Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Prolog: Wunder -------------- Ehrlich gesagt, hatte ich in meiner Jugend nie an Wunder geglaubt. Im Saint Peter's Child's Home gab es keine Wunder. Dafür jede Menge Haferbrei. Ein Wunder war es, wenn du nach einem Jahr so abgehärtet warst, dass dieser Fraß tatsächlich im Magen blieb. Und es war ein Wunder, wenn mal ein Kind tatsächlich offiziell aus dem Heim entlassen wurde. Die meisten hielten es nicht bis zu ihrem 14. Geburtstag dort aus. Auch ich nicht. Es war ein verregneter Tag im April des Jahres 1894. Ich hatte gerade eine Tracht Prügel hinter mir, weil ich angeblich Geld aus der Heimkasse gestohlen hatte. Es ist nicht so, als sei dieser Verdacht unbegründet gewesen, denn ein Unschuldslamm war ich nun wirklich nicht. Wie oft hatten sie mich schon beim Klauen auf dem Markt erwischt? Oder sogar in der Kirche. Aber dieses Mal hatte ich mir wirklich nichts zuschulden kommen lassen. Das war der Leitung allerdings egal. Sie hatten mich sowieso auf dem Kicker und es ging ums Prinzip. Hauptsache, jemand wurde bestraft. „Gott sieht alles, meine liebe Sarah“, hatte mir die Erzieherin gesagt, während sie mich übers Knie legte und mit dem Stock zuschlug. Sie hatte ein Talent dafür, bei jeder Prügel eine andere Stelle am Hintern zu bearbeiten, sodass man sich nie daran gewöhnen konnte. Mit jedem Schlag zuckte ich zusammen und biss mir fester auf die Zähne, um den Schmerz zu verkraften. Dann predigte sie aus der Bibel, hielt mir hundertmal die 10 Gebote vor und verfrachtete mich ohne Abendessen auf den Dachboden, wo wir die Nacht verbringen sollten. Mal keinen Haferbrei essen zu müssen ist dabei fast schon als Belohnung zu verstehen. Auf dem Boden war es im Winter eiskalt und im Sommer unerträglich heiß. Wenn es regnete konnte man vor Feuchtigkeit kaum atmen und wer es wagte dort einzuschlafen, dem bescherten der heulende Wind und der knarzende Boden die unangenehmsten Albträume. Aber das schlimmste daran war die Isolation von den anderen. Die Erzieher wussten, dass wir gemeinsam am stärksten waren. Deswegen versuchten sie, den Willen von jedem einzelnen zu brechen. Angeblich sollte uns das ja zu besseren Menschen machen. Zu echten Christen. Als ob das funktioniert. Im Saint Peter's wurden die Kinder untergebracht, die niemand wollte. Meistens kurz nach der Geburt, ohne ärztliche Bescheinigung und ohne Namen. Die Heimleitung gab den Neuankömmlingen dann immer Namen aus der Bibel. Vielleicht in der Hoffnung, dass dies auf unseren Charakter abfärbt. Ich habe meinen - Sarah - einfach nur gehasst. Allein schon, weil er mir von Leuten gegeben wurde, die sich nie für mich interessierten. Nein, zu einem besseren Menschen bin ich nun wirklich nicht dadurch geworden. Das war auch nicht möglich, wenn die einzigen Personen, zu denen man aufsah, die älteren Heimkinder waren. Und die bereiteten einen darauf vor, irgendwann abzuhauen und auf der Straße zu leben. Das war zwar noch armseliger, aber dafür freier. Zumindest hatten wir uns das so vorgestellt. Meine Zeit kam in eben jener Nacht. 12 Jahre hatte ich in diesem Loch verbracht und mir so oft gesagt: „Nur noch ein paar Jahre. Nur noch ein paar Jahre, dann bin ich frei.“ Es ging nicht mehr. Die letzten Jahre hätten mich gebrochen. Und mir graute es vor der Zeit danach. Die meisten von uns, die es bis zum Ende aushielten, wurden dann zu einem Hungerlohn irgendwo eingestellt und verbrachten ihr restliches Leben mit bezahlter Sklavenarbeit. Zumindest erzählten uns die Älteren das. Und so fasste ich den Entschluss, Saint Peter's noch diese Nacht hinter mir zu lassen. Der Vorteil, allein dort oben auf dem Speicher zu sein, bestand darin, dass auch niemand deine Flucht verhindern konnte. Es gab ein kleines Dachfenster, gerade groß genug für einen Menschen. Durch das schlüpfte man aufs Dach, rutschte runter und fiel auf die Feuertreppe. Dann musste man sich sputen, die zwei Stockwerke hinunterzusteigen, bevor jemand reagieren konnte. Sobald man unten ankam, musste man nur noch in den Gassen verschwinden. Soweit stand zumindest der Plan. Doch mein Mut verließ mich, als ich auf dem Dach saß und mich nur gerade so an der Luke festhalten konnte. Die Ziegel waren steiler und rutschiger, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich erinnerte mich an eine Schauergeschichte, in der ein Mädchen einmal zu viel Geschwindigkeit beim Rutschen aufbaute und dann, an der Feuertreppe vorbei, 30 Fuß kopfüber in die Tiefe fiel. Ihr Todesschrei war angeblich im ganzen Viertel zu hören. Ich weiß nicht wie lange ich in diesem Nieselregen saß und auf die Dächer von London starrte. Mit jeder Sekunde, die dort oben verstrich, wurde mir unwohler. Als ich Big Bens Läuten in der Ferne vernahm, entschied ich mich, dem Angsthasen in mir klein beizugeben und wieder in den Speicher zu klettern. Doch kaum, dass ich mich umdrehte und wieder hineinsteigen wollte, rutschten meine Füße auf den Ziegeln weg. Ich versuchte noch, mich fester am Fensterrahmen zu halten, doch die Nässe ließ mich auch dort jeglichen Halt verlieren und ich schlitterte bäuchlings das Dach hinunter. Panisch versuchte ich meine Geschwindigkeit zu drosseln und mich an den Ziegeln festzukrallen. So eine Angst hatte ich noch nie zuvor verspürt. Todesangst. Obwohl es sich nur um wenige Sekunden handelte, kam es mir vor wie eine schier unendlich lange Zeit. Erst als meine Füße das rettende Geländer unter sich spürten, konnte ich mich aus dieser Zeitlupe lösen. Ich fiel auf meinen Hintern und haute mir am Geländer den Kopf an. Meine Hände und mein Kinn brannten wie Feuer und von diesem Schädelbrummen will ich gar nicht erst anfangen, doch gegenüber dem, was mir sonst passiert wäre, waren ein paar Schürfwunden doch ein kleiner Preis. Als ich aufsah, bemerkte ich wie einige der Jüngeren am Fenster standen und mich mit großen Augen ansahen. Ich bedeutete ihnen nichts zu sagen, stand auf und huschte die Stufen hinunter. Hatten die Erzieher meine Flucht überhaupt in dieser Nacht bemerkt? Oder kümmerte es sie gar nicht? Es war mir eigentlich auch egal. Hauptsache, weg von diesem Ort. Ich weiß nicht wie lange ich durch die Gossen rannte, doch irgendwann war ich mir sicher, dass mir niemand hinterherkam und machte eine Pause. Wo war ich nur gelandet? Ich war so bedacht darauf gewesen, wegzulaufen, dass ich nicht auf den Weg geachtet hatte. London war noch nie das schönste Pflaster, doch in der Nacht wirkte es unheimlich bedrohlich. Ich bildete mir, im Flackern der Gaslaternen, Schatten ein, die mich verfolgten, hörte Schritte, wo keine waren und dachte in meinen Paranoia an Jack the Ripper, auch wenn dessen Mordserie schon seit ein paar Jahren vorbei war. Doch es brauchte auch keinen Ripper. Jeder dahergelaufene Penner könnte mich ohne Mühe in die nächste Ecke zerren und mit mir tun, was immer er wollte. Die Straße war kein Ort für ein junges, naives Ding wie mich, das sah ich nun ein. Noch dazu dieser eiskalte Niesel, der mich bis auf die Knochen aufweichte. Das war alles die Schuld der Großen! Von der Freiheit sprachen sie in großen Tönen, aber zu welchem Preis wurde nicht ein einziges mal erwähnt! Wie viele Geflohene wohl schon in diesen Straßen ermordet wurden? Oder schlimmeres? „Das ist dein Grab“, schoss es mir durch den Kopf. In allen Variationen hatte ich mir meinen Tod vorgestellt. Je brutaler und grausamer, desto mehr ging mein Unterbewusstsein ins Detail. Das hielt ich nicht mehr aus. Ich kauerte mich in die nächstbeste Ecke zwischen ein paar Mülltonnen, zog mir meine Jacke ins Gesicht und fing an leise meine Verzweiflung in Wimmern und Tränen auszudrücken. War diese Flucht der größte Fehler meines Lebens gewesen? Bitte, hilf mir doch jemand! Da vernahm ich ein melodisches Miauen vor meinen Füßen. Nur sehr langsam konnte ich mich aus meiner Starre lösen und aufsehen. Vor mir saß eine aschgraue Katze und blickte mich mit ihren großen, violetten Augen freundlich an. Nicht nur ihre sonderbaren Farben fielen auf, sondern auch die Tatsache, wie gepflegt sie war. Doch am meisten faszinierte mich ihr Gesichtsausdruck. In ihm lag so viel Charakter und Seele, wie man es nicht von einem Tier erwarten würde. Fast schon so, als würde mich gerade jetzt ein Mensch anschauen. Es war ein Blick, der so viel Geborgenheit ausstrahlte, dass all meine Angst für diesen Moment verflog. „Hallo, meine Kleine. Wo kommst du denn her?“, fragte ich sie. Warum stellt man Tieren überhaupt solche Fragen? Ich erwartete auch nicht, eine Antwort zu bekommen, doch zu meinem Erstaunen schien sie mir tatsächlich etwas erzählen zu wollen. Sie miaute fröhlich vor sich her, als würde sie mir gerade die Sage des Robin Hood auf katzisch vortragen. Unnötig zu erklären, dass ich nichts verstand. Dann fing sie an, an meiner Latzhose zu zerren, sprang aufgeregt herum und schien mich bitten zu wollen, mit ihr zu kommen. Das mag verrückt klingen, doch für mein Verständnis, war es genau das, was sie mir sagen wollte. „Was habe ich schon groß zu verlieren“, dachte ich mir, stand auf und lief ihr hinterher. Das war allerdings anstrengender, als ich dachte. Der kleine Vierbeiner war unheimlich flink und nahm gerne Abkürzungen über Zäune, deren Erklimmen für mich teilweise so lange dauerte, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, außen herum zu laufen. Nach einer gefühlt endlosen Verfolgungsjagd, die mich wirklich die letzten Kräfte für diese Nacht kostete, blieb sie dann doch endlich vor einem kleinen verlassenen Haus stehen, das unweit der City lag. Sie spazierte gemütlich durch die leicht offene Tür hinein und befahl mir auf ihre Art, dass ich ihr folgen sollte. Beim Eintritt blendete mich ein helles Licht, das mir von außen überhaupt nicht aufgefallen war. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse. Das Treppenhaus war ungewöhnlich groß und besaß eine Art Tresen, an dem eine ältere Dame saß. Hinter ihr hingen an einem Brett verschiedene Schlüssel, mit unterschiedlichen Zahlen. Von der Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter, der den Raum erhellte. An den Wänden, mit wunderschöner rot-goldener Tapete gestaltet, hingen Gemälde von wichtig aussehenden Persönlichkeiten. Auf dem Boden war ein Läufer, in dem kräftigsten Rot, das ich je gesehen hatte, verlegt. Kein Vergleich, zu der tristen und baufälligen Fassade. Die Dame winkte mich freundlich zu sich. Sie trug ein hochwertiges dunkelblaues Kleid und um ihren Hals hing eine Kette von unschätzbarem Wert. An diesem Ort war alles so sauber und blitzblank, das einzig Schäbige darin... war ich selbst, in meinen durchnässten, schmutzigen Arbeiterklamotten. Ein Stück weit schämte ich mich in diesem Augenblick dafür, Jungenkleider zu tragen, die ich sonst immer mit vollem Stolz zur Schau stellte und mich in ihnen wie eine kleine Rebellin fühlte. Was gäbe ich nur für eine Bluse und einen Rock? „Miss Sarah, wir haben Euch bereits erwartet. Bitte kommt doch näher“, sagte die Dame mit einer höflichen, wohlklingenden Stimme. Die Sache wurde langsam unheimlich. Woher kannte sie denn nur meinen Namen? „V-Verzeiht, ich muss mich wohl verlaufen haben und...“, stotterte ich verunsichert und wollte gerade wieder kehrt machen, doch die Alte bedeutete mir nur noch deutlicher an den Tresen zu kommen. „Habt keine Angst, Miss Sarah. Ihr werdet das sicher nicht sofort verstehen, aber vertraut mir, das hat alles seine Richtigkeit. Wir haben hier dieses Zimmer für Euch reserviert, Nummer 111. Keine Sorge, es wurde im Voraus bezahlt.“ Sie stand auf und führte mich in die erste Etage zum Zimmer am Ende des Ganges. Wie in Trance folgte ich ihr. Warum fürchtete ich mich denn nicht? Warum, um alles in der Welt, lief ich denn nicht weg? Hinter dieser Tür könnte immerhin alles Mögliche sein. Doch so bizarr diese Situation auch auf mich wirkte, irgendetwas verriet mir, das alles in Ordnung war. Hinter der Tür befand sich ein kleines, stilvoll eingerichtetes Zimmer, mit einem kleinen Balkon und einer Reihe von Öllampen, die es ausleuchteten. Sogar ein Waschbecken fand sich dort. Die alte Dame übergab mir den Schlüssel und verabschiedete sich von mir. „Und bevor ich es vergesse: Auf dem Nachttisch steht eine kalte Platte für Euch bereit. Ich hoffe es schmeckt und schlaft gut.“ Tatsächlich stand auf dem Tischchen neben dem Bett ein Tablett mit kleinen Brothappen, verziert mit einigen Trauben, Apfelstücken und Käseecken. Es war so schick angerichtet, dass ich mich kaum traute etwas davon zu essen. Eigentlich eine Verschwendung von künstlerischem Genie, so dachte ich mir. Wozu das Essen so wunderhübsch anrichten, wenn es nur wenige Minuten später sowieso verputzt würde? Doch als ich mich dazu überwinden konnte, doch dieses Kunstwerk zu zerstören, wurde mein Gaumen mit Geschmäckern verwöhnt, die ich so noch nicht kannte. Zwar waren mir Fleisch und Käse sehr wohl auch ein Begriff, aber im Saint Peter's fast nie zu bekommen und vor allem nicht annähernd so köstlich wie das hier. Auch das Obst konnte sich sehen lassen. Dazu kam dieses himmlisch bequeme Bett. Es war frisch bezogen und weich, wie eine Wolke. Wenn das alles hier tatsächlich nur eine Falle war und ich in dieser Nacht sterben müsste – oder schlimmeres - dann hätte ich damit wohl keine Einwände gehabt. All das war es mir absolut wert. Ich wusch mich am Waschbecken richtig ab, zog mir ein bereitgelegtes Nachthemd über und wollte mich gerade zu Bett begeben, da fiel mir die kleine Katze von vorhin zum ersten mal auf, wie sie friedlich eingerollt auf einem der Kopfkissen schlief. War sie schon die ganze Zeit dort gewesen? „Hallo meine Kleine“, flüsterte ich und kraulte ihr vorsichtig den Kopf. Sie ließ sich davon nicht stören, sondern schlummerte friedlich weiter. „Ob du mir wohl sagen kannst, was hier los ist? Ist das etwa nur ein Traum? Oder bin ich vielleicht doch schon tot?“, murmelte ich langsam vor mich hin, während ich ihrem gleichmäßigen Atmen lauschte. Keine Ahnung wie lange ich noch dort lag, doch am Ende verfiel ich in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erkannte ich den Raum kaum wieder. Das Bett war zwar noch immer bequem, aber muffig, die Wände hatten Risse und das Waschbecken funktionierte nicht. Auch war mein kleiner Begleiter spurlos verschwunden, genauso wie das Tablett. Lediglich das Nachthemd war noch das Gleiche, wie am Abend zuvor. Was war hier denn nur los? Ich zog mich um und verließ das Zimmer. Der Korridor sah noch schlimmer aus. Einige Deckenbalken lagen mitten im Weg, der Boden knarzte unter meinen Füßen und es roch modrig. Die meisten Zimmer waren entweder aufgebrochen und komplett leergeräumt, oder durch Trümmerteile nicht betretbar. Ich sputete runter in die Eingangshalle. Das gleiche Bild: Trümmerteile, die ein Vorankommen erschwerten, die Räume komplett geplündert und vor Allem war es menschenleer. Niemand saß an dem Tresen und auch die anderen Räume, aus denen noch am gestrigen Abend Stimmen des Lebens drangen, lagen still und trist dar. Mein Gott, wie lange hatte ich denn geschlafen? Hatten wir überhaupt noch das gleiche Jahr? Ich stürmte auf die Straße und schaute mich panisch um. Es sah noch immer alles normal aus. Die Leute, die Häuser, die Gassen... das gleiche London wie ich es kannte. Ich fand auf einer belebten Straße in der Nähe einen Zeitungsjungen und warf einen flüchtigen Blick auf das Datum der Zeitung: 24. April 1894 Erleichtert atmete ich auf. Zwar verstand ich noch immer nicht, was hier eigentlich vor sich ging, aber zumindest bin ich nicht in einer weit entfernten Zukunft aufgewacht. Im Nachhinein klang das wirklich wie ein ziemlich bescheuerter Gedanke. War also doch nur alles ein Traum gewesen? Als ich zurück in der Ruine ankam und mich überfordert zum Tresen schleppte, fiel mir zum ersten mal das große Regal mit schmalen Fächern neben dem Schlüsselbrett auf. Es war komplett leer bis auf ein Fach, das mit 111 gekennzeichnet war. Langsam ging ich hinter den Tresen und holte nervös den Zettel aus dem Fach. Es war ein ungewöhnlich stabiles Papier. Die Schrift war sehr verschnörkelt und so brauchte ich einige Zeit die wenigen Zeilen zu lesen, zumal dies sowieso nicht meine Stärke war. Vor Aufregung, oder vielleicht auch vor Angst fingen meine Hände an zu zittern als ich den Brief zum ersten mal zu Ende gelesen hatte. Immer und immer und immer wieder flogen meine Augen über den kurzen Text, dessen wahre Bedeutung ich erst viel später verstand: Vor Neugierde brennend, rannte Sarah ihr nach durch die Straßen von London und kam noch zur rechten Zeit, um die aschgraue Katze durch einen Türspalt schlüpfen zu sehen. Den nächsten Augenblick war sie ihr gefolgt, ohne zu bedenken, wohin sie dies in aller Welt führen könnte. Eigentlich hatte ich in meiner Jugend nie an Wunder geglaubt... Kapitel 1: Happy Birthday!? --------------------------- Die Wintersonne weckte mich aus meinem Schlaf. Ihre weißen Strahlen brachen sich durch das gerissene Fenster von Zimmer 111 und zauberten wirre, manchmal hübsch anzusehende Formen auf die gegenüberliegende Wand. Müde richtete ich mich in meinem Bett auf und ging zum Balkon, um etwas frische Luft zu schnappen. Wobei frisch ein dehnbarer Begriff war. Zwar war die Luft frostig kalt, doch es stank nach Alkohol, Urin und Erbrochenem, die Spuren der letzten Nacht. In den Straßen waren nur wenige Menschen unterwegs und irgendwo läuteten Kirchenglocken zum sonntäglichen Gottesdienst. „Hey Baby, willst du nicht ein wenig Spaß mit ein paar echten Kerlen haben?“, hallte es von der Straße. Die Scheibe des Steamed Rat – Pubs war mal wieder zerschlagen und aus ihm torkelten die letzten Ale-Anhänger auf die Straße. Der Charmebolzen war Dean Hart, der Boss der örtlichen Gang. Genervt streckte ich ihm den Mittelfinger entgegen. Das war nicht das erste mal, dass er versuchte, mich anzumachen. Zu seinem Pech war ich nicht so dumm, wie der Rest seiner Mädchen. Außerdem war mir sein ungepflegtes Aussehen und sein Parfüm Marke abgestandenes Guinness einfach zuwider. „Leck mich, Hart! Sehe ich so aus, wie eine deiner Huren!?“ Wer lange genug auf den Straßen von Whitechapel wandelte, entwickelte so eine Ausdrucksweise. Auch wenn ich darauf nicht stolz war. Im Heim hatte man uns beigebracht, sich anständig auszudrücken. Etwas, das mir mittlerweile fehlte. Je länger ich - mehr oder weniger - frei auf der Straße wohnte, desto mehr schien ich die geregelte, wenn auch manchmal etwas unfaire Welt, vor der ich damals geflohen war, zu vermissen. Oder sie zumindest als weniger schlimm zu empfinden, als früher. „Ach komm schon Sarah, du willst es doch auch! Ich stell mir grade schon vor, wie ich dir dieses hübsche Stück Stoff runterreiße und dich ordentlich durchvögel!“, lachte er und fing an seine Pläne an der nächstbesten Laterne bildlich darzustellen. „Nein wirklich, wie charmant!“, rief ich sarkastisch. „Dann komm doch hoch, wenn du so große Lust hast!“ „Oh glaub mir, das kommt noch früher als du denkst! Und dann wird dir dieses dumme Grinsen noch vergehen“, keifte Dean und zog zusammen mit seinen Jungs in dreckigem Gelächter ab. Versuch's doch! In der Hotelruine war ich auf unerklärliche Weise vor allem und jedem geschützt. Niemand, außer mir, konnte hineingehen und niemand konnte mir den Grund dafür erklären. Es war wie eine emotionale Blockade, die die Menschen davon abhielt, dieses Gebäude zu betreten. Bis auf mich... und einer weiteren Person. Wütend machte ich die Balkontür wieder zu und ließ mich auf das Bett fallen. Dieser Vorfall hatte mir die Stimmung wirklich verdorben. Am liebsten wäre ich einfach wieder eingeschlafen, doch dann fiel mir wieder ein, welcher Tag heute war. Freudig sprang ich auf und sputete hinunter, in die Eingangshalle. Wie ich gehofft hatte, stand am Tresen ein mannshohes Paket. An ihm klebte ein Zettel, mit meinem Namen darauf in einer mir vertrauten, verschnörkelten Schrift. Ich riss ihn ab und las die Rückseite: Alles Gute zum 16. Geburtstag Keine Ahnung, ob heute tatsächlich mein 16. Geburtstag war, immerhin gab es nie Papiere, die mein genaues Geburtsdatum enthielten. Doch seit ich hier wohnte, erhielt ich jedes Jahr zu genau diesem Tag, ein Geschenk mit Geburtstagsgrüßen, sowie auch am 25. Dezember ein Weihnachtsgeschenk inklusive geschmückten Baum. Wahrscheinlich alles von der gleichen Person, die mich damals hierher geführt hatte, diesen bizarren Traum haben ließ und mir am nächsten Morgen den merkwürdigen Zettel ins Fach legte. Ich wusste nicht, wer das war und warum ausgerechnet ich so einen Schutz und eine Fürsorge genoss, doch es war mir auch egal. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, nicht wahr? Passte dieses Sprichwort an dieser Stelle überhaupt? Immerhin waren es wahre Schätze, die man mir schenkte. Das Negligé, das ich trug, war mein letztes Weihnachtsgeschenk und so samt und edel, dass ich mir kaum ausmalen konnte, welchen Wert es wohl besaß. Was wohl in diesem Paket stecken könnte? Am liebsten hätte ich es sofort aufgerissen, doch wer weiß, ob ich es dann noch hochbekommen hätte. „Verflucht, ist das schwer!“, schimpfte ich, während ich versuchte, es die Treppe hinauf zu stemmen, oder besser gesagt: Zu schieben. Langsam, Stufe für Stufe, kämpfte ich mich hoch und verlor ein paar mal fast das Gleichgewicht. Das wäre es ja noch gewesen: Vom eigenen Geburtstagsgeschenk erschlagen. Endlich oben angekommen und in das Zimmer verfrachtet, war meine Aufregung kaum mehr zu bremsen. Schnell riss ich das Paket auf und stand vor einem großen Spiegel. Er war oval und hatte einen auffälligen, breiten Rahmen. In ihn waren verschiedene Figuren geschnitzt und bemalt. Die Füße waren zwei Totenschädel, vor denen Katzen lagen. Es folgte ein Geäst aus dunkelgrünen Blättern mit goldener Verzierung und einigen violetten und dunkelblauen Rosen, die daraus hervorlugten. Die Ranken kletterten bis zum Kopfende, wo sie sich in einer Rosenkrone verhakten. In dieser saß ein kleines, menschenähnliches Geschöpf mit weißen Flügeln. Es besaß zwei große rote Augen und hatte langes, blauschwarzes Haar mit goldenen und silbernen Strähnchen. Ich nahm an, dass es sich um eine Art Fee handelte. Ein wenig unheimlich mutete der Spiegel an, aber auch wunderschön. Ich betrachtete mich darin aus allen Winkeln, drehte mich vor und zurück, als wäre ich das jüngste Kind von Queen Victoria, denn mein Spiegelbild konnte ich bisher sonst nur in der Wasserschüssel sehen. Ich begutachtete meine zierliche Gestalt mit dem schmalen Gesicht und richtete meine kurzen, rotblonden Haare. Männer sagten mir nur allzu gern, wie hübsch ich wäre, doch sich selbst ansehen zu können, war noch einmal etwas ganz anderes. War ich denn wirklich schön? Ich dachte an die hohen Damen, die ich manchmal in Westminster sah, mit ihren aufgeplusterten Dekolletés und ihren Wespentaillen. Diesem Ideal könnte ich Jahrzehnte nachjagen, ohne es zu erreichen. Meine Brust war zu klein um sie zu pushen und meine Hüfte viel zu schmal. Und die Meinung von Männern aus dieser Gegend war auch nicht sonderlich viel wert. Die Erkenntnis verpasste meiner Laune einen kleinen Dämpfer. Aber was soll's! Solange ich mir selbst gefiel, war doch alles in Ordnung. Ich hätte vielleicht noch Stunden vor dem Spiegel verbringen können, doch irgendwann konnte ich mich losreißen um mich anzuziehen und rauszugehen. Geburtstag hin oder her, von selbst kommt kein Geld in die Kasse. Und in der City waren heute viele gut betuchte Leute unterwegs, die man bestehlen konnte. Es war nichts worauf ich stolz war, doch immerhin nahm ich nie mehr, als ich brauchte und nur von denen, die auch genug hatten. Die Steamed Rat war mittlerweile in einem wesentlich besseren Zustand, als noch am Morgen. Gerade fegte der Kellner Thomas die letzten Scherben vom Gehweg. Man musste kein Psychologe sein, um zu sehen, wie wenig Spaß ihm das machte. Sein missmutiger Gesichtsausdruck hellte sich aber leicht auf, als unsere Blick sich trafen. Thomas war einer der wenigen Menschen, die eigentlich nicht ins East End gehörten. Ein intelligenter, höflicher, wenn auch etwas schüchterner, junger Mann, der eigentlich das Zeug dazu hätte, nach Oxford oder Cambridge zu gehen, wenn ihm dafür nicht das nötige Kleingeld fehlen würde. Stattdessen spielte er Kellner in einem dreckigen Pub für einen Hungerlohn. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Und so sah er leider auch aus: Ein wenig dünn, blass und immer müde. Aber er versuchte, sich seine Würde durch ein möglichst gepflegtes Äußeres zu bewahren. „Hallo Sarah! Alles liebe zum Geburtstag“, grüßte er und umarmte mich so vorsichtig, als wäre ich aus hauchdünnem Porzellan. In meiner Nähe benahm er sich immer noch unsicherer, als er sowieso schon war, weswegen der Verdacht nahe lag, dass er über beide Ohren in mich verliebt war. Und auch wenn ich nicht wirklich etwas für ihn empfand, war mir seine Nähe hundertmal lieber, als die der Stammgäste des Pubs. „Möchtest du vielleicht kurz reinkommen und einen Kaffee trinken? Der geht natürlich auf mich!“ „Ich weiß ja nicht. Du hast doch selbst kaum Geld. Und von dir armen Schlucker soll ich dann auch noch einen Kaffee erschnorren?“, sagte ich mit der wohl süßesten Unschuldsmiene, die ich aufsetzen konnte. Thomas lief rot an. Eigentlich ziemte sich so eine Neckerei nicht und ich wusste auch selbst, wie gemein es war, doch es machte Spaß, ihn so verlegen zu sehen. Immerhin unterschied ihn das von den meisten anderen Kerlen im Viertel, die nicht einmal gegen Bezahlung Gefühle zeigen würden. Jedenfalls bestand er weiter auf die Einladung und so nahm ich bereitwillig an. „Immerhin hast du mir doch auch diese tolle Taschenuhr geschenkt und so ein Kaffee und ein kleines Stück Kuchen decken sich damit nicht annähernd und...“ „Jetzt mach aber mal halblang, Tom“, entgegnete ich während er zwei Tassen zu unserem Tisch brachte. „Du weißt genau, dass die Uhr gestohlen ist. Und sie ist nun wirklich nichts außergewöhnliches. Ich hätte sie auch nicht geklaut, wenn nicht zufällig dein Geburtstag gewesen wäre.“ „Nein, für mich ist sie etwas besonderes. Denn du hast sie ja gestohlen, weil du an mich gedacht hast... und deswegen möchte ich dich nicht nur hiermit vertrösten. Also ich... ich würde dich gerne, naja... du weißt schon... ausführen.“ Jetzt war ich beeindruckt. Es musste ihn viel Mut gekostet haben, dies auszuprechen. Dafür sollte er belohnt werden. Aber noch sollte er ein wenig zappeln. „Hmm ich weiß ja nicht... was möchtest du denn machen?“, fragte ich in einem gelangweilten Ton. Tom zerfloss geradewegs. „In den Zirkus. Ich habe einen Freund bei den Artisten und der hat mir Karten für die 6-Uhr-Vorstellung geschenkt. Aber wenn du nicht möchtest, dann können wir natürlich auch woanders hingehen und...“ „Nein, Zirkus klingt schön. Treffen wir uns dann um fünf hier vor dem Pub?“ „Du.. du findest die Idee gut? Ich meine, natürlich, wir treffen uns hier. Das passt. Dann also... bis heute Abend?“ Ich nickte lächelnd, küsste ihn sanft auf die Wange und verließ die Steamed Rat. Das hatte er sich verdient. Auch wenn ich sagte, dass ich eigentlich nichts für Thomas empfand, war er es wert, es zu versuchen. Aufrichtigkeit, wie die seine, gab es auf der Welt sowieso viel zu selten. In der City war es, wie erwartet, belebt. Und dementsprechend gut fiel die Ausbeute aus. Fast drei Pfund hatte ich bereits zusammen. Ich warf einen Blick auf die nächstbeste Kirchturmuhr: Halb 4. Höchste Zeit, dass ich mich auf dem Rückweg machte. Da kreuzte sich mein Blick mit dem eines großen Mannes mit Zylinder und langem, grauen Wollmantel. Er lehnte an einer Wand und rauchte eine Zigarette. In seinem Gesichtsausdruck lag eine gewisse Besorgnis. Etwa um mich? Beobachtete er mich ? Oder schauten wir uns nur zufälligerweise in die Augen und ich war nicht gemeint? Je mehr Zeit verstrich, desto flauer wurde das Gefühl in meiner Magengrube. Vielleicht war es ein Cop? Nein, dem schien nicht so. Wenn er mich beim Stehlen erwischt hätte, wäre ich schon verhaftet worden. Dennoch machte ich mich auf, zurück nach Whitechapel zu kommen. Ich schlüpfte durch die Menschenmenge und nahm diverse Abzweigungen, um meine Spuren zu verwischen. Als ich mir sicher war, dass er mir nicht folgen würde, machte ich mich über die Hauptstraße wieder auf den Weg zurück nach Hause, um mich für die Verabredung fertig zu machen. Es war eine wirklich unterhaltsame Vorstellung. Für dieses Date hatte ich sogar mein einziges Kleid angezogen. Es war zwar mit seinem schmucklosen Stil und dem schlichten rotbraunem Jäckchen nicht besonders edel, doch ohne Zweifel das Beste, was mein limitierter Kleiderschrank zu bieten hatte. Auch Tom hatte sich das scheinbar beste Hemd rausgesucht, das er besaß. Ein Erbstück seines Vaters, wie er begeistert erzählte. Tatsächlich war sein alter Herr wohl etwas kräftiger gebaut gewesen, denn besonders im Schulterbereich schlackerte es und fiel auch ein kleines Stück zu lang aus. Er machte aber das Beste draus und trug es mit solch einem Stolz, dass man ihn dafür nun wirklich nicht auslachen konnte. Zu schade, dass ihm die passende Weste und Krawatte fehlten, denn dieses Outfit stand ihm wirklich gut. Man hätte fast vergessen können, wo er eigentlich herkam. „Und? Hat es dir gefallen?“, fragte er, während wir gemütlich ein kleines Stück spazierten. „Ja sehr. Vielen Dank, für die Einladung.“ „Doch nicht dafür. Wenn du Spaß hattest, bin ich glücklich. Und außerdem...“ „Ja?“ „Versteh mich nicht falsch. Eigentlich ist es egal was du trägst, aber dich einmal in einem Kleid sehen zu dürfen... darin bist du einfach nur umwerfend.“ Ich merkte, wie meine Wangen rot wurden. So direkt hatte er mir noch nie Komplimente gemacht. Und es war nicht nur dummes Geschwätz, sondern kam absolut von Herzen. Es fühlte sich komisch an, von jemandem so offen geliebt zu werden. Aber auch wunderbar. Vielleicht sollte ich mich wirklich darauf einlassen. Langsam suchte ich mit meiner Hand nach seiner und drückte sie fest. „S-Sarah?“ Mein Atem wurde schwer und mein Herz schlug mit jeder Sekunde schneller. So nervös war ich schon lange nicht mehr gewesen. Ich blickte Tom ins Gesicht und sah, dass er wohl gerade das Gleiche fühlte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Noch ehe ich genauer darüber nachdenken konnte, zog ich ihn zu mir hinunter und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Als ich ihn wenige Sekunden später wieder losließ, konnte ich Thomas' Überforderung deutlich erkennen. „Ich will ehrlich zu dir sein. Ich habe keine Ahnung, wie ich zu dir stehe. Bisher hielt ich dich für nicht mehr, als einen guten Freund, aber jetzt bin ich mir dabei nicht mehr so sicher...“ Tatsächlich weckte der Kuss ein wohliges Gefühl der Wärme in meinem Herzen. „Weißt du, ich habe lange gewusst, wie du für mich empfindest und dich trotzdem absichtlich geneckt. Das musste ich wiedergutmachen.“ Er wirkte leicht enttäuscht: „Also soll ich das nur als Entschädigung verstehen?“ Ich schüttelte den Kopf und fing an verlegen zu kichern: „Keineswegs. Für Paare gehört es sich doch, sich zu küssen, oder etwa nicht?“ Beherzt griff Tom nach meiner Hand und sah mir tief in die Augen. Seine Freude war unübersehbar. Ich wünschte mir, dieser Moment würde nie vergehen. Doch ein gehässiges Lachen riss mich aus meinen Träumen. Dean war mit zwei seiner Gorillas aufgetaucht. Sie trieben uns in die Enge und hielten uns in Schach. „Nun sie sich mal einer dieses Liebespärchen an. Das ist so süß, da muss ich schon fast kotzen!“, grunzte er. Seine Jungs spuckten aus. „Du kannst auch nur das Maul aufreißen, wenn du dich hinter starken Schultern versteckst, oder Hart? Bist du etwa schwul?“, keifte ich. Thomas hielt mich zurück und gab mir mit einem flehenden Blick zu verstehen, keinen Ärger zu machen. „Bitte Dean, du kennst uns doch. Bei uns gibt es nichts zu holen.“ „Deine Kleine weiß schon worum es geht. Um ihren süßen Hintern!“ „Hast du nicht genügend Mädchen? Warum muss es denn ausgerechnet Sarah sein?“ „Jetzt pass mal auf, Milchbubi! Dieses Viertel gehört mir und wenn ich etwas will, bekomme ich's auch!“ Mit diesen Worten griffen die Schläger Thomas an, der sich schützend vor mich stellte. Er war ein mutiger Mensch, doch hatte nicht die geringste Chance. Sie benutzen Schlagringe und traten nach ihm, als er auf dem Boden lag. Dean drückte mich gegen die Wand. Ich war wie paralysiert und konnte nur mit ansehen, wie diese Mistkerle ihn immer wieder auf die Beine zerrten, um ihn niederzuschlagen. Warum konnte ich mich denn nicht wehren? Wann immer unsere Blicke sich trafen, lächelte Thomas mich immer nur an als wolle er mir sagen, dass alles gut wird. Von wegen gut... Sein Blut verteilte sich auf dem Boden und in seinem Gesicht gab es keine Stelle, die noch heil war. Das halte ich nicht mehr aus! „Bitte Dean, ich tue, was du willst. Aber lass ihn in Ruhe, er hat damit doch nichts zu tun“, platzte es aus mir heraus. Er grinste böse und entblößte eine Reihe gelber, kaputter Zähne. Dann befahl er seinen Jungs von ihrem Sandsack abzulassen und drückte mir einen abscheulichen Kuss auf die Lippen. Warum musste das denn nur mir passieren? Was hatte ich denn verbrochen? Doch, gerade als ich mich meinem Schicksal hingeben wollte, stieg in mir eine Wut auf, die ich so noch nie gespürt hatte. Ich riss die Augen auf und blickte den Gossenratten in ihre dreckigen Gesichter. Diese Verbrecher werden mir nicht meinen Geburtstag zerstören! Ich packte Dean am Arm und bemerkte, dass meine Hände glühten, als seien sie heißer Stahl. Er schrie, wie am Spieß. Seine Gorillas starrten uns geschockt an und waren unfähig, ihrem Boss zu helfen, während ich ihm grinsend die Haut abzog. Ich wusste nicht, warum, aber es fühlte sich einfach gut an, ihn winseln zu sehen. Ja, Dean Hart winselte wie ein kleines gequältes Hündchen. Meine Hände fingen an , Feuer zu fangen und ließen ihn lichterloh in Flammen aufgehen. Es waren nur wenige Sekunden, bis seine Todesschreie verstummten, doch ich genoss jede einzelne davon. Als mein Rausch verflog, verstand ich das Ausmaß meines Wutausbruchs. Thomas saß vor Deans stinkender, verkohlter Leiche und starrte mich verängstigt an. Was habe ich da nur getan? Was ist denn nur mit mir passiert? Habe ich... habe ich etwa gerade jemanden ermordet? Und hat es mir tatsächlich gefallen? Und was war mit meinen Händen los? Mein Gott, was bin ich? Voller Angst vor mir selbst, rannte ich nach Hause, stolperte immer wieder und fiel in den Matsch. Als ich endlich zuhause ankam, war mein Kleid verdreckt und meine Handflächen aufgeschlagen. Kaum etwas konnte ich durch den Tränenfilm sehen, während ich mich die Treppe hinaufschleppte. Am liebsten wäre ich heute niemals aufgestanden. Nein, am liebsten wäre ich niemals geboren worden. Und bestimmt hätte ich mich heute noch umgebracht. Doch als ich durch die Tür von Zimmer 111 taumelte, bemerkte ich den großen Mann, der auf dem Balkon stand und genüsslich eine Zigarette rauchte. Der hochwertige Tabak verteilte sich als ein angenehmes Aroma im gesamten Raum. Er blickte über die Schulter und sprach in einer tiefen, freundlichen Stimme: „Hallo Alice. Ich hoffe, der Spiegel hat dir gefallen.“ Kapitel 2: Der mysteriöse Besucher ---------------------------------- Der Mann hatte alle Öllampen im Zimmer angezündet und stand im Rahmen der Balkontür. Er maß mindestens 6''3 und wirkte äußerst kräftig. Sein dunkelbraunes, gepflegtes Haar war akkurat zurückgekämmt. Auch seine Koteletten waren sauber getrimmt. Er trug eine dunkelblaue Weste über einem weißen Hemd und eine dazu passende Fliege. Es brauchte nichts, um zu erkennen, dass dieser Mann nicht aus dem East End kam. „Wer... wer sind Sie?“, fragte ich, sichtlich fertig mit meinen Nerven. Eigentlich war es mir auch egal. Alles war mir egal. Er lächelte freundlich und löschte seine Zigarette. „Ein Freund. Mein Name ist Jacob William Salem, aber die meisten nennen mich Jack. Ich habe dir vor vier Jahren dieses Zimmer zur Verfügung gestellt.“ Noch immer stand ich wie angewurzelt in der Tür. Ich bemerkte den Zylinder und den grauen Wollmantel auf meinem Bett. „Sie sind der Mann, den ich auf dem Marktplatz traf, nicht wahr?“ Er nickte. „Leider verlor ich dich in der City aus den Augen. Dann hatte ich mich hierhin aufgemacht, aber du warst schon weg. Also hielt ich es für das Beste, auf dich zu warten. Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt“, lachte er. Ich zeigte keine Reaktion. Die Bilder steckten noch immer in meinem Kopf und folterten mich. Mr. Salem fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ich zögerte. Vielleicht konnte er mir helfen. Wenn er dieses Haus betreten konnte, dann... „Was bin ich?“, platzte es aus mir heraus. „Was denkst du denn, was du bist?“ Was ich dachte? Ich starrte auf meine Hände und versuchte mir in aller Ruhe ihr Aussehen während des Vorfalls wieder in Erinnerung zu rufen. Glühender Stahl, brennende Fackeln... Nein, so etwas war doch unmöglich. Aber tatsächlich war es nicht das erste Unerklärliche in meinem Leben und das wusste ich. Der verrückte Traum vor 4 Jahren, die Barriere um das Hotel, der Unbekannte, der über mich wachte... wie konnte ich mir überhaupt die ganze Zeit einreden, dass dies alles nur Zufall war? Es hatte einen höheren Sinn. „Du beherrschst Magie, Alice. Das ist eine seltene, außergewöhnliche, aber auch gefährliche Gabe, die dir deine Eltern vermacht haben.“ „Meine Eltern haben mich verstoßen, als ich geboren wurde.“ Mr. Salem schüttelte traurig den Kopf und zündete sich eine weitere Zigarette an. Doch er benutzte keine Streichhölzer, sondern schnippte nur kurz mit den Fingern und entzündete so eine kleine Flamme in seiner Hand. Gebannt schaute ich dabei zu. Es wirkte unheimlich und doch faszinierend zugleich. „Ich war mit ihnen sehr gut befreundet und kenne dich schon, seit du geboren wurdest. Deine Eltern haben dich aufrichtig geliebt. Leider kam es zu einem Vorfall, der sie dazu zwang, dich zu deinem eigenem Schutz ins Saint Peter's abzugeben. Sie baten mich, aus der Distanz ein Auge auf dich zu haben. Ein paar Wochen darauf verstarben beide.“ „Was... was war denn los?“ „Das habe ich leider nie erfahren. Ich hörte, sie wurden verfolgt, aber von wem und warum, das entzieht sich meinem Wissen.“ Ich schluckte schwer. Niemand konnte mir garantieren, dass mich dieser Mann nicht anlog, doch etwas brachte mich dazu, ihm zu glauben. „Sie haben mich 'Alice' genannt. Ist... ist das mein richtiger Name?“ „Es ist der Name, den dir deine Eltern gaben. Wenn du allerdings 'Sarah' vorziehst, dann werde ich dich auch so nennen. Du bist alt genug, um selber zu entscheiden, was dein richtiger Name ist.“ Darüber musste ich nicht nachdenken. Alice. Alice. In meinem Kopf wiederholte ich den Namen immer wieder. Sein Klang wirkte auf mich beruhigend. „Meine Eltern... was für Menschen waren sie?“ Mr. Salem setzte sich aufs Bett und bot mir den Platz neben ihm an. Ich zögerte, doch alles war besser, als weiter im Türrahmen zu stehen. „Dein Vater, Samuel, war ein stolzer Magier und ein echter Freund. Er war fähig und gewitzt und immer da, wenn man ihn brauchte. Wir kannten uns schon seit unserer Kindheit und waren unzertrennlich. Deine Mutter, Claire, war eine wunderschöne junge Frau. Fürsorglich und liebenswert. Die Kleider, die ich dir geschenkt habe, gehörten ihr. Sie waren ein absolutes Traumpaar. Und deine Geburt hat sie nur noch glücklicher gemacht.“ Er machte eine Pause und schien sich eine Träne aus dem Auge zu wischen. „Es traf mich schwer, als ich von ihrem Tod erfuhr. Ich weiß noch, dass ich zu ihnen sagte, dass alles in Ordnung käme und sie dich schon bald wiedersähen. Ich weiß, das ist nicht fair, ausgerechnet dir gegenüber das zu erwähnen, aber ich vermisse die beiden wirklich sehr.“ Ich konnte seine Trauer nur wenig nachvollziehen, immerhin hatte ich meine Eltern nie kennen gelernt. Doch Mr. Salems Ausführungen weckten in mir die Sehnsucht, sie einmal im Leben getroffen zu haben. Das Wissen, das dies unmöglich sei, machte mich traurig. „Warum haben Sie mich nie aus dem Heim geholt?“, fragte ich ihn um das Thema zu wechseln. „Tut mir leid, mir waren die Hände gebunden. Ich musste warten, bis du entweder entlassen wurdest, oder dich vorzeitig verabschiedet hast.