sie sprachen sich hinter ihrem Rücken ab, um ihre schändlichen Missetaten vorzubereiten. Es war schrecklich.   Mari hatte angefangen. Mari, die pragmatische, romantische, sentimentale, durchgreifende Mari, die Oikawa ganz besonders furchtbar fand, hatte im ersten Schuljahr begonnen, all ihre Geständnisse zu boykottieren.  „Es ist besser für dich, Carissima“, hatte sie schon damals behauptet, mit einem gütigen Lächeln wie dem einer Mutter, die sich um ihr Kind sorgte. Nozomi hatte es ihr damals schon nicht geglaubt, und sie glaubte es ihr heute nicht, egal, wie oft Mari es wieder betonte, sobald erneut die Gerüchte um eine Oikawa-Trennung durch die Schule gingen. Für Nozomi war es logisch, dass er sich trennte, wenn er die Richtige einfach noch nicht gefunden hatte. Dass sie die Richtige sein konnte – natürlich! Bestimmt. Einen Versuch war es doch in jedem Fall wert!   Aber der Versuch kam einfach nicht zustande.   Im zweiten Jahr war der Boykott schlagartig größer geworden – Tsuyuha und Nagisa hatten sich angeschlossen, und nicht viel später waren auch weitere Neulinge mit eingestiegen. Das Netz aus Intriganten war inzwischen so weitläufig gesponnen, dass Nozomi längst nicht mehr wusste, wen sie alles mit Missachtung strafen müsste, wenn sie denn endlich einmal daran denken würde, aber im Grunde war es einerlei. Sie waren alle Verräter! Wer den Boykott nicht aktiv unterstützte, hielt ihn auch nicht auf, also waren sie am Ende alle Mittäter! Verräter, allesamt, die obendrein auch noch einen eigenen Gruppenchat gegründet hatten, an dem Nozomi nicht teilnehmen durfte. Einen Gruppenchat, den sie nutzten, um ihre Boykotts zu planen. Etwas, das sie zweifelsohne auch jetzt taten, wo der eigentliche Team-Chat so still geworden war.   Nozomi warf noch einen bitterbösen Blick auf ihr Handy, eine stumme Kriegserklärung. „Ich weiß, was ihr tut“, erklärte sie dem Gerät mit gerümpfter Nase, „Und diesmal werdet ihr nicht damit durchkommen!“   Sie hatte eigene Pläne. Großartige Pläne. Wasserdichte Pläne. Dieses Mal würde sie es schaffen.   Dreiundzwanzig war die magische Zahl.     ***     „Tatamiya-Senpaaaaaaaai!“   Hayashis fröhliche Stimme hätte nicht gereicht, um Nozomi anhalten zu lassen. Die Tatsache, dass das kleine Mädchen die Arme um ihre Körpermitte geschlungen hatte und sie festhielt hingegen, die hielt sie effektiv vom Weiterlaufen ab. Boykott, war der erste Gedanke, der durch Nozomis Kopf schoss. Sie schürzte die Lippen. So nah und doch so fern. Sie konnte Oikawas Schuhfach sogar schon sehen! „Sen-Pai!“ Hayashis Gesicht drückte in ihren Rücken und Nozomi musste gegen ihren Willen lachen. Sie hob geschlagen die Hände. „Ich bin hier, Hayashi.“ Sie konnte auch gleich noch zu Oikawas Schuhfach, huh? Die Mittagspause war lang genug, und sie wusste, wenn Hayashi schon so aufdringlich ankam, dann ließ sie nicht  mehr locker, bis sie losgeworden war, was sie loswerden wollte. Und außerdem hätte Nozomi es gar nicht übers Herz gebracht, ihre Mädels stehen zu lassen. Auch nicht für ihren Liebesbrief. Hayashi löste sich endlich von ihr, kam mit hüpfenden Schritten um sie herum, bis sie aufrecht vor ihr stand. Sie wirkte klein, selbst gegen Nozomi, die selbst nicht mit der deutlichsten Größe gesegnet war.   „Ich hab da hinten was gesehen!“, verkündete sie, demonstrativ geheimnisvoll, und ihre Augen funkelten schalkhaft. Hayashi entdeckte ständig irgendetwas. Schneckenhäuschen, Spinnennetze, Babykatzen – sie hatte ein seltsames Talent, absolut alles und nichts ausfindig zu machen. Dafür, dass sie so klein war, hatte sie ausgleichend die absolut größte Wahrnehmungsspanne von ihnen allen. Und auch wenn Nozomi an sich ahnen konnte, dass es nichts herausragend spannendes sein würde – allein Hayashis offenkundige Aufregung machte sie neugierig. Hayashi war ansteckend. „Zeig her?“ Die Mittagspause war lang. Nachher. Das Schuhfach lief ihr nicht weg.   Und jetzt war es ohnehin zu spät für einen Rückzieher – Hayashi nahm ihre Worte als Einladung, sie zu packen und enthusiastisch mit sich zu ziehen. Nozomi folgte lachend, strauchelnd, weil sie nicht damit gerechnet hatte, gleich wortwörtlich abgeschleppt zu werden. „Ich hoffe, es ist noch da, wenn wir ankommen. Aber ich hab’s eben bestimmt ne halbe Stunde beobachtet, und verschwunden sind sie nicht, also…“ Noch ein Grinsen. Hayashi strahlte breit über die Schulter zu ihr hinüber, in ihren Augen strahlte das Geheimnis, das da vor ihnen lag. Nozomi wollte nachfragen, doch sie wusste längst viel zu genau, dass Hayashi nichts verriet, weil sie viel zu viel Freude daraus zog, sich vor ihrem Fund aufbauen und ihn präsentieren zu können. Also versuchte Nozomi es gar nicht mehr. Sie hatte aufgegeben.   Immerhin musste sie nicht lange warten, um ihre Antwort noch zu bekommen. Einmal über den halben Schulhof gelaufen erreichten sie eine Ecke, die an blühende Sträucher grenzte. Blühende Sträucher, an denen unzählige Schmetterlinge in den schönsten Farben herumschwirrten. Nozomi riss ungläubig die Augen auf, schlug die Hände vor den Mund, um einen begeisterten Schrei zu ersticken. „Ta-dah!“ Mit ausschweifenden Bewegungen, die sie glatt größer wirken ließen, als sie wirklich war, wies Hayashi auf das atemberaubende Schauspiel. Nozomi konnte wirklich nur staunen, starren. Sie verfolgte den bunten Tanz der Schmetterlinge fasziniert, und es dauerte Minuten, bis sie sich lange genug davon losreißen konnte, um Hayashi wieder anzusehen, die vor lauter Stolz ein paar Zentimeter gewachsen zu sein schien. „Das ist ja wunderschön!“, hauchte sie überwältigt. Hayashi nickte wild. „Ne? Das ist so cool! Ich hab sie vor ein paar Tagen schon mal hier entdeckt, die scheinen den Busch echt zu mögen!“   Nozomi war froh, dass sie ihr Handy dabei hatte. Außerhalb der Sporthalle durfte sie das immerhin haben! Und dieses Bild schrie einfach danach, Erinnerungsfotos zu machen. Viele. Von allen Schmetterlingen am besten. So völlig beschäftigt mit Fotos und Schmetterlingen und einem strahlenden Kouhai verging die Mittagspause wie im Flug – und am Ende war Nozomi einfach nur froh, dass sie nicht zu spät zum Nachmittagstraining kamen, denn Tsuyuhas Zorn gegen Unpünktlichkeit war schrecklich.   Als sie an ihren üblichen Platz in einer Hallenecke trottete, um ihre Aufwärmroutine zu beginnen, sah sie noch, wie Hayashi lachend mit Mari abklatschte.     ***     Mittagsdienst war eine großartige Gelegenheit – drei Jahre Erfahrung zeigten, dass immer irgendetwas fehlte, egal, wie sorgfältig man plante, und immer irgendjemand zum Einkaufen musste, um die fehlenden Sachen zu besorgen. Und es war auch gar nicht schwer, da ein bisschen nachzuhelfen, damit auch wirklich etwas fehlte. Nozomi musste sich das Grinsen verkneifen, als die Managerinnen mit einem Seufzen verkündeten, dass ihnen die Karotten für ihr Curry fehlten. Und ein Gewürz, das Nozomi überhaupt nichts sagte, aber das war völlig egal – Hauptsache, es fehlte! „Ich übernehm das!“, verkündete sie bemüht wenig enthusiastisch und sprang von ihrem Platz am Tisch auf. Es war so wunderbar idiotensicher. Jetzt konnte sie legitim raus, musste nur das Zeug besorgen, und hatte dabei alle Zeit der Welt, den Brief abzugeben. Es war ein brillanter Plan. Etwas, das niemand hätte vorhersehen können. Unboykottierbar.  „Ich komme mit.“   Oder auch nicht.   Nozomis Gesicht engleiste, als sie zusah, wie Han sich ebenfalls erhob. Das– das war nicht fair! Gar nicht fair! Der Plan hätte absolut boykottsicher sein sollen! Aber es war nicht, als könnte sie ablehnen, nicht wahr? Also fügte sie sich seufzend ihrem Schicksal und beschloss, dass sie immer noch am Ende des Ausflugs ganz dringend auf Toilette gehen könnte, während Han die Einkäufe zurückbrachte. Das war wirklich boykottsicher. Niemand wollte mit Einkaufstüten zur Toilette, das war eklig.   Der Weg zum Supermarkt war wenigstens nicht weit. Eigentlich war Nozomi auch nicht unglücklich über die Gesellschaft, denn sie mochte Gesellschaft, aber sie war trotzdem immer noch beleidigt, dass ihr Plan nicht aufgegangen war. Schon wieder. Zum, inzwischen, achten Mal, seit das Trainingscamp begonnen hatte, und sie waren erst am dritten Tag! Aber ständig war irgendetwas dazwischen gekommen. Irgendjemand brauchte Hilfe. Irgendjemand hatte irgendwo die neuesten Tratschgeschichten her, die er unbedingt erzählen musste, und natürlich konnte Nozomi sich das nicht entgehen lassen! Noch am Vorabend war es gescheitert, weil Tsuyuha sie nach dem Bad noch in eine spontane Besprechung über das Team verwickelt hatte. Die Gedanken an die Zukunft ihrer Mädels hatten den Brief völlig abgedrängt – bis sie irgendwann im Bett gelegen hatte, so spät, dass sie es nicht mehr gewagt hätte, durch die Schule zu geistern. Sie seufzte schwer, geschlagen. Ihr Leben war eine Tragödie. Und niemand schien auch nur einen Funken Mitleid mit ihr zu haben. War das nicht unfair? Scheinbar nicht. Han lachte leise neben ihr. Dafür, dass sie groß war, war Han überraschend leise. Das genaue Gegenteil von dem lauten Winzling Hayashi. Nozomi schnaufte undamenhaft und warf ihr einen säuerlichen Blick zu. „Lach nicht.