History Maker - The beginning von Wei_Ying (Viktor Nikiforovs BG-Story) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Minutenlang lag Viktor zusammengekrümmt neben seinem Bett auf dem Holzboden, die Decke halb mitruntergezogen. Andrej stand neben ihm und zog mit einem Kichern die Decke langsam von ihm runter. „Du kleiner Idiot..“ Der Silberhaarige brauchte einige Momente, um zu begreifen, wo er sich befand. Er blickte auf, versuchte irgendwie seine total wirren Haare zu ordnen und zu entknoten und bemerkte erst dann, dass er aus dem Bett gestürzt war. Auf seinem Knie war direkt ein blauer Fleck ersichtlich, ganz leicht schmerzte es. „Das.. war… nur ein Traum…“ murmelte Viktor, als er an die doch ziemlich merkwürdige Situation mit dem blonden Jungstar auf dem Eis dachte. „Blitzmerker. Was auch immer du träumst, ich möchte es vielleicht gar nicht wissen, wenn du dich dabei so aus dem Bett wirfst“ bemerkte Andrej neckisch. „Es ist halb 8, Der Unterricht beginnt bald. Ich würde besser nicht zu spät kommen“ Immer noch war es ungewohnt für ihn, soviele Menschen um sich zu haben, die sich – so traurig es auch klingen mochte, sich für ihn interessierten, ob nun positiv oder negativ. Mit ein wenig Kopfweh machte er sich auf in den Unterrichtsraum, nachdem er kurz im Bad verschwand und sich dann einen Kaffee am Automaten zog. „Der neue“ murmelte Andrej, der in der vorletzten Reihe ganz links saß, seiner Tischnachbarin. Viktor wurde, wie hätte er es auch anders erwarten können, grade von den Mädchen ausgiebig gemustert, diese hatten getrennt von den Jungen Praxistraining und ihn somit zum ersten Mal gesehen. „Liebe Schüler und Eiskunstlaufstars der Zukunft, wir haben einen neuen Mitschüler. Stellst du dich bitte einmal vor?“ Auch hier gab es diese nervige Prozedur, auf die Viktor keine Lust hatte. Aber mit etwas genervtem Blick stellte er sich dennoch vor und schaute gelangweilt Richtung Decke. Bei Erwähnung seines Nachnamens tuschelten ein paar der Mädels erstaunt und Viktor fragte sich einmal mehr, warum zum Teufel der Name „Nikiforov“ so bekannt in der Gegend. Herr Sokolow, ihr Mathematiklehrer, begann mit dem Unterricht. Viktor dachte immerzu an diesen seltsamen Traum letzte Nacht und bekam vom Unterricht recht wenig mit. Während der recht junge, aber dennoch sehr straight durchgreifende Lehrer mit einer unfassbaren Begeisterung für Zahlen ihnen die Regeln des Bruchrechnens beibrachte, versuchte Viktor auszutüfteln, wer dieser Sportler war, dessen Kür er im Traum bewundert hat. „Viktor“ Prompt wurde er auch schon aus seinen Träumereien gerissen, als er an die Tafel gerufen wurde. Nun denn, bekommen die Menschen halt zu sehen, dass Mathe ihm mehr oder weniger sonst wo vorbeiging, dachte sich Viktor salopp und schritt lustlos zur Tafel. Er sollte eine Gleichung mit Brüchen auflösen und stand erstmal ca. 3 Minuten vor der Aufgabenstellung, ohne wirklich zu verstehen, was diese von ihm will. Mathe war schon in der alten Schule sein Todfeind und er war nie besonders gut darin. Ein paar Jungen lachten. „Das ist aber auch gemein, Herr Sokolow.“ rief eines der Mädels. „Er ist doch den ersten Tag hier, wer weiß, wie weit er von der alten Schule den Kenntnisstand hat“ – „Mensch Erina, warum verteidigst du den Idioten?