“ „Und diese ganze Sache... der Traum und das Hotel und alles...“ „Um es einfach zu sagen: Ich hatte das alles schon vor Jahren vorbereitet. Der Rest war schnell getan.“ „Und warum haben Sie mich nicht direkt danach angesprochen?“ „Hättest du mir denn vertraut? Ich wollte dich auch nicht überrumpeln.“ „Vielleicht hätten Sie das besser getan...“ Wieder drangen die Bilder der letzten Stunde in mein Bewusstsein. Deans verkohlter Kadaver, Thomas' verängstigter Gesichtsausdruck... Bestimmt hielt er mich jetzt für ein Monster. Wer würde nur solch eine zerstörerische Gabe wollen? Doch ich musste auch zugeben, dass sie mich gerettet hatte. „Alice... was ist passiert bevor du nach Hause kamst?“ Mr. Salem schien zu ahnen, was mit mir los war. Ich wagte es dennoch nicht einen Ton zu sagen. „Es gibt nur eine Möglichkeit, unbewusst von seiner Magiebegabung zu erfahren. Eine Überreaktion. Der Magier dreht in extremer Gefahr durch und vernichtet unkontrolliert alles, was er als Bedrohung ortet. Das ist passiert, oder?“ Musste ich darauf wirklich antworten? Er wusste es doch sowieso. „Hast du dabei jemanden verletzt?“ Ich nickte langsam, unfähig ihm die Wahrheit zu erzählen. „Einen Freund?“ Ein verächtliches Lachen entwich meinen Lippen: „Nein, definitiv keinen Freund. Eher das Gegenteil. Und es wäre auch gelogen, zu sagen, dass er das nicht verdient hatte.“ „Verdient oder nicht, das macht für einen halbwegs gewissenhaften Menschen keinen Unterschied. Du machst dir Vorwürfe, das sehe ich.“ „Ich will so etwas nie wieder tun...“, flüsterte ich, während mir ein Schauer über den Rücken lief. Eine kurze Zeit lang herrschte gespenstische Stille, bis Mr. Salem aufstand und mir seine Hand entgegenstreckte. „Damit Magie nicht unkontrolliert wütet, muss sie beherrscht werden. Von selbst wirst du sie allerdings kaum in den Griff bekommen und ich fürchte, beim nächsten mal könntest du auch Unschuldigen schaden. Und dir selbst. Wenn du möchtest, kann ich dir beibringen mit Magie umzugehen. Du wärst dann meine Schülerin und würdest bei mir wohnen. Keine Sorge, mein Haus ist groß genug.“ Unschlüssig schaute ich von seiner Hand hinauf zu seinem Gesicht und sah, dass er es definitiv ernst meinte. Freund der Eltern hin oder her, aber war er nicht etwas zu sehr um mich besorgt? „Warum interessiert es Sie so sehr, was aus mir wird?“, fragte ich skeptisch. „Um ehrlich zu sein, fühle ich eine gewisse Verpflichtung dir gegenüber, nachdem ich dich so lange bewacht habe. Es hat weniger etwas mit deinen Eltern zu tun, als mit dir selbst. Ich mag dich und deine aufmüpfige Art. Und ich glaube, dass aus dir eine wirklich talentierte Magierin werden kann. Außerdem bin ich ein Gentleman durch und durch und als solcher ist es meine Pflicht, einer jungen Dame in Not zu helfen.“ Er machte eine sarkastische Verbeugung, die mich dennoch erröten ließ. Ich schätzte ihn auf etwa Mitte 30 ein – und damit viel zu alt – doch musste auch zugeben, dass mir sein Aussehen und seine charmante Art gefielen. „Aber ich werde mich dir nicht weiter aufdrängen, wenn du ablehnen solltest.“ „Ich bin mir nicht sicher... wie kann ich Ihnen vertrauen?“ Tatsächlich ging es mir nicht einmal darum. Ich glaubte Mr. Salem jedes Wort. Hätte er mir das alles heute morgen offenbart, wäre ich wohl bereitwillig mitgekommen. Doch auf meinen Lippen spürte ich noch immer Thomas' Kuss und mein Herz brannte danach, wissen zu wollen, wie es ihm ging. Selbst wenn er nun Angst vor mir hätte, so hätte ich zumindest Gewissheit, dass er okay war. Nein, ich kann noch nicht weg. „Ich kann verstehen, dass dich das überfordert. Wenn du möchtest, kannst du eine Nacht drüber schlafen, aber zuvor...“ Er griff in seine Westentasche und holte eine kleine Box hervor. „... möchte ich dir noch ein Geburtstagsgeschenk überreichen.“ Ich machte sie auf und fand ein Medaillon, gebettet auf einem kleinen Kissen. Es war aus Gold und hatte eine Umrandung aus roten Steinen. Ich bemerkte einen kleinen Hebel, mit dem es sich öffnen ließ. In seinem Innerem befand sich ein kleines Foto, mit einem jungen Pärchen, die ernst in die Kamera schauten. „Dieses Foto haben deine Eltern zu ihrer Hochzeit anfertigen lassen. Mehr habe ich leider nicht von ihnen. Mit diesem Medaillon besitzt du ab sofort alles, was ich vor der Zwangsversteigerung retten konnte.“ Schon fast ehrfürchtig legte ich die Kette an und blickte in den Spiegel. Es war das erste mal in meinem Leben, dass ich Schmuck trug. Für Whitechapeler ein wahres Privileg. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Das Negligé, mein Kleid, der Spiegel, und einige kleinere Gegenstände... Insgesamt 10 Schätze zählte mein Zimmer, es selbst mit eingeschlossen. Wenn ich all diese verkauft hätte , hätte ich sicherlich ein halbwegs angenehmes Leben führen können. Doch das würde ich niemals übers Herz bringen. „Es steht dir gut.“ „Danke...“, flüsterte ich mit leichtem Missmut. „Dieses Medaillon ist nicht nur ein einfacher Schmuckgegenstand. Es dient für dich auch als Medium. Jeder Magier besitzt so etwas in Form eines persönlichen Gegenstandes, der dabei hilft, die Kräfte in einem besser zu kontrollieren. Solltest du dich also dagegen entscheiden, mitzukommen, wird es trotzdem für dich von Nutzen sein. Ruh dich aus, wir sehen uns morgen wieder.“ Der Magier verließ das Hotel und ließ mich gedankenversunken zurück. Ich setzte mich an das Kopfende des Bettes und zog meine Beine heran. Immer wieder blitzte in meinen Erinnerungen Deans Tod auf. Als wäre er nicht schon im Leben nervig genug gewesen. Der Morgen kam viel zu schnell. Ich hatte kaum geschlafen und fand auch in meinen Träumen keine Ruhe. Doch zumindest war mir klar, was ich zu tun hatte. Eigentlich wusste ich das auch schon gestern Abend. Müde kämpfte ich mich aus dem Bett, zog mich an und ging langsam zur Steamed Rat. Wie würde er reagieren? Was sollte ich sagen? Thomas stand drinnen am Tresen und hatte einige schwere Blessuren im Gesicht. Er verlor jegliche Fassung, als er mich erblickte, stürmte hinter dem Tresen hervor und auf mich zu. „Hör zu Tom...“, wollte ich noch beginnen, doch weiter kam ich nicht, denn er drückte mich an sich, so fest, als wäre ich jahrelang verschollen gewesen. „Du lebst noch, so ein Glück“, flüsterte er mit einer Stimme, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. „Was ist das denn für eine Aussage? Was hast du denn erwartet?“, fragte ich sarkastisch. „Bitte Sarah, ich weiß nicht was gestern passiert ist, aber du sahst so schockiert aus... Ich dachte wirklich, du würdest dir etwas antun. Wenn ich doch nicht nur so ein Feigling wäre, dann wäre ich dir hinterher gelaufen.“ „Verstehe ich das grade richtig? Du hast keine Angst vor mir? Du denkst nicht, ich wäre ein Monster?“ „Angst?“, er sah mich unsicher an. Von Nahem sahen seine Wunden nur noch schlimmer aus. Sein rechtes Auge war so geschwollen, dass er es kaum öffnen konnte. Seine Nase steckte hinter einer dicken Bandage und schien sogar gebrochen zu sein. Wie lange er wohl gestern behandelt werden musste? „Nun um ehrlich zu sein... schon, aber... Das ändert nichts daran, was ich für dich empfinde und... ach verdammt ich liebe dich, Sarah! Ja ich habe Angst vor dir, aber es gibt doch bestimmt eine logische Erklärung dafür, oder? Aber in keinem Fall, will ich dich verlieren.“ Mein Herz schlug noch schneller als gestern. Verdammt, ich war mir doch so sicher, dass ich mich nur verabschieden wollte. War ich etwa wirklich in ihn verliebt? Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen, zog ihn am Kragen und küsste ihn so wild, dass es mich selbst überraschte. Wieder wurde Thomas dabei so überrumpelt, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte, doch kurz darauf schlang er seine Arme um mich und erwiderte den Kuss mit der gleichen Leidenschaft. Je länger er anhielt, desto mehr schmerzte es mich zu wissen, dass ich gehen musste. Hierzubleiben und das Risiko einzugehen, eines Tages jemanden zu töten, bei dem ich es wirklich bereuen würde, war keine Option. „Sarah... weinst du etwa?“, fragte er mich, nachdem sich endlich unsere Lippen voneinander lösten. Ich strich über meine Wange und bemerkte, wie mir Tränen hinunter liefen. „Hör zu... Ich weiß nicht, wie verrückt das für dich klingen mag, aber es hat sich gestern herausgestellt, dass ich eine Magierin bin. Und das solche Ausbrüche vielleicht immer wieder passieren könnten.“ „Verrückt nicht unbedingt, aber woher weißt du das so genau?“ „Von dem Mann, der immer noch auf seinen Kaffee wartet.“ Wir drehten uns zu einem der hinteren Tische, an denen tatsächlich Mr. Salem saß. Ich hatte weder ihn, noch einen der anderen wenigen Gäste im Pub bemerkt und vernahm erst jetzt das leichte Gelächter einiger Kerle. Nicht das es mich wirklich interessierte, was andere über mich dachten. „Deswegen brauchtest du also noch ein wenig Bedenkzeit. Das kann ich verstehen.“ Mr. Salem kam auf uns zu und gab Thomas die Hand, der leicht eingeschüchtert war. „Jack Salem, mein Name. Ich bin ein Freund deiner Geliebten und habe ihr das Angebot unterbreitet, mit mir Magie zu studieren. Das würde solche Überreaktionen fast komplett eindämmen. Es wäre sicherer für ihr Umfeld, aber auch für sie selbst.“ „Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht so ganz. Wohin würden Sie sie denn mitnehmen?“ Mir fiel auf, dass ich das selbst nicht wusste. Anscheinend kamen wir gestern nicht dazu, darüber zu sprechen. „Es ist ein verwünschter Ort namens Taleswood, südöstlich von London. Er ist eingeschlossen von einem Märchenwald, mit einem sprechenden Fuchs als Bürgermeister, einem stromaufwärts fließendem Fluss und einer Bäckerei, die von Gartenzwergen geleitet wird.“ Thomas und ich wollten bereits loslachen, doch spürten, dass er keine Scherze machte. Ich sollte es langsam wirklich aufgeben, mein Leben mit normaler Logik zu erklären. „Und wie gelangt man in diese Stadt?“, fragte ich, noch immer etwas skeptisch, ob er uns nicht doch auf den Arm nahm. „Es gibt viele Wege, aber wir beide werden den wahrscheinlich kürzesten, durch den Spiegel in deinem Zimmer nehmen. Portalmagie.“ „Portalmagie?“ „Dir das zu erklären, würde zu lange dauern. Also hast du dich dazu entschieden, mit mir zu kommen?“ Ich nickte langsam. Thomas schien nun zu begreifen, dass dies unsere vorerst letzte Begegnung war. „Nein, warten Sie.... kann... kann ich vielleicht mitkommen?“ „Tut mir leid, aber du wirst Taleswood nicht so betreten können, wie wir beide. Wenn du diese Stadt wirklich besuchen möchtest, musst du deinen eigenen Weg finden. Ich habe meinen ersten Besuch auch nicht durch Spiegel gemacht. Um es einfach zu erklären: Das Spiegelportal kann nur von Menschen genutzt werden, die Taleswood bereits besucht haben. Alice ist dort geboren, also kann sie diesen Weg nutzen. Allerdings wird sie vorerst auch dort bleiben müssen und nicht mehr nach London zurückkehren können. Für mindestens ein Jahr.“ „Alice?“ „Das ist mein richtiger Name“, sagte ich und gab Thomas einen letzten Abschiedskuss. Er schmeckte bitter. „Ich wünschte es ginge anders, aber ich will nie wieder in so eine Situation geraten, wie gestern Abend. Wirst du auf mich warten?“ „Was ist das für eine Frage? Sarah... Nein entschuldige, Alice. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Und wenn es eine Möglichkeit für mich gibt, dich zu besuchen, dann werde ich das tun, versprochen.“ Nach außen hin versuchte ich meinen Stolz zu bewahren, doch ich spürte wie meine Knie weich wurden. Jetzt nur nicht nachgeben! Ich verließ die Steamed Rat zusammen mit Mr. Salem, ohne mich noch einmal umzudrehen und ging zurück in mein Zimmer. Der Magier hatte extra einen leeren Koffer mitgebracht, in den ich alles mitnehmen konnte, woran mir etwas lag. „Aber um Kleidung brauchst du dir keine Sorgen machen. Wir lassen dir in Taleswood neue anfertigen. Das, was du besitzt, ist ja nicht mehr das Gelbe vom Ei.“ Damit fiel mir die Auswahl leicht und ich beschränkte mich auf die Geschenke, die ich in den Jahren erhielt. Dementsprechend schnell war der Koffer auch gepackt. „Und jetzt?“, fragte ich, noch immer unsicher, was es mit dem Spiegelportal auf sich hatte. „Jetzt beginnt, die wahrscheinlich interessanteste Reise, die du jemals haben wirst.“ Mr. Salem zückte einen Dolch, schnitt sich einmal leicht in die Handfläche und legte die Hand auf die Feenfigur in der Rosenkrone. Erst schien es mir wie eine optische Täuschung, oder eine Illusion, doch tatsächlich fing der Spiegel langsam an, vor meinen Augen zu schmelzen und einer Wasseroberfläche zu gleichen. Dann erschienen einzelne Farbtropfen, die gemächlich auf der Oberfläche Formen annahmen und sich nach und nach in ein verschwommenes Aquarellbild verwandelten. Es schien ein Zimmer darzustellen. Vorsichtig hielt ich einen Finger in die Oberfläche, doch obwohl sie optisch existierte, fühlte ich keinen Widerstand. Ich schaute meinen zukünftigen Lehrer fragend an, der mir mit einer freundlichen Handbewegung bedeutete, hindurchzugehen. „Keine Sorge, das erste mal ist immer etwas befremdlich. Wenn es dir hilft, kannst du auch die Augen schließen.“ Meine Aufregung wuchs mit jeder Sekunde. Was mich wohl auf der anderen Seite erwarten sollte? Kapitel 3: Wundersame Kleinstadt -------------------------------- Es war nur ein kurzer Schritt auf die andere Seite, der mich aber mehr Überwindung kostete, als erwartet. Eigentlich wollte ich die Augen offen halten, doch kurz vorm Übergang schlossen sie sich doch und ließen sich auch nicht mehr öffnen. So bekam ich nicht wirklich mit, was eigentlich passierte. Scheinbar waren wir in einer großen, leeren Halle, denn ich hörte einen starken Widerhall während mich Mr. Salem an der Hand nahm und durch den Raum führte. Es war nur ein kurzer Aufenthalt, bis wir uns in einer anderen Umgebung befanden und er mir sagte, dass ich die Augen wieder öffnen konnte. Ich fand mich in einem großen, aufgeräumtem Zimmer wieder. Es war recht dunkel, da das einzige Fenster neben dem Spiegel kaum Licht spendete und auch die große, offene Doppeltür, gegenüber des Kamins nicht viel mehr Helligkeit brachte. Doch nach kurzer Zeit gewöhnten sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse. Um den Kamin standen zwei bequeme Sessel. Über ihm hing, als eine Art Trophäe, der Schädel eines großen Tieres. Rechts und links davon befanden sich zwei riesige, vollgestopfte Bücherregale. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes sah ich einen Billardtisch. Der Spiegel, durch den wir gereist waren, stand in einer Ecke und hatte einen ähnlich aufwendig verzierten Rahmen, wie der in meinem Zimmer. Jedoch nicht mit Rosensträuchern, sondern zwei Schlangen – eine weiße mit schwarzem Muster und eine schwarze mit weißem Muster – die sich oben ineinander verknoteten und den Betrachter mit ihren gelben Augen anblitzten. „Willkommen in der Villa der Wunder“, sagte Mr. Salem mit einer überschwänglichen Geste. „Das hier ist der Salon, das größte Zimmer des Hauses.“ Noch ehe ich etwas antworten konnte, stürmte eine aufgebrachte junge Frau durch die Doppeltür. Sie war etwas größer als ich – in mehr als nur einem Zusammenhang – weswegen ich sie für ein paar Jahre älter hielt. Doch noch etwas anderes fiel einem selbst durch die schwachen Lichtverhältnisse sofort auf: Ihr aschgraues, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, die weiße, porzellanartige Haut und ihre großen violetten Augen. Irgendwie weckte dies Erinnerungen... „Master Salem, Sir! Sie sind wieder hier, so ein Glück! Hören Sie...“ „Was ist denn das für ein Benehmen?!“, herrschte er das Mädchen streng an. „Begrüße gefälligst unseren Gast!“ „Aber...“, wollte sie noch widersprechen, doch bekam als Antwort einen wütenden Blick. Bisher hielt ich den großen Mann für jemanden von der höflichen und zuvorkommenden Art. So wie es aussah, konnte er allerdings auch genauso einschüchternd sein, wie man es von einer Person seiner Statur erwarten würde. Aber sie wollte ihm doch anscheinend etwas Wichtiges sagen. War so eine Reaktion nicht etwas zu schroff? Für einen Moment dachte ich, sie würde vor Schreck anfangen zu weinen, doch stattdessen entschuldigte sie sich unterwürfig, kam auf mich zu und stellte sich lächelnd mit einem Knicks vor. „Guten Tag. Sie müssen Miss Alice sein. Bitte verzeihen Sie mein unhöfliches Auftreten. Ich bin Fleur, Master Salems Hausmädchen und einzige Bedienstete. Zu Ihren Diensten.“ Sie wirkte etwas schüchtern, doch sehr nett und gut erzogen. Und nun erinnerte ich mich , woher ich diesen Gesichtsausdruck kannte: Die kleine Katze vor vier Jahren! Ganz sicher war ich mir zwar nicht, doch an Zufälle glaubte ich nicht mehr. „Hallo, schön dich kennen zu lernen... Flör? Spreche ich das richtig aus?“ „Genau. Das ist französisch und bedeutet übersetzt Blume.“ „Wer zur Hölle nennt denn sein armes Kind 'Blume'?“ „I-Ich... also...“ Fleur war sichtlich verunsichert und schien sich durch diesen Scherz in Bedrängnis gebracht zu fühlen. Dementsprechend erleichtert wirkte sie, als Mr. Salem fragte, was sie ihm denn so dringend erzählen wollte. „Als Sie gestern gegangen waren, ist sie aufgetaucht und hat nach Ihnen gefragt.“ Er wurde hellhörig und musterte ihr Gesicht: „Was? Sie hat dir doch nicht wieder wehgetan, oder?“ „N-nein, aber... ich hatte trotzdem Angst.“ „Mach dir keine Sorgen, hier kann dir nichts passieren. Das Hausmädchen nickte ruhig und fing an in ihrer Tasche zu kramen. „Jedenfalls hatte sie mir diesen Zettel gegeben und deutlich gemacht, dass Sie sich bei ihr melden sollen.“ Sie übergab ihm das Schriftstück, dass er nur kurz überflog, dann wütend zusammenknüllte und in den dunklen Kamin warf. Ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es gehen könnte und stand noch immer verloren in der Nähe des Spiegels. „Kooperation, sonst noch irgendwelche Wünsche?“, knurrte er. „Aber wenn es doch wichtig ist...“ „Und selbst wenn es um den Weltuntergang gehen würde. Ich arbeite mit dieser Frau nicht zusammen. Ist das angekommen?“ „Laut und deutlich, Sir. Ich dachte mir schon, dass Sie so etwas sagen würden.“, sagte Fleur mit einem erleichterten Unterton. Wer diese dubiose Frau wohl war? Mr. Salem lächelte mich entschuldigend an. „Tut mir leid, das ist sicherlich nicht der beste Empfang gewesen. Fleur wird dir dein Zimmer zeigen und ich schlage vor, wir sehen uns danach die Stadt ein wenig an.