“ „Du sollest einfach aufgeben“, gab das andere Mädchen unbekümmert zurück. In ihrer Art lag eine nüchterne Leichtigkeit, die Nozomi ehrlich ein bisschen beneidete. Sie hoffte, dass Han wirklich im nächsten Jahr den Captain-Posten übernehmen würde. Es stand ihr.   Sie schüttelte entschieden den Kopf und die Gedanken ans Team ab. Gerade gab es wichtigeres! „Nein! Ich werde nicht aufgeben! Oikawa ist–!“ „Ja? Kennst du ihn? Hat er je ein Wort mit dir gewechselt?“ Nozomi schnaubte beleidigt, verschränkte die Arme vor der Brust. „Dank euch nicht…“   Wieder lachte Han. Nozomi warf ihr einen zutiefst säuerlichen Blick zu, der nicht so recht sauer bleiben wollte, weil das Mädchen bei allem Gelächter keinen Deut gehässig wirkte, sondern einfach – nett. Freundlich. Freundschaftlich. Tatsächlich besorgt um ihr Wohlergehen, so wie der Rest des Teams, und genau deshalb konnte Nozomi ihnen am Ende doch einfach gar nicht böse sein. Sie meinten es lieb. Es war total dumm und deplatziert, aber sie meinten es ja lieb.   „Weißt du, ehrlich. Wenn du nach so langer Zeit noch keinen Schritt vorangekommen bist – ist es da wirklich so wichtig?“   Auch wenn sie wirklich einfach gar nichts verstanden! Nozomi nickte wild. Natürlich war es wichtig! Es war überlebenswichtig! Aber sie wusste, dass jede Erklärung, die sie zustande bringen konnte, an Han abperlen würde wie Wasser an einer Regenjacke. Sie war einfach nicht romantisch genug veranlagt für solche Dinge. Das Konzept romantische Liebe war eben ein kompliziertes, verworrenes Konstrukt, das nur die verstanden, die ihrer Opfer waren! Der Gedanke ging verloren, als sie im Supermarkt standen, ohne Einkaufszettel, und vergessen hatten, was sie eigentlich kaufen sollten.     ***     „Ich hab da so ne Idee.“   Nagisa stand vor ihr, die Finger ineinandergehakt und nervös auf den Fußballen wippend. Eigentlich hatte Nozomi sich gerade auf den Heimweg machen wollen. Das Trainingscamp war viel zu schnell vergangen, viel zu fruchtlos gewesen, und heute Abend war ihre letzte Chance, ihren Brief an den Mann zu bringen. Aber konnte sie noch daran denken, wenn da ihre Kouhai vor ihr stand und offensichtlich etwas sehr, sehr Großes auf der Seele hatte? Nein. „Was denn?“ „Na ja, also…“ Nagisa grinste scheu, gestikulierte vage. Sie war ein süßes Ding, aber hatte entschieden zu wenig Selbstvertrauen. Nozomi lächelte ihr aufmunternd zu, während sie ihre Tasche schulterte. Mit einer Geste wies sie Nagisa, sich ebenfalls in Bewegung zu setzen; aus Erfahrung wusste sie, dass es dem Mädchen leichter fiel, zu sprechen, wenn sie irgendwie beschäftigt war – und da reichte sogar nur plattes Laufen. Zumindest ein Stück konnten sie zusammengehen. Bis zum Schultor, denn danach mussten sie ohnehin in andere Richtungen. Nagisa nach Hause, und Nozomi zu Oikawas Schuhfach.   Sie trotteten schweigend nebeneinander her. Es war dunkel, die Luft langsam aber sicher spürbar kühl werdend. Erst, als das Schultor nur noch ein paar Schritte von ihnen entfernt lag, begann Nagisa schließlich leise zu sprechen. Es würde still werden, wenn die Drittklässler weg waren. Kein Grund mehr für verrückte Gruppenchat-Planungen, und irgendwie war das schade. Es war das erste Jahr, in dem wirklich das ganze Team in Außervolleyballaktivitäten involviert war. Nozomi war schon kurz davor, beleidigt das Gesicht zu verziehen, weil sie den ganzen Boykott sicher nicht vermissen würde, als Nagisa weitersprach. „Man ist sich irgendwie näher so.“ Sie hob mit einem verlegenen Grinsen abwehrend die Hände. „Nichts gegen das Team letztes Jahr. Oder nächstes Jahr. Aber dieses Team – das ist das erste Mal, das ich sagen würde, wir sind ehrlich alle in der Startaufstellung Freunde. Gehören zusammen. Verstehst du, was ich meine?“ Nozomi nickte, nun selbst schief grinsend. Sie verstand. Sie waren wirklich ungewöhnlich eng miteinander verbunden, und jetzt, wo sie darüber nachdachte. Sie würde– „Ich werd das vermissen. Deshalb…“ Nagisa hielt noch einmal inne. Inzwischen stand sie am Schultor und sah ein bisschen zu verloren aus, als dass es Nozomi nicht das Herz brechen würde. Sie lächelte dem Mädchen noch einmal aufmunternd zu, versuchte, ihren eigenen Kummer nicht durchdringen zu lassen. Sie verstand es wirklich. Wie könnte sie das Team nicht vermissen, wenn es erst vorbei war? Irgendwie würde sie am Ende wahrscheinlich doch sogar den Boykott vermissen. Sie hob die Augenbrauen, abwartend, auffordernd.   „Deshalb?“     ***     Deshalb war am Ende des Tages der Grund, weshalb Nozomi schon wieder den Brief vergessen hatte und sich am Schultor nur von Nagisa getrennt hatte, um direkt nach Hause zu gehen. Als sie in ihrem Zimmer ihre Tasche auspackte und den rosa Umschlag schon wieder darin fand, seufzte sie. Resigniert. Amüsiert. Verzweifelt. Sie schüttelte den Kopf, Hans Worte noch viel zu deutlich im Ohr. Drei Jahre das Gleiche. Keine Veränderung. Sie kam Oikawa keinen Schritt näher. Ihre Gedanken wanderten weiter, zu Nagisa und ihrem kleinen Geständnis. Dieses Team war etwas Besonderes für sie. Wie viel sich seit den ersten Tagen der ersten Klasse verändert hatte! Mari und Tsuyuha waren längst Nozomis besten Freundinnen geworden. Die Kouhai, allesamt, gehörten ohne jede Diskussion in ihr Leben, und sie würde jede Einzelne viel zu sehr vermissen, wenn sie die Schule verließ. Die ganze Startaufstellung war schon mehr wie eine chaotische, große Familie, als wie ein Haufen Fremder, die zufällig im gleichen Team Sport machten. Drei Jahre voller Veränderung. Und jeder Tag ein Schritt näher zueinander hin.   Wichtig.   Sie sah auf den Brief hinunter, unscheinbar, ordentlich mit Oikawas Namen beschrieben. Dachte an die tausend Male, die ihre Mädels sie davon abgehalten hatten, diesen Brief oder seine Vorgänger in Oikawas Hände zu bringen, dachte daran, wie sie diese Boykotts keinen Schritt weiter auf ihrem Weg in Richtung Oikawa gebracht hatten, und stattdessen dafür gesorgt hatten, dass sie und ihr Team immer mehr untrennbar zusammenwuchsen. Nozomi lächelte flüchtig. „Deshalb“, sagte sie, eine Endgültigkeit in ihren Worten, die sie dort noch nie gefunden hatte. Sie sah beinahe feierlich zu, wie der Brief in den Mülleimer neben ihrem Schreibtisch segelte, dann stand sie auf und riss die Fenstern auf, um sich hinauszulehnen und tief die frische Mailuft einzuatmen. Es roch nach Frühling und neuem Leben. „Deshalb.“   Deshalb würde sie jetzt daran arbeiten, Nagisas Idee in die Tat umzusetzen. Und das würde nicht über zwei Jahre liegenbleiben, weil sie sich ständig davon ablenken ließ.   Es war schließlich wichtig. Juni • A Chapter Ends --------------------- Inter High Vorrunden. Viertelfinale. Gegen Niiyama. Maika schlug das Herz bis zum Hals, während sie darauf wartete, hinaus auf den Platz zu kommen. Noch hockten sie vor der Halle und warteten, dass das Spiel zu Ende ging, das gerade noch lief. Sie knautschte unruhig das kleine Katzenplüschtier, das ihre Mutter ihr heute Morgen als Glücksbringer geschenkt hatte. Das niedliche Gesichtchen der Katze starrte sie aus Knopfaugen aufmerksam an, während sie es wieder und wieder in die groteskesten Formen drückte. „Du siehst aus, als würdest du gleich tot umfallen vor Nervosität“, kommentierte Hayashi gut gelaunt. Sie sah aus, als wäre Nervosität ein Fremdwort für sie, hockte grinsend vor Maika und sah strahlend zu ihr hinunter. Zwischen ihren Fingern baumelte ein kleiner Talisman in Form einer Winkekatze. „Noch ein bisschen Glück“, erklärte sie, als sie ihn einfach in Maikas Schoß fallen ließ. Und dann fiel sie selbst, gut gelaunt auf den Hintern, stützte sich auf ihren Händen ab. „Ist übel, ne? Das erste große High-School-Turnier. Ich hab damals fast gekotzt.“ „Futaba.“ Hayashi lachte. „Entschuldige, Ricchan~!“ Sie grinste, zwinkerte. „Ich hab mich fast übergeben. Es war schrecklich.“   Maika grinste schief, als sie merkte, dass die alberne kleine Anekdote tatsächlich ein bisschen half, ihre Nerven zu beruhigen. Sie lächelte Hayashi kurz zu, drückte das kleine Kätzchen, das das Mädchen ihr in den Schoß geworfen hatte.   Es war nicht, dass sie schlecht war. Maika wusste, dass sie objektiv betrachtet gut war. Das war nicht das Problem. Das Problem war, dass sie gut für eine Erstklässlerin war. Ihre Senpai hatten ihr natürlich einiges voraus. Dass sie trotzdem Teil der Startaufstellung war, lag zum größten Teil daran, dass sie groß war. Sie überragte jede der anderen Spielerinnen im Team, sie überragte regulär fast alle anderen Volleyballspielerinnen, die in ihrer Altersklasse da draußen herumliefen, was ihnen einen undiskutablen Vorteil in der Verteidigung einbrachte, solange Maika nur vor dem Netz stand und blocken musste. Blocken konnte sie. Meisterlich, behauptete Captain Numanoi, und Maika war auch selbst sehr stolz auf ihre Blockerfähigkeiten. Ihre Annahmen hingegen…   Sie waren nicht per se schlecht.   