Symphonie von Des-C-Kudi ================================================================================ Kapitel 5: Akt V ---------------- Akt V . . . Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.   Helga starrte hoch konzentriert aus der Windschutzscheibe.   Aus dem Augenwinkel nahm sie war, wie Arnold den Motor abstellte und die Autotür öffnete.   „Wir sind da.“   Ihr Atem setzte kurz aus.   Atmen! Atmen nicht vergessen, Pataki!   Sie stieg ebenfalls aus und folgte Arnold zur Haustür. Er wandte ihr den Rücken zu und kramte in seinen Hosentaschen nach seinen Hausschlüsseln. Sie hatten die ganze Fahrt über kein Wort gesprochen. Aber worüber hätten sie auch reden sollen? Dass sie im Begriff war, ihre erste Nacht bei einem Typen zu verbringen, mit dem sie nichts weiter zu tun hatte, außer dass er ihre große Liebe war?   Oh ja, ein ausgezeichnetes Gesprächsthema.    Sie schluckte schwer. Obwohl sie tunlichst versuchte, sich äußerlich ruhig zu geben, konnte sie das Flattern in ihrem Bauch nicht unterdrücken. Wäre sie wieder zehn, würde sie sich im passenden Moment hinter einer Mauer verstecken, ihren Anhänger seufzend hervorkramen und sein Bild anschmachten. Sie würde ihr Glück kaum fassen können. Wahlweise würde noch Brainy hinter ihr auftauchen, aber auch sein nerviges Atmen würde ihrer Laune keinen Abbruch tun.   Aber die erwachsene Helga war dagegen kurz vorm Ausflippen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie in einem Karussell.   Was bedeutete überhaupt dieses Komm mit mir? Komm mit mir, damit du in der Pension ein Zimmer beziehen kannst? Komm mit mir, damit du auf der Couch pennen kannst? Komm mit mir, Baby, damit du die Nacht in meinem Bett verbringen kannst? Kalter Schweiß brach ihr aus. Verdammt, wieso konnte er sich nicht genauer ausdrücken? Immer musste er in Hieroglyphen reden! Und wie konnte er überhaupt so ruhig bleiben, während sie kurz vorm Durchdrehen war-   Mit einem leisen Scheppern fielen Arnold die Schlüssel aus der Hand. Leise fluchend griff er nach ihnen. Weniger erfolgreich probierte er verschiedene Schlüssel aus.   Schlagartig wurde das Gedankenchaos in ihrem Kopf still.   Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, konnte sie deutlich das leichte Zittern in seinen Fingern beobachten, als er schließlich den richtigen Schlüssel fand.   Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.   Er war genauso nervös wie sie. . . . Arnold schloss die Tür auf und schaltete das Licht in der Diele ein. Im Mietshaus war es mucksmäuschenstill- alle Parteien waren längst zu Bett gegangen. Er warf die Schlüssel auf die Kommode und drehte sich zu Helga um. Er breitete die Arme aus. „Um, ja, willkommen im Sunset Arms.“            Sie verdrehte die Augen. „Spar dir deine Höflichkeitsfloskeln, Arnold. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mir kurz euer Telefon ausborge.“ Sie griff nach dem Hörer und wählte eine Nummer, die wahrscheinlich Phoebe gehörte. Am liebsten hätte er sich einen Tritt verpasst. Komm mit mir. Du wirst hier draußen nicht die Nacht verbringen. Er verzog das Gesicht. Der Spruch hörte sich an, als ob er ihn aus irgendeinem abgedroschenen Groschenroman geklaut hätte. Jetzt fehlte es nur noch, dass sie beide im Bett endeten und eine leidenschaftliche Nacht zusammen verbrachten. Das Blut schoss ihm in die Wangen, als er merkte, wohin seine Gedanken wanderten. Er schüttelte sich innerlich und beobachtete stattdessen, wie sie enttäuscht den Hörer auflegte. „Sie hebt nicht ab.