“ Das Hausmädchen bestand darauf, mir den Koffer abzunehmen, egal wie oft ich ihr sagte, dass er nicht schwer sei. „Bitte, Miss Alice, das ist doch meine Aufgabe“, schien sie mich schon fast anzuflehen. Auch wenn sie auf den ersten Blick etwas unbeholfen wirkte, musste man ihr zugute halten, dass sie ihre Arbeit sehr ernst nahm. Vielleicht etwas zu ernst. Amüsiert stellte ich mir vor, wie sie sich wahrscheinlich lieber zu Tode schleppen würde, als einen Gast auch nur eine Tasche selbst tragen zu lassen. Aus dem Salon heraus führte ein langer Korridor nach links zu einer Wendeltreppe, nach rechts hingegen zu Küche und Bad. Gerade von letzterem war ich überwältigt, denn es hatte tatsächlich angeschlossene Wasserleitungen. Im ersten Stock befanden sich dann drei Schlafzimmer, sowie zwei Gästezimmer. Ich bekam das Zimmer ganz am Ende des Ganges. Das Obergeschoss befand sich direkt unterm Dach, wie die Schräge erkennbar machte. Die Einrichtung war auf das nötigste beschränkt: Bett, Kleiderschrank, Schreibtisch und eine kleine Kommode mit eingebautem Spiegel. Doch mehr brauchte ich auch nicht und alle Möbel waren von sehr guter Qualität. Dass es sogar einen Balkon hatte, war für mich ein echter Luxus, auf den ich auch nach vier Jahren nicht mehr verzichten wollte. Die Tatsache, dass Mr. Salem nur für mich so einen Aufwand betrieb, schmeichelte mir, ließ mich aber auch fragen, ob ich denn wirklich je eine Wahl hatte, hierhin mitzukommen. Ich bezweifelte, dass er ein „Nein“ einfach so akzeptiert hätte, doch wollte auch keine boshaften Absichten unterstellen. Immerhin fühlte es sich gut an, einmal wirklich willkommen geheißen zu werden. "Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Miss Alice", sagte Fleur während sie meinen Koffer abstellte. Miss Alice... Ich bin ein Straßenkind, keine Gouvernante! Das musste doch auch ihr auffallen. Aber gut, lieber mit zu viel, als gar keinem Respekt behandelt werden... Ich öffnete die Balkontür und lehnte mich ans Geländer. Die Luft war sauber und frisch - kein Vergleich zu dem abstoßenden Geruchscocktail, namens London. "Sag mal, Fleur...", fing ich an, während ich wieder die Tür schloss. "Wie lange stehst du schon im Dienst von Mr. Salem?" "Lange genug, würde ich sagen. Etwa eine Dekade. Er ist ein toller Arbeitgeber." "Hat er mich schon einmal irgendwann erwähnt?" "Aber sicher. Zweimal im Monat ist er durch den Spiegel gereist, um sich nach Ihnen zu erkundigen. Er hatte mir immer mal wieder erzählt, dass es seine Pflicht sei, auf Euch aufzupassen. Aber um ehrlich zu sein, lag ihm meiner Ansicht nach viel mehr an Euch, als irgendeine Aufgabe. Nicht, dass er nicht pflichtbewusst wäre, aber sie schienen ihm viel mehr zu bedeuten..." Sie erschrak und schlug sich die Hände vor dem Mund. "T-Tut mir leid, vielleicht habe ich doch zuviel geredet! Wissen Sie, ich bin nicht gut darin, Geheimnisse zu bewahren!" Das war ein Geheimnis? Warum sollte Mr. Salem so ein Interesse für mich gehabt haben? Ein leichtes Misstrauen machte sich in mir breit. "Vertraust du ihm denn?" "Absolut!", rief sie entrüstet, "Master Salem ist der wohl ehrlichste, anständigste und vertrauenswürdigste Magier, für den ich je gearbeitet habe... Wobei... außer für ihn habe ich ja auch nur..." Etwas schien sie zu bedrücken, aber ich wollte sie nicht unterbrechen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und schaute mich mit einem milden Lächeln an. Es hatte etwas angenehm Anziehendes und ließ mich auch etwas zur Ruhe kommen. Abseits dessen, dass sie so ungewöhnlich aussah, war sie eine wirklich hübsch anzusehende, junge Frau. Bestimmt gab es für den Rest auch eine Erklärung. Und es konnte auch sein, dass Menschen wie sie hier vielleicht ganz normal waren. "Sie können diesem Mann vertrauen. Er würde keiner Fliege was zu leide tun. Dafür kenne ich ihn lang genug." Ich nickte stumm und setzte mich aufs Bett. Es war angenehm weich und frisch bezogen. Ich konnte nicht verleugnen, dass Mr. Salem sich wirklich Mühe gab, aber in mir mahnte mich eine Stimme zur Vorsicht. Gutbürgerliche, die arme Mädchen von der Straße aufnahmen... das ging oft genug nicht gut. Es war Mittag, als der Magier und ich uns auf den Weg in die Stadt machten. Das Haus lag an der Grenze zum Wald und damit etwas abgelegener. Taleswood war knapp eine Viertelstunde zu Fuß entfernt und der Weg führte auch am Madcap River vorbei, dem Fluss, der angeblich rückwärts fließe. Sprich, er entsprang in seinem Endsee und mündete in seiner Quelle. „Und woher will man das wissen?“, fragte ich ungläubig, als wir am Fluss ankamen. Denn bedeutete es nicht einfach, dass der Endsee eigentlich die Quelle war und umgekehrt? „Keine Ahnung. Aber wir sind uns ziemlich sicher, dass er nicht so herum fließt, wie er sollte. Schau mal.“ Er zeigte auf die Fische, die tatsächlich rückwärts schwammen. Stromabwärts, aber mit der Schwanzflosse voran. „Und deswegen denken Sie, dass er früher mal anders herum floss?“ „Natürlich. Die Fische gibt es hier schon seit Jahrtausenden. Sie müssen es doch am besten wissen.“ „Vielleicht sind sie auch einfach nur bescheuert?“ „Bitte Alice, was ist wohl wahrscheinlicher? Dass sich zehntausend Fische irren, oder ein Fluss?“ Ich dachte eine Sekunde darüber nach, doch konnte diesem Verständnis nichts entgegensetzen. Es war mir auch zu blöd, mich über Flüsse zu unterhalten. Taleswood war absolut nicht, was ich erwartet hatte. Zwar hatte ich auch nur eine sehr vage Vorstellung, wie eine Märchenstadt aussehen würde, doch wenn mir jemand erzählt hätte, dass es eine moderne Stadt mit viel Industrie sei, ich hätte wohl mit dem Kopf geschüttelt. Gepflasterte Straßen, mehrstöckige Häuser, die sich mit Fabriken, Lagerhallen und Sehenswürdigkeiten abwechselten... anfangs wirkte Taleswood nicht sonderlich anders als London, nur viel kleiner und sauberer. Doch dieser Eindruck verflog mit ihren Bewohnern: lebende Gartenzwerge, Tiere, die wie Menschen aufrecht gingen und Kleider trugen, Feen, die in der Luft herumschwirrten, sprechende Gegenstände wie Lampen, oder Türknäufe und noch einiges mehr, sodass es nun zu schwer war alles aufzuzählen. Mir fiel auch auf, wie viele von ihnen anscheinend Mr. Salem kannten, denn immer wieder wurde er gegrüßt und auch nicht selten in ein Gespräch verwickelt, in dem ich den Damen und Herren direkt einmal vorgestellt wurde. Innerhalb kürzester Zeit kannte mich gefühlt die halbe Stadt. „Sie scheinen hier wohl eine große Nummer zu sein“, bemerkte ich. „Sagen wir einfach, ich komme gut mit den Taleswoodern aus und sie sind mit meiner Arbeit zufrieden.“ „Nicht so bescheiden. Die Leute sprechen von Ihnen, als wären Sie der inoffizielle Bürgermeister.“ „Du klingst irgendwie leicht angewidert.“ „Ich vertraue einfach keinen Leuten mit Macht.“ „Und was wäre, wenn du auch solche Macht hättest?“ „Habe ich aber nicht.“ Er drehte sich zu mir um und schaute mich ernst an. „Gerade du solltest wissen, wie mächtig das Geschenk der Magie ist. Immerhin hat es bereits eine Person das Leben gekostet.“ Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Woher wusste er denn nun davon? „Dean Hart, 24 Jahre alt, Schwerkrimineller und - wenn es nach ihm ginge - Gangsterboss. Überfälle, Zuhälterei, Erpressung, Mord... Ich weiß, das macht es für dich nicht leichter, aber du hast mit seinem Tod Whitechapel wahrscheinlich einen echten Gefallen getan.“ Ich stieß einen leichten Seufzer aus. Als ob man diesen Ort einfach so retten könnte, indem man ein paar Kriminelle aus dem Weg räumt. Ich erwartete auch nicht, dass Mr. Salem das verstehen würde. Er mochte zwar sehr nett zu mir sein, aber am Ende des Tages war er auch nur einer dieser schicken Gutbürgerlichen, die auf die kleinen Leute hinabsahen. Wir schlenderten noch einige Zeit weiter, bis wir an einem großen Laden halt machten. Er war zweistöckig und von allerlei Rohren umschlungen. Foxtrott Tailors & Outfitters stand auf einem großen, schwarzen Schild mit goldenen, verzierten Buchstaben. Im Schaufenster waren hochwertige Herren- und Damenkleider ausgestellt. Wollten wir hier etwa einkaufen? Das könnte ich mir doch nie im Leben leisten! „Keine Sorge, die alte Mrs. Foxtrott trifft immer den richtigen Geschmack.“, sprach er mir beruhigend zu, als er meine Unsicherheit bemerkte. „Und mach dir wegen des Geldes keinen Kopf. Das musst du mir nicht zurückzahlen.“ „Finden Sie nicht, dass Sie viel zu viel Geld für mich ausgeben? Wir kennen uns doch gar nicht.“ „Wegen dir werde ich schon nicht am Hungertuch nagen. Als meine Schülerin bist du mir sicherlich auch später eine große Hilfe, das gleicht sich dann wieder aus. Du hältst mich vielleicht für einen dieser reichen Snobs, die arme Mädchen von der Straße aufsammeln, ihnen Essen und Obdach geben, um sie dann zu ihren persönlichen Comfort Girls zu machen...“ Es beschämte mich, dass ich ihm dies tatsächlich unterstellt hatte. Ob er wohl Gedanken lesen konnte? „...aber sei dir versichert, dass ich nichts mit solch kranken Lustmolchen zu tun haben möchte. Und jetzt lass uns endlich reingehen, hier draußen wird es auch nicht mehr wärmer.“ Der Laden war unfassbar groß und besaß eine riesige Auswahl an bereits fertig geschnittener Kleidung. Der Boden war mit einem grünen Läufer ausgelegt, der mich leicht an Rasen erinnerte.Im Hintergrund spielte ein Hase Piano, während einige Kunden sich von den Mitarbeitern beraten ließen. Dieser Laden musste verflucht viel Geld abwerfen, wenn man es sich leisten konnte, den Kunden nonstop mit Live-Musik zu verwöhnen. Beeindruckt wanderte mein Blick durch die ganzen bildschönen und sündhaft teuren Outfits, während uns eine Verkäuferin quer durch den Laden zu einem Aufzug führte. Sie wusste ohne nachzufragen, dass Mr. Salem zur Chefin wollte, die ihr Büro im ersten Obergeschoss hatte, in dem auch die Schneider arbeiteten. Schon die Verkaufsetage wirkte nicht wie die, eines gewöhnlichen Schneiders, doch der Arbeitsbereich machte das nur noch deutlicher. Im Akkord zeichneten, nähten und verzierten Menschen, Tiere und Feen Kleider, Hemden und Jacken. Es herrschte ein Gewusel, wie bei einem Wochenmarkt und dennoch wusste jeder genau, was seine Aufgabe war, wie in einem Bienenstamm oder einem Ameisenbau. Sie bemerkten meine Neugier und nickten mir freundlich zu, doch ohne sich davon großartig stören zu lassen. Ich selbst registrierte erst viel zu spät, wie ich vom Weg abgekommen war, um mir die Arbeitsschritte genauer anzusehen. Hätte man mir früher erzählt, dass Arbeiter so glücklich aussehen könnten, ich hätte es nicht geglaubt. Aber wieder: Das hier war nicht London. „Alice, wir möchten dann reingehen!“ Ich bemerkte wie Mr. Salem und die Verkäuferin bereits am Ende des Raumes vor einer Tür standen. Während ich mich ihnen näherte, funktelte mich die Verkäuferin wütend an. Wahrscheinlich, weil ich die Schneider bei der Arbeit gestört hatte. Doch sie sagte nichts, sondern öffnete uns nur schweigend die Tür und ging zum Aufzug. Das Büro war – im Gegensatz zum Rest des Ladens – sehr klein gehalten, dafür aber bis oben hin zugestopft mit Regalen, Aktenschränken und Kunstgegenständen. Am Schreibtisch, welcher der Tür direkt gegenüber stand, saß eine alte Füchsin, mit einem großen Tuch um den Hals und einem lächerlich kleinen Zwicker auf der Nase. Sie arbeitete gerade in den Geschäftsbüchern, als wir eintraten. Ihr Fell hatte bereits viel an Glanz verloren, doch besaß trotzdem noch immer eine schöne, rotbraune Farbe. „Nein, wenn das nicht Jack ist“, sagte sie mit einem Strahlen im Gesicht, als sie uns erblickte. Sie umarmte den großen Magier, was sehr amüsant wirkte, denn immerhin war sie gut und gern anderthalb Fuß kleiner als er. „Hast dich ja lange nicht mehr gezeigt. Das letzte mal sahen wir uns vor Weihnachten, oder?“ „Tut mir leid, ich hatte etwas viel Stress um die Ohren. Wie geht es Ihnen, Mary?“ „Ach die kleinen Beschwerden des Alters, aber solange ich noch diese Firma leiten kann, ist alles in bester Ordnung. Also was kann ich für dich tun?“ „Für mich nichts. Ich bin heute wegen meiner Begleitung hier.“ Die alte Dame schaute mich neugierig an und gab mir dann die Hand. Oder Pfote? Es erinnerte zwar auf den ersten Moment mehr an eine Tatze, doch konnte die einzelnen Zehen besser voneinander abspreizen und besaß auch einen Daumen. Sie zog mich mit einem kräftigen Ruck zu sich hinunter und musterte mein Gesicht. „Hmm, so ein wunderschönes blasses Grün... diese Augen würde ich überall wiedererkennen. Du bist Claires Tochter, nicht war?“ „Ja, Ma'am. Das sagte man mir zumindest. Ich habe meine Eltern nie getroffen.“ „Du hast Recht, tut mir leid. Verzeih einer alten Dame ihre Langsamkeit. Als Waise aufzuwachsen muss hart sein. Wie war noch gleich dein Name?“ „Alice.“ „Ja, das ist ein Name, den deine Mutter ausgesucht hätte. Es freut mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Mary Foxtrott, Leiterin dieses wunderbaren Kleidergeschäfts.“ Sie wirkte als hätte mein Antlitz sie mit Nostalgie erfüllt und strich mir mit ihrer weichen Pfote sanft über das Gesicht. „Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern als...“ „Bitte Mary, vielleicht ein andern mal, ja?“, unterbrach Mr. Salem sie und warf ihr einen flehenden Blick zu. Erst wollte sie etwas erwidern, doch dann nickte sie und ließ von mir ab. Wollte er etwa Rücksicht auf mich nehmen? Eigentlich konnte es mir ja egal sein, was man über meine Eltern sagte, aber dennoch fühlte es sich besser an, die Vergangenheit mir nicht aufzubinden. „Du hast Recht, reden wir lieber übers Geschäft. Immerhin seid ihr ja deswegen hier. Lass mich raten, sie muss aus diesen Lumpen raus, nicht wahr?“ „Ihre gesamten Klamotten sind in London geblieben. War alles ziemlich abgenutzt und ehrlich gesagt auch alles andere als schön. Sie braucht also - pauschal gesagt - zehn neue Outfits.“ Zehn?! War Mr. Salem völlig übergeschnappt? Bisher besaß ich gerade einmal halb so viele. Doch scheinbar war dies sein voller Ernst, denn während ich noch perplex im Raum stand, setzte Mrs. Foxtrott bereits das Maßband an. „Also eines oder zwei finden wir bestimmt unten in deiner Statur, den Rest fertigen wir innerhalb dieser Woche an. Ich sehe, du trägst gerne Hosen?“ „Naja...“ „Passt schon, sie stehen dir auch. Aber ich habe auch noch etwas anders für dich, dass du anprobieren solltest.“ Sie führte mich zurück in die Verkaufsetage, unter den neugierigen Augen der Mitarbeiter und anderen Kunden. Es war mir etwas unangenehm, so sehr im Mittelpunkt zu stehen, war ich doch mein ganzes Leben nur eine von vielen gewesen. Aber hier in Taleswood sollte man sich daran gewöhnen, Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man mit Jacob William Salem unterwegs ist. Die alte Füchsin nahm zielgerichtet verschiedene Kleider von den Ständern und schob mich in eine Umkleide. Eigentlich erwartete ich, dass sie wieder gehen würde, doch sie blieb beruhigt stehen und sah mich erwartungsvoll an. „I-Ich kann mich auch allein umziehen“, sagte ich und merkte, wie mir leicht die Schamröte ins Gesicht stieg. „Ich guck dir schon nichts weg, Mädchen. Aber ich will zuerst sehen, ob alles passt, bevor wir es jemand anderem zeigen. Außerdem haben wir so eine kurze Zeit uns näher kennen zu lernen.“ „Kennen zu lernen?“ Ich begann mein Hemd aufzuknöpfen und bemerkte wie verschwitzt ich war. Anscheinend war all das doch mehr Aufregung als ich zugeben wollte. Mrs. Foxtrott befahl mir mit einer Geste mich auf einen kleinen Stuhl zu setzten und ließ eine Wasserschüssel bringen, an der ich mich abwaschen konnte, während sie sich ihre Pfeife ansteckte. „Erzähl mir ein wenig über dich.“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Aufgewachsen bin ich in einem Kinderheim in London und danach habe ich in einem Zimmer einer Hotelruine gewohnt.“ „Nein wirklich? Der alte Schuppen wurde noch nicht dem Erdboden gleichgemacht? Das heißt die Barriere ist noch nach so vielen Jahren intakt, beeindruckend.“ „Sie kennen das Haus?“ „Es war mal ein Hotel für Magier und Fabelwesen, aber das ist schon über 30 Jahre her. Bei einer Explosion ist damals leider ziemlich viel zerstört worden, aber wenigstens gab es keine Toten. Der Schaden war zu groß, als dass man es wieder aufbauen wollte und die Ideen für ein neues Hotel sind leider nie umgesetzt worden.“ Daher stammte also die Barriere. Wahrscheinlich war dies der sicherste Ort in ganz London. Zumindest für einen Magier. „Und wie hast du dann Jack kennen gelernt?“ „Er stand gestern einfach in meinem Zimmer und hatte kurzerhand meine Welt auf den Kopf gestellt“, witzelte ich trocken. Mrs. Foxtrott schien das sehr zu amüsieren. „Ja, er kann einen gerne einmal überrumpeln. Du wohnst auch bei ihm?“ „Zumindest fürs erste. Ich... ich bin mir einfach noch nicht sicher, was ich von ihm halten soll. Er ist sehr nett und alles, aber...“ „Aber Nettigkeit macht gerade einen so großen und kräftigen Kerl, wie ihn, ein Stück weit verdächtig, nicht war? Mach dir keine Sorgen, ich kenne Jack schon seit fast 20 Jahren und er war immer ein wahrer Gentleman. Fleur ist das beste Beispiel dafür.“ „Sein Hausmädchen?“ „Genau. Wenn er es wirklich wollte, könnte er sie ins Bett mitnehmen wie es ihm beliebte. Sie würde keine Einwände haben.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Weißt du denn nicht, was sie ist?“ Was sie sein sollte? Abseits ihres sonderbaren Aussehens hielt ich Fleur für einen normalen Menschen. Es fiel mir auch nichts ein, was sie sonst sein könnte. „Naja, ein Mensch ist sie gewissermaßen, aber sie wurde nicht geboren, sondern künstlich erschaffen. Man nennt solch ein Wesen auch Homunkulus. Es gibt nur eine handvoll Magier, die das können. Jack kann dir diesbezüglich sicherlich mehr erklären.“ Homunkulus... Künstlicher Mensch... So etwas konnte Magie also erschaffen? Ich war mir nicht sicher, ob mich das beeindrucken oder anwidern sollte. Doch was wusste ich schon über die Möglichkeiten und die Moral hinter Magie? Mittlerweile hatte ich das Kleid angezogen, von dem Mrs. Foxtrott sprach. An und für sich war es weniger ein Kleid, als viel mehr ein langes Gewand, das in einem recht kurzen Rock etwa auf der Mitte meiner Oberschenkel endete. Es besaß eine Kapuze und lange, weite Ärmel. Sein dunkelgrüner Grundton wurde durch weiße Spitze an Ärmeln und Saum und einen breiten hellbraunen Gürtel akzentuiert. Obwohl es recht leicht war, hielt der Stoff warm. „Wie für dich gemacht. Dieses Gewand entsprang meiner Vorstellung, wie junge Magierinnen des Mittelalters wohl ausgesehen haben könnten, zusammen mit einer Prise Moderne. Schön, dass ich dafür tatsächlich einmal Verwendung finde“, sagte die Füchsin zufrieden. Sie gab mir ein paar lange hellgrüne Strümpfe dazu, die scheinbar aus dem gleichen Stoff gemacht waren und ein paar feste Stiefel aus Wildleder. Es passte wie angegossen und gefiel mir sofort, obwohl es nicht meinem eigentlichen Stil entsprach. Auch Mr. Salem teilte unsere Meinung und setzte es ohne Weiteres auf die Rechnung. Hinzu kamen zwei einfache Hosen und dazu passende Blusen und Unterwäsche. Der Rest sollte in den nächsten Tagen folgen, doch bezahlt wurde mit Vorkasse. Und bei der wurde mir schwindelig. „Gut, das macht dann zusammen 200 Pfund“, verlangte Mrs. Foxtrott als wäre so ein Betrag alltäglich. 200 Pfund! So viel Geld hätte ich mir nicht einmal vorstellen können und hier wechselten sie ohne großes Tamtam den Besitzer. Für die Welt der Reichen war ich vielleicht doch noch nicht bereit. Doch Mr.Salem versicherte mir, dass das in Ordnung gehe und so akzeptierte ich demütig dieses unvergleichliche Geschenk. Obwohl es draußen noch immer eisig kalt war, hielt das Gewand, zusammen mit einem neuen Wollmantel angenehm warm. Während wir uns auf den Rückweg machten, ließ mich dennoch eine Sache nicht los. „Mr. Salem?“ „Ich würde es vorziehen, wenn du mich 'Jack' nennen würdest. Mich sprechen nicht mal Geschäftspartner beim Nachnamen an. Nur aus Fleurs Kopf kriege ich das nicht raus. Es klingt einfach ungewohnt.“ „Wenn es Sie glücklich macht... ich verstehe ehrlich gesagt noch immer nicht, warum sie all das hier für mich tun. Es ergibt keinen Sinn. Was erwarten Sie von mir?“ „Nicht mehr und nicht weniger, als dass du dein magisches Potential anerkennst und eine fleißige Schülerin bist.“ „Und mehr soll nicht dahinterstehen? Keine schlüpfrigen Gedanken?“ „Ich habe dir doch schon gesagt...“ „Oder brauchen Sie mich für irgendwelche Homunkuliexperimente?“ Für diese Frage wurde ich mit einer schallenden Ohrfeige belohnt. Meine Wange brannte wie Feuer und aus den Augenwinkeln sah ich seinen wütenden Gesichtsausdruck. „Ich habe dich nicht darum gebeten, mir dankbar zu sein, Alice. Aber wage es, dir noch einmal so eine Frechheit mir gegenüber zu erlauben...“ „Und was ist mit Fleur?“ „Davon hat dir Mary erzählt, nicht wahr? Sie hätte ja wenigstens erwähnen können, dass ich's nicht war...“ „Das sie was nicht waren?“ „Ich bin nicht Fleurs Schöpfer. Hör mir gut zu...“ Jack sah mich mit einem Blick an, der mir nur allzu deutlich machte, dass er es todernst meinte. „Es gibt Disziplinen in der Magie, deren bloße Existenz eine Schande ist. Homunkuluserschaffung ist eine davon. Denn das, was die praktizierenden Magier dort erschaffen, sind keine Menschen, sondern willenlose Arbeitssklaven und Versuchskaninchen. Fleur war ein Experiment, um einen höheren Homunkulus zu erschaffen. Mit einer größeren Intelligenz und einem freieren Willen. Und obwohl es gelungen ist, wurde sie trotzdem als Fehlschlag bezeichnet und genauso als Versuchsobjekt behandelt, wie ihre Artgenossen. Aber sie war fähig Gefühle zu entwickeln und hat alle Qualen gespürt. Und als man mit ihr fertig war, sollte sie getötet werden.