“ – „Halt dich daraus, Ivan“ Herr Sokolow beendete mit einem Klatschen das anregende Gespräch. „Am besten hörst du nächstes Mal besser zu, Viktor“ Der angesprochene legte die Kreide seufzend auf das Pult. Viel besser würde es dadurch auch nicht werden. Aber diesen Gedanken behielt er doch lieber für sich. Die nächste Theoriestunde war Englisch. Eine etwas dickliche Dame war ihre Lehrerin. Sie war Amerikanerin, die mit einem Russen verheiratet war und seit jeher hier Englischunterricht gab. Laut Andrej erzählte sie jedes Mal, wenn sie einen Neuzugang in der Klasse hatten, erstmal ihre Lebensgeschichte, wie sie ihren Mann kennengelernt hat und warum es sie nun nach Russland an eine Eislaufschule verschlagen hatte. Die sehr quirlige Stimme von ihr konnte sich Viktor schon nach wenigen Minuten kaum anhören. Dennoch lagen ihm Sprachen weitaus mehr als Mathe. Ein bisschen mehr Spaß hatte er zumindest. Er wollte aber endlich aufs Eis. Gegen Mittag gab es eine Pause, danach endlich würden sie zum sportlichen Teil übergehen. In der Pause setzte sich Viktor zunächst abseits hin und versuchte, seine Außenwelt auszublenden. Ein Versuch, der wieder einmal nicht funktionierte, setzte sich ihm gegenüber doch zunächst ein hübsches Mädel mit schwarzen Haaren – Erina – und daneben Ivan, der auffallend oft in ihrer Nähe aufzufinden schien. „Na, Viktor, alles gut bei dir?“ fragte sie einfach mal frei raus. Besagter Junge war noch immer dabei, seinen Traum gedanklich aufzuarbeiten, aber ihm fiel der Name des Athleten zum Verrecken nicht ein. Er spürte, dass dieser nicht zufällig aufgetreten ist in seinem Traum. Er spürte, dass er schonmal eine Kür von ihm bewundert hat, aber er kam einfach nicht auf einen Punkt. Und das wurmte ihn. „Ja, alles ok“ murmelte er nicht ganz richtig und beiläufig. Ivan seufzte. „Warum wolltest du dich denn zu Viktor setzen? Du merkst doch dass der keinen Bock auf soziale Kontakte hat. Komm lieber nach“ – „Nein. Wer sagt denn, dass er keine sozialen Kontakte möchte? Ich denke er braucht ein bisschen Eingewöhnung“ Ivan sah nur empört drein. Viktor sah schließlich auch auf. „Wie kommts, dass du so plötzlich hier bist?“ fragte sie, in Wohlwollen, ein bisschen Smalltalk zu führen. „Yakov hielt mich für talentiert und dann hat er mich hergebracht“ antwortete der Silberhaarige kurz angebunden. Ivan verschwand genervt vom Tisch und begab sich mit Zimmerkumpanen Andrej an die Luft. „Interessant… dass ein Nikiforov sich wieder an Eiskunstlauf versucht“ erzählte sie dann und schaute Viktor mehr als genau in die Augen. Dieser verzog die Augenbrauen. „Warum zur Hölle kennt ihr alle meinen Nachnamen. Das hab ich noch nie kapiert. Aber jeder, der mich nach meinem Namen fragt, ist immer ganz erstaunt, wenn er ihn hört…“ Erina schaute ihn noch erstaunter an. „Du weißt also nicht, was deine Eltern gemacht haben?“ Diese Frage entsetzte Viktor noch mehr und sein Herz zog sich seltsam zusammen. Das Verhältnis zu seinen Eltern war bekanntlich nie gut und er möchte gar nicht an sie denken. Vorallem, wenn er seine leibliche Mutter vor Augen hat, die seinen Pudel auf dem Gewissen hatte. Er hatte sich von dem Schock noch nicht erholt. Er verstand auch ihre Aussage nicht. Seine Eltern haben ihm etwa über Jahre etwas verschwiegen? Dass seine Mutter mit ihren Alkoholexzessen keine positiven Schlagzeilen machen konnte, war klar, aber das alleine konnte unmöglich zu solch trauriger Berühmtheit führen. „Du schaust so verwirrt. Deine Eltern… nun ja, man hat schon einiges gehört über sie. Deine Mutter… sie war in jungen Jahren auch hier und wollte Eiskunstläuferin werden. Und sie war mit die beste Absolventin aller Zeiten.“ Es war wie das Zersplittern einer Glasskulptur, was man sinnbildlich vernehmen konnte. Viktor erschrak, er zuckte auf und rutschte auf dem Stuhl nach hinten. Das konnte sie sich nur ausgedacht haben. So wie sie sich gegen ihn und seine Eiskunstlaufträume stellte. „Wo..woher willst du das wissen? Sie hasst den Sport!“ antwortete er empört und mit einem Grummeln im Magen. „Noch nicht die Vereinsbücher gelesen? Oder die Zeitung immer mal wieder in den letzten Jahren? Selbst du bist da teilweise namentlich erwähnt.