Sie waren aber auch nicht per se gut. Sie war irgendwo im Mittelfeld, wo sie mit den anderen Erstklässlerinnen mühelos mithalten konnte, aber von den Zweitklässlerinnen schon deutlich abgehängt wurde. Auch wenn Hayashi ihr extra noch einen Crashkurs gegeben hatte, die wenigen Wochen hatten die Welt nicht verändert. Sie war immer noch Maika. Die große, breitschultrige Maika mit den langen Armen, die viel zu genau wusste, wie sie einen Ball blocken konnte, aber weiche Knie bekam, sobald sie ihn annehmen und zur Zuspielerin befördern sollte. Die meiste Zeit ging es gut. Bisher war es auch kein Problem gewesen, bisher hatten sie noch jedes Match gewonnen, trotz einiger Schwächen in ihrer Aufstellung.   Aber jetzt standen sie nicht irgendwem gegenüber. Kein Provinzteam, das keine Gefahr darstellte, sondern Niiyama, die seit Jahren die Miyagi-Repräsentanten bei nationalen Turnieren waren. Die Königinnen des High-School-Volleyballs.     Das Signal, dass sie die Halle betreten konnten, ließ ihren Magen doch wieder nervös krampfen. Hayashi sah aufmunternd zu ihr hinunter, klopfte ihr auf die Schulter. „Vergiss nicht! Ich bin da. Wir sind alle da. Und deine Kätzchen auch.“ Maika lachte leise. Sie warf einen Blick auf ihre Tasche mit dem aufgedruckten Katzenmotiv, sah zu dem Anhänger in Katzenform, der schon seit Ewigkeiten daran baumelte, seit ihre Oma ihn ihr zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte, zusammen mit einem weiteren Haufen Geschenken. Sie stieß betont ruhig die Luft aus und erhob sich, fühlte sich trotz ihrer Größe unangenehm klein. Das Gefühl wurde nicht besser, als sie die Halle betraten. Obwohl es die gleiche war, in der sie auch ihre anderen Vorrundenspiele hinter sich gebracht hatten, fühlte Maika sich plötzlich verloren unter dem grellen Hallenlicht. Sie erhaschte erste Blicke auf ihre Gegnerinnen. Selbst aus der Nähe wirkten Niiyamas Spielerinnen überlebensgroß, weil sie einfach so ein Selbstbewusstsein ausstrahlten.   Sie wünschte sich, die Aufwärmphase würde nie zu Ende gehen. Oder wahlweise so schnell vorbei sein, dass sie keinerlei Gelegenheit bekam, auch nur einen halben Blick zu ihren Gegnerinnen zu werfen.   Im Endeffekt standen sie viel zu bald und nicht bald genug auf dem Feld. Maika hatte Angst. Sie wusste, dass das objektiv gesehen sehr dumm war. Sie wusste, dass sie gerade jetzt alle Nerven und alles Selbstbewusstsein brauchte, aber trotzdem fühlten ihre Knie sich wie Pudding an und ihr Magen schlug Purzelbäume, die alles andere als angenehm waren. Sie versuchte, sich auf die Erleichterung zu konzentrieren, die ihr Hayashis Ablenkung vorhin verschafft hatte, aber das Gefühl war in ungreifbare Ferne gerückt. Sie versuchte, an das plüschige Gefühl der Katze zu denken, die sie vorhin geknautscht hatte. An irgendetwas, das sie davon ablenkte, dass ihre Nerven eine nach der anderen lachend Selbstmord begingen. „Steh gerade!“, mahnte Numanoi plötzlich, eine Hand kollidierte mit Maikas Rücken und sie richtete sich instinktiv tatsächlich weiter auf – sie hatte nicht einmal gemerkt, wie sie eingesunken war. Ihr Captain grinste, ein wilder Blick unter genauso wildem Haar, und das Selbstvertrauen, das ihr von dem Mädchen entgegenstrahlte, war ansteckend genug, dass es ihren Magen kurzzeitig beruhigte. Das Gefühl der Erleichterung kam zurück und Maika konnte es greifen. Sie holte tief Luft.   Sie startete vor dem Netz. Dort, wo sie sich wohlfühlte. Wo sie wusste, dass sie eine klare Bereicherung fürs Team war. So weit es realisierbar war, würde sie in der hinteren Reihe gar nicht spielen, sondern durch ihre Libero ausgetauscht werden. Es würde gutgehen. Es musste gehen.     ***     Es ging nicht gut.   Nach dem Spiel war die allgemeine Stimmung im Keller. In der Umkleide war es still, bis auf die wenigen schluchzenden Stimmen, die sich nicht gut genug unter Kontrolle hatten. Beinahe alle weinten, ob die Ersatzbank oder die aktiven Spieler. Es war ein grausiges Gefühl. Objektiv betrachtet wusste Maika, dass es nicht ihre Schuld war. In einem Teamsport war nie einer allein schuld, und sie hatten alle Fehler gemacht. Aber es war ein unumstößlicher Fakt, dass Niiyama durchaus Punkte an ihrer eher mäßigen Verteidigung in der Hinterreihe gemacht hatte. Hayashi hatte nicht alles abfangen können, nicht immer für sie auf dem Feld gestanden. Sie war wütend. Enttäuscht, frustriert, verärgert. Mit Tränen in den Augen sah sie auf ihre Tasche hinunter, sah verschwommen den fröhlichen Katzenprint. Gerade hätte sie die Tasche und ihr blödes Grinsen am Liebsten gegen die Wand gepfeffert. Sie wollte alles gegen die Wand klatschen, angefangen mit ihrer Frustration und ihrem Ärger, und gleichzeitig machte sie das nur noch wütender, weil sie sich so undankbar damit fühlte. Sie hatte es noch am besten getroffen! Sie hatte doch noch zwei Jahre vor sich, in denen sie gewinnen konnte.   Anders als die anderen. Und ausgerechnet die Drittklässlerinnen trugen es mit der meisten Fassung. Obwohl sie selbst weinten oder den Tränen nahe waren, hatten sie genug Kraft, um die jüngeren Mädchen zu trösten. Maika musste ihre Kraft bewundern, während sie beobachtete, wie Yanaizumi gleich zwei weinende Erstkässlerinnen in die Arme schloss. Sie gaben ein unglaublich erbärmliches Bild ab, alle drei laut heulend, aber gleichzeitig war es irgendwie erleichternd. Numanoi und Tatamiya hatten die Köpfe zusammengesteckt und diskutierten unter Tränen und Schniefen eifrig miteinander – da wurde gerade der neue Trainingsplan geboren, da war Maika sich sicher. Und er würde noch härter werden als der letzte, noch besser, und sie würden ächzen und jammern und insgeheim dankbar darum sein. Hayashi weinte auch. Laut und herzzerreißend, wo sie bis zuletzt mit unbeirrbarem Optimismus geglänzt hatte. Jetzt war davon nichts mehr übrig, und sie vergrub das Gesicht im Schoß ihrer Freundin Han, die eine der wenigen war, die nicht nach Tränen aussah. Sie lächelte still, traurig, müde, erschöpft, aber alles in allem gefasst, während sie durch das vom Spiel völlig zerzauste Haar des anderen Mädchens strich. Maika bewunderte sie alle, die jetzt noch die Kraft hatten, Trost zu spenden, auch wenn sie gerade selbst weinten. Oder unglücklich waren. In ein oder zwei Jahren wollte sie das auch können, stark zu sein für ihr Team. Heute konnte sie es noch nicht, heute weinte sie, als gäbe es kein Morgen, und alle Selbstbeherrschung, die sie hatte, ging schon dafür drauf, dass sie nicht laut das Plärren anfing. Sie vergrub das Gesicht in den Händen, blendete ihre Umwelt aus, so gut es ging. Sie war nicht stark genug, das Elend der Anderen noch länger mit anzusehen.   „Hey.“ Als sie schließlich wieder unter Tränen aufsah, stand Tatamiya vor ihr. Sie lächelte, obwohl ihre Wimpern tränenverklebt waren. Sie sah aus, als würde sie gleich das Heulen wieder anfangen, sobald keiner mehr hinsah, aber trotzdem lächelte sie gerade. Maika zog undamenhaft die Nase hoch, presste die Lippen zusammen. Sie wollte auch aufhören zu weinen, doch es gelang ihr überhaupt nicht. Ihr Vizecaptain reichte ihr ein Stofftaschentuch und lächelte noch ein bisschen breiter. Maika kannte niemanden, der Stofftaschentücher bei sich hatte. Außer Tatamiya. Nicht einmal nur Stofftaschentücher für sich selbst, sondern für das ganze Team. Sie wusste, dass Tatamiya mindestens die Lieblingsfarben ihrer Kameradinnen abdecken konnte. Mit einem leise gemurmelten Dank nahm sie das Taschentuch entgegen, sah tränenverschleiert darauf hinunter. Da war ein Kätzchen in die Ecke gestickt. Maika schnaubte hilflos, dann lachte sie auf. Katzen. Es waren immer Katzen. Sie hatte eine riesige Plüschkatze zuhause. Katzenförmige Radiergummis. Katzen auf ihrem Notizblock. Sie konnte nicht einmal mehr festpinnen, woher die Angewohnheit kam, aber irgendwann hatte es angefangen und nicht mehr aufgehört. Da war ein Kätzchen auf ihrer Sporttasche. Ein Anhänger, der an ihrer Schultasche baumelte. Ein weiterer am Handy. Ihre Handyhülle zeigte Hello Kitty. Sie bekam zu jeder Gelegenheit etwas katziges geschenkt. Vielleicht hatte es mit ihrer Großmutter angefangen, schon vor vielen Jahren. Oder war es zu Grundschulzeiten gewesen? Das eine Geschenk, das ihr Grundschulschwarm ihr gemacht hatte…   Keine vollen drei Monate im Team, und schon hatte der Volleyballclub das auch adaptiert. Es brachte Maika wieder zum Lachen, als sie auf das Taschentuch sah, auf dem sich dunkle Flecken von ihren Tränen breitgemacht hatten. Katzen. Immer Katzen. Wahrscheinlich würde auf ihrem Grabstein noch eine Katze sein! „Tatamiya-San?