“ Mir stockte der Atem. Wenn jemand fähig war, so etwas zu tun, dann war es schon fast lächerlich, dass ich mich wegen eines Unfalls für ein Monster hielt. Konnte Magie überhaupt für etwas gutes eingesetzt werden? „Sie ist in den Wald geflohen, hatte sie mir erzählt und irrte zwei Tage und zwei Nächte umher, bis sie an meine Haustür klopfte und um etwas zu essen bat. Und seitdem wohnt sie bei mir. Ihr Anblick von damals hat mich nie losgelassen und ich schwor mir, niemals diese Disziplin auch nur anzurühren. Das ist nun gut 10 Jahre her. Tut mir leid, das mit der Ohrfeige, da war ich etwas harsch. Ich kann nicht um mehr bitten, als dein blindes Vertrauen und zugegeben, vielleicht versuche ich, es mir gerade zu erkaufen. Du musst für dich selbst entscheiden, was du denkst.“ Es war manchmal schon merkwürdig, wie überzeugt man von etwas sein konnte, nur um im nächsten Moment wieder alles ganz anders zu sehen. Und so fiel es mir schwer, die Frage zu beantworten, ob ich Jack vertraute, oder nicht. In meinem Herzen spürte ich, dass er mir nicht alles sagte, was er über mich wusste und auch über seine Motive fand ich keinen Anhaltspunkt. Aber war er deswegen ein schlechter Mensch? Definitiv nicht. Immerhin war ich überzeugt genug davon gewesen, dass ich ihm folgte. Eventuell sollte ich ihm jenes blinde Vertrauen entgegenbringen, um das er so bat. Immerhin bemühte er sich auch darum. Kapitel 4: Der verrückte Doktor ------------------------------- Es hatte funktioniert! Fasziniert und beinahe schon ehrfürchtig, starrte ich auf die kleine Flamme in meiner Hand, die ich seit etwa einer Stunde zu erschaffen versuchte. Im Takt meines aufgeregten Herzens tanzte sie herum, wuchs und schrumpfte, wie ich es ihr befahl und wanderte auf meiner Hand herum, bis zu meinen Fingerspitzen und wieder zurück. Und auch wenn das hier gerade mal an der Oberfläche dessen kratzte, was Magie ausmachte, war ich dennoch stolz darauf. „Sehr gut, du hast verstanden, worauf es ankommt“, lobte Jack ruhig, während er sich an der Flamme eine Zigarette ansteckte. Eigentlich hatte ich etwas mehr Erstaunen von ihm erwartet. Immerhin meinte er, dass in meinem Alter erst mit Magie anzufangen unter Umständen sehr schwierig sein kann. Ob er so ein Ergebnis bereits vorhergesehen hatte? Eigentlich konnte es mir egal sein, denn ich war gut und gern für uns beide beeindruckt. Und zu meinem Gunsten betrat auch Fleur im richtigen Moment das Arbeitszimmer mit einem Teeservice. „Du meine Güte, so schnell haben Sie das hinbekommen?“, rief sie begeistert, als ich ihr meine brennende Hand zeigte. Vielleicht hätte ich warten sollen, bis sie das Tablett abgestellt hatte, denn sie stolperte kurzerhand über den Teppich und konnte nur gerade so von Jack mitsamt des Tees aufgefangen werden. Aber stand er nicht gerade noch hinter mir? „Was war denn das?“ „Magie. Was denn sonst?“, sagte er mit einer Geste, die man schon fast als angeberisch bezeichnen könnte. Leider fruchtete das auch bei mir und ich fühlte einen leichten Neid. Ungefähr so, wie ein Sprachschüler, der gerade seinen ersten Satz gebildet hatte, nur um dann von seinem Lehrer zu hören, dass dieser gerade Shakespeare las. Doch noch mehr steigerte das meine Neugier zu allem, was man noch lernen könnte. Verrückt genug, denn ich war nie eine fleißige Schülerin und noch dazu zeigten meine ersten Theoriestunden am Morgen, dass Magie viel komplizierter war, als alles, was ich bis dahin gelernt hatte. Sie verband beinahe jede moderne Wissenschaft mit dem alten Wissen der Alchemie sowie des Schamanismus und Okkultismus. Gefühlt jedes fünfte Wort, das am Morgen fiel, musste mir Jack mehrmals erklären. Doch er rügte mich nicht für mein Unwissen, oder machte gar abfällige Bemerkungen, sondern wiederholte die Lektion in aller Ruhe und fragte mich auch immer wieder, ob ich denn alles verstanden hatte. Er zollte mir eine spürbare Menge Respekt, ja behandelte mich beinahe ebenbürtig. Für mich Grund genug, das Gleiche zu tun. „Gutes Timing mit dem Tee, Fleur. Es wird auch Zeit, für heute Schluss zu machen“, sprach er und pustete meine Flamme aus. Die Wanduhr zeigte doch gerade einmal halb 2. War es nicht noch etwas zu früh, aufzuhören? Wahrscheinlich war ich ihm doch eine Belastung. Fleur schenkte uns etwas Milch in den Tee ein und hatte auch ein paar Sandwiches zubereitet. Jack übergab sie einen mitgebrachten Zettel, wahrscheinlich eine Auftragsliste. „Tut mir leid. Ich sehe, dass dich das Thema interessiert, aber es wartet noch ein wenig Arbeit auf mich.“ Lächerlich. Es gab keinen Grund, sich bei mir zu entschuldigen. Immerhin war ich es doch, die seine Zeit beanspruchte. „Kann ich Ihnen dabei nicht helfen?“ „Nicht im magischen Bereich, dafür ist es noch etwas zu früh. Aber du könntest etwas für mich zum Doc bringen.“ „Zum Doc?“ „Doktor Greta Engels. Sie arbeitet primär als Ärztin in Taleswood, kombiniert diesen Beruf aber mit ihrem Wissen über Magie. Wir waren früher Mitschüler und sind auch nach wie vor recht gut befreundet.“ „Von wem wurden Sie damals in der Magie eigentlich unterrichtet?“ „Er hieß Alexander Mycraft. Ein brillanter Magier und Wissenschaftler, aber sehr exzentrisch, um nicht zu sagen verrückt. Allerdings ist er schon vor 17 Jahren verstorben.“ Jack stieß eine langgezogene Rauchwolke aus. Danach schien er etwas zu nuscheln, das ich aber nicht verstand. Doch auf meine Nachfrage winkte er nur lächelnd ab: „Die Geschichte ist etwas zu kompliziert, als dass ich sie dir jetzt erzählen könnte. Lerne erst einmal Gretchen kennen. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.“ „Sie ist keine gebürtige Engländerin, oder?“ „Nein, geboren ist sie in Deutschland, aber lebt schon in Taleswood, seit sie 6 Jahre alt ist, spricht also auch fließendes und akzentfreies Englisch. Sie ist manchmal etwas zerstreut, aber ansonsten die gute Seele in Person.“ „Mit Verlaub, Sir“, warf Fleur ein. „Doktor Engels ist mehr als nur zerstreut. Man sagt ihr nach, sie habe Stimmen im Kopf, nehme Opium und...“ „So ein Unsinn“, gab Jack energisch zurück. „Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Lass dich davon nicht einschüchtern, Alice. Immerhin lassen sich diese Schwätzer von ihr trotzdem untersuchen. Ja, Greta hat einen geistigen Knacks, aber sie ist und bleibt eine gute Freundin. Nicht nur von mir, auch deine Eltern mochten sie sehr.“ Mir war es relativ egal, wessen Freundin der Doc war und ob sie einen Sprung in der Schüssel hatte. Kaputte Menschen habe ich schon zuhauf gesehen und außerdem ging es doch nur um einen Botengang. Auch wenn ich ihm lieber etwas direkter im Beruf geholfen hätte und ansonsten sicherlich einfach Fleur statt meiner gegangen wäre, war ich froh, etwas beizutragen. Das Paket bestand aus einer Reihe abgefüllter Mischungen, die Jack hergestellt hatte. Der Weg war unkompliziert: einfach die komplette Hauptstraße entlang, bis ich auf der rechten Seite ein passendes Eingangsschild fand. Fleur bot an mitzukommen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich den Weg auch noch allein finden würde. Und um diese Uhrzeit konnte man bestimmt auch jemanden in der Stadt finden, der den Weg kannte. Der Himmel war grau und es fielen auch ein paar vereinzelte Schneeflocken, als ich das Haus verließ. Durch die neue Jacke wurde mir gar nicht bewusst, wie kalt es eigentlich war. Für Ende Januar erschien es mir sogar sehr angenehm. Doch am Madcap River machte ich eine sonderbare Entdeckung: Das Wasser dampfte. War es wirklich so warm, im Vergleich zur Lufttemperatur? Tatsächlich konnte mein Eindruck sich nur bestätigen, als ich eine Hand hinein hielt. Ganz gleich, ob die Sache mit der Flussrichtung nun stimmte oder nicht, seinem Namen wurde dieses Gewässer in jedem Fall gerecht. Doch damit war es mit verrückten Vorfällen für heute anscheinend noch nicht vorbei. Als ich aufsah, bemerkte ich, wie sich ein dicker, undurchdringbarer Nebel um mich herum gebildet hatte. Wie war das denn möglich? Es war doch gerade noch klar, oder etwa nicht? So lange konnte ich doch gar nicht aufs Wasser geschaut haben. Doch ich machte mir nichts draus, zündete eine Flamme an und ging über die Brücke in Richtung Taleswood. Vielleicht hätte ich meinen Instinkten vertrauen sollen. Etwas in mir befahl umzukehren, zurückzugehen, zu warten bis es wieder sicher war. Die Straßen von Taleswood waren verlassen und auch aus den Häusern kam kein Ton. Es war so still, dass meine Schritte selbst auf der breiten Hauptstraße widerhallten. Die Wände schienen sich schon fast zu biegen und eine Art Tunnel zu bilden, der in eine unendliche Leere führte. Zusammen mit diesem kalten, feuchten Nebel, der sich wie ein Schleier um mein Gesicht legte und das Atmen erschwerte, bildete sich eine fast schon albtraumhafte Atmosphäre. Hinzu kam die unheimliche Gewissheit, dass irgendjemand – oder irgendetwas – mich verfolgte. Ich dachte an meine Flucht aus dem Kinderheim. Damals verängstigte mich jedes noch so kleine Geräusch und ich hatte mir gewünscht, am besten nichts zu hören. Doch heute suchten meine Ohren verzweifelt nach einem anderen Geräusch als meine Stiefel; das Fiepsen einer Ratte, Menschen in der Ferne, ein leichtes Husten oder zumindest eine zuschlagende Tür, einfach irgendwas, das mir zeigte, dass ich nicht allein war. Nichts. Mein Atem und meine Schritte wurden schneller und ehe ich mich versah, rannte ich immer weiter durch diesen Tunnel, bloß weg von dem, was auch immer hinter mir war. Doch es fühlte sich an, als säße ich in einem Laufrad. Immer und immer und immer wieder kam ich an den gleichen Gebäuden vorbei, wie eine Endlosschleife. Ich suchte nach einer Seitengasse, einer offenen Tür, einfach irgendetwas, das mich aus dieser Monotonie befreien könnte, doch die Häuser standen dicht beieinander und... es fiel mir erst gar nicht auf, doch sie besaßen nicht einmal Türen. Ich war gefangen. Und während ich so rannte und rannte wurde der Tunnel immer enger und enger. Erst kaum merklich, doch dann immer stärker, bis ich gezwungen war, erst gebückt zu laufen, dann zu krabbeln und zuletzt zu kriechen, mit nicht einmal einem Fuß Platz zwischen mir und den Wänden. „Du wirst hier noch zerquetscht, wenn du weitergehst“, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich weigerte mich, umzukehren und mich dem zu stellen, das hinter mir war. Als langsam aber sicher in mir eine ausgewachsene Platzangst aufkeimte, sah ich endlich eine rettende Tür vor mir, oder besser gesagt: eine Luke. Ich klopfte energisch und bat, ja flehte schon fast um Einlass. Langsam öffnete sie sich von selbst und offenbarte einen Raum, so gleißend hell, dass ich nichts erkennen konnte. Doch alles war besser als in diesem Loch zu bleiben. Ich schlüpfte hindurch und fiel einige Fuß hinunter, bis ich auf einem harten Holzboden landete. Es war ein Wunder, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Der Raum war nicht besonderes groß und komplett leer, bis auf ein Bett, mit zwei schattenartigen Wesen. Eines, an der Bettkante sitzend, hielt scheinbar ein Kind in seinem Arm, das andere lag ausgestreckt da und schaute die beiden an. Als ich ihnen näher kam, schien ich ein leichtes Flüstern zu vernehmen, doch es ergab keinen wirklichen Sinn, so als würden sie rückwärts sprechen. Auf dem Bett lag eine Spieluhr, die ein langsames aber melodisches Lied spielte, das mir seltsam vertraut vorkam. Im nächsten Augenblick war alles in diesem Raum verschwunden. Ich drehte mich um und sah eine Silhouette, verschwommen, aber eindeutig einer jungen Frau gehörend und diesmal nicht schwarz wie die Schatten, sondern strahlend weiß, wie Licht. Sie war nicht viel größer als ich und stand zwischen mir und einer neuen Tür. „...will.. Seele...“, flüsterte die Gestalt in einer sanften, warmen Stimme, die im Kontrast zu all dem stand, was vorhin passierte. „Tür... frei... beschütz....“. Ich verstand kaum was, so als würde immer wieder ihre Stimme von etwas erstickt werden. Doch scheinbar wollte mir die Silhouette sagen, dass ich durch die Tür gehen sollte. Was blieb mir schon anders übrig? Langsam, mit dem größtmöglichen Abstand zu dieser Gestalt, begab ich mich zur Tür. Ein letzter Satz kam an mein Ohr als ich davor stand. Es war die gleiche Stimme, diesmal aber klar und deutlich: „Ich liebe dich, mein Kind...“ Erschrocken wirbelte ich herum und sah, dass ich wieder zurück in Taleswood war. Dem Taleswood, wie ich es kannte. Kein Nebel, keine Tunnel und vor allen Dingen endlich wieder belebt. Ich kniff mich und stellte beruhigt fest, dass ich definitiv nicht mehr träumte. Und in meiner Hand hielt ich noch immer das Paket. Doch es war bereits dunkel und in den meisten Geschäften brannte kein Licht mehr. Wie lange war ich denn weg gewesen? Ein Blick auf das Schild, vor dessen Tür ich stand, verriet mir, dass ich endlich an meinem Ziel angekommen war: Doctor Greta Engels, Magic Medicine. Ich wollte gerade den Löwenkopf-Türklopfer nutzen, da knurrte mich dieser an: „Die Sprechstunde ist vorbei, Mädchen. Wir haben Feierabend!“ „Ich bin auch nicht zur Untersuchung hier. Ich habe ein Paket von Jacob Salem für den Doc.“ „Dein Pech, dann musst du halt früher kommen! Was bildest du dir überhaupt ein, um diese Uhrzeit noch... Autsch!“ Wütend trat ich gegen die Tür. Ich diskutiere doch nicht mit einem Klopfer! Nach dem, was vorgefallen war, würde ich ganz sicher nicht einfach nur kleinlaut nach Hause trotten und morgen wiederkommen. „Verdammt, du blöde Kuh! Du reißt mich noch aus den Angeln!“ „Lass mich rein, dann müssen wir es nicht so weit kommen lassen.“ Zähneknirschend schwang er auf und ließ mich in die dunkle Praxis eintreten. „Der Doc ist oben. Und wenn du gehst, mach mich gefälligst leise zu.“ „Klar, wenn mir danach ist“, gab ich schnippisch zurück, als ich die Treppen hinaufstieg. Ohne Licht wäre ich sicherlich das ein oder andere Mal gestürzt, weswegen ich wieder eine Flamme in meiner Hand entzündete. Es war faszinierend, wie schnell man eine magische Fähigkeit beherrschte, wenn man diese einmal erfolgreich gemeistert hatte. Ein wenig, wie Fahrrad fahren. Die Wände des Treppenhauses waren mit allerlei faszinierenden Bildern bestückt, viele rund um den menschlichen Körper, aber auch einige über verschiedenste Tierarten. Im Obergeschoss war lediglich das letzte Zimmer beleuchtet, aus dem man auch eine Frauenstimme vernahm. Ich begab mich langsam dorthin und lauschte der Frau, die scheinbar mit jemandem sprach, der aber nicht antwortete. „Das ist falsch, Karl! Ich kann nicht... Natürlich, du weißt, dass ich dir vertraue, aber... Na, weil... weil...“ Ich erinnerte mich an Fleurs Bemerkung. Ihr imaginärer Gesprächspartner hieß also anscheinend Karl. Entweder das, oder sie telefonierte. Doch daran zweifelte ich. Ihre Sätze waren absolut zusammenhangslos und merklich zittrig ausgesprochen. Und sie klang wie eine Violine, an der eine Saite nicht gestimmt wurde. Zaghaft klopfte ich an den Türrahmen und schaute hinein. Es war ein einziges großes Chaos. Der Boden war unter einem Meer von Dokumenten nur noch in Ansätzen zu erkennen. Statt mit Öllampen sorgte ein Haufen Kerzen für Licht, gemessen an der Menge Papier sicherlich keine gute Idee. Die Bilder waren stellenweise von den Wänden gerissen oder hingen schief, einem Skelett in der Ecke fehlte der Unterkiefer sowie ein Bein und auf dem Schreibtisch gegenüber der Tür, saß die Frau Doktor, den Gürtel um den Arm gebunden und die Spritze bereits angesetzt. Doch mein Anblick ließ sie innehalten. „Was wollen Sie hier?“, fragte sie müde, fast schon teilnahmslos. So viel zum Thema, der Drogenkonsum wäre nur aufgeblasenes Geschwätz. Ihre zerzausten, blonden Haare waren mehr schlecht als recht zu einem Zopf gebunden und mit einer Spange im Zaum gehalten. Ihre Brille war leicht verbogen und versuchte durch Spiegelungen die blutunterlaufenen, eingefallenen Augen etwas zu verstecken. Ihr Gesicht war blass und dünn. Wahrscheinlich gab sie sich jeden Abend einen Schuss. „Ihnen ist schon bewusst, dass Drogen ihre Lage auch nicht bessern werden, oder Doc?“ „Was geht Sie das an? Und wer sind Sie überhaupt? Die Sprechstunde ist schon lange vorbei.“ „Stimmt, eigentlich kann es mir auch egal sein. Ich bin nur hier, um ein Paket von Mr. Salem abzugeben.“ „V-von Jack?!?“ Sofort erwachte sie zu neuem Leben. Ihre Haut gewann wieder etwas an Farbe, während sie vom Tisch aufsprang und in einem großen Spiegel anfing, Haare und Kleidung zu richten und sich etwas Wasser ins Gesicht zu schmeißen. Auch artikulierte sie sich schlagartig viel verständlicher. „Sie... also... entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Jack mittlerweile eine Assistentin hat. Wenn ich das geahnt hätte... können Sie mir einen Gefallen tun und ihm nichts davon erzählen? Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht.“ Sie drehte sich zu mir um und sah mich bittend an. Ich nickte und hielt ihr wortlos das Paket hin. „Vielen Dank, Miss...“ „Alice. Nur Alice.“ „Sagen Sie Alice, kennen wir uns nicht? Sie kommen mir so bekannt vor...“ Verdammt, wie ähnlich sah ich denn meiner Mutter? Ich hatte keine Lust von jedem in dieser Stadt nur über jemandem definiert zu werden, den ich nicht einmal kannte. „Wir sind uns noch nicht begegnet, Doktor Engels. Ich stehe erst seit gestern in Jacks Diensten. Und ich bin primär seine Schülerin, nicht seine Assistentin.“ Sie schien diese Antwort zu akzeptieren, auch wenn sie mich genau musterte. Es war wahrscheinlich mein Glück, dass die Drogen ihrem Gedächtnis nicht gut taten. „Schülerin also... noch in Ihrem Alter? Dann muss er ja sehr überzeugt von Ihnen sein. Aber andererseits... Wenn nicht Jack, wer sonst in Taleswood könnte das vollbringen?“ Sie hatte so einen verträumten Blick, wie ich ihn von Thomas kannte. Mir war sofort bewusst, was das hieß. Ich wunderte mich, ob ihre Situation weniger schlimm aussähe, wenn sie mit Jack zusammen wäre. Immerhin war klar, worüber man sich mit ihr unterhalten konnte. „Er hatte mir erzählt, dass Sie auch eine Magierin sind und zusammen mit ihm gelernt hatten.“ „Ja, ich war die jüngste in unserem Kreis, zusammen mit Reverend Miller. Wir hatten beide nicht das Zeug dazu, vollwertige Magier zu werden, anders als Jack, Sam und Claire. Heißt nicht, dass ich sie kein Stück beherrsche. Ich kombiniere sie nur mit dem Wissen über Medizin. So haben das schon viele im Laufe der Jahrtausende gemacht. Ich bin eigentlich weder Magierin noch Ärztin, eher ein bisschen was von beidem.“ „Und ihr Doktor-Titel?“ Sie grinste verlegen. „Um ehrlich zu sein, bin ich kein richtiger Doktor. Ich habe zwar eine medizinische Ausbildung gemacht, aber für einen Titel hatte das nicht gereicht. Das hat aber in dieser Stadt noch nie jemanden gestört.“ „Nicht so sehr wie ihr Konsum von... was ist das? Opium?“ Greta senkte beschämt ihren Kopf. „Karl sagt immer, es würde mich retten...“ „Ah verstehe... Die 'Person' mit der Sie sich vorhin unterhielten.“ „Wissen Sie, er spricht nicht mit jedem und er ist auch nicht sichtbar. Aber er ist hier... und der Einzige, der mich versteht... mein Gott, warum erzähle ich Ihnen das alles? Er wird mich bestimmt ausschimpfen, ich darf doch nicht über ihn reden! Nein, Karl... bitte hör mir zu...“ Langsam verlor sie wieder ihren Verstand. Sie wandte sich, fing an zu stottern und atmete immer schneller. Was sollte ich nur tun? Doch die Hilfe kam tatsächlich schon die Treppe hinauf gestürmt. Ich drehte mich um und sah, wie Jack in der Tür stand, nur einen kurzen Moment zögerte und mich dann stürmisch in seine Arme schloss. Es war mir etwas peinlich, doch fühlte sich gleichzeitig auch angenehm an. Ein Blick auf Greta verriet mir, dass sie mich beneidete, aber vor allem, dass sie wieder bei Sinnen war. „Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Du bist doch okay, nicht wahr?“, flüsterte Jack, völlig außer Atem. Hatte er sich Sorgen gemacht, weil ich so lange brauchte, oder weil er wusste, das etwas passiert war? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und nickte stattdessen langsam. „Dann ist alles in Ordnung... Fleur erzählte mir, sie hätte gesehen, wie du am Madcap River gehockt und dich nicht bewegt hättest. Du warst wie eine Statue, für fast 5 Stunden. Ich hatte alles versucht, aber ich konnte dich nicht aus der Starre befreien. Und auf einmal hast du dich in Rauch aufgelöst. Ich bin sofort her, in der Hoffnung, dass...