“ Viktor saß einfach nur fassungslos da. Was gab sie bitte von sich? Gibt es denn nur idiotische Menschen auf dieser Welt? Erina drehte sich ab und kramte mit einem recht undefinierbaren Blick im Schrank hinter ihr rum. Dort waren eine Menge Zeitschriften angesammelt. Viktor jedoch konnte es einfach nicht glauben, was sie erzählte. Die Schwarzhaarige fand sehr schnell einen älteren Artikel in einer Vereinszeitschrift und hielt ihm diesen mit vielsagender Mimik vors Gesicht. Jahrhunderttalent Eleonora Nikiforov gewinnt im Alter von 14 die russischen Meisterschaften im Eiskunstlauf. […] In einem Alter, in dem man eigentlich noch gar nicht für die Erwachsenen zugelassen ist, hat der russische Verband sogar eine Sondergenehmigung für sie ausgestellt […] Ihr Stil ist ihr Markenzeichen. Niemand steht die Sprungkombinationen derartig elegant wie die hübsche junge Frau. […] Ihr steht eine unglaubliche historische Karriere bevor. Ihr größter Traum sei es, olympisches Gold zu gewinnen, um ihre Liebe für den Sport erfolgreich zu krönen […] Viktor blinzelte, sein Mund klappte leicht auf und er fühlte sich, als hätte ihm jemand ein Brett vor die Stirn geschlagen. Eleonora war in der Tat seine Mutter und das Foto weiter unten ließ keinen Zweifel mehr zu. Es ist die Frau, die ihn gezeugt und ihn immer beschränkt, unterdrückt und schikaniert hatte, die Frau, die immer deutlichst dargestellt hat, wie sehr sie seine Eiskunstlaufleidenschaft doch verabscheute. Sie sah auf dem Foto einige Jahre jünger aus, logischerweise, war dieser Artikel doch schon 15 Jahre alt. Aber viel mehr noch entsetzte Viktor dieses Lächeln, dieser Erguss der Freude über den ersten Platz im Gesicht der jungen Dame. Das war nicht mal aufgesetzt. Das sah so verdammt echt aus. Dem Jungen verschlag dies die Sprache. Er wusste gar nicht was er denken sollte. Seinen Kaffeebecher, den er sich frisch gezogen hatte, ließ er zu Boden fallen. Hatte sie ihn jahrelang angelogen? Es machte alles keinen Sinn. „Du siehst so blass aus. Hat sie dir wirklich gar nichts erzählt?“ Seltsamerweise wirkte Erina nicht so, als wolle sie sich über Viktor und dessen totaler Entrüstung lustig machen. Sie schien sich mehr Sorgen um ihn zu machen. Der Silberhaarige schüttelte mechanisch den Kopf. Das durfte alles nicht wahr sein. Die junge Klassenkameradin zeigte ihm einen etwas neueren Zeitungsartikel. Schwere Verletzung von Jahrhunderttalent Eleonora Nikiforov überschattet das Turnier in Moskau […] Eleonora Nikiforov (16), überaus erfolgreiche Absolventin der Eislaufschule in St. Petersburg, einmaliges Talent, und mit ihren jungen Jahren bereits auf dem Weg in die Weltspitze, steht nun vor den Trümmern ihrer verheißungsvollen Karriere. […] Aus noch ungeklärten Gründen patzte sie beim Absprung für den dreifachen Axel, sie rutschte weg und kam mehr als nur unglücklich auf ihrem rechten Knie sowie dem Kopf auf […] Mit einer großflächigen Platzwunde am Kopf wurde sie aus der Halle getragen und hinterließ eine Schneise der Sprachlosigkeit und des Schocks. „Sie wird in dieser Saison definitiv nicht mehr antreten können“ […] Es ist unfassbar, wie der hübschen jungen Athletin ein solcher Fehler unterlaufen konnte. Sie war bekannt dafür, dass sie die Sprünge perfektionierte wie kaum eine zweite […] Dieser Artikel entstand etwa zwei Jahre, bevor Viktor geboren wurde. Der Junge verstand die Welt nicht mehr. „Viktor…? Wusstest du das auch nicht?