“ „Hm?“ Sie blinzelte. Irgendwann zwischen Lachen, Weinen und Katzen waren ihre Tränen so langsam versiegt, hinterließen nur noch das eklige Gefühl von verklebten, feuchten Wimpern und trocknenden Tränenspuren auf ihrem Gesicht. „Darf ich dir ein Geheimnis verraten?“ Sie ahnte, es würde nicht lange ein Geheimnis bleiben. Tatamiya war nicht gut in solchen Dingen. Aber der bemüht gefasste Blick der Älteren hellte sich auf bei ihren Worten, und das war Maika die ganze Sache wert. „Immer!“ Außerdem war es vielleicht leichter so. Irgendwie schaffte sie es sonst nie, etwas zu sagen – und so brauchte sie nur einmal erklären.   „Ich mag gar keine Katzen.“ August • Flashback ------------------ Die Sonne schien glühend heiß vom Himmel, der strahlend blau und so grell war, dass ein Blick hinauf schon in den Augen schmerzte. Zikaden zirpten, so laut, dass es ohrenbetäubend wurde. Die ganze Welt leuchtete beinahe künstlich grell, die Farben übersättigt. Die Luft flimmerte vor Hitze. Hochsommer. Es war diese Zeit des Jahres, die in Hotaru den Wunsch weckte, sich irgendwo zu verstecken, bis die drückende Hitze verschwand – und mit ihr der Überschuss an Erinnerungen, der dazu führte, dass sie so sentimental wurde, dass sie manchmal in einer Tour seufzte. Es machte sie schwermütig und träge. Sentimental sein war so unglaublich erschöpfend. Sie suchte schattige Plätzchen, weil Sonnenschein und blauer Himmel sie an ein Leben erinnerten, das sie hinter sich gelassen hatte.   Den größten Teil ihres Lebens hatte sie in der Präfektur Hyougo verbracht. Es war im Sommer ihres dritten Mittelschuljahres gewesen, dass sie umgezogen war, weil ihr Vater versetzt worden war. Von Hyougo nach Miyagi, und nun war sie hier, ohne ihre Kindheitsfreunde, ohne die vertrauten Schlupfwinkel.   Ohne Icchan.   Ihr letzter Tag in der alten Heimat war ein glühend heißer Augusttag gewesen. Die Sonne hatte gnadenlos auf ihren Kopf niedergebrannt, dass sie Kopfschmerzen davon bekommen hatte. Oder war es wegen der krampfhaft unterdrückten Tränen gewesen? Dem dröhnenden Lärm der Zikaden? Vielleicht war es auch von allem etwas gewesen. „Wir können uns in den Ferien sehen“, hatte Icchan gesagt und gelächelt. Das grelle Licht malte harte Schatten auf ihr Gesicht und gab ihr einen seltsam unwirklichen Beigeschmack. Als wäre sie nur noch eine Erinnerung, dabei war es so weit doch noch nicht gekommen. Sie war schon immer die Stärkere von ihnen beiden gewesen, die Optimistin, die hoffnungslose Träumerin, die in allem etwas Positives sah. Hotaru hatte genickt, obwohl sie schon damals nicht daran geglaubt hatte. Ferien gehörten dem Clubtraining oder ihrer Familie, so war das schon immer gewesen, und so würde das bleiben, auch wenn Clubtraining zukünftig nicht mehr Icchan bedeutete. Icchan wusste das auch. Aber die Realität war leichter, wenn man sich vorgaukelte, sie sähe anders aus. „Und bei Turnieren! Du spielst doch weiter, nicht?“ Wieder hatte Hotaru genickt, aber diesmal hatte sie es ernst gemeint. Sie würde um kein Geld der Welt mit dem Volleyball aufhören, denn ihre schönsten Erinnerungen waren mit dem Sport verknüpft. „Gut. Also sehen wir uns wieder!“ Icchan strahlte immer noch. Sie zog etwas aus ihrer Tasche, als hätte sie nur darauf gewartet. Es war ein Armband, selbstgeknüpft, gemessen daran, wie unsauber es an einigen Stellen aussah. Hotaru kannte es. Icchan hatte es als kleines Kind auf einem Straßenfest gekauft und es war seitdem ihr persönlicher Schatz gewesen. „Wir sehen uns wieder! Auf dem Spielfeld. Auf der Uni. Wir bleiben Freunde, Hotaru!“ Sie drückte es in Hotarus Hand und sah sie beinahe feierlich ernst an.   „Das ist ein Versprechen.“   Unser Leben ist immer noch verbunden.   Sie hatten sich in den Ferien nicht gesehen.   Sie hatten es bisher auch beide nicht zu einem nationalen Turnier geschafft.   Weil Hotaru es trug, wann immer es möglich war, war das Armband inzwischen abgegriffen. Die grellen Farben waren verblasst, wie ihre Erinnerungen an das alte Haus, in dem sie gelebt hatte, an den alten Schulweg und die alte Schuluniform. Selbst die Erinnerung an ihr letztes Treffen mit Icchan war ausgeblichen wie ein Buch, das den Sommer im Schaufenster eines Ladens verbrachte. Sie telefonierten oft. Schrieben E-Mails oder chatteten. Es war nicht, als wäre Icchan aus ihrem Leben verschwunden, sie hatte aktuelle Fotos, sie wusste, was Icchan tat. Hörte von ihrem neuen Team, ihren neuen Freunden. Und trotzdem waren drückend heiße Sommertage eine ermüdende Erinnerung. Sie waren beide in den Vorrunden zur Inter High rausgeflogen. Hatten sich versprochen, sich zur Spring High mehr anzustrengen. Wie letztes Jahr schon.   Wie nächstes Jahr.   Nächstes Jahr. Letzte Chance. Schon vor dem Umzug hatte Hotaru gewusst, auf welche Uni sie wollte – gemeinsam mit Icchan. Daran änderte sich nichts. Das war Teil ihres Versprechens. Aber sie wollte auch den anderen Teil einlösen. Sie wollte Icchan auf dem Spielfeld wiedersehen, als Freundin, als Rivalin, sie wollte diese losen Fäden, die ihr jeweiliges Schulsportleben gerade waren, packen und miteinander verknoten. Icchan gehörte in jeden Teil ihres Lebens, nicht nur nach Hyougo.   Sie seufzte tief, ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte an die weiße Decke ihres Zimmers.   Es war leichter geworden. Sie vermisste Icchan immer noch schmerzlich, aber sie war glücklich mit ihrem neuen Team und wollte es um nichts in der Welt eintauschen. Du würdest sie mögen, Icchan. Ganz bestimmt. Sie seufzte noch einmal, richtete sich wieder auf. Auf ihrem Schreibtisch stand eine transparente Kunststoffbox, die sie von innen mit Geschenkpapier ausgekleidet hatte. Durch das leicht milchige Material leuchteten ihr Schmetterlinge und Blumen entgegen. Sie sah auf ihr linkes Handgelenk, wo das Armband war, an den Enden schon ausgefranst. Inzwischen hatte sie Mühe, es wieder zuzuknoten, wenn sie es abnahm. Hotaru stieß langsam die Luft aus. Sie liebte dieses Armband. Über alles. Es war ihr kostbarster Besitz, und genau deshalb war sie der Überzeugung, dass es besser war, wenn sie es nicht mehr trug. Das Versprechen mit Icchan trug sie im Herzen, mehr noch als am Handgelenk. Behutsam löste sie das Band, legte es in die Box, die bis einen bunten Umschlag noch vollkommen leer gewesen war.   Ein neues Versprechen.   Nächstes Jahr würden sie gewinnen. Nächstes Jahr, wenn sie, wie schon längst einstimmig beschlossen worden war, Vize-Captain des Teams sein würde, an der Seite von dann-Captain Ritsu. Nächstes Jahr würden sie zur Nationalmeisterschaft kommen, und Hotaru würde Icchan all ihre neuen Freunde, ihr neues Team vorstellen können, auf dass ihre bunte Mädchenclique um Icchan anwachsen würde. Es ging schon lange nicht mehr nur um Icchan. Hotaru hatte zwei große Teile ihres Lebens, die bisher getrennt waren, und sie wollte, dass sie zusammenfanden, wie die ausgefransten Enden ihres Armbands, wenn sie es am Handgelenk verknotete. Es wurde Zeit, lose Fäden zu verknüpfen. Nicht nur einmal kurzzeitig, sondern nachhaltig, für die Zukunft. Deshalb machte es nur Sinn, dass es hier landete. Wenn sie es sich zurückholte, würde Icchan dabei sein.   „Warte in der Zukunft auf mich“, murmelte sie ihrem Schatz zu, ehe sie den Deckel der Box schloss. Sie seufzte noch einmal, sah hinaus in den grellen, strahlenden Sommertag.   Und lächelte.  Oktober • Restart ----------------- Es war das einzige freie Wochenende im Oktober, das sie haben würden. So kurz vor den Vorrunden der Spring High ging natürlich Training über alles. Futaba stand dahinter. Ehrlich! Sie wollte immerhin gewinnen, keine Frage. Aber Futaba stand auch sehr dahinter, zwischendurch einmal Urlaub davon zu haben, dem Ball hinterher zu hetzen, als gäbe es kein Morgen. Auch wenn man ihr das selten glaubte, wenn man sie so sah, sie hatte auch ein Leben außerhalb von Volleyball.   Und dieses Leben führte sie gerade hinaus in den nächsten Wald.   Futaba mochte den Herbst nicht sonderlich. Regen und Kälte und Wind waren noch nie ihre Favoriten gewesen, und auch wenn das bunte Laub hübsch war, das half einfach selten gegen all die Kontrapunkte, die die Jahreszeit mit sich brachte. Sie mochte den Sommer. Sie mochte Gluthitze und kühlende Sommerregen, die aber noch warm genug waren, um einfach nicht zu stören. Sie liebte Strandspaziergänge und das grelle Licht, das in den Augen brannte und die ganze Welt ein bisschen zu hell leuchten ließ. Sie mochte den Frühling, sobald er anfing, warm zu werden, und aufhörte, eklig zu sein. Futaba mochte den Herbst nicht. Das Problem damit war – Ricchan mochte ihn. Ricchan mochte buntes Laub und goldene Sonnenstrahlen, die gerade so noch wärmten, aber nicht mehr überhitzten. Ricchan mochte die Geräuschkulisse eines lauen Herbsttages, wo Blätter unter den Füßen raschelten und das sommerliche Insektenkonzert längst Geschichte war. (Futaba liebte Käfersammeln. Sie vermisste den Zikadenlärm, wenn er zu verstummen begann.)   