“ Er bemerkte, wie unangenehm die Situation war und ließ mich los. „Entschuldige... das war unhöflich von mir“, sagte er verlegen und wandte sich an den Doc. „Lange nicht gesehen, Gretchen.“ „Kannst du diesen dummen Spitznamen nicht mal aufgeben? Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr.“ Sie wurde rot und schaute lächelnd zur Seite. Es war mehr als offensichtlich, dass seine Anwesenheit ihr gut tat. Selbst einseitige Liebe konnte unheimlich viel bewirken. Jack war der Balsam für Gretas Seele. Ob ihm das bewusst war? „Er passt aber zu dir. Und es ist süß, wie du dich darüber aufregst. Damals wie heute.“ Sie schüttelte den Kopf und kicherte verlegen. Ich entschied mich, draußen zu warten und die beiden nicht zu stören. Die Tür stand sperrangelweit offen. Eine Sekunde dachte ich grinsend darüber nach, dann schlug ich sie beim Verlassen „aus Versehen“ zu. „Verdammt, du dumme Göre!“, brüllte der Löwenkopf: „Kannst du nicht jemand anderem auf den Keks gehen?!“ „Kann ich dich was fragen?“ „Wie? Erst arme, wehrlose Türen foltern und sie dann noch um Hilfe bitten?“ Ich ignorierte das Genörgel: „Waren Jack und Greta mal ein Paar gewesen?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Du bist eine Tür. Dir kann unmöglich so etwas entgehen.“ „Ich wüsste wirklich nicht, warum ich dir überhaupt etwas sagen... Autsch!“ Wieder trat ich gegen sie mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte. „Schon gut, ich rede ja. Ihre Beziehung... ist kompliziert. Sie treffen sich dann und wann mal, trinken etwas zusammen und landen auch zwischendurch gerne mal im Bett. Frag mich nicht woher ich das so genau weiß. Der Doc wünscht sich mehr, das ist jedem bekannt. Aber Jack... naja er kann sich einfach nicht losreißen.“ „Losreißen? Von wem?“ „Die Hellste bist du ja nicht gerade. Natürlich von Claire!“ Kapitel 5: Ein neuer Freund --------------------------- Fleur trug selten etwas anderes, als ihre Dienstkleidung. Genau genommen war es das erste Mal, dass ich sie an diesem frühen Morgen in einem privaten Gewand sah, als wir uns an der Treppe begegneten: ein blaues Kleid mit Rüschen an Ärmel und Kragen, darüber einen grau melierten Wollmantel. Ihr langes Haar hatte sie kunstvoll zu einem dicken Zopf gebunden, wodurch es ein ganzes Stück seiner tatsächlichen Länge eingebüßt hatte und so gut über ihrer Schulter liegen konnte. Mit dem Weidenkorb in der Hand und einer zum Mantel farblich abgestimmten Baskenmütze auf dem Kopf, wirkte sie ein wenig wie ein französisches Blumenmädchen, das sich in der Jahreszeit vertan hatte. „Guten Morgen, Fleur. Gehst du aus?“, begrüßte ich sie und gähnte kurz. Draußen am Fenster lag noch der morgendliche Reif, angeschienen vom kalten Licht der ersten Sonnenstrahlen, wodurch er wundersam glitzerte. Die Luft im Flur war kühl und meine nackten Füße froren etwas auf dem blanken Holz der Treppe. Im gesamten Haus herrschte eine entspannte Stille, die niemand zu stören vermochte. Hatte ich etwa verschlafen? So spät konnte es doch noch gar nicht sein... „Guten Morgen, Miss Alice. Der werte Herr musste unerwartet außer Haus und kommt wohl erst gegen Abend wieder. Ich soll unterdessen ein paar Besorgungen in der Stadt machen. Er sagte, dass der Unterricht heute ausfällt und Sie sich ruhig ein wenig entspannen können.“ Ein kurzes, enttäuschtes „hmm“, war meine einzige Antwort. Ich verstand ja, dass ich noch nicht so weit war, aber wenn Fleur die Besorgungen machen konnte, dann konnte ich das wohl auch. So war ich wieder nur ein Klotz am Bein. Ob es wohl an der Nacht lag? „Ich habe Ihnen bereits das Frühstück gerichtet, a-allerdings ist mir die Milch aus der Hand gefallen, also müssten Sie ihren Tee heute leider so trinken... Oh, und der Toast könnte etwas... dunkel sein... „Ich sehe schon, wir hatten einen guten Start in den Tag“, murmelte ich grinsend, wissend, dass sie mich sicherlich verstanden hatte. Sie kratzte sich am Kopf und schaute verlegen zu Boden. „Naja, ich bin dann erstmal weg. Zum Mittag bringe ich etwas vom Markt mit, wenn es recht ist.“ „Wenn es recht ist, würde ich lieber mitkommen.“ „N-nicht nötig, ich schaffe das schon. Entspannen Sie sich lieber“, winkte sie schnell ab. „Entspannen? Allein, in diesem riesigen Haus?“ „Gefällt es Ihnen etwa nicht?“, fragte sie traurig. Es war mir während der ersten Woche schnell aufgefallen, wie akribisch Fleur versuchte, es mir mit allem so recht wie möglich zu machen – und genau deswegen etwas unbeholfen wirkte, bei allem, was sie tat. Aber das machte sie sympathisch, auf ihre ganz eigene Art. Aber vielleicht sorgte sie sich auch um meine Gesundheit, immerhin waren nur wenige Tage seit dem... Vorfall vergangen. Auch mir saß der Schrecken noch tief in den Knochen, besonders weil niemand genau wusste, was mit mir passiert war. Ich hatte Jack von meinen Erfahrungen erzählt. Laut ihm war mein Geist wohl in einer Parallelwelt gefangen gewesen, doch er konnte sich nicht erklären, warum ich auf einmal verschwunden war. „Möglicherweise...“, gab er zu denken: “...Wurde dein Körper in diese Parallelwelt geholt, als du durch die Luke fielst. Oder er ist deinem Geist selbstständig gefolgt.“ Nur wer mich in diese Parallelwelt – Albtraumwelt wäre ein besserer Begriff gewesen – geholt hatte und zu welchem Zweck und wer der Geist im Raum war... all das konnte er mir auch nicht erklären. Doch es schien, als würde er mir nicht die volle Wahrheit sagen. Für einen Moment sah ich es... eine Art Aufleuchten in seinen Augen, als ich von dem Geist erzählte. Vielleicht hätte ich ihm von dessen Worten erzählen sollen. Konnte es sein? Konnte Magie das bewerkstelligen? Wie lästige Kletten schüttelte ich meine Grübeleien von mir, denn für den heutigen Tag spielte es keine Rolle. Ich ließ mich sicher nicht in diesem goldenen Käfig einsperren, nicht von Jack und ganz sicher nicht von seinem Hausmädchen. Fleur wippte unsicher auf ihren Sohlen und presste die Lippen zusammen. Ich erwartete nicht einmal eine Zustimmung, sie hatte sowieso keine Wahl und das wusste sie nur allzu gut. Doch es ließ mich nicht los, die Vermutung, dass ihr Zögern nicht nur auf eigener Sorge und irgendwelcher Befehle fußte. Viel eher erschien es mir, als sei es meine Anwesenheit, die ihr unangenehm sein könnte. „Sag mal, Fleur...“, begann ich und lehnte mich an die Wand. „Kann es sein, dass du eifersüchtig bist?“ „Eifer... süchtig?“, fragte sie und schaute mich dabei an, als hätte sie das Wort gerade zum ersten Mal gehört. „Ich könnte es dir nicht verübeln. Würde mir genauso gehen, wenn mein Hausherr plötzlich irgendeine dumme Straßengöre ins Haus lassen würde und ich mich um sie kümmern sollte.“ „Was? Nein!“ Entweder war sie eine verdammt gute Schauspielerin, oder ihre Bestürzung war echt. Nein, das stand nicht zur Debatte. Sie war definitiv bestürzt. „M-Miss Alice, wenn es einen Punkt gab, an dem ich Ihnen das Gefühl gegeben habe, das Sie hier nicht willkommen seien, dann tut mir das wirklich leid. Es war nicht meine Absicht.“ Mit diesen Worten setzte sie eine fast schon lächerlich tiefe Verbeugung an, sodass ihre Mütze vom Kopf fiel. Ich verspürte eine Mischung aus peinlicher Berührung über ihre Reaktion und leichten Gewissensbissen, dass ich ihr eine Abneigung mir gegenüber unterstellt hatte. Dennoch konnte ich es nicht verleugnen, dass sie mir etwas auf Distanz blieb, insbesondere, wenn wir allein waren. „Besorgt dich etwas anderes, bezüglich meiner selbst? Wenn dich etwas stört, sag es mir, ich kann mich nicht von Grund auf ändern, aber wir werden die nächste Zeit zusammenleben, also sollten die Fronten geklärt sein.“ Das Homunkulusmädchen wich weiter meinem Blick aus und strich sich über den Zopf, fuhr mit ihren Fingern die Strukturen entlang. Anscheinend beruhigte sie das. Dann erst schaute sie mich an, wenn auch nur schüchtern aus den Augenwinkeln. „Haben Sie... Haben Sie denn keine Angst vor mir? Ich meine, weil...“ Was sollte das? Angst? Vor ihr? Das war lächerlich, wie konnte jemand bitte Angst vor dieser hübschen, zierlichen Frau haben? Doch zu meinem Erstaunen, schien sie das ernst gemeint zu haben. Ich prustete ein wenig Luft aus, schüttelte ratlos den Kopf und stieg wieder die Treppen hinauf. „Geh nicht ohne mich los, ich bin in zehn Minuten fertig.“ Ob es wirklich Menschen gab, die vor ihr Angst hatten? Stellten Homunkuli etwa eine Gefahr da? Aber selbst wenn, was spielte das schon für eine Rolle? Mir war nicht ganz klar, wieso, aber ich wollte einfach, dass Fleur und ich gut miteinander auskamen. Vielleicht, weil sie mich schon einmal sicher geleitet hatte, wenn auch nur als Katze. Sie strahlte einfach eine unfassbar sympathische Aura aus. Schnell zog ich mir Bluse und Hose an und setzte mich an den Kosmetikschrank, um meine Haare zu kämmen, doch trotz des selbstgesteckten Zeitlimits, konnte ich nicht anders, als inne zu halten, als mein Blick sich mit dem meines Spiegelbilds kreuzte. War es nicht merkwürdig, wie schnell der Körper auf andere Gegebenheiten reagierte? Nach nur wenigen Tagen hatte mein Gesicht die altgewohnte Blässe abgelegt. Meine Haut war nicht mehr so trocken wie früher und sie wirkte straffer, gesünder... Ich seufzte. Dieser Ort, dieses neue Leben... Allen Vorzügen zum Trotz wusste ich noch nicht, was ich hiervon halten sollte. Ein Schnippen und auf meinem Zeigefinger entbrannte eine kleine Flamme. Erst jetzt fiel mir auf, dass Jack damals auch als aller erstes diesen Trick angewendet hatte, als wir uns das erste Mal trafen. Und es waren Flammen aus meinen Händen, welche Dean in Brand gesteckt hatten. Feuer war uns von allen Elementen am nächsten, hatte Jack mir erklärt. Aus Erde seien wir geschaffen, Luft und Wasser zirkulieren in uns, aber Feuer treibe unsere Seele an. Ob ich das wörtlich nehmen sollte, war mir nicht ganz klar, doch ich verstand seine Idee dahinter. Aber es änderte nichts daran, dass dieser Ort noch immer etwas Unwirkliches, etwas Unechtes an sich hatte. Als ich Fleur vor der Haustür begegnete, ließ ich diese Gedanken jedoch bei mir. In der Nacht hatte es etwas geschneit. Weiß glitzernd wurde die Welt von einer dünnen Lage bedeckt, wie ein kaltes Laken, unter dem die Erde ruhte. Fleur schüttelte sich aufgrund einer Brise, die uns eine Ladung Eiskristalle direkt ins Gesicht blies. Ich hingegen genoss es richtig, die kalte, unverbrauchte Luft einzuatmen und den starren Wind um meine Ohren pfeifen zu hören. „Macht Ihnen das Wetter nichts aus?“, fragte sie mich und knöpfte ihren Mantel weiter zu. Ein schönes Stück Stoff. „In London ja, da ist es oft einfach nur kalt, nass und grau, das deprimiert einen mit der Zeit. Aber dieser Winter hat etwas... Idyllisches an sich.“ „Idyllisch? Inwiefern?“ „Er ist wie in Geschichten, kalt und hart, aber auch wunderschön. Außer einer handvoll Fußspuren bleibt die Schneedecke einfach unberührt. Außerdem überrascht es mich, wie pur das Weiß ist. Er ist einfach frei vom Ruß der Fabriken.“ Ich sah eine Spur auf halben Wege nach links von der Stadt weg und in den Wald hinein führend. Es waren die Füße eines großen Mannes gewesen. Wahrscheinlich Jacks... Ob er mir erzählen würde, was er dort im Wald zu tun hatte, wenn ich ihn am Abend sehen würde? Fleur kicherte kurz. Sie fand es wohl amüsant, wie sich jemand für etwas begeistern konnte, dass in ihren Augen wahrscheinlich absolut nichtig war. Hieß das, sie machte sich über mich lustig? Wenn dem so war, störte es mich nicht. Sollte sie ruhig über mich lachen, dachte ich mir, so behütet wie sie aufgewachsen war, könnte sie die kleinen Freuden doch sowieso niemals verstehen. Das Hausmädchen verstummte, als unsere Blicke sich trafen, murmelte nur noch eine verschüchterte Entschuldigung und ich fragte mich, ob sie vielleicht aus meiner Mimik eine gewisse Missbilligung gelesen hatte, auch wenn das nicht von mir gewollt war. „Ich muss Ihnen leider ein wenig die Illusion zerstören. Der Schnee hier draußen ist wirklich sauber und unberührt, aber in der Stadt sieht die Sache schon wieder etwas anders aus. Dort werden selbstverständlich die Straßen freigeräumt“, sprach sie wieder etwas zurückhaltender und fing an, sich mit einer Hand über den Zopf zu streichen, so wie sie es schon zuvor tat. Doch diesmal lächelte sie dabei; nur schwach, aber selbst das schwächste Lächeln hob ein jedermanns Stimmung in ihrer Nähe. Langsam verstand ich, warum sie Jack so am Herzen lag, obwohl sie kein echter Mensch war. Geschäftig ging es in der Hauptstraße zu, jene Straße, welche einmal quer durch Taleswood ging und von der sich wie Äste eines Baumes alle anderen Straßen abzweigten. Von den alten Bäumen in der Straßenmitte tropfte der angetaute Schnee auf Pflaster und Kutschen und glitzerte schwach in der Sonne. Ein und aus gingen die Bewohner durch die großen Geschäfte, brachten Geld hinein und trugen gefüllte Taschen hinaus. Es war noch immer merkwürdig, ihnen ins Gesicht zu sehen – Tiere in Kleidern und Anzügen, die sich mit Menschen über das Wetter, oder den Alltag unterhielten und zum gemeinsamen Tee verabredeten – doch je häufiger ich es sah, desto mehr wurde es zur Gewohnheit. Doch etwas war deutlich anders, verglichen damit, als ich am ersten Tag mit Jack unterwegs war. Auch an diesem Tage generierte unser Anblick eine gewisse Aufmerksamkeit, doch diese war deutlich geringer und wenn sie vorkam, dann spiegelte sich in den Augen der Leute nicht Freude und Bewunderung, sondern allenfalls Mitleid, oftmals aber eher Abneigung, oder gar... ja, man musste es als Angst bezeichnen. Erst dachte ich, die negativen Emotionen waren gegen mich gerichtet; vielleicht hatte sich ja die Geschichte mit der Parallelwelt rumgesprochen, oder es war die normale Abneigung, die man nun einmal gegen Außenstehende anfangs empfand. Doch schnell bemerkte ich, dass die Blicke und das Getuschel nicht gegen mich ging, sondern ... gegen meine Begleiterin. Ich hätte es niemals geglaubt, aber es gab tatsächlich Leute, die vor Fleur Angst hatten. Und langsam konnte ich unter dem unendlichen Stimmengewirr entschlüsseln, was die bösen Zungen über sie sprachen, oft nur Fetzen, eingestreute Lästereien, als sei es für manche ganz normal auf sie herabzusehen. „Ist das nicht Jacks Hausmädchen?“ „Hat er sie noch immer nicht entsorgt? Er täte ihr sicher einen Gefallen.“ „So kann doch niemand leben wollen...“ „Sie gehört nicht ihm, wer sagt, dass er sie kontrollieren kann?“ Und dazu dann dieses unterdrückte Gelächter, mit vorgehaltenem Handrücken. Mehr noch fiel jedoch auf, von wem die Worte kamen: Nicht nur die üblichen Verdächtigen, die Schicki-Micki-Bürger in den teuren Mänteln, auch die einfachen Leute übernahmen diese, sonst für die Oberschicht typische, Geste. So lief der Hase in Taleswood also: Nicht woher du stammtest, sondern was du warst, darauf kam es an. Wut entbrannte in mir. Fester ballten sich meine Fäuste in den Jackentaschen und ich hörte das Knirschen meiner Zähne. Es war wie ein Fass, das sich Tropfen für Tropfen füllte und ich wartete nur darauf, dass es überlief. Doch kurz bevor es soweit war, schöpfte ausgerechnet sie das Wasser ab. Fest umklammerte sie meine Faust und ließ ihre Finger zwischen die meinen gleiten. Sie war weich und warm. „Nehmen Sie es denen nicht übel, Miss Alice. Sie haben doch nur Angst; wir alle haben vor irgendetwas Angst.“ „Wie kannst du das so einfach ausblenden? Sieht Jack darüber etwa auch hinweg?“, fragte ich sie und entzog mich ihrem Griff. In diesem Moment verspürte ich ein gewisses Unverständnis für ihr mildes Lächeln. Warum war sie denn nicht wütend, oder zumindest verletzt? „Master Salem hatte sie zurechtgewiesen und in seiner Anwesenheit wagt es niemand, so über mich zu sprechen. Aber wenn er nicht da ist... Ich kann es ihnen ja doch nicht austreiben.“ „Und stattdessen schluckst du alles herunter?“ Fleur blieb geduldig mit mir und atmete ruhig durch. Dann schwenkte sie den Kopf, schaute sich die Passanten an und grüßte einige Leute, die ihr freundlich zunickten, mit einem schnellen Knicks. „Sehen Sie? Die meisten sind nett zu mir und die die es nicht sind, tun auch nicht mehr als zu tuscheln. Kennen Sie das denn nicht auch?“ Beleidigt drehte ich meinen Kopf zur Seite und murmelte nur noch ein: „Das ist nicht dasselbe.“ Unterschiede in den Ständen, das kannte ich, aber davon war ja nicht nur meine Wenigkeit betroffen. Fleur hingegen... Selbst in dieser Stadt, in der doch für einen Außenstehenden selbst das Unmögliche möglich erschien, gab es niemanden wie sie. Sie war ganz allein. So allein, dass sie auch bei mir vom Schlimmsten ausgegangen war. Jetzt tat sie mir leid. „Ich bin nicht allein“, sprach Fleur überzeugt, nahm mich bei der Hand und führte mich zielsicher in Richtung der Schneiderei, als hätte sie meine Gedanken erraten. „Wir müssen sowieso ihre restlichen Kleider abholen, wie gut, dass er gerade auch dort ist.“ „Er? Von wem sprichst du?“ Doch das Hausmädchen antwortete mir nicht mehr, während sie mich aus der Kälte, hinein in den großen, fabrikartigen Bau zog, der noch immer wenig mit einer handelsüblichen Schneiderei zu tun hatte und die Größe der Verkaufshalle mit seinen verspielten Verzierungen überwältigte mich wieder einmal. Zeit zum Umsehen blieb mir jedoch nicht, denn meine Begleiterin zog mich schnurstracks zum Verkaufstresen und blieb vor jemandem stehen, bei dem ich im ersten Moment nicht sicher war, ob es sich bei der Gestalt in dunklem Anzug mit Priesterkragen wirklich um einen Menschen handelte. Dunkelbraune Haut und pechschwarzes, krauses Haar, wulstige Lippen und ein paar kleine, dunkelbraune Augen, die uns überrascht, aber freundlich ansahen. Man hatte uns Geschichten von ihnen erzählt, von den Wilden des südlichen Kontinents, aber ihre tatsächliche Existenz war für mich fast genauso Märchen, wie die eines jeden Fabelwesens – das hieß: Bevor ich Taleswood besuchte. „Reverend Miller, guten Morgen“, begrüßte Fleur mit ihrem typischen Knicks den schwarzen Mann, der wohl ein paar Jahre jünger war als Jack. Nebeneinander wirkten die beiden nur noch verwunderlicher, denn ihre Hautfarben standen im absoluten Kontrast zueinander. „Fleur, was für eine schöne Überraschung. Machst du wieder Besorgungen für den Hausherrn?“, erkundigte er sich freundlich. Ich hatte erwartet, dass seine Stimme rau und dunkel wäre, tatsächlich klang sie glockenhell und äußerst sanft. „Master Salem hat heute schon früh das Haus verlassen, es gab wohl einen Notfall.“ „Also hat mein Gefühl mich heute morgen nicht getäuscht... Es wird doch immer schlimmer...“, murmelte er und legte seine Stirn in Sorgenfalten, was auch Fleur unsicher werden ließ. „Sir?“ „Verzeih, ich war nur in Gedanken“, winkte er ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Ich spürte den Kloß im Hals, als sein Blick den meinen traf, obwohl weder darin, noch in seinem Lächeln auch nur irgendeine Boshaftigkeit steckte. Hatte ich etwa... grundlos Angst? „Und ich fragte mich schon, warum Jack die letzten zwei Gottesdienste verpasst hatte. Du musst dann wohl Alice sein, richtig? Desmond Miller, ich bin der Pfarrer der Gemeinde.“ Mit diesen Worten streckte er mir die Hand aus. Ich zögerte. Es gab keinen Grund, ihm nicht die Hand zu schütteln, dennoch hielt mich etwas zurück. Vorsichtig ergriff ich sie und überwand mich zu einem so schwachen Händedruck, dass ich bezweifelte, ob er ihn überhaupt gespürt hatte. Wie peinlich. Gott sei Dank, ging er auf mein Verhalten nicht durch irgendwelche schnippischen Bemerkungen noch ein. „H-Hat er mich schon einmal erwähnt?“, druckste ich und wich seinem Blick aus. Warum war mir seine Nähe nur so unangenehm? Fühlten sich so etwa diejenigen, die ich gerade noch für ihr Verhalten gegenüber Fleur verurteilen wollte? „Ab und an. Als ich dich zuletzt sah, warst du gerade erst geboren. Wie lange ist das her? 15 Jahre? Oder doch noch länger? War sicherlich nicht leicht für dich, ohne Eltern aufzuwachsen...“ Daraufhin bekreuzigte er sich und murmelte etwas, das nach „Ruhe in Frieden“ klang. „Sie kannten meine Eltern?“ Er lachte kurz. „Ich möchte nicht von ihnen in der Vergangenheitsform sprechen.“ „Aber sie sind doch...