“ Erina seufzte. Gleich würde der Unterricht weitergehen und die beiden saßen hier völlig perplex. Viktor war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, sein Herz zog sich ganz ungemütlich zusammen und in seinem Kopf rumorte es dennoch so stark, dass er leichte Kopfschmerzen bekam. Andrej und Ivan kehrten in die Kantine zurück und konnten sich das Kichern kaum verkneifen, als sie den silberhaarigen entdeckten, dessen Schuhe halb im Kaffee getränkt waren und dessen Gesichtsausdruck total entgleist war. Als hätte man ihm die Seele geraubt. „Das tut mir wirklich leid, Viktor, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich ging davon aus, deine Mutter hätte dir alles erzählt. Ich konnte nicht ahnen, dass sie sich so sehr dem Eiskunstlauf abgewendet hat“ sagte Erina etwas sorgsam und erntete eifersüchtige Blicke von Ivan. „Aber du bist ja nun auch hier. Da müsste sie doch auch informiert sein, oder?“ Viktor drehte sich nur weg, weil sein Schädel gefühlt platzte vor Infos, die er nicht gebrauchen konnte. Er ist immer noch zu durcheinander von allem, was die letzten Tage geschehen ist und jetzt ist die Spitze erreicht. „Bitte… nicht… sei bitte still“ murmelte er schwach. Erina bemerkte langsam, was für einen wunden Punkt sie bei Viktor aufgekratzt haben könnte. „Erina, es ist hoffnungslos. Dem wird das doch alles zuviel, wie du siehst. Son bisschen mehr denken als in der Waldorfschule, in der er vorher war, kann ganz schön wehtun“ bemerkte Ivan gehässig. Die schwarzhaarige ignorierte die Aussage und sah wehleidig zu dem Silberhaarigen, der nun schwer seufzend aus dem Raum trottete. Andrej und Ivan machten sich weiter über Viktor und dessen Verpeiltheit lustig. „Lasst ihn doch einfach mal. Ich wollte einfach nur ein bisschen mit ihm reden und habe eine wunde Stelle getroffen. Ich fühl mich etwas schlecht.“ „Sag mal… warum bekomm ich das nicht zu hören, wenn du mir mal einen reindrückst, hä?...“ Ivan wurde rot. Das war für alle nicht zu übersehen. „Stehst du etwa auf den komischen Kauz?“ Jetzt wurde sie ein bisschen rot. Sie sagte nichts. Im gleichen Moment erläutete der unüberhörbare Gong zur nächsten Stunde. Der praktische Teil fing an. Alle fanden sich im Raum ein. Alle, außer Viktor, der war verschwunden. „Wo ist dieser Nikiforov denn hin? Haben wir ihn schon erfolgreich verschreckt?“ „Er war vorhin noch im Pausenraum und hat von Erina ne Ansage bekommen, na klar, da wirft doch jeder das Handtuch, haha“ Das Getuschel war laut, die angesprochene junge Frau seufzte, während ihr Athletiktrainer hereinkam. Nun standen Dehn- und Aufwärmübungen an. Niemand verlor weiter ein Wort über Viktor und der Lehrer vermisste ihn auch nicht direkt, da er ja seit heute erst offiziell hier war. Erina jedoch konnte nicht aufhören, sich innerlich Sorgen um ihn zu machen. Viktor selbst hatte sich in seinen Raum zurückgezogen. Für keinerlei Unterricht hatte er einen Nerv, nicht einmal die Motivation aufs Eislaufen könnte er heute noch ergreifen. Für ihn fühlte es sich in diesen Momenten, in denen er alles aus der Pause Revue passieren ließ, an, als wäre sein bisheriges Leben eine Lüge gewesen. Als wäre alles, was er erlebt hat, gar nicht wirklich passiert. Seine Mutter, diese Frau mit den Alkoholexzessen, die ihn gerne geschlagen hatte und zuletzt tödlich gewalttätig gegenüber Nezhny wurde, soll auch einmal von Eiskunstlauf geträumt haben? Ausgerechnet Sie? Er verstand das alles nicht. Und dann soll es auch noch einen Unfall gegeben haben, bei dem sie sich schwer verletzte? Nichts davon hatte er jemals aus ihrem Mund erfahren. Es hieß immer nur, wie brutal, wie gefährlich Eiskunstlauf sei und dass sie es nicht zuließe, wenn Viktor diesen eigenen Weg ginge. Er solle ja lieber ein wirtschaftlich erfolgreicher Mann werden. Das war es immer. Ob es der Unfall war, der dazu führte, dass sie diesen Sport danach mied mit ‚es sei zu gefährlich‘? Kam es nur deswegen zu allem Unheil? Er kam nicht umhin und dachte wieder an Nezhny. Wie gerne hätte er in diesem Moment seinen Pudel bei sich. Das nach wie vor einzige Wesen, dem er jemals wirklich vertraut