“ Arnold spürte, wie sein Herz einen Sprung tat. Eigentlich sollte er mitfühlend wirken, aber er konnte nicht verhindern, dass er ein klitzekleines bisschen Freude verspürte. Sie würde länger bei ihm bleiben. Er sehnte sich danach, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Er bedauerte es immer noch, dass der Tanzabend so schnell zu Ende gewesen war.   Er lächelte sie schief an. „Dann musst du wohl oder übel die Nacht hier verbringen.“ Helga wich seinem Blick aus. „Immer noch besser, als draußen auf der Straße das Nachtlager aufzuschlagen.“ Die alten Dielen knarzten unter ihren Fußsohlen, als beide die Treppe zu seinem Dachzimmer hochstiegen. Wieso hatte er das Gefühl, dass das passende Wort eher Schleichen war? Als ob sie im Begriff waren, etwas Verbotenes zu tun. Er musste sich zusammenreißen, um nicht seine verschwitzten Hände an seiner Hose abzuwischen. Oben am Treppenabsatz angekommen, zog er die Dachluke auf, die ins Dachgeschoss führte. Plötzlich drehte er sich zu ihr um. Eine Sache sollte er lieber noch klären. „Du bist übrigens das erste Mädchen, das ich hier einlade seit…“ Sie hob abwartend eine Augenbraue. Er spürte, wie die Röte seinen Hals hochkroch und stoppte mitten im Satz. Okay, lieber Klappe halten. Sonst wird es hier nur noch unangenehmer, als es schon ist. Er trat einen Schritt zur Seite und machte einladende Geste. „Ladies first.“ . . . Sie drehte sich in seinem Zimmer einmal im Kreis. „Hier hat sich ja nicht viel verändert. Es sieht genauso aus wie beim letzten Mal.“ Verwundert hob Arnold die Augenbrauen. „Wann warst du denn schon mal in meinem Zimmer?“ Ups. Jetzt musst du dir aber schnell was einfallen lassen, Pataki. Sie konnte ihm ja schlecht auf die Nase binden, dass sie schon so einige Male in seinem Zimmer war. Allerdings ohne sein Wissen. „Kannst du dich nicht mehr erinnern, als wir damals dieses Projekt zusammen bearbeiten mussten? Das mit den Zootieren?“ Er sah sie zweifelnd an. „Ich kann mich nicht erinnern.“ Helga machte eine wegwerfende Geste. „Wundert mich ehrlich nicht, Footballschädel.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Anderes Thema. Wo kann ich schlafen?“ Er wies auf das zusammenklappbare Wandsofa. „Also, entweder schläfst du auf der Couch oder-“ „Wunderbar“, unterbrach sie ihn. „Ich nehme das Bett!“ Sie fläzte sich auf sein Bett und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Grinsend sah sie ihn an. „Du kannst mir natürlich gerne Gesellschaft leisten, Blondie.“ Stumm erwiderte er ihren Blick. Eigentlich hatte sie mit einer flapsigen Retourkutsche gerechnet, aber stattdessen schien er ernsthaft über ihr Angebot nachzudenken. Die Spannung zwischen beiden knisterte förmlich. Sie hielt den Atem an. Plötzlich blinzelte Arnold und wandte sich ab. Er ging nicht weiter auf sie ein und zog stattdessen eine Schublade einer Kommode auf. Er zog eine graue Jogginghose und ein T-Shirt mit dem Logo der Hilwood Highschool heraus. „Hier.“ Er reichte ihr die Sachen. „Du kannst dich im Badezimmer am Ende des Flurs umziehen. Ich kann das im Erdgeschoss solange benutzen.