Zu Ricchan passte es. Ricchan war selbst ein bisschen wie der Herbst, fand Futaba. Ricchan war wie ein stillerer, eleganterer Sommer, war goldene Sonnenstrahlen und leuchtendes Herbstlaub, war leises Blätterrascheln und manchmal auch ein stürmisches Unwetter, wenn man sie verärgerte. Futaba, wenn es danach ging, war eher der Sommer. Grell und laut und viel zu hektisch, aber simpel und geradlinig.   Eigentlich war der Punkt, an dem Sommer und Herbst sich trafen, mit Abstand die schönste Zeit im Jahr.   Ricchan wartete schon vor den ersten Ausläufern des Waldes. Zwischen glühend roten Herbstblättern und strahlendem Sonnenschein stand sie da, mehr als einen Kopf größer als Futaba, schlank und schön geformt. Außerhalb der Schule trug sie Hosen, und trotzdem sah sie damenhafter aus, als Futaba in ihrem ordentlichen Faltenrock und den hohen Absätzen das jemals könnte. Sie strahlte, als Ricchan sich ihr zuwandte, ihr Lächeln erinnerte wieder einmal viel zu sehr an die Mona Lisa. Geheimnisvoll, aber gerade deshalb so anziehend. Futaba wollte ergründen, was dahintersteckte. Sie sah wunderschön aus. Viel mehr wie ein Model als eine willkürliche High-School-Schülerin. Fand Futaba zumindest. Tatamiya hatte sie herzlich ausgelacht, als sie das einmal kommentiert hatte; „Nicht jeder, der groß ist, ist automatisch Model!“ Objektiv betrachtet war Ricchan also nicht strahlend schön, vermutete Futaba. Subjektiv betrachtet machte ihr Herz trotzdem einen riesigen Hüpfer von ihrem Anblick. Jedes Mal, egal, wie oft sie sie sah. „Ricchan~!“ Ricchans Mona-Lisa-Lächeln wurde wärmer, als sie sich herabbeugte, damit sie sich überhaupt ordentlich zur Begrüßung umarmen konnten. Trotz der hohen Absätze war der Größenunterschied zwischen ihnen einfach immer noch viel zu deutlich. Es ärgerte Futaba ein bisschen, denn das Opfer, das sie mit den Absätzen brachte – sie büßte Beweglichkeit und Tempo ein! –, schien so unselig fruchtlos. Ricchan bot ihr den Arm und Futaba hängte sich augenblicklich bei ihr ein.   Es ist kein Date. Manchmal musste Futaba sich daran erinnern. Ricchan war ihre beste Freundin. Über etwas anderes hatten sie noch nie gesprochen, auch wenn sie sich Valentinsschokolade schenkten, beim Shoppen händchenhaltend durch die Stadt spazierten, und immer wieder in den kitschigsten Cafés Kuchen essen gingen. Manchmal trafen ihre Lippen sich. Zufällig. Nebensächlich, selbstverständlich. Es gehörte einfach dazu. Zwanglos. Keine tiefere Bedeutung. Und Futaba war nicht mutig genug, das zu ändern. Nächstes Jahr.   Es war seit zwei Jahren schon nächstes Jahr.   „Futaba.“ Da war etwas in der Art, wie Ricchan ihren Namen rief, das Futaba immer unnötig breit grinsen ließ. Sie sah zu ihrer Freundin auf, deren Blick ruhig geradeaus gerichtet war. Futaba folgte, doch mehr als ein ewiges Labyrinth aus rotem Laub und braunem Holz und goldenem Sonnenlicht erblickte sie nicht. Es war hübsch, aber sie hätte den Anblick jederzeit gegen Ricchans Lächeln eingetauscht. „Hm?“ Ricchan schwieg, zuerst. Sie zog den Arm zurück, an dem Futaba baumelte, ergriff stattdessen ihre Hand. Ricchans Finger waren lang und schlank und elegant. Futaba mochte das Gefühl, ihre Hand zu halten – zumindest solange, wie sie nicht darüber nachdachte, wie winzig ihre eigene Hand im Vergleich war. „Schaffen wir’s?“ Sie wurde unbewusst langsamer, während ihre Gedanken wanderten. Futaba brauchte keine Erklärung, um die Frage zu verstehen. Schafften sie es? Sie konnten weit kommen. Aber früher oder später… Gegen Niiyama? Niiyama, deren Drittklässler auch noch geblieben waren? Sie blieb stehen, zwischen buntem Herbstlaub und Blätterrascheln, das ein auffrischender Herbstwind mit sich brachte. Sah hinauf in den Himmel. Ein paar rote Blätter segelten in ihrem Augenwinkel zu Boden. „Nein“, sagte sie schließlich nach einem viel zu langen Schweigen. Sie sah ernsthaft zu Ricchan auf, den Mund zu einem entschlossenen, fast grimmigen Strich verzogen. „Aber das hindert uns nicht daran, trotzdem unser Bestes zu geben. Am Ende des Tages ist doch am Wichtigsten, dass wir noch in den Spiegel sehen können, ganz egal, wie die Resultate sind.“   Sagte sie jetzt. Sie wusste trotzdem, sie würde wieder Rotz und Wasser weinen, wenn es vorbei war. Ricchan wusste es auch, das verriet ihr amüsiertes Kopfschütteln, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte und Futaba einfach mit sich zog. Über knisterndes Herbstlaub und goldgesprenkelte Wege. „Es zu wissen macht es nicht leichter“, sagte Ricchan leise. Futaba nickte, ohne wirklich etwas zu erwidern zu wissen. Es war schwierig. Sie würde trotzdem nicht von vornherein die Flinte ins Korn werfen können. Sie würde sich trotzdem daran klammern, dass jede Regel eine Ausnahme hatte, und dass jede Erwartung falsch sein konnte. Sie würde alles geben, sie würde weinen und fluchen, wenn sie trotzdem verloren, und am nächsten Tag würde sie mit aller Energie weitermachen können, weil da keine Reue war, die sie niederdrückte. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Ricchan sprach nie viel. Futaba war oft eine Plappertasche. Sie mochte es. Sie ergänzten sich irgendwie gut. Manchmal mochte Futaba es außerdem, still zu sein. Besonders, wenn sie mit Ricchan zusammen war. Es war entspannend. Das Rascheln der Blätter unter ihren Schritten klang hübsch, der Wind in den Bäumen genauso. Futaba seufzte zufrieden. So wenig sie den Herbst im Ganzen mochte – Herbst und Ricchan waren eine wunderbare Kombi.   Ihre Gedanken begannen zu wandern, während sie weiter schweigend durch das Herbstlaub spazierten. Zu der Plastikbox, die bei ihr Zuhause auf dem Schreibtisch stand. Sie hatte sie zusammen mit der Erklärung, was zum Henker es damit auf sich hatte, von Numanoi bekommen. Wenn sie fertig war, würde sie sie an Ricchan weitergeben. Und dann würde es weitergehen. Maika brauchte sie noch. Die Idee war großartig. Futaba war sofort Feuer und Flamme dafür gewesen, und auch jetzt löste die Erinnerung Begeisterung in ihr aus. Der einzige Minuspunkt war, dass sie viel zu ungeduldig war, um so lange zu warten. Ein Regentropfen traf sie an der Stirn. Verdutzt blieb Futaba stehen und streckte die Hand aus. Sie sah hinauf in den Himmel, erblickte eine schwere, dicke Regenwolke, die sich offenbar genau über ihnen befand. Irgendwo war noch genug Raum für Sonnenlicht, denn die goldenen Sprenkel vom Boden waren noch nicht ganz verschwunden. „Wie gut, dass ich einen Schirm dabei habe“, murmelte Ricchan. Sie warf einen Blick in Futabas Richtung, der das Mädchen sofort herzlich auflachen ließ. Natürlich hatte sie ihren Schirm vergessen. Sie vergaß ihn immer. Ricchan wusste es, deshalb war Ricchans Schirm groß genug für zwei. Sie hatte ihn im Frühjahr neu gekauft, extra groß, und hatte völlig nüchtern erklärt, dass es nur Futabas Schuld war. Es störte sie nicht, schuld zu sein. „Wir sollten zurückgehen, huh?“   Das Prasseln des Regens war bald ohrenbetäubend laut. Was als harmloses Tröpfeln begonnen hatte, war längst ein ausgewachsener Regenschauer der ganz ätzenden Art. Futaba lief so eng an Ricchan gedrückt, wie möglich war, um sich bloß vor allen kalten Tropfen zu beschützen. Es war keine schöne Geräuschkulisse. „Hey. Ricchan, hast du eigentlich eine Ahnung, seit wann Tatamiya-Senpai Oikawa-San aufgegeben hat? Und warum?“ Es war das erste Thema, das ihr einfiel. Hauptsache, es übertönte den Regen. Und es war kein schlechtes Thema; Ricchan lachte leise. „Seit dem Trainingscamp zur Golden Week, glaube ich? Jedenfalls hab ich seit dem nichts mehr von Anti-Oikawa-Plänen gehört. Und warum… puh. Mit dem Alter kommt die Weisheit, würde ich sagen.“ Futaba lachte herzlich, schlug eine Hand vor den Mund, um die schiere Lautstärke einzudämmen. Als sie zu Ricchan hochblickte, sah sie Amüsement auf dem hübschen Gesicht ihrer Freundin. Der Wind zerzauste Ricchans langes, glattes Haar zu einer wilden, hellen Mähne, und es war ein wunderschöner Anblick, der Futaba effektiv von allem anderen ablenkte.   Auch davon, dass der Wind stark genug wurde, um ihren Schirm zu verbiegen. Ein besonders heftiger Windstoß entriss ihnen das lädierte Teil komplett. Futaba sah großäugig zu, wie es krumm und schief im Dickicht landete. Sie wusste nicht, ob lachen oder fluchen.   