hatte. Doch der Pudel war nicht mehr unter den Lebenden. Er konnte nicht mehr um die Ecke kommen und sich an Viktors Schulter kuscheln. Oder leise wimmern. Oder diesen Dackelblick aufsetzen, wenn er hungrig war. Niemand war hier im Raum und somit ließ Viktor auch die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, zu. Er versank mit seinem Kopf in seinen Armen und vergrub seinen Körper halb auf seinem Bett. Man konnte ein leises Splittern fühlen. Ein Wimmern hören. Und ein lautes Knacken. Es war das zerbrochene Herz eines Jungen, der seine ganze Existenz in Frage stellte. Die Fragen nach dem Warum fanden in diesem Augenblick kein Ende mehr für Viktor. Er merke, dass er doch viel emotionaler war, als er es je zugegeben hätte. Er hatte doch nur diesen einen Traum von Anfang gehabt. Er hatte immer dafür gekämpft, sich schikanieren lassen, daran geglaubt, er könnte ausbrechen und seiner Mutter endlich zeigen, wie schön der Sport sei. Doch nun schien das alles, alles, woran er glaubte, surreal zu sein. Was seine Mutter ihm wohl noch verschwiegen hatte? Er vermochte es sich nicht auszudenken. Verwirrt und von der Rolle ließ Viktor den Tränen seinen Lauf. Er konnte es nicht mehr aufhalten. „N-Nezhny…“ Stille. „Nezhny… ich vermisse dich… ich möchte… d-dich… knuddeln….“ Seine Stimme verließ ihn fast komplett. Er konnte es kaum akzeptieren, dass sein geliebter Pudel tot war und ihn nie wieder streicheln würde. Nach einigen langen Minuten, in denen Viktors Herz innerlich auszubluten schien, trat ausgerechnet Yakov ein. Er war äußerst schockiert, als er den Jungen so dermaßen Ende sah. „Viktor…“ Der Junge hörte kurz auf zu schluchzen, aber er sah nicht auf. „Du weißt schon, wie gerne ich es mag, wenn man nicht auf mich hört? Da hab ich dir erst gestern was zu erzählt“. Der Silberhaarige reagierte kaum drauf. „Unterricht schwänzen wird hier nicht gerne gesehen. Und ich dachte, du willst unbedingt aufs Eis“ – „Das wollte ich a-auch die ganze Zeit!!“ unterbrach ihn Viktor nun, er sah auf, seine geröteten Augen sahen vollkommen verheult aus und nun schaffte er es auch nicht mehr, einfach abzublocken. Es musste einfach raus. Und zwar alles. „Aber sie verstehen es nicht! Sie wissen nicht mal wie e-es ist, w..wenn man das ganze Leben lang w-wie ein Spielball behandelt wird, wenn s-sich niemand darum schert, w-was du wirklich willst, w-w-was du fühlst, dich anlügt und d-dir alles wegnimmt, was d-du geliebt hast!!“ quillte es förmlich in der zittrigsten Stimme, die er machen könnte, aus ihm heraus. Selbst das Gebot seines Großvaters stellte er nun entgültig auf den Kopf. Das war kein leises Weinen aus Traurigkeit mehr. Das war Verzweiflung… Yakov stand nur da, die Fäuste zusammengeballt und schaute ihn brüsk an. Er hatte schon viele Schüler gehabt und über die Zeit ein bisschen Verständnis für Empathie sich aneignen können, wovon er aber wenig hielt. Er verstand es, in seiner Rolle als Trainer und Führungsperson das Beste aus seinen Schülern herauszuholen, ihnen sportlich den Weg zeigen, und wenn das hieße, dass er ihnen in den Hintern trat. Die Rolle des Psychologen gehörte schon immer Igor. Dafür war er nie geschaffen. Er war schon froh, dass er privat etwas mehr Gefühl zeigen konnte, aber das gehörte eben nicht in eine Eliteschule wie diese. Insgeheim schien er zu ahnen, dass er von seiner Mutter sprach. Und Eleonora hatte er in seinen jungen Jahren auch mal unter seine Fittiche gehabt. Er wusste alles, was passiert war mit ihr. Auch nach dem Unfall. Und er wusste sich nicht anders zu helfen. Er gab Viktor eine flüchtige Ohrfeige. „Du hängst an der Vergangenheit, Viktor. Du lässt dich von Dingen beeinflussen, die längst passiert sind. Sie sind ein Teil von dir. Du kannst es nicht ändern. Du kannst aber an dir arbeiten. Und an deinem Talent arbeiten. Weißt du, warum ich dich eingeschleust habe?