“ Sie nahm die Kleidungsstücke wortlos entgegen und schritt aus dem Zimmer, ohne ihm in die Augen zu schauen. Im Bad angekommen, schloss sie hinter sich ab und lehnte sich gegen die Tür. Jetzt erstmal tief Luft holen. Wo ist überhaupt die berühmte Hyperventilationstüte, wenn man sie wirklich braucht? Das ganze Ausmaß der vertrackten Situation wurde ihr erst jetzt im Alleinsein wirklich bewusst. Ihr kläglicher Versuch, ihre Nervosität mit Coolness zu überspielen, war gehörig gegen die Wand gefahren, da er nicht weiter auf ihre Witzeleien einging. Obwohl sie es nicht verhindern konnte, dass ihr Herz wie wild klopfte, brach ihr der kalte Schweiß aus, als sie sich ausmalte, was alles so im Laufe der Nacht schief gehen könnte. Was, wenn sie wieder wie früher schlafwandeln und ihn nachts überfallen würde? Gott bewahre. Sie schüttelte ihre Befürchtungen ab und zog stattdessen die Sachen an, die Arnold ihr gegeben hatte. Sie konnte nicht verhindern, dass sie lächelnd den Stoff an ihre Nase hielt und tief einatmete. Der Stoff roch nur nach Waschmittel und Sandelholz. Sie bildete sich aber ein, einen Duft auszumachen, den man nur mit Arnold beschreiben konnte. Anschließend kramte sie in ihrer Handtasche nach Make-Up-Entfernungstüchern und versuchte, so gut es ging, ihr Gesicht abzuschminken. Sie würde morgen früh bestimmt gruselig aussehen, aber mit diesem Anblick musste er sich abfinden. Sie spülte anschließend kurz ihren Mund aus und versuchte wenig erfolgreich, die Nadeln aus ihrer Hochsteckfrisur zu ziehen. Schließlich gab sie es frustriert auf. Dann musste sie halt aufpassen, dass sich diese verdammten Dinger nicht nachts in ihre Schädeldecke bohrten. Bettfertig verließ sie das Badezimmer und blieb vor der geschlossenen Zimmertür stehen. Auf geht’s, Pataki. Sie holte tief Luft und riss die Tür auf. . . . Helga ließ sich Zeit. Arnold warf einen prüfenden Blick auf die Wanduhr. Sollte er nachschauen oder würde die Situation nicht noch merkwürdiger erscheinen, wenn er auch noch vor ihrer Badezimmertür auftauchte- Schwungvoll wurde seine Zimmertür aufgerissen. Helga stand mit gerötetem Gesicht im Türrahmen. Sie blinzelte, als sie ihn entdeckte. „Du bist noch wach?“ Er vergrub die Hände in die Taschen seiner Jogginghose. „Es kam mir komisch vor, schon ohne dich schlafen zu gehen.“ Ohne dich. Um ein Haar hätte er sich an seine eigenen Worte verschluckt. Er brach den Augenkontakt ab und bemerkte stattdessen ihre Haare. „Willst du nicht die Haarnadeln lösen?“ Sie fasste sich mit der Hand an die Hochsteckfrisur, die noch auf ihrem Kopf türmte. „Phoebe hat wie immer perfekte Arbeit geleistet. Ich kriege diese Dinger nicht heraus.“ Sie schritt an ihm vorbei und wollte gerade das Nachtlicht ausschalten, als er sie am Arm festhielt. „Warte. Ich helfe dir, Helga.“ Zögernd sah sie ihn an. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. „Wenn es dich glücklich macht, Footballschädel.“ Er setzte sich auf die Bettkante und sie nahm vor ihm Platz auf dem Teppichboden. An ihrer stocksteifen Haltung konnte er erkennen, dass sie sich unwohl fühlte. Sein Blick wanderte über ihren schlanken Nacken. Obwohl es ihn eigentlich beruhigen sollte, dass sie nicht mehr länger dieses rückenfreie, ziemlich ablenkende Kleid trug, fühlte es sich seltsam intim an, sie in seinen Klamotten zu sehen. Vorsichtig, fast schon sanft, fing er an, die Spangen und Haarnadeln aus der Frisur zu lösen. „Wo sind überhaupt deine Eltern?