Jetzt standen sie ohne jeden Schutz im Regen, der gnadenlos auf sie niederprasselte. Sie tauschten einen Blick, während um sie herum das Unwetter zunahm. War da in der Ferne ein Donnergrollen? „Ich kann auf Absätzen nicht laufen“, jammerte Futaba, zog die Schultern unzufrieden hoch. Sie hasste Unwetter. Sie mochte Blitz und Donner nicht. Noch ein Grund, den Herbst nicht zu mögen. Sommergewitter waren ja irgendwie erträglich, aber sowas hier? Nein. Ricchans Blick war nicht sonderlich mitleidig. „Du hättest keine Absätze tragen müssen“, erinnerte sie lakonisch. Und sie hatte recht, grundlegend. Ricchan hatte nie etwas gegen Futabas Körpergröße gesagt – aber es störte sie selbst! Sie wollte nicht schrecklich winzig neben Ricchan sein. Jetzt bereute sie es fast ein bisschen.   Wobei es ohnehin keinen Unterschied gemacht hätte. Ein paar Sekunden im Regen reichten, und ihre Haare klebten ihnen nass im Gesicht, die Kleidung am Körper. Eigentlich könnten sie genauso gut gemächlich zurückspazieren, wenn es nur danach ging, durchnässt waren sie eh schon. Aber es war kalt, wurde nur kälter, und da war ein neuerliches Donnergrollen, das Futaba zusammenfahren ließ. Sie wollte nicht trödeln. Sie schnaubte. Kurzentschlossen kickte sie die Stöckelschuhe von den Füßen, völlig ignorant dafür, wo im Dickicht sie landeten.   „Laufen wir.“   Sie rannten. Rannten, wobei Ricchan so viel eleganter aussah als Futaba selbst, die zwei Schritte machen musste für jeden, den ihre Freundin machte, über ihnen das Regenprasseln und Blitz und Donner im Rücken. Bis sie einen Unterstand erreicht hatten, waren sie so nass, dass es sinnlos war, sich unterzustellen. Aber trotzdem klang es attraktiver, auf den nächsten Bus nach Hause zu warten, statt jetzt noch den ganzen Weg zu laufen, also blieben sie in dem Bushäuschen, atemlos und erschöpft. Futabas Haar tropfte. Ihre Nasenspitze tropfte. Ihr Rock auch. Ricchans Jacke tropfte. Futabas Füße taten obendrein weh, und sie ließ sich ächzend auf einen der Plastiksitze fallen. Ricchan setzte sich neben sie, streckte die Beine aus. Ihre Jeans war dunkel vor Nässe. Da grollte immer noch Donner in der Ferne, aber einmal raus aus dem Wald fühlte Futaba sich zumindest etwas wohler. Wenn jetzt nur der Bus noch käme… „Kalt“, murmelte sie unzufrieden. Ricchan gab einen zustimmenden Laut von sich und legte den Arm um sie. Sich nass aneinanderzudrücken machte die Kälte im ersten Moment nur noch schlimmer, aber Futaba fühlte sich zum ersten Mal seit dem ersten Donnergrollen wieder zufrieden, lehnte den Kopf an Ricchans Schulter und zog die Knie an, bis ihre Fersen Platz auf ihrer Sitzkante fanden. Einmal an die Nässe zwischen ihnen gewöhnt war Ricchans Nähe warm, und sie duftete nach irgendetwas blumigem, das Futaba nicht zuordnen konnte, aber das typisch Ricchan war. Kühle Lippen pressten gegen ihre Stirn, und Futaba sah blinzelnd auf. Im Gegensatz zu ihr sah Ricchan nicht einmal ansatzweise unzufrieden aus. Ricchan mochte Regenstürme und Gewitter. Ricchan war der Herbst, natürlich fühlte sie sich wohl.   „Wann willst du eigentlich deine Schuhe wiederholen?“   Ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Lachen. Futaba sah sie einen Moment lang verdutzt an, blickte dann erst auf ihre schmutzignassen Strümpfe hinunter, sah zu Ricchan zurück. Und dann lachte sie. Ricchan stimmte mit ein, ungewohnt laut und kräftig. Futabas Stirn kollidierte mit Ricchans Schulter, als sie sich haltsuchend an sie klammerte, trotz der Kälte war ihr plötzlich beinahe unerträglich warm und ihr Herz war sicher auf doppelte Größe angeschwollen. Sie küsste Ricchan, eine Geste, die entsetzlich scheiterte, weil sie so sehr lachten, weil die Regennässe auf ihrer Haut alles kalt und klebrig machte, und trotzdem fanden ihre Lippen wieder zueinander, nur um sich erneut in herzlichem Gelächter zu trennen. Zwischen Regenprasseln, Donnergrollen und dem Echo ihres Lachens beschloss Futaba, dass sie nächstes Jahr dringend aus ihrem Vokabular streichen musste. November • Turn The Page ------------------------ Als Kind hatte sie ein Lieblingslied gehabt, das im Wesentlichen den Weg nach Nimmerland beschrieb. Rechts am zweiten Stern vorbei, und dann weiter bis zur Morgendämmerung… irgendwie so war es gewesen. Es war eins der wenigen Dinge, die sie aus der alten Heimat mitgenommen hatte, als sie nach Japan gezogen war, und jetzt dachte sie mehr denn je daran, wie schön es wäre, ewig jung zu bleiben. Selbst ein Peter Pan zu sein. Drei Jahre High School waren einfach weit entfernt davon, genug zu sein. Wie sollte man denn alles erreichen, was man wollte? Freunde. Liebe. Erfolg. Gute Noten. Irgendetwas litt doch immer! Und es gab so vieles, an dem sie nicht einmal selbst Schuld waren, wenn es nicht klappte. Sie hatten wieder verloren. Halbfinale. Wieder nicht genug.   Nächstes Jahr. Würde das helfen? Wenn sie noch ein Jahr mehr hätte…   Seufzend sah sie hinauf in den Himmel, trüb von Wolken, dunkel, obwohl es noch zu früh für den Sonnenuntergang war. Irgendwo da oben war er, dieser zweite Stern, und wenn sie ihm folgte… würde sie ihr persönliches Nimmerland finden können? Ein ewiges High-School-Leben.   Es war nicht  nur der Volleyball.   Allgemein fühlte María sich nicht, als wäre sie bereit fürs Erwachsenwerden. Studium. Eigene Wohnung. Berufsleben. Raus aus dem gewohnten Umfeld, weg in die Fremde. Neue Menschen, neue Freunde, alte Freunde verlieren, wie es schon mit Ende der Mittelschulzeit gewesen war. Es war in Ordnung gewesen. Aber dieses Mal – sie wollte nicht, dass es vorbeiging. Am Ende der Mittelschule war sie aufgeregt gewesen und hatte das neue Leben kaum erwarten können. Diesmal wollte sie lieber einem Stern ins Nirgendwo nachjagen, als den finalen Schritt durchs Schultor zu tun.   „Es macht keinen Sinn, noch im Club zu bleiben, oder?“   Tsuyuha unterbrach die Stille, die seit gefühlter Ewigkeit auf ihnen gelegen hatte. Sie saßen auf einer Bank auf dem Schulhof, weil sie trotz wegen Renovierungen ausfallendem Training noch nicht hatten nach  Hause gehen wollen. Mit nichts als ihren Gedanken als Beschäftigung hatte die kürzliche Niederlage sie schnell wieder eingeholt, war kurz Gesprächsthema gewesen, ehe sie alle drei in den dunklen Ecken ihres Verstandes verlorengegangen waren, jede zweifelsohne schlussendlich mit den gleichen Sorgen beschäftigt. „Nope“, gab Nozomi zurück. Sie schnaufte, streckte die Beine aus und lehnte sich zurück, dass sie beinahe hintenüberfiel. Sie blies die Wangen auf wie ein trotziges Kleinkind. „Aber ich will bleiben. Wir gehen doch früh genug! Es sind nur noch ein paar Monate, und–“ „Ich möchte auch bleiben“, gestand María. Sie hob die Schultern. Selbst wenn es keinen Unterschied machte. Sie erreichten dieses Jahr eh nichts mehr. Aber die Mädels im Team, die waren mehr als Teamkameraden. Sie waren Freundinnen.   Und zu bleiben war ein bisschen wie ein eigenes, persönliches Nimmerland. Solange sich nichts änderte, konnte sie immer noch hoffen, dass das Ende niemals kam. Noch ein bisschen weglaufen vor dem Erwachsenenleben, das sie nicht wollte und das sie ängstigte.   Eine Weile kehrte die Stille wieder. Dann begannen die Überlegungen. Wie lange man sich an sie erinnern würde? Wie viele Jahre würden vergehen, bis niemand mehr da war, der auch nur ihre Namen kannte? Drei Jahre. In drei Jahren waren auch die aktuellen Erstklässler fort, die letzten Zeugen ihrer Existenz, und damit würden sie verschwinden, wie schon Generationen von Senpai vor ihnen verschwunden waren. Es war ein trauriger Gedanke. Einsam. Erdrückend. Ernüchternd, irgendwie. Es war der Lauf der Dinge. Sie selbst waren nicht besser. María hatte gerade noch Email-Kontakt mit einigen Ehemaligen, manchmal telefonierte man, aber darüber hinaus? Selbst Ezaki hatte sie seit deren Schulabschluss nur noch drei Mal privat gesehen, obwohl sie ihnen immer sehr nahe gestanden hatte. Es war einfach so. Es war normal. Es konnte nicht einfach bleiben, wie es war. Sie würden sich weiterentwickeln, verändern, auf neuen Pfaden wandern, statt sich ewig im Kreis zu drehen. María mochte Kreise.   Zweiter Stern rechts, weiter bis zur Morgendämmerung. Und die Straße, die würde sich dann von selbst finden. Wenn es doch so einfach wäre…   Würden sie in ein paar Jahren wirklich noch hieran zurückdenken? An ihr altes Team? Die Leute, mit denen sie heute noch lachten und weinten? War das Vergessen nicht letztlich etwas Gegenseitiges? Nozomis jammernde Gedanken waren deprimierend ernüchternd. Sie hatte Erinnerungen an ihre Mittelschulfreunde. Maximal losen Kontakt. Aber es war nichts, das ihr heute noch viel Wichtigkeit hatte. In ein paar Jahren… Sie schüttelte den Kopf. Schüttelte den Gedanken ab und konnte ihn trotzdem nicht ganz loswerden. „In ein paar Jahren“, griff Tsuyuha den Gesprächsfaden wieder auf, statt ihn fallen zu lassen. Sie stand von der Bank auf und baute sich vor ihren Freundinnen auf. Mit ihrem selbstbewussten Lächeln hatte sie gerade wieder eine erschreckende Ähnlichkeit zu Ezaki. „In ein paar Jahren kehren wir zurück. Nicht so recht hierher, aber zum Team. Ist das nicht etwas? Und klar, dann sind wir andere Menschen, und haben uns verändert, aber dann können wir immer noch aufarbeiten und aufholen und Freunde sein! Das ist genug.