“ Viktor saß da, perplex, weder in der Lage, Gefühle oder Gedanken zu ordnen. „Ich habe erkannt, dass du ein mindestens so großes Talent wie deine Mutter besitzt. Ich konnte nicht anders, ich musste dich, nachdem ich dich gesehen hab, einschreiben lassen! Du kannst mehr schaffen, als das, was wir alle jemals im Eiskunstlauf gesehen haben! Und ich möchte deshalb nicht sehen, wie du dich dem Training entziehst! Du kannst und musst jetzt dein Potential erkennen, auch wenn das bedeutet, dass du deine persönlichen Gefühle einmal schlucken musst und auf die Vorgaben der Trainer hörst. Das brauchst du, um dich zu entwickeln!“ Mit solch deutlichen Worten war er Viktor bislang noch nicht begegnet. Gestern hatte er ein paar Beschimpfungen entgegen genommen, aber diese hinterließen nicht dieselbe Narbe in seinem Glasherz, wie diese Worte. „Als ob ich das a-absichtlich mache! Ich würd ja gern!“ giftete Viktor emotional weiter. „Ich wollte schon seit ganz klein unbedingt Eiskunstläufer werden! Aber… sie.. sie wissen nicht, sie wissen es genauso wenig wie meine blöde Erzeugerin, wie es ist, wenn m-man erfährt, dass alles… a-alles, was ich bisher glaubte, f-falsch war! Ich… ich k-kann einfach grad… nicht… ich komm darauf einfach nicht klar!!“ Yakov, der Mann mit dem Herz aus Stein, seufzte. Er legte eine Hand auf die Schulter von Viktor. Als hoffe er, er könnte irgendwie verstehen, was der Junge fühlte. „Ich denke, dass Igor dir in manchen Dingen besser helfen wird als ich. Aber ich wünsche mir, dass du uns zeigst, was du kannst. Erscheine bitte morgen wieder vernünftig zum Unterricht, ja? Dein Talent darf der Welt nicht entgehen!“ Der Silberhaarige seufzte, wimmerte noch ein wenig, heute würde er keinen Fuß mehr auf die Eisfläche bekommen. Er zitterte viel zu sehr und kämpfte viel mehr damit, nicht in ein komplettes Loch zu fallen. Irgendwas musste er finden, wofür es sich lohnen würde, weiter zu machen. Er war nie der Typ, der einfach Dinge tat, weil sie ein alter Mann ihm befahl oder wünschte. Er schaffte es immer nur, alles aus eigener Überzeugung zu tun. Überzeugung die nun mit Füßen getreten wurde. Er hoffte selbst, dass er morgen wieder ein stückweit mehr die Lust empfand, sich auf die kühle Fläche zu begeben. Yakov drehte ab und verließ den Raum. Den anderen erzählte er nichts von dem, was er mit Viktor besprochen hatte. Er beließ es bei einem ‚Er fühlt sich grade nicht gut und setzt daher aus‘, was die Jungen um Andrej nur mit einem Augenverdrehen quittierten. Viktor machte sich hier nicht unbedingt beliebt bisher, aber das war nun auch nichts neues und ihm auch mehr oder weniger egal grade. Nicht egal war ihm dieses Loch in seinem Herzen. Er wollte wirklich nicht hier sitzen und die ganze Zeit nur weinen. Es brachte nichts. So sehr sein Herz schmerzte, er hatte kaum eine andere Wahl, als das in den nächsten Tagen einfach zu schlucken. Das Eislaufen… es war einfach das einzige Mittel, womit er sich von all seinen negativen Gefühlen, all diesen Vermissgefühlen für Nezhny und auch die Verwirrung gegenüber der Geschichte um seine Mutter ablenken könnte. Er pflanzte sich auf sein Bett und schaltete den Fernseher, den sie auf dem Zimmer hatten, ein, um auf andere Gedanken zu kommen. Viktor entschied sich für eine Doku über niedliche Katzenbabys und Tiere in freier Wildbahn. Die nächsten Tage werden hoffentlich weniger turbulent durchlaufen, redete er sich ein und versuchte, während er mit einem kleinen Aufleuchten innerlich die friedlich miauenden Katzen begutachtete, einfach die ganze Geschichte um seine Mutter zu vergessen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)