“, fragte er betont gelassen. Deutlich konnte er erkennen, wie sich ihre Schultern entspannten. „Bob und Miriam sind nach South Dakota gefahren, um meine Oma zu besuchen. Miriam war übrigens früher Rodeo Queen. Es würde mich nicht wundern, wenn beide noch Halt bei einer Rodeo-Bar machen würden.“ Das Lächeln konnte er deutlich aus ihrer Stimme heraushören. „Verstehst du dich jetzt besser mit ihnen?“ Es verging wohl eine Ewigkeit, bevor sie ironisch antwortete: „Seit Olga nicht mehr zu Hause wohnt, haben sie immerhin angefangen, meine Existenz wieder wahrzunehmen.“ Er schwieg. Er kannte das Gefühl nur zu gut, wenn die eigenen Eltern kilometerweise von einem entfernt waren. „Sei nicht so hart mit ihnen.“ Sie lachte kurz auf. „Oh Arnold, wieso musst du immer so verdammt gut sein?“ Helga drehte sich zu ihm um, als er gerade die letzte Haarnadel entfernt hatte. Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Besitzt du eigentlich irgendeine schlechte Charaktereigenschaft wie andere Normalsterbliche auch?“ Er antwortete nicht sofort. Stattdessen konnte er nicht den Blick von ihr abwenden, wie sie so lächelnd vor ihm stand. Die blonden Locken fielen in langen Kaskaden über ihre Brust und umrahmten ihr Gesicht. Einige Strähnen fielen über ihr rechtes Auge. „Vielleicht habe ich ja welche, die du noch nicht entdeckt hast“, murmelte er mit gesenkter Stimme. „An was denkst du gerade?“ „Dass du einer Französin namens Cecile, die ich vor langer Zeit kennengelernt habe, verblüffend ähnelst“, antwortete er ausweichend. Er beobachtete, wie sich ihre Wangen rosa färbten. Ihre Reaktion bestätigte nur seine Vermutung, dass das blonde Mädchen, das sich damals als seine Brieffreundin ausgegeben hatte, in Wirklichkeit Helga war. Statt es abzustreiten, grinste sie ihn an. „N’est-ce pas?“ „Ah oui, mademoiselle.“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen, als sie etwas hinter ihm entdeckte. Sie griff hinter seiner Schulter und fischte sein altes Käppi vom Regal. Sie setzte ihm die Mütze auf den Kopf und verschränkte zufriedenstellend die Arme. „Footballschädel, diese Mütze war schon damals zu klein für deinen übergroßen Kopf. Aber ich muss zugeben, dass sie mir gefehlt hat.“ Er rückte die Mütze auf seinem Kopf zurecht und schaute sie unter halbgesenkten Lidern an. „Die Mütze oder vielleicht doch eher ich?“ Sie starrte ihn. „Hör damit auf“, sagte sie langsam. Überrascht hob er eine Augenbraue. „Mit was?“ „Na mit diesem Schlafzimmerblick! Den hattest du schon mit zehn Jahren perfektioniert.“ Bevor er eine passende Antwort parat hatte, schritt sie an ihm vorbei und schaltete das Nachtlicht aus. Schlagartig wurde es im Zimmer dunkel. Nur das Mondlicht, das aus der verglasten Decke ins Zimmer fiel, tauchte alles in hellblaues Licht ein. „Wenn du mich entschuldigen würdest, aber ich bin hundemüde und möchte jetzt gerne ins Bett“, sagte sie schnippisch. Er stand von der Bettkante auf, aber statt ihr Platz zu machen, blieb er vor ihr stehen. Es war mucksmäuschenstill im Zimmer- bis auf das leise Ticken der Uhr, ihrem Atem und das wilde Klopfen seines Herzens, das in seinen Ohren dröhnte. Er war ihr