“ „Du musst wissen, dass ich auch gewisse magische Fähigkeiten besitze – auch wenn sie mit Jacks nicht annähernd zu vergleichen sind. Meine Spezialisierung ist der Kontakt zum Jenseits.“ Ungläubig zog ich eine Augenbraue hoch. Ein Geistlicher, der mit Geistern sprach? Wobei es für seinen Beruf sicherlich nicht die unpraktischste Begabung war. Und wenn ich an meinen Vorfall dachte... Vielleicht sollte ich ihn fragen. Vielleicht könnte er mir besser erklären, was mit mir passiert war, als Jack. „Wie...“, wandte sich der Reverend an Fleur, die gerade ein Paket von der Kassiererin annahm. Darin befanden sich meine restlichen Kleider, zumindest waren wir dafür hier, jedoch war das Paket seltsam klein, um die Menge an Kleidungsstücken zu fassen. Waren sie etwa doch noch nicht alle fertig? „Wie geht es Doktor Engels? Ich... Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen...“ Seine Stimme klang seltsam unsicher, fast schon schüchtern. „Master Salem sagte, dass sie ihre Geister nur schwer unter Kontrolle hat. Wenn sie viel Morphium zu sich nimmt, ist es schlimmer“, gab Fleur zu Bericht und sah ihn etwas mitleidig an. Konnte es sein...? Miller seufzte: „Wir können es ihr nicht verbieten, aber wie lange wird ihr Körper das noch mitmachen?“ „Ich weiß, dass Master Salem noch immer nach einem Heilmittel sucht, aber leider noch immer ohne Erfolg. Ohne die Information, was sie damals genau genommen hat, ist es 'die Suche nach der Nadel im Heuhaufen' – so nannte er es.“ „Und wie geht es ihr in Jacks Nähe?“ Fleur zögerte mit ihrer Antwort und ich konnte mir vorstellen, wieso. Der Doc lag Miller sehr am Herzen, wahrscheinlich mehr als Jack. „I-ich war vor einigen Tagen bei ihr, wenn Sie etwas zu ihrem Zustand hören wollen“, mischte ich mich ein und sah, dass Fleur darüber sichtlich erleichtert war. Aber ich tat das nicht, um sie zu entlasten. Es war auch meine Chance, ihn nach den Ereignissen zu fragen – und auch meiner Unsicherheit ihm gegenüber entgegenzutreten, denn sie wurmte mich mehr, als ich zugeben wollte. Dankend lud Reverend Miller mich dafür in ein kleines Café ein, direkt gegenüber der Schneiderei. Fleur zog unterdessen weiter, denn sie wollte die restlichen Besorgungen gern allein machen. Schweigend saß ich an dem kleinen, runden Tisch mit wirren Verzierungen aus Eisen und schaute durch das Schaufenster, während der Kellner uns einen frischen Kaffee brachte. Die kräftige Röstnote stieg mir in die Nase und versprach eine sehr gute Qualität und beruhigte meine Nerven. Ich wagte einen Blick zum Reverend, der immer wieder winzig kleine Mengen Zucker und Milch in seine Tasse schüttete, dann kurz nippte, bis er mit dem Mischverhältnis zufrieden war. Wenn man sich an seine Hautfarbe gewöhnt hatte, war er auch nur ein Mensch. Seine Augen hatten etwas Ruhiges, Seelenvolles. Sein entspanntes Lächeln verstärkte diesen vertrauensseligen Ausdruck. Seine Gestik und Haltung hatten auch nichts von einem unzivilisierten Buschmann wie es einem in der Schule beigebracht wurde. Angst vor ihm zu haben, war genauso dumm, wie vor Fleur. „Ich danke dir erst einmal für deine Zeit“, fing er demütig an. „Sicherlich hast du auch wichtiges zu erledigen, deswegen werde ich versuchen, dir nicht zu viel Zeit zu stehlen.“ „N-nicht doch“, winkte ich ab. „Jack hat mich für heute freigestellt, ich wollte aber unter Leute kommen, deswegen bin ich mit Fleur unterwegs. Übrigens, wissen Sie, was Jack tut?“ „Ich kann es mir denken. Seit einigen Jahren sind die Anomalien wieder stärker geworden.“ „Anomalien?“ Miller lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Jack kann dir das sicherlich noch genauer erklären, aber hier mal die Kurzform. Magie durchfließt die gesamte Stadt. Ohne sie würde Taleswood in seiner Form nicht bestehen. Allerdings ist sie von Natur sehr eigensinnig und bringt gerne physikalische Gesetze durcheinander.“ „Aber ist Magie nicht genau dazu da?“ „Wenn man sie kontrolliert, ja. Aber ohne diese Kontrolle sorgt sie gerne für verdrehte Phänomene, die so nicht vorkommen sollten. Der Madcap River ist das beste Beispiel, allerdings noch völlig harmlos.“ Miller öffnete seine Hand und bildete durch Kreisförmige Bewegungen seines Fingers eine Art Kugel aus Luft, fast unsichtbar für das menschliche Auge, aber zweifellos da. Neugierig schaute ich mir das Modell näher an. „Stell dir vor, diese Kugel sei Taleswoods Atmosphäre. Sie ist nach außen vor allerlei Gefahren geschützt und kann hier drin ihr eigenes Biotop aufbauen. Unter dem Schutz von Magie wachsen dort Pflanzen und leben Wesen, die es nirgendwo sonst gibt. Standorte für neue magische Städte werden nach der umgebenen Magiekonzentration ausgesucht. Aber diese Zivilisation existiert nur, solange Magier da sind, die diese Flüsse kontrollieren. Wenn sie fehlen...“ Er zog die Hand zurück. Nur wenige Sekunden lang konnte sich die Kugel aufrecht erhalten, dann bildeten sich pechschwarze Wolken, die sich dann jedoch glutrot färbten und in einem kleinen Feuerball explodierte das Gefäß. Heiße Luft blies mir entgegen und ließ mich zurückschrecken. „... Dann zerfressen Anomalien die Struktur, wie Würmer einen Apfel, bis alles in einer Katastrophe untergeht.“ Ich schluckte. „Und gegen so etwas kämpft Jack?“, fragte ich ihn unsicher. „Wie denn überhaupt?“ „Anomalien können viele Erscheinungen haben. In Form von Monstern und Kreaturen, aber auch als Illusion..:“ Illusion? Das war mein Stichwort. Schnell erklärte ich Miller meine Geschichte, bis zu der Stelle in dem Zimmer. Er hörte geduldig zu, ließ mich jedes Detail erklären, bevor er zu einer Antwort bereit war. „Ich würde es weder bestätigen noch dementieren, zumal ich wenig über Anomalien weiß. Es hat Ansätze einer Anomalie, klingt aber zeitgleich sehr gezielt gegen dich gerichtet, was bedeuten würde, dass es ein Zauber war.“ „Da ist noch etwas. Ich entfloh dieser Welt durch ein kleines Fenster, das mich in ein seltsam leeres Zimmer brachte. Da gab es diese schemenhafte Gestalt, die mit mir sprach. Viel verstand ich nicht, außer einem Satz: 'Ich liebe dich... Mein Kind'. Ich habe einige Zeit darüber nachgedacht. Könnte es sein, dass...“ Der Pfarrer nickte und lächelte. Also stimmte es? War diese Gestalt wirklich meine Mutter? „Es sieht Claire sogar sehr ähnlich, solche Grenzen zu überschreiten. Das Jenseits ist auch für mich ein großes Rätsel. Wie lange unsere Seelen dort landen und wie es dort aussieht, darüber spricht kein Geist. Viele bitten mich, die Geister ihrer verstorbenen Angehörigen zu kontaktieren, aber meistens bekomme ich keine Antwort. Vielleicht sind sie nicht im Jenseits, sondern an einem anderen Ort, vielleicht sind sie verhindert. Vielleicht wollen sie aber auch einfach nicht darüber sprechen.“ „Sind Sie deswegen Pfarrer geworden und nicht... Schamane?“ „Unter anderem, ja. Beistand zur Trauer ist aber nur eine meiner Aufgaben. Ich will den Leuten auch die anderen Seiten des Glaubens vermitteln. Die Hoffnung auf das Gute, die...“ „Schon gut, ich war lange genug im Saint Peter's, ich kenn' die Leier.“ Der Pfarrer lachte auf. „Ob du es glaubst oder nicht, meine Dienste sind gefragt. Die Taleswooder sind äußerst gläubig.“ „Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass in dieser Welt Platz für die Lehren Christi wäre.“ „Ich glaube, Christus war selbst ein Magier und zwar ein sehr mächtiger. Deswegen ist mein Gottesdienst daran angepasst. Möchtest du ihn dir nicht auch einmal ansehen?“ Ich zögerte etwas. Normalerweise hasste ich die Kirche und die Predigten über Nächstenliebe, welche sie selbst auch nicht praktizierten. Aber Miller war nicht die Kirche. Und Jack ging doch auch dorthin, warum sollte ich nicht also mal mitkommen? Er freute sich sichtlich über mein langsames Nicken. „Sind Sie und Jack eigentlich gut befreundet?“ „Naja, er würde mich weniger als Freund und vielmehr als neugierige Nervensäge bezeichnen, aber ich wage zu behaupten, dass er kaum jemanden mehr vertraut, als mir. Außer Fleur, aber die zählt nicht.“ „Warum?“ „Sagen wir einfach, sie hat ein besonders enges Verhältnis zur Ehrlichkeit.“ Mir war nicht ganz klar, was er damit meinte, doch ich beließ es mit meiner Fragerei, sonst wäre ich am Ende noch die neugierige Nervensäge. Zum Ausgleich erzählte ich von meiner Begegnung mit dem Doc, schilderte ihren Zustand und ließ auch Jacks Auftritt nicht aus. Es war gemein von mir, doch ich musste einfach seine Reaktion sehen. Tatsächlich wirkte er ein wenig traurig, aber zeitgleich auch erleichtert. „Das heißt, es gibt noch immer Hoffnung für sie...“, murmelte er und erhob sich. „Ich danke dir für das Gespräch, Alice. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits, Reverend“, antwortete ich und gab ihm die Hand. Diesmal ohne zu zögern. „Darf ich dich noch um etwas bitten?“, fragte er mich mit ernster Miene. Vorsichtig nickte ich, gespannt, was er noch von mir wollen könnte. Doch dann lösten sich seine Stirnfalten und das gewohnte Lächeln kam zurück. „Pass mir bitte gut auf Fleur und Jack auf. So lange hatten die beiden nur einander... Vielleicht hält mit dir nun endlich eine gewisser Frieden in ihr Leben Einzug.“ Trotz dessen, dass unser erstes Treffen nur etwa eine Stunde zurücklag, hatte der Reverend großes Vertrauen in mich. Sicherlich konnte er mir demnächst noch viel erzählen, aber bis dahin wollte ich sein Vertrauen nicht enttäuschen. Das Tuscheln war natürlich nicht verschwunden, als ich mit Fleur die Stadt verließ und bis kurz vor den Stadttoren tat ich mein Bestes, dies zu ignorieren. „Salem braucht sich nicht wundern, wenn seine hübsche Schülerin eines Tages aufgefressen wurde.“ Da platzte mir der Kragen. Fest umgriff Fleur meine Hand und zog mich an ihnen vorbei, doch ich riss mich von ihr los. „Bitte, Miss Alice...“, versuchte sie noch mich aufzuhalten, doch ich war bereits bei der lästernden Dreiergruppe in gutbürgerlichen Anzügen angekommen. Unsicherheit waren in den Gesichtern der zwei Menschen und des Hasens in ihrer Mitte klar zu erkennen. Wahrscheinlich hatten sie Erfahrungen mit Jacks Reaktionen gemacht und ich konnte sie mir nur allzu gut ausmalen. Genau aus diesem Grund wollte ich es sein, die mit ihnen redet. „Wissen Sie, ich hatte vorhin den Reverend kennengelernt. Das war mein erster Schwarzer. Ich hatte mich sogar gefürchtet, als ich ihn sah. Dachte wohl, er packt mich gleich über seine Schulter und entführt mich nach Afrika, oder so.“ Für einen Moment wollten die Herren darüber lachen, doch merkten, worauf ich hinauswollte und blieben stumm. Mit einem milden Lächeln sprach ich weiter. „Sie sind herzlich zum Salem-Anwesen eingeladen. Fleur ist nicht das beste Hausmädchen, aber sie gibt sich große Mühe. Vielleicht verfliegen ihre Sorgen, wenn Sie sie einmal aus nächster Nähe erleben. Es würde mich freuen, wenn sie dem folgen würden. Noch einen schönen Tag, meine Herren.“ Und mit einem Knicks, wie Fleur ihn machen würde, verabschiedete ich mich und drehte mich um, ohne eine Antwort abzuwarten. Vielleicht würden sie niemals dieser Einladung folgen, insbesondere weil sie nur von mir kam. Aber als ich in ihr glückliches Gesicht sah, wusste ich, dass es dennoch die richtige Reaktion war. Klanglos formten ihre Lippen ein „Vielen Dank“ bevor wir uns auf den Weg heimwärts machten. Kapitel 6: Greensleeves ----------------------- Fast fünf Wochen waren seit meinem Einzug ins Salem-Anwesen vergangen und der Alltag war seitdem so routiniert, wie der Lauf der Sonne – morgens Theorie, mittags Training, nachmittags Arbeit. Das bedeutete jedoch nicht, dass es mir keinen Spaß machte. Im Gegenteil: Ich lernte oft noch bis in die tiefste Nacht hinein, nicht um Jack zu beeindrucken, sondern weil es ich mich wirklich faszinierte. Doch seit eben jenem Abend beim Doc, wusste ich nicht mehr, wie ich mit ihm umgehen sollte. Eine innige, viel zu herzliche Umarmung, genauso wie die Erkenntnis, dass er Gefühle für meine Mutter gehabt hatte, ließen mich wundern, ob er vielleicht auch an mir interessiert war. Doch diesen Gedanken verdrängte ich nur allzu gern, nicht nur, da Jack sich mir gegenüber seitdem nicht anders verhalten hatte als vorher, sondern auch, weil mir der Gedanke einfach zuwider war. Ist die Mutter unerreichbar, macht man sich an die Tochter ran, oder was? Das konnte ich mir bei ihm nicht vorstellen. Er hatte bestimmt seine Gründe, warum er sich so sehr um mich kümmerte, und ich hatte meine, ihn nicht danach auszufragen. Lehrer und Schüler... mehr waren wir nicht. Vom Albtraum jenes Tages konnte ich mich allerdings nicht so leicht lösen. Im Schlaf suchte mich der Gang durch das Laufrad dann und wann heim, mit dem Unterschied, dass es dort erst mit dem Aufwachen endete. Manchmal drehte ich mich um, nur um dann zu merken, wie mir jemand eine Klinge in den Bauch rammte. Wer es war konnte ich jedoch nie erkennen. Mit der Zeit gab ich auf, mir darum Gedanken zu machen, zumal der Vorfall sich nicht mehr wiederholte. Ich vertiefte mich stattdessen in meine Studien und hatte auch vor, das kommende Wochenende durchzuarbeiten. Doch es sollte anders kommen. Es war ein sonniger Samstagmorgen, Anfang März. Jack war dieses Wochenende mit Freunden auf der Jagd, also gab es keinen Grund, mich mit dem Aufstehen zu beeilen. Ich streckte mich in meinem Bett aus und lauschte dem Klavierspiel, das gedämpft durch die Wand zu Fleurs Zimmer drang. Es hatte schon etwas Ironisches an sich, dass ausgerechnet in Fleur, die ansonsten alles andere als geschickt war, eine begnadete Pianistin steckte. Heute sang sie auch dazu, mal auf englisch, aber auch auf deutsch und französisch. Sie hatte mir erzählt, dass sie schon seit ihrer Geburt – oder sollte ich besser Erschaffung sagen? - diese Sprachen fließend beherrschte, genauso wie das Klavierspielen. Ein Stück weit fühlte sich das unfair an, bedenke man doch, wie lange ein Mensch brauchte um auch nur eines dieser Talente zu beherrschen. „Sie müssen aber wissen“, hatte sie eingeworfen, „dass ich nicht mehr lernen kann, als das, was man mir von Anfang mitgegeben hat. So wie meine Erscheinung ist auch mein Geist auf dem gleichen Stand, wie bei meiner Erschaffung vor 10 Jahren. Ich altere nicht, ich kann mich nicht verbessern und ich werde auch nicht annähernd so lange leben, wie Sie.“ In einem Lexikon stand, dass Homunkuli etwa 20 Jahre alt wurden, bis sie dann eines Tages einfach umkippten, wie eine Marionette, an der man die Fäden kappte. Aber Fleur war anders als ihre Artgenossen. Sie konnte frei denken, brachte Emotionen zum Ausdruck und war nicht an ihren Schöpfer gebunden. Ihre uneingeschränkte Loyalität Jack gegenüber hatte sie sich selbst ausgesucht. Doch am wichtigsten: Sie war genauso unvollkommen wie wir. Mindestens einmal die Woche ließ sie irgendetwas fallen, stolperte gerne über Teppiche oder verbrannte sich an etwas. Sie war halt eigentlich nie als Hausmädchen konzipiert worden, doch kam dem trotzdem mit aller Leidenschaft nach, die sie aufbringen konnte. So was tat kein Homunkulus. Sie beherrschten immer nur eine Aufgabe und diese mit Bravur. Ich hatte deswegen früh für mich festgelegt, Fleur wie einen Menschen zu behandeln, zumal ich sowieso nicht wusste, wie man sonst mit ihresgleichen umging und auch kein Interesse hatte, es herauszufinden. „Heute könnte ich ja den Tee aufkochen, dann kann sie noch weiterspielen“, sagte ich mir, stand auf und war auf dem Weg ins Bad. Doch als ich an ihrer Tür vorbeiging, hielt ich inne: "Alas, my love, you do me wrong, to cast me off discourteously, for I have loved you oh so long, delighting in your company. Greensleeves was all my joy, Greensleeves was my delight, Greensleeves was my heart of gold, and who, but my Lady Greensleeves..." Auch wenn ich den Text nicht kannte, kam mir die Melodie seltsam vertraut vor. Eine Erinnerung, tief in meinem Bewusstsein vergraben, aus einer längst vergessenen Vergangenheit. Doch noch etwas Anderes, viel Stärkeres ließ mich verharren. Fleur sang erst so schüchtern, als wollte sie von niemanden gehört werden, doch gewann mit jeder Zeile mehr Mut. In meiner Brust machte sich eine wohlige Hitze breit, die mich erschaudern ließ. Ihr lieblicher Gesang füllte - selbst durch die Tür gedämpft - den Flur aus, wie ein sanfter Schleier, der sich mit einer angenehmen Schwere auf mich legte. Ich spürte wie meine Knie weich wurden, setzte mich an ihre Tür und lauschte gebannt. Das Blut in meinen Wangen kochte und mein Atem war zittrig und langsam. Was war denn nur los mit mir? Konnte ich mich denn gerade wirklich in diese Stimme...? Ich verdrängte den Gedanken mit aller Gewalt. Gerade einmal einen Monat weg und schon waren meine Gedanken nicht mehr bei Thomas? Und dann noch wegen einer Frau... machte das die Situation überhaupt besser, oder schlechter? Doch je länger ich dagegen ankämpfte, desto mehr keimte sie auf. Diese unbändige Versuchung, das Mädchen hinter dieser Tür küssen zu wollen, so stark, dass ich ihre Berührung auf meinen Lippen spüren konnte. So was hatte ich noch nie zuvor gefühlt. Nicht für einen Mann und erst recht nicht für eine Frau. „Du könntest jetzt zu ihr gehen. Stell sie dir vor, ihre violetten Augen, die vor Aufregung funkeln, während ihr euch näher kommt... Hör auf so einen Unsinn zu denken! Es wird nicht passieren, du tickst doch gar nicht so! Und sie ist doch noch nicht mal ein Mensch...“ In meinem Kopf kämpften lüsterne Fantasien und eiserne Vernunft um die Vorherrschaft. Ich bemerkte erst, dass Fleur ihr Spiel beendet hatte und die Tür öffnete, als ich plötzlich den Halt an meinem Rücken verlor. Wie immer trug sie ihre schwarze Uniform mit der weißen Schürze, das lange, aschgraue Haar hinter der Haube zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sah so... „So aus wie immer, reiß dich zusammen!“,befahl mir meine Vernunft. „Miss Alice? Was machen Sie denn auf dem Boden?“ Langsam stand ich auf und ordnete meine Gedanken. „Das Lied...“ „W-Welches Lied, ich habe viele gespielt. Habe ich Sie etwa geweckt?“ „Das am Ende. Wie heißt es?“ „Das war Greensleeves ein altes Volkslied. Master Salem hat es mir beigebracht, oder besser gesagt: Er hat es immer mal wieder während seiner Arbeit gesungen und ich habe es irgendwann auf dem Piano nachgespielt. Es ist ein schönes Lied, nicht wahr?“ Ich nickte wortlos. Greensleeves also. Seine Melodie, gepaart mit ihrer Stimme brannten sich tief in mein Gedächtnis. Fleur wartete verunsichert darauf, dass ich was sagte, doch sah sich nach einiger Zeit gezwungen die aufgekommene peinliche Stille selbst zu durchbrechen. „Sie... wollen dann wahrscheinlich ins Bad. Ich mache solange das Frühstück fertig. Wir sollten es heute langsam angehen lassen, wenn schon der werte Herr nicht im Haus ist, was meinen Sie?“ „Ja, du hast Recht. Ruhig angehen lassen... Ich übe aber noch ein wenig.“ Sie nickte und ging hinunter in die Küche. Ich sah ihr nach, wie ihr Pferdeschwanz auf und ab wippte. Endlich war mein Kopf wieder klar und mein Herz im Zaum. Ihr Anblick, ihre liebliche Stimme... schwang ich etwas doch in beide Richtungen? Über all das vergaß ich, dass ich doch eigentlich selbst das Frühstück machen wollte. Ich musste feststellen, dass es sich mit einer so aufgewühlten Stimmung, wie der meinen nicht gut lernen ließ. Ich übte im Vorgarten, wo genügend Platz war und ich vor allem Fleur aus dem Weg gehen konnte. Hoffentlich interpretierte sie mein Verhalten nicht als Feindseligkeit. Das Buch Structure and Basic Manipulation of an Arcane Medium vor mir platziert versuchte ich nun schon den ganzen Tag, die Kette meines Medaillons zu verlängern. Die Idee war, die Kettenglieder zu kopieren und temporär einzufügen. Eigentlich eine der leichteren Übungen, immerhin musste man nur die Struktur analysieren und neu erschaffen, aber nicht auch noch selbst verändern. Dennoch wurde es bereits leicht dämmrig, als ich noch immer kein einziges Ergebnis vorzeigen konnte. Frustriert, ja bereits wütend, begann ich an der Kette zu zerren, im irrationalen Gedanken, dass dies vielleicht des Rätsels Lösung wäre. Mein Glück, dass magische Gegenstände nicht mit roher Gewalt zerstört werden konnten. Am Ende schmiss ich mich ins Gras und schnaubte entnervt. Einen ganzen Tag verschwendet, für nichts und wieder nichts. Doch sich darüber aufzuregen, wäre pure Energieverschwendung. Vielleicht... nur vielleicht wäre all das hier besser gelaufen, wenn ich einfach nur wusste, was mit mir los war. Ich dachte eigentlich, man würde das Konzept der Liebe verstehen, wenn man sie einmal gespürt hatte, doch das was heute Morgen passiert war, konnte nicht mit meiner Beziehung zu Thomas verglichen werden. So eine intensive Anziehung hatte ich bisher noch nie zu jemandem gespürt... Aber woher kam das? Ein kalter Windzug ließ mich frösteln, weswegen ich aufstand und mich zurück ins Haus begab. „Wie lief's?