“ Sie grinste breit, und ihre Augen funkelten. Wie Sterne. Nozomis Lachen, das laut den trüben Novembertag erhellte, war wie die Morgendämmerung nach einer langen, dunklen Nacht. Die Straße war eine einfache, mit Geschenkpapier ausgekleidete Plastikbox. María stimmte in Nozomis Lachen mit ein, ignorierend, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Es war okay.   Sie hatte ihr persönliches Nimmerland schon längst. März • Footnote --------------- Letzter Tag Clubaktivitäten. Das Training war vorbei, und trotzdem saßen sie noch im Clubraum, einen großen Stapel Bento-Boxen auf dem niedrigen Tisch verteilt. Der Geruch von frittiertem Gemüse und Reis hing in der Luft. Es war laut. Die Drittklässlerinnen waren permanent am Quatschen, als könnten sie, wenn sie nur das Reden nicht aufhörten, den unvermeidlichen Abschied noch ein Stück weiter von sich schieben. Ritsu war nicht undankbar darum – sie war nicht gut in Abschieden. Unterkühlt, warf man ihr manchmal vor, weil sie allgemein nicht gerade laut darin war, Emotionen zu zeigen. Sie weinte nicht. Sie wurde selten laut. Ihr Lachen war mehr ein amüsiertes Heben ihrer Mundwinkel, aber selten viel mehr darüber hinaus. Bisher hatte es das Team nicht gestört. Sie war froh darum.   Sie war Captain des Teams, neuerdings. Wirklich zum Tragen würde es erst ab nächstem Jahr kommen, weil Numanoi und die anderen Drittklässlerinnen komplett bis zum Schluss geblieben waren. Hotaru als Vize war beruhigend. Der emotionale Beistand, der sie nicht sein konnte. Sie war die beste Wahl, fand Ritsu, auch wenn sie an ihrer Unsicherheit arbeiten musste. Es würde vermutlich mit der Notwendigkeit ganz von allein kommen. Sie sah sich um. Noch waren sie alle mit dem Essen beschäftigt, das Futaba mitgebracht hatte. Nicht mehr lange. Ritsu atmete tief durch, als Numanoi ihre Bentobox als eine der letzten wieder verschloss und zur Seite stellte. Sie lächelte unter zerzaustem, dunklem Haar, die stille Ernsthaftigkeit, die dabei auf ihren Zügen lag, völlig ungewohnt und in gleichem Maße beruhigend wie aus dem Takt bringend. „Es wird Zeit.“   Es war nicht einmal der letzte Schultag. Der ganz endgültige Abschied würde also noch kommen. Aber es war der letzte Schultag, den sie geschlossen als Team verbrachten – bedeutend wichtiger also. Numanois Ansage führte dazu, dass jeder begann, sein Zeug einzupacken. Bentoboxen wurden wieder ordentlich gestapelt und in Futabas Taschen gepackt, der Clubraum extra penibel aufgeräumt, bevor er für den mickrigen Rest des Schujahres verschlossen wurde. Es war Zeitschinden. Das ganze Jahr über hatte sich niemand darum gekümmert, oben auf den Schränken Staub zu wischen. Das ganze nächste Jahr über würde es wieder niemand tun. Trotz aller Trödelei standen sie irgendwann am Schultor, wo sich ihre Wege trennen würden. Kleingrüppchen würden in verschiedene Richtungen weitermarschieren. „Also“, begann Numanoi. Sie sah beruhigend gefasst aus, anders als Tatamiya, deren Augen jetzt schon vor Tränen überliefen. „Passt auf euch auf. Passt auf das Team auf. Wir werden eure Spiele sehen, und wehe, ihr enttäuscht uns!“ Jemand lachte erstickt auf. Es war Hotaru, die sich im nächsten Moment die Hände vor den Mund schlug, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Futabas Gesicht drückte gegen Ritsus Arm. Sie war sich sicher, bald einen nassen Fleck genau dort zu haben.   Numanois Fassung brach keine Minute später.   Als sie sich schließlich wirklich trennten, waren fast alle Gesichter nass. Ritsu war eine der wenigen, die mit trockenen Augen davongekommen war, anders als Futaba, die immer noch weinte, egal, wie oft sie sich die Tränen wegwischte.  „Kaum zu glauben, dass das nächstes Jahr wir sind“, murmelte sie, und sie klang dabei, als hätte sie den heftigsten Schnupfen. Ritsu musste sich ein Schmunzeln verkneifen, so viel Mitleid sie auch hatte. Etwas an der Art, wie Futaba klang, wenn sie weinte, war einfach seltsam amüsierend. Sie reichte schweigend ein Taschentuch hinüber – es war ein Stofftaschentuch, das sie zum Abschied von Tatamiya bekommen hatte. Futaba lachte bei dem Anblick, dann weinte sie noch heftiger, und an irgendetwas Gesprächsähnliches war gar nicht mehr zu denken. Sie vergrub das Gesicht in dem gerüschten Stoff und Ritsu musste sie festhalten, damit sie nicht gegen eine Laterne lief. Nächstes Jahr waren sie das. Die gehen und nicht mehr wiederkommen würden. Der Gedanke, der Futaba offensichtlich mitnahm, war für Ritsu nicht sehr erschreckend. Es war normal. Von Grundschule zu Mittelschule, von Mittelschule zu High School, von High School schließlich ins Berufsleben oder zur Universität. Sie würde studieren. Im Ausland, zu größten Teilen, wenn sie schaffte, was sie sich vorgenommen hatte. Ihre Wunsch-Universität war in Tokyo, was bedeutete, sie würde ihr Leben in Miyagi  hinter sich lassen müssen.   „Ich werde das Team so vermissen… ich will gar nicht daran denken!“ Futaba klingt immer noch nach Schnupfen. Sie weinte und schniefte, rieb sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht. Ritsu strich ein paar nassgeweinte Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. „Dann lass es. Du hast noch so viel Zeit, Futaba.“ Futaba lachte unselig. „Aber ich kann mich doch schon mal mental drauf vorbereiten“, meinte sie kläglich, und da waren wieder Tränen. In ihrem Lachen steckte Verzweiflung. „Dabei wird’s eigentlich nicht so schlimm. Ich meine, die Meisten bleiben in der Gegend, ne? Wir können uns ja wiedersehen!“ Jetzt wurde sie still. Zog die Schultern hoch. Sie sah winzig aus in ihrem Elend, mehr noch als sonst, und so sehr Ritsu ihre Tränen gewöhnt war, es war selten, Futaba ehrlich unglücklich zu sehen. Langfristig unglücklich. Eigentlich war sie jemand, der unheimlich schnell wieder auf die Beine kam. Große, nasse Augen blickten kurz zu Ritsu auf, wandten sich dann wieder ab, als lautlos noch mehr Tränen tropften. Es war auch ungewohnt, sie so still vor sich zu haben, und ihre nächsten Worte hörte Ritsu kaum: „Du bist nicht mehr da.“   Natürlich hatten sie darüber geredet. Vor allem darüber, wie sie sich trotz neuer Distanz noch sehen konnten, denn für Futaba kam eine Uni in Tokyo einfach nicht infrage. Es war simpel. Es gab Wochenenden und Ferien, und die Fahrtstrecke mochte lang sein, aber nicht unbewältigbar. Sie hatten darüber geredet, aber Ritsu hatte noch nie darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutete. Ganz banal – sie würden sich nicht mehr so oft sehen. Keine gemeinsamen Schulwege, kein gemeinsames Lernen am Nachmittag. Kein lautes Gelächter und wildes Geplapper mehr, das die Stille ausfüllte. Wahrscheinlich würden sie täglich telefonieren, und Futaba würde trotzdem weinen, dass sie zu wenig miteinander sprachen. Kein spontanes Händchenhalten. Keine Küsse und Umarmungen, ohne jemals effektiv auszusprechen, warum eigentlich.   Ritsu würde es vermissen. Alles davon. Das Geplapper, die Nähe. Und, obwohl es eigentlich nicht Priorität sein sollte, die Bento-Boxen, die Futaba ihr seit Jahren jeden Tag mitbrachte. Es war nicht, dass Ritsu selbst nicht kochen konnte – eher im Gegenteil. Trotzdem waren da Futabas Bentos, und Ritsu wäre nie auf die Idee gekommen, es zu ändern. Mehr als in allem Händchenhalten und allen Küssen hatte in der Geste etwas so selbstverständlich gemeinsames, zusammengehörendes gesteckt, wurde ihr gerade bewusst. Eine tägliche Bescheinigung dafür, dass sie längst zusammengehörten, egal, wie unausgesprochen es war. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, eigene Bento-Boxen herzurichten. Es würde so fremd aussehen. So falsch. Nicht nur, weil Futaba eine ganz eigene Art zu kochen hatte. Irgendetwas in den Gewürzen, das die ganze Sache so vollkommen Futaba machte, dass sie immer das Bild ihrer kleinen Freundin vor Augen hatte, wenn ihr Essen vor ihr stand. Das Gefühl würde fehlen. Die Selbstverständlichkeit des Zusammengehörens, mit der Futaba ihr jeden Tag ihr Bento vor die Nase gesetzt hatte, wie ihre Mutter es mit ihrem Vater tat. Es war so banal. Wieso brachte sie ausgerechnet das jetzt aus der Fassung? Sie holte tief Luft, sah zu Futaba hinunter, die inzwischen unzufrieden den Boden vor ihren Füßen traktierte. „Wir sehen uns doch wieder“, gab sie zurück, und obwohl sie eher aufmunternd hatte klingen wollen, klang sie vielmehr gleichmütig wie immer. „Wenn es dich aufheitert, bekommst du meinen Lieblingsteddy, um ihn vollzuquatschen, wenn ich abends aufgelegt habe.“ „Wirklich?!“ Es half. Futabas trüber Blick hellte sich auf und sie begann zu strahlen. Ritsu grinste flüchtig, lehnte sich zu ihr vor. „Als Gegenleistung will ich eine Kopie deiner Rezeptbox.