so nah, dass er den warmen Atem aus ihrem Mund auf seinen Lippen spürte. Sein Hirn fühlte sich wie leergefegt an. Wie hypnotisiert starrte er ihr in die Augen. Bildete er es sich ein oder verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen beiden? „Footballschädel, aus dem Weg…“, flüsterte sie. Dann tat er etwas, was er sich schon seit Wochen wünschte. Er küsste sie. . . . Zuerst merkte sie nicht, was los war. Im ersten Augenblick stand er noch wenige Zentimeter vor und im nächsten Moment presste er seine Lippen gegen ihre. Mit aufgerissenen Augen starrte sie zur Decke; die Gedanken in ihrem Kopf schlagartig still. Aber so schnell, wie es passiert war, war es schon wieder vorbei. Als er merkte, dass sie den Kuss nicht erwiderte, zog er sich eilig zurück. Sogar im Dunkeln konnte sie die Röte sehen, die seinen Hals hochkroch. Er mied ihren Blick und wischte sich mit der Hand den Mund ab. „Ich…“ Hilfesuchend rang er nach Worten. In ihrem Kopf machte es plötzlich Klick. In zwei Schritten war sie bei ihm. Bevor er etwas entgegnen konnte, hatte sie bereits die Arme um seinen Hals geschlungen und presste sich eng an ihn. „Das kannst du doch besser, Footballschädel.“ Im nächsten Moment verschloss sie seinen offenen Mund mit ihrem. Helga musste ihm zu Gute halten, dass er den Überraschungsangriff schnell verdaute- sekundenspäter hatte er die Hände auf ihre Hüften gelegt und zog sie näher an sich heran, bis kein Lufthauch mehr zwischen beide passte. Mit dem gleichen Feuer erwiderte er ihren Kuss. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass ihr erster richtiger Kuss mit Arnold zaghaft und vorsichtig sein würde. Zunächst nur ein schüchterner Lippenkontakt, der sich nur langsam vertiefen würde. Aber stattdessen waren sie beide ungestüm, hungrig und kurz davor, sich gegenseitig zu verschlingen. Da hatten sich über die Jahre wohl einige Hormone aufgestaut, die sich jetzt schnell wieder meldeten. Es fühlte sich traumhaft schön an. Arnold presste sie gegen ein Bücherregal und zog eine feuchte Spur von ihrem Mundwinkel herunter zu ihrer Halsbeuge. Sie biss sich auf die Lippe, als ihr Unterleib sich zusammenzog und ihre Haut wie wild kribbelte. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tobten. „Mhmm…“ Überwältigt von den Emotionen, die seine Berührungen auslösten, suchte sie hilflos nach Halt. Sie bekam ein Buch zu fassen, rutschte dann aber ab. Kichernd zog sie ihn zu Boden. Lächelnd beugte er sich über sie. Sanft strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Helga…“, flüsterte er rau. Es gefiel ihr, seine tiefe Stimme so nah an ihrer Haut zu hören. Sie klang atemlos und unwiderstehlich. Sie hielt den Atem an, als sich sein Blick auf ihre Lippen richtete. Als er keine Anstalten machte, sie wieder zu küssen, spitzte sie die Lippen. Grinsend verhakten sich ihre Blicke miteinander. Als er seine Lippen auf ihre senkte, schloss sie die Augen. Statt dem ersten tollpatschig-wilden Kuss, war dieser langsam und intensiv. Er stand dem Ersten aber in Nichts nach. Irgendwo im hintersten Winkel ihrer Gedanken bemerkte sie, dass ihre Lippen perfekt aufeinander zugeschnitten waren. Sie vergrub ihre Hände in sein strohblondes Haar. Mein Footballschädel. Sie schwebte auf Wolke Sieben. Es war besser, viel besser als sie es sich je erträumt hatte. Kein Gedicht der Welt konnte ihre Gefühle in Worte fassen. Es war so… so… Tok! Tok! Ein lautes Klopfen ließ beide verschreckt auseinanderfahren. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie ihn in der Dunkelheit an. Beide waren völlig außer Atem- beschämt bemerkte sie, dass ihre bebende Brust gegen seine gepresst war. „Kurzer, alles gut bei dir?“ Es war die Stimme von seinem Großvater. Statt zu antworten, starrte Arnold sie mit offenem Mund an. Der Junge war eindeutig mit den Gedanken noch irgendwo ganz anders. „Kurzer?“ Es klopfte wieder an der Tür. Sie schubste Arnold an. „Erde an Arnoldo, wach auf!“, zischte sie. Er blinzelte kurz und rief dann mit krächzender Stimme: „Ja, alles bestens hier, Großvater!“ „Ich dachte, ich hätte vorhin Stimmen gehört“, erklärte sein Großvater. Und dann nach einer kurzen Pause: „Mehrere Stimmen.“ Peinlich berührt schloss Helga die Augen. Sein Großvater ahnte, dass Arnold Besuch hatte. Damenbesuch. „Dann bleib nicht zu lange wach, Kurzer.“ Die Erheiterung war deutlich aus seiner Stimme zu hören. Erst als seine Schritte schon lange verhallt waren, wagte sie es, sich wieder zu bewegen. Sie schob Arnold nicht ganz unsanft zur Seite und rappelte sich auf. Ihre Beine fühlten sich ganz wackelig an. Mit glühenden Wangen riss sie eilig ihr T-Shirt, das bis über den Bauchnabel geschoben war –Wann zur Hölle ist das überhaupt passiert?- wieder artig runter. Sie mied Arnolds Blick. Der Zauber war gebrochen. Arnold rappelte sich ebenfalls auf. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er ungelenkig die Hände in die Hosentaschen schob. Er öffnete den Mund, als er plötzlich etwas hinter ihr entdeckte. Sie drehte sich um und beobachtete, wie er sein blinkendes Mobiltelefon in die Hand nahm. „Gerald“, murmelte er. Helga wandte sich ab und versuchte, ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Angestrengt starrte sie die Fotos auf seinem Schreibtisch an. Verdammt. Wie sollte sie die Nacht überstehen? Sie bezweifelte, dass sie beide weitermachen würden, wo sie aufgehört hatten. Oder vielleicht doch? Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch meldeten sich wieder zu Wort. Leise seufzend griff sie nach dem erstbesten Bilderrahmen. Gerade wollte sie es an die Brust drücken, als sie erstarrte. Auf dem Foto war Arnold. Mit einem fremden Mädchen. Erde an Pataki! Keine Panik! Alles im grünen Bereich! KEINE PANIK! Obwohl sie die Gedanken wie ein Mantra im Kopf wiederholte, konnte sie nicht umhin zu bemerken, dass das Mädchen mit den dunkelbraunen Haaren sehr hübsch war. Dass sie sich eng an Arnold geschmiegt hatte, während sie ihr Zahnpastalächeln in die Kamera zeigte. Dass er den Arm um sie gelegt hatte. Sie ist nur eine gute Freundin, nur eine gute Freundin, nur eine gute Freundin, nur eine- Die Szene wirkte so intim. Vielleicht wartete tatsächlich in einem fernen Land dieses exotisch aussehende Mädchen auf ihn. Vielleicht war etwas Besonderes zwischen ihnen beiden. Natürlich. Wieso hatte sie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er sie, Helga G. Pataki, seinen Schulalptraum aus Kindheitstagen, vielleicht doch noch aufrichtig mochte? Stattdessen war sie ihm direkt um den Hals gefallen und hatte hemmungslos mit ihm rumgeknutscht. Plötzlich kam ihr die Situation vollkommen absurd vor. Statt darauf zu bestehen, dass er sie zu Phoebe fuhr, war sie ihm wie ein williges Hündchen einfach nach Hause gefolgt. Wie kam sie überhaupt auf die blödsinnige Idee? Sie hatte ihren gesunden Menschenverstand wohl einfach zu Hause auf der Haustreppe zurückgelassen. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, welche falschen Botschaften sie damit aussendete. Dachte er etwa, dass sie leicht zu haben wäre? Natürlich. Was für eine Frage. So hatte sie sich ja auch so preisgegeben. Ihre Hände fühlten sich plötzlich ganz kalt und klamm an. „Helga?“ Eilig drehte sie sich zu ihm um. Sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die sich in ihren Augenwinkeln ansammelten. Verflixt und zugenäht! Sie würde garantiert nicht in Tränen ausbrechen. Nicht jetzt. Nicht vor ihm. Aber statt Trauer spürte sie, wie heiße Wut in ihr aufwallte. Sie war wütend auf ihn. Und vor allem wütend auf sich selbst. Arnold schien nichts von ihrem Gefühlwandel zu bemerken. „Helga, Gerald schreibt, dass Phoebe sich Sorgen macht. Du gehst nicht ans Telefon. Soll ich-“ „Fahr mich zu Phoebe.“ „Was-“ „Hast du Watte in den Ohren, Footballschädel? Ich sagte, fahr mich zu Phoebe. Sofort.“ Sie ließ ihn nicht ausreden und schnappte sich ihre Handtasche und ihr Kleid. Sie stolperte durch die Dunkelheit und stieß gegen ein Tischbein. „Verdammt!“ „Helga-“ Sie schüttelte seine Hand ab und polterte die Treppe herunter. Es war ihr egal, dass sie wahrscheinlich alle Bewohner weckte. Sein Großvater wusste eh Bescheid. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Im Hausflur angekommen, versuchte sie mit fahrigen Händen in die Stilettos zu schlüpfen. Schließlich gab sie es frustriert auf und trat barfuß in die Nacht hinaus. Plötzlich spürte sie eine warme Brust an ihrem Rücken. „Helga, was ist los?“, murmelte er in ihr Ohr hinein. „Habe ich etwas getan, was du nicht wolltest?“ Er schmiegte sich vertrauensvoll an sie. Entgegen ihrem Willen fuhr ein wohlig warmer Schauer über ihren Rücken. Sie schloss die Augen. Vor ihren Augen tauchte augenblicklich ein ganz anderes Bild auf. „Starte das Auto“, antwortete sie kühl. Er schwieg sekundenlang. Dann trat er einen Schritt zurück und nahm die Autoschüssel. Die Kälte an ihrem Rücken ließ sie instinktiv seine Wärme vermissen. „Wie du willst.“ . . . Diese Nacht blieb er lange wach. Die blinkenden Sterne am Himmelszelt nahm er nur am Rande wahr. Stattdessen war er mit den Gedanken bei ihr. Diese Szene kam ihm nur allzu gut bekannt vor. Es war schon mal passiert. Dass er nach einem Kuss mit ihr, der ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzogen hatte, kein Auge mehr zu bekam. Und genauso wie letztes Mal ließ sie ihn mit einem Gedankenchaos zurück. Er versuchte sich verzweifelt das Bild vor Augen zu rufen, das ihn noch Stunden zuvor keinen klaren Gedanken fassen ließ. Wie sie mit ausgebreiteten Haaren unter ihm lag. Ihr Blick verklärt. Die Wangen sanft gerötet. Die Lippen noch ganz geschwollen von den stürmischen Küssen, die sie noch sekundenzuvor ausgetauscht hatten. Aber stattdessen sah er immer wieder nur in Dauerschleife, wie sie wortlos aus dem Auto stieg und im Haus verschwand. Sie drehte sich nicht einmal um. . . . tbc…   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)