“ „Meine Rezepte? Du willst ernsthaft nur meine Rezepte?“ Jetzt sah Futaba empört aus. Winzig und empört, wie ein aufgeplusterter kleiner Vogel. Sie mochte den Gedanken, den Geruch von Futabas Kochkünsten auch in ihrer neuen Wohnung haben zu können. Ein bisschen Heimat für die Fremde. Ritsu lachte leise und einem jähen Impuls folgend blieb sie stehen, zog Futaba näher zu sich und drückte ihr einen festen, eindeutigen Kuss auf die Lippen. Sie hatten nicht mehr so viel Zeit. Was übrig war, musste genutzt werden, nicht wahr?   „Liebe geht eben durch den Magen, Futaba.“ Zehn Jahre später • Epilogue ---------------------------- Die alte Eiche stand im Garten von Tsuyuhas Elternhaus. Sie hatten sich damals darauf geeinigt, weil es der Platz gewesen war, der sich am Bequemsten wieder erreichen ließ. Die Plastikbox mit dem Geschenkpapier im Inneren war schmutzig und erdverkrustet, aber sie war immer noch luftdicht verschlossen, als Hayashi sie aus dem kleinen Erdloch hob, das sie gerade gebuddelt hatte. Sie grinste hoch in die Runde, ehe sie mit ihrem Handrücken das Haar aus der Stirn wischte und damit eine Spur Erde dort verteilte. Mit dem schelmischen Grinsen war es nicht schwer, die Jugendliche von damals in ihrem Gesicht wiederzufinden. „Hab sie!“ Mit einem schwungvollen Hopsen kam sie mit ihrem neuen Schatz auf die Beine. Gut gelaunt präsentierte sie die Kiste einmal reihum, ehe sie sie Nagisa in die Hände drückte – vermutlich deshalb, weil es überhaupt erst ihre Idee gewesen war. Tsuyuha fand das nur fair.   Zehn Jahre war es her, dass sie sie vergraben  hatten. Eine Zeitkapsel, gefüllt mit allem, was ihnen damals eingefallen war. Tsuyuha erinnerte sich nicht  mehr wirklich, was sie damals hineingeworfen hatte. Ein Foto des Teams. Einen Brief an ihr zukünftiges Ich. Aber was stand darin? Wie viele Jugendträume und Wünsche würde sie gleich wiederfinden, um festzustellen, dass sie alle nicht in Erfüllung gegangen waren? Und dass es okay war. Sie lächelte, sah in die Runde der jungen Frauen, die sich allesamt um die Box scharten.   Sie hatten sich verändert.   Einige, wie Tsurumori, hatte Tsuyuha wirklich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen – außer auf Fotos, denn immerhin in Kontakt geblieben war sie mit allen Mädchen von damals. Nozomi und Mari hatte sie am Häufigsten wiedergesehen, und trotzdem stellte sie fest, dass Nozomi wieder einen neuen Haarschnitt hatte, und der Pullover, den Mari trug, musste auch neu sein. Tsuyuha erinnerte sich, dass sie letztens von einem Einkaufstrip erzählt hatte. Sie, die sie vor zehn Jahren zusammengekommen waren, um die Box hier unter der alten Eiche zu vergraben, waren allesamt zurückgekehrt. Trotzdem hatte die Gruppe sich zu damals verändert: Nagisa hatte eine Freundin mitgebracht, die Tsuyuha bisher nur aus Erzählungen kannte. Mari einen Ehemann, den sie immerhin schon ein paar Mal getroffen hatte. Nozomis Tochter baumelte an ihrem Handgelenk und beäugte mit großen, neugierigen Kinderaugen das Geschehen.   „Seid ihr bereit?“, fragte Nagisa leise. Sie klang nervös; so ganz hatte sie das nie abgeschüttelt. „Schon seit Jahren!“, rief Hayashi lachend. Auch die anderen bestätigten, und so öffnete Nagisa die Kiste, hielt sie dann in die Mitte ihres kleinen Kreises, damit jeder hineinsehen konnte. Bunte Briefumschläge, ein paar Fotos, ein geknüpftes Armband. Es war nicht viel, das in ihrer persönlichen Schatztruhe war, aber es war persönlich, und das reichte, damit Tsuyuha das Herz krampfte. Sie traute sich kaum, hineinzugreifen, um ihren marineblauen Umschlag herauszuholen, tat es schließlich aber doch, nachdem Nozomi lachend ein rosa Ungetüm von Briefumschlag aus der Box zog. „Sieht nach Liebesbrief aus“, spottete Hayashi amüsiert, die mit Argusaugen verfolgte, wer sich an der Box bediente. Nozomi sah sie grinsend an und wedelte mit dem Umschlag herum. „Fast! Ist das gleiche Papier wie die Briefe an Oikawa damals. Das letzte Mal, das ich das Zeug benutzt habe!“ „Stimmt, du hast ihn ja aufgegeben.“ Mari klang, als hätte sie es ernsthaft vergessen. Nozomi sah sie gespielt empört an, dann lachte sie aber wieder und zuckte lässig mit den Schultern. „Er hätte mich ohnehin nicht wertschätzen können, Mari.“ Tsuyuha grinste, als sie sah, wie ihre alten Kameradinnen Blicke austauschten, die ganz klar sagten das haben wir dir schon immer gesagt.   Jede von ihnen angelte einen Brief aus der Box. Hayashi sah verwirrt aus, als sie einen cremefarbenen Umschlag herausholte, auf dem ganz klar ihr Name stand, und auch Han beäugte ihren Umschlag kurz verdutzt. Dann tauschten sie Blicke und grinsten, irgendein Geheimnis zwischen ihnen, das Tsuyuha nicht verstand. Aber sie sahen glücklich aus. Hand in Hand, seit sie angekommen waren. Es hatte keine von ihnen verwundert, als sie ihre Beziehung verkündet hatten. Es hatte noch weniger verwundert, dass sie seit inzwischen mehr als neun Jahren einfach zusammengeblieben waren, trotz teilweiser Fernbeziehung.   Fotos wurden herumgereicht. Alte Bilder aus der High-School-Zeit, über die man heute lachte, weil man als Teenie eindeutig andere Vorstellungen von hübsch gehabt hatte. Das strubbelige, kurze Haar… Tsuyuha hatte verdrängt, wie wild sie damals ausgesehen hatte. Nagisas Haarspangenfimmel. Tsurumoris kleinmädchenhafte Zöpfe, die so gar nicht zu ihrer hochgewachsenen Gestalt gepasst hatten. Das Armband wurde von Nagisa an ihre Freundin weitergereicht mit einem Blick, der noch mehr Geschichten erzählte, die Tsuyuha nicht verstand.   Wenn sie ihre Briefe gelesen hatten, würden sie gemeinsam in ein Lokal gehen, etwas essen, trinken, und über all die kleinen Geheimnisse reden, an die sie sich jetzt wieder erinnerten. Aufholen, was in den letzten Jahren passiert war. Es war in Ordnung, wenn sie jetzt nicht alles verstand – später würde sie schlauer sein. Tsuyuha lächelte, öffnete behutsam ihren Briefumschlag.     ***     Das war es. Was sie gewollt hatte. Icchan und ihre Teamkolleginnen auf einem Haufen. Hotarus Herz raste vor Glück, während sie mit feuchten Augen zusah, wie ihre ehemaligen Teamkameradinnen über ihren Briefen brüteten. Das Armband an Icchans Handgelenk war alt und abgegriffen, hatte seine Leuchtkraft längst verloren, und war trotzdem so viel schöner, als es je gewesen war. Endlich war es da, wo es hingehörte. Sie hatte wirklich alles erreicht, was sie hatte erreichen wollen. Erst war sie Icchan auf dem Spielfeld gegenübergestanden. Dann war sie in einem Team mit ihr gewesen, und inzwischen wohnten sie in einer WG und waren ohne jede Diskussion unzertrennlich. Über Telefonate und Chats gehörte Icchan längst zu ihrer alten Clique. Und jetzt auch offiziell. Die losen Fäden waren verknüpft, wie das Armband, das nach all den Jahren endlich wieder zusammengebunden worden war.   Eine Zeitkapsel war eine großartige Idee gewesen. Und es hatte so viel besser geklappt als erwartet. Manchmal hatte Hotaru sich gefragt, ob sie in zehn Jahren überhaupt noch nah genug zusammenstehen würden. Sorgen, die unbegründet waren, offensichtlich. Sie waren alle noch da. Ihre Gruppe hatte Zuwachs bekommen, und würde sicher auch weiterhin Zuwachs kriegen. Sie hatten alle ihr eigenes Leben, und trotzdem waren sie noch ein Teil des jeweils anderen. „Sie sind wirklich toll“, murmelte Icchan ihr amüsiert zu, riss sie aus ihren Gedanken. Hotaru zog irritiert die Nase kraus, verwirrt, wo das nun herkam. Sie begriff es erst, als sie auf ihren eigenen Brief hinuntersah, den sie ohne ihn zu lesen längst aufgefaltet in den Händen hielt. Sie hatte ihn damals an Icchan adressiert.   Sie lachte verlegen, aber glücklich. Drückte Icchan den Brief in die Hand, der eigentlich ohnehin mehr ihr als Hotaru selbst gehörte.   „Ja, das sind sie.“     ***     Liebe Ricchan!   Habe ich es dir inzwischen gesagt? Ich hab mir vorgenommen, es dir zu sagen. Wenn ich es nicht getan habe, bin ich ein größerer Feigling, als ich gedacht hätte. Aber du bist trotzdem noch bei mir, nicht wahr? Wow, zehn Jahre! Kaum zu glauben, dass du es noch einmal so lange mit mir aushalten wirst! Aber es ist ein toller Gedanke. Ich freue mich drauf. Hatten wir Spaß? Ich hoffe, wir hatten Spaß. Und ich hoffe, ich hab nicht noch mehr Schuhe verloren? Auch wenn der Tag super war. Aber ich hab ganz schön Ärger bekommen! Hab ich dir das eigentlich erzählt? Ich glaube, ich hab’s verpeilt. Na, jetzt weißt du es! …Hm. Weißt du, eigentlich ist’s mir auch egal, wenn ich noch tausend Mal Schuhe verloren habe. Solange du dabei warst.   Eigentlich bin ich mir auch sicher, dass ich es dir gesagt habe. Aber sicher ist besser. Und ich will es dir nochmal sagen. Und nochmal. Und nochmal. Ich hoffe, ich sage es dir oft genug!   Ich liebe dich, Ricchan. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)