“, fragte mich Fleur, als ich durch die Tür zur Küche kam und sah, dass sie bereits das Abendessen zubereitete. Sie stellte diese Frage sehr oft, doch man merkte ihr an, dass es sich um ehrliches Interesse handelte und nicht um scheinheilige Höflichkeit. Ich setzte mich wortlos an den Tisch und machte eine unbestimmte Handbewegung. Ihre Anwesenheit ließ mein Herz wieder stärker schlagen, doch wesentlich ruhiger als noch heute Morgen. „Naja, man kann ja nicht immer Erfolge erzielen. Aber ich sehe Ihnen auch an, dass sie etwas überarbeitet sind, Miss Alice. Seit Sie hier wohnen, machen Sie doch nichts anderes, als jeden Tag an Ihrer Magie zu arbeiten. Selbst abends, wo Sie eigentlich Freizeit haben sollten.“ Sie bekam keine Antwort, aber ich merkte, dass sie Recht hatte. Selbst die interessanteste Aufgabe konnte anstrengend werden, wenn man sich keine Pause gönnte. Dass ich mein selbstgestecktes Tempo überhaupt so lange durchhielt, war schon verwunderlich. Ich nahm einen Löffel von der Suppe, die Fleur mir hingestellt hatte... und spuckte sofort wieder aus. „Pfui Teufel, die ist ja komplett versalzen! Was hast du damit gemacht?!“ Sie nahm selbst einen Löffel und reagierte auf die gleiche Weise. Ich kam nicht umhin, darüber zu schmunzeln. „I-i-ich hab keine Ahnung. Ich könnte schwören, dass ich sie nur ein bisschen gesalzen habe. Allerdings war ich selbst nicht ganz bei der Sache, als ich die Suppe gekocht habe.“ Ihre Wangen erröteten leicht, als sie das sagte. Woran sie wohl gedacht hatte? „Nimm's mir nicht übel, aber das kann niemand essen. Wir bleiben heute wohl besser bei Brot und Butter.“ Sie stimmte mir deprimiert zu. Es tat mir leid, sie so zu sehen; ihre Augen, starr auf den Tisch gerichtet, die Schultern hängend. Als ich auf dem Weg zur Vorratskammer an ihren Platz passierte, legte ich tröstend eine Hand auf ihre Schulter. Sie fühlte sich genauso zerbrechlich an, wie sie aussah. Als wäre sie tatsächlich aus hauchdünnem Porzellan gemacht. Ich spürte, dass meine Hand zu zittern anfing und zog sie zurück, ehe sie meine Nervosität bemerken konnte. Sie schaute mich mit ihren großen Augen an und schenkte mir ein sanftes Lächeln. Mein Herz schlug schneller und ich wich ihrem Blick aus. „Wir sind wohl beide heute nicht ganz auf der Höhe“, sagte sie kichernd: „Ich wüsste einen Ort, an dem wir gut entspannen könnten. Ich bin sicher, der könnte Ihnen gefallen.“ Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie es nicht zweideutig meinte, klang es für meine Ohren gerade genau so. Ich bemerkte, wie verlegen sie wurde. Wollte sie etwa...? „Sie... Sie waren noch nicht im Observatorium, oder?“ Nein, wollte sie nicht. „Hier gibt es ein Observatorium?“ „Naja, Master Salem nennt es zwar so, aber es ist eigentlich nur ein großes Zimmer über seinem, mit einem Rundumblick und ein paar Teleskopen. Ist nicht einmal zum Sterngucken geeignet.“ Mir war zwar der kleine Turm auf dem Anwesen schon lange aufgefallen, doch hielt ich das Zimmer dort immer für eine Art Speicher, zumal ich keine Fenster sah, geschweige denn einen Rundumblick. Sie bot mir also an, den Abend mit ihr zu verbringen. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, nach allem was heute passiert war, doch dann wüsste man doch wenigstens, wo man eigentlich stand. Was hatte ich schon zu verlieren? Das Observatorium war ein großer, kreisrunder Raum, der nur über Jacks Arbeits- beziehungsweise Schlafzimmer (die Bereiche waren durch Sichtschutzwände voneinander getrennt) betreten werden konnte. Mein erster Eindruck war ernüchternd: Es war zappenduster. „Warum zur Hölle nennt man das hier ein Observatorium, wenn es kein Fenster gibt? Ist das ein schlechter Scherz?“, schimpfte ich. „Eine Sekunde, Miss Alice.“ Fleur drehte an einer Kurbel und langsam senkte sich der Sichtschutz ab, der vor den Fenstern installiert war. Es war, als würde man in einem Leuchtturm stehen, nur ohne Lampe. Man konnte meilenweit in alle Himmelsrichtungen schauen, mit den Teleskopen sogar noch weiter. In der Mitte des Raumes war eine kleine Bar, in Form eines runden Tresens mit einem Regal als Standbein, in dem der Alkohol sauber nach Art und Jahrgang sortiert wurde. Ansonsten gab es hier nichts. Keine Sitze, keine anderen Möbel. Der Raum war für seine Fläche unheimlich karg eingerichtet, zumal er durch seine Fensterwände nur noch größer erschien. Doch genau das machte ihn gerade aus. Es gab nichts, was einen von der Aussicht ablenken konnte. Auf eine komplett verrückte Art, hatte das etwas unheimlich Romantisches. Man fühlte sich ein wenig als stünde man im Zentrum der Welt. Licht spendete nur eine kleine Öllampe über der Bar, aber nicht genug um den ganzen Raum auszufüllen. „Das ist verrückt... Erst fragte ich mich, warum man so etwas bauen sollte, aber wenn man einmal hier ist...“ „...dann versteht man, den Sinn hinter dem Observatorium“, beendete Fleur meinen Satz, während sie an der Bar zwei Gläser mit Scotch füllte. Das schwache, flackernde Licht unterstrich ihre weichen Konturen und spiegelte sich in ihren Augen wider. Ich bemerkte wie rot ihre Wangen waren und spürte, dass meine es ihren gleichtaten. Da war es wieder... dieses Gefühl. Auch wenn es sich erst langsam anbahnte. Schüchtern schob sie mir ein Glas zu. „Oh, i-ich habe noch nie...“, fing ich an, doch sie drückte mir den Drink in die Hand. „Ist schon okay. Für alles gibt es ein erstes Mal. Ich bin ja dabei.“ Wir stießen an und kippten den Whiskey hinunter. Er brannte wie Feuer in meinem Mund und betäubte meine Geschmacksnerven. Was zur Hölle fanden bloß die Erwachsenen an diesem Teufelszeug? Vor meinen Augen wankte alles einen kurzen Moment und ich spürte, wie meine Beine leicht nachgaben. Doch schnell normalisierte sich mein Gleichgewichtssinn wieder und meine Neugierde war geweckt. „Und? Wie war es?“ „Interessant... könnte ich noch so einen bekommen?“ „Lassen Sie dem Scotch Zeit, zu wirken. Was ich Sie eigentlich einmal fragen wollte: Wie gefällt es Ihnen hier?“ „Hier im Observatorium?“ „Nein ich meinte in Taleswood. War es denn nicht Wahnsinn, so aus seinem alten Leben gerissen zu werden?“ „Ich weiß nicht wieso, aber all das hat so schnell einen Sinn ergeben, dass ich es nicht hinterfragt habe. Ungewohnt, aber nicht verrückt. Vielleicht habe ich schon gewusst, dass ungewöhnliche Zeiten für mich anbrechen würden, seit du vor fast vier Jahren zu meinen Füßen aufgetaucht bist.“ Fleur errötete noch stärker. Sie drehte nervös den Kopf zur Seite und fing an die Strähnen ihres Pferdeschwanzes zu streicheln. „S-Sie haben das gewusst?“ „Seit dem ersten Tag, an dem ich hier war. Ich verstand nur nicht, warum es ausgerechnet eine Katze war.“ „Master Salem meinte, Sie würden einem Tier wahrscheinlich nicht misstrauen. Besonders keiner Katze.“ Sie wurde immer verlegener. Ihre Lippen fingen an zu zittern, genauso wie ihre Hände. Keine Ahnung, ob es der Alkohol war, oder ihr Anblick. Doch ich schaffte es kaum mehr, klar zu denken. Sie war so unbeschreiblich süß, wenn sie rot wurde. Mein Herz zersprang fast und in meinem Kopf herrschte der gleiche Zwietracht, wie heute Morgen. Nur dieses Mal gewann meine Fantasie. Aber ob sie auch so empfand? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Grinsend stütze ich mich auf der Bar ab. „Ich kann mich auch daran erinnern, wie wir zusammen gekuschelt haben. Deine Nähe war für mich wie eine Zuflucht in dieser Nacht, weißt du das? Vielleicht ist es das, was mich so verrückt nach dir macht – diese bekannte Geborgenheit...“ „W-w-was wird das hier, Miss Alice?“ Ich hielt das nicht mehr aus. Es hatte keinen Zweck, das Offensichtliche zu verleugnen. Das war keine dumme Neckerei mehr, keine kurze Schwäche, kein jugendlicher Trieb. Langsam, aber bestimmt, schritt ich zu ihr, schaute ihr tief in die Augen und streckte meine Hand nach ihrem Gesicht aus. Sie einmal berühren, sie einmal kosten, das war alles was ich wollte. Thomas, die gesellschaftlichen Normen, selbst meine eigenen Ängste konnten mich nicht mehr davon abbringen. Der Whiskey hatte mein Verlangen nur noch weiter gestärkt. „B-b-bitte, Miss Alice“, stotterte Fleur, während sie langsam rückwärts ging. Doch es dauerte nicht lang, bis sie stolperte. Ich kniete mich zu ihr und strich leicht über ihre Wangen. Sie waren so perfekt eben, wie es wohl kein Mensch jemals erreichen würde. Sie zitterte noch immer, aber als sich unsere Blicke trafen, wurde deutlich, dass wir das Gleiche wollten. Es war nicht nur ein Bildnis meiner Fantasie. Doch wir teilten auch beide eine gewisse Angst, vor dem, was kommen sollte. Wir fürchteten uns vor den Konsequenzen, genauso wie vor der Erfahrung an sich. Aber es gab kein Zurück mehr. „M-Miss Alice?“ „Lass endlich das dumme 'Miss' bleiben. Egal wie das hier ausgeht: Für dich bin ich ab sofort nur noch Alice.“ „Also gut... Alice... ich wollte dir nur sagen, dass ich noch nie...“ Sanft legte ich meinen Zeigefinger auf ihre Lippen und kam ihrem Gesicht immer näher. Sie schloss ihre Augen und ließ sich auf mein Vorhaben ein. Kurz bevor sich unsere Lippen trafen, flüsterte ich: „Ist schon okay. Für alles gibt es ein erstes Mal. Ich bin ja dabei.“ Kapitel 7: Die weiße Blume -------------------------- Unsere Lippen lösten sich nur langsam voneinander. Es fühlte sich anders an als Thomas' Küsse, aber gleichzeitig genau so schön, wie ich es in Erinnerung hatte. Das wunderbare Gefühl, jemandem so nahe zu sein, hatte ich wirklich vermisst. Auch wenn ich es nie offen zugegeben hätte. „Und wie war's?“, fragte ich mit bebender Stimme. Fleurs Gesicht war hochrot und ihre Augen leuchteten. Es war, als hätte ich sogar ihren Herzschlag hören können... oder war es doch nur mein eigener? „Interessant... könnte ich vielleicht noch einen bekommen?“ Ein kurzes Lachen entwich meinem Mund. „Irgendwie erinnert mich das alles gerade an den Scotch. Aber eine Sache ist hier anders...“ Wieder legte ich meine Lippen auf ihre, sogar noch länger und intensiver, als zuvor. Statt befriedigt zu sein, wuchs mein Verlangen immer weiter an. Vorsichtig suchte ich nach ihrer Hand und verschränkte meine Finger mit ihren. Ich drückte sie auf den Boden und beugte mich über sie. Mein Blick wanderte über ihren wohlgeformten Körper, von dem weichen, ebenen Gesicht, über die große, weibliche Brust, bis hinunter zu ihren langen, schlanken Beinen. Mit meiner anderen Hand strich ich sanft erst über ihr Gesicht, ging dann hinunter zum Hals und löste die Schlaufe im Nacken, welche die Schürze hielt. Fleur stöhnte leicht, als ich nach ihrer Brust griff und schob mich von sich. „Bitte warte Alice... das geht zu schnell“, flüsterte sie erregt, während sie sich wieder aufrichtete und die Schlaufe festband. Ich selbst war überrascht, was in mich gefahren war. Noch heute Morgen war ich mir meiner Gefühle nicht einmal wirklich sicher und jetzt... „Du machst mich verrückt, Fleur. Deine Erscheinung, deine Stimme, dein Duft... Ist es nicht Wahnsinn, dass ich vor dem heutigen Tag noch nichts dergleichen gespürt habe? Als ob es in mir schlummerte und... ja, als ob Greensleeves meine Gefühle für dich aufgeweckt hätte. Was denkst du?“ „Um ehrlich zu sein, habe ich die ganze Zeit nur an dich gedacht, während ich sang. Ich habe eine Verbindung schon vom ersten Tag an gespürt, als du durch das Portal schrittst und mit jedem neuen Morgen an dem ich dich sah, wuchs meine Liebe zu dir. Solche Gefühle hatte ich vorher noch nie für jemanden...“ „Du warst also schon von Anfang an in mich verliebt?! Warum hast du denn nie was gesagt?“ Es überraschte mich, dass ich die ganzen Wochen nichts bemerkt hatte. Sie musste es wirklich gut verbergen können, bedenke man doch, wie offensichtlich sie sich nun benahm. „Du bist die Schülerin meines Herrn! Wer würde denn so etwas gutheißen?! Und außerdem... eine Frau sollte sich doch einen Mann suchen, oder etwa nicht? Solche Küsse, solche Liebkosungen... das ist doch falsch! Und am allerwichtigsten: Ich bin doch nur ein Homunkulus und kein...“ Mit einem dritten Kuss unterbrach ich sie. Fleur versuchte sich loszureißen, doch ich ließ nicht locker. Auch wenn es mich selbst plagte, von ihr wollte ich all das nicht hören! Zumindest nicht heute... bitte, lass mich wenigstens heute glücklich sein... Fleur gab ihren Widerstand auf und legte ihre Arme um mich. Ihre Finger vergruben sich in meinem kurzen Haar, während ich langsam über ihren Rücken bis zu ihrem Po hinunter strich. Dieses Mal brach sie nicht ab, doch ich beließ es auch dabei, meine Hände nur leicht auf ihrem Hintern liegen zu haben. Ich wollte sie zu nichts drängen. Und auch mich selbst nicht. „Sag so etwas nie wieder“, bat ich sie eindringlich, als wir uns wieder voneinander lösten. „Sag niemals wieder, dass du kein richtiger Mensch wärst. Du bist genauso menschlich, wie ich. Und was gleichgeschlechtliche Beziehungen angeht... So etwas hat es schon immer gegeben. Wir sind nicht die Ersten und werden auch nicht die Letzten sein. Und keine gesellschaftliche Norm – weder heute, noch in 100 Jahren – wird daran etwas ändern können.“ „Also... was bedeutet das jetzt für uns?“ Zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt meldete sich meine Vernunft zu Wort. Sie erinnerte mich daran, dass ich doch eigentlich vergeben war, aber auch noch an etwas anders... „Nach den letzten Minuten kommt dir das vielleicht etwas komisch vor... aber ehrlich gesagt weiß ich gar nichts über dich“, gab ich beschämt zu. Sie schaute mich für eine Sekunde verwundert an und schien nicht ganz zu begreifen, was ich ihr sagen wollte. Dann fing sie an, herzlich zu lachen und schlug sich kopfschüttelnd die Hände vors Gesicht. Für einen Moment dachte ich schon, sie würde mich auslachen. „Entschuldige bitte, aber das kam so unerwartet. Ist das wirklich deine einzige Sorge? Oh Alice, ich wünschte, ich hätte deine Leichtigkeit. Aber du hast völlig Recht, wir sind uns doch eigentlich noch so fremd...“ „Ich hätte einen Vorschlag: Wir trinken noch ein Glas Scotch und erzählen uns abwechselnd aus unserem Leben. Denn, anders als du, habe ich meine zweite Kostprobe noch nicht bekommen.“ So saßen wir den ganzen Abend beieinander und lauschten den Erzählungen der jeweils anderen. Doch während Fleur ihre Geschichte vortrug, wünschte ich, diesen Vorschlag nie gemacht zu haben. Geschaffen im Reagenzglas, mit dem Ziel den Menschen so ähnlich zu sein, wie nur irgend möglich, wurde sie von ihrer Schöpferin als Fehlschlag bezeichnet und für sogenannte Wegwerf-Experimente genutzt: Versuche, in denen das Testsubjekt verletzt, verstümmelt, oder sogar getötet wurde. Dass sie darüber sprechen konnte, ohne in Tränen auszubrechen... Homunkuli konnten sich wahnsinnig schnell und vor Allem fast ohne Narben regenerieren. Die Tatsache, dass sie mir von einer deutlich sichtbaren dunkelblauen Narbe quer über ihrem Rücken, bis hin zum Bauchnabel erzählte, deutete daher auf die immense Schwere der Wunde hin. Von den Schmerzen, die sie dabei erdulden musste mal abgesehen. Von solch einer Misshandlung zu erfahren, ließ in mir einen unbändigen Hass auf diese Frau aufkommen. La Belle. Véronique La Belle, so hieß sie. Doch noch weniger verstand ich, wie Fleur versuchte, nicht allzu schlecht von ihr zu reden. Das Meiste gab sie nur unter Nachdruck preis. „Es ist mir ein Rätsel. Warum sagst du nicht einmal, was für ein krankes Monster sie ist? Nur weil sie dich erschaffen hat? Hat sie dir eine Blockade im Kopf eingebaut?“ „Nein nichts dergleichen, es ist nur...“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und trank sich etwas Mut an. „Vielleicht klingt es unsinnig, aber ich glaube, sie war nicht sie selbst. Kurz nach meiner Erschaffung hat sie sich ganz normal um mich gekümmert. Es kam ganz plötzlich, dass sie anfing mit mir diese Tests durchzuführen und mich schlechter zu behandeln, als alle anderen Homunkuli im Haus. Und dann war da noch dieser Abend...“ „Welcher Abend?“ „Der, an dem ich fliehen konnte. Sie hatte mich in einen Schuppen eingesperrt und wollte mich am nächsten Tag hinrichten. Sagte, ich hätte meinen wissenschaftlichen Nutzen verloren... Ich weiß es noch genau... wie ich dort saß, den Boden vor lauter Tränen nicht mehr sehend. Ich... ich habe wirklich gedacht, ich müsste jetzt sterben...“ Sie zog ihre Knie an sich und fing an zu weinen. Ich wusste einfach nicht, wie ich ihr helfen konnte. Vorsichtig legte ich eine Hand um sie und zog sie an mich. Fleur klammerte sich an meine Bluse und drückte ihr Gesicht gegen meine Brust. Ich spürte, wie ihre Tränen den Stoff aufweichten, doch es machte mir nichts aus. „Es war nicht einmal so, als hätte ich das nicht mir selbst gewünscht. Nach allem was passiert war, kam mir der Tod wie eine Erlösung vor. Aber nach einiger Zeit öffnete Madame La Belle wieder den Schuppen und entfernte meine Fesseln. Sie sagte zu mir: 'Wenn dein Geist wirklich frei ist, dann flieh von hier. Suche nach dem Magier Jacob Salem in einer Stadt namens Taleswood. Er wird dich aufnehmen und vor mir schützen.' Sie war ganz anders. Sie klang dabei so besorgt um mich. Als sei sie ein anderer Mensch.“ „Sie kannte Jack also... Woher nur?“ „Das wollte er mir nie sagen. Fakt ist: Sie hat mich in diesem Moment nicht belogen... Ich glaube... ich glaube, sie leidet an einer ähnlichen Krankheit, wie Doktor Engels...“ „Du bist zu gut für diese Welt, Fleur. Selbst wenn das wahr sein sollte... nach allem was sie dir angetan hat, bist du nicht verpflichtet ihr zu verzeihen.“ „Ich habe auch ihrem bösen Ich nie verziehen. Aber ich wünsche mir manchmal, dass ihr gutes Ich irgendwie gerettet werden könnte. Es könnte etwas wirr klingen, aber ich fühle eine gewisse Verbundenheit mit ihrem guten Ich. So, als hätten wir eine gemeinsame Vergangenheit. Ich glaube, auch deswegen hat sie mich zu Master Salem geschickt... Als eine Art Hilferuf. Doch er hasste Madame La Belle schon, bevor er mich kannte. Deswegen wird er ihr niemals helfen...“ Es verging einige Zeit, in der wir nur schweigend beieinander saßen. Fleurs Gedankengänge waren mir nach wie vor schleierhaft. Wie konnte sie sich nur Sorgen um so jemanden machen? Doch es stand mir nicht zu, ihr das in irgendeiner Weise vorzuwerfen. Im Gegenteil. Ihr Verhalten hatte etwas unheimlich Edles... Ich war noch tief in meinen Gedanken versunken, da stupste Fleur mich grinsend an: „Jetzt bist du wieder dran.“ „W-was?“ „Du musst mir wieder etwas über dich erzählen, schon vergessen?“ Nun war ich es, die sich etwas Mut antrinken musste. Den schwersten Punkt hatte ich mir für den Schluss aufgehoben. Obwohl ich es selbst nicht als so schlimm empfand, konnte ich nicht abschätzen, wie eine reine Seele, wie die ihre, darauf reagierte. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll... Technisch gesehen bin ich eigentlich schon vergeben.“ „Wie bitte?“ In Fleur schien eine leichte Mischung aus Empörung, Abscheu, Enttäuschung und Neugier aufzukeimen. „Kurz bevor ich nach Taleswood kam, hat ein junger Mann mir seine Liebe gestanden. Er war davor schon ein guter Freund gewesen, aber eigentlich hatte ich nie etwas für ihn empfunden.“ „Heißt das, mein erster Kuss ruhte auf Untreue? I-i-irgendwie fühle ich mich benutzt...“ „Nein, so darfst du das bitte nicht sehen! Thomas ist ein toller Mensch und ich habe ihn wirklich gern, aber auch nachdem wir uns geküsst hatten, empfand ich nicht annähernd das gleiche, wie für dich. Wir... wir waren zwar technisch gesehen ein Paar, aber nur für einen Tag... Dann bin ich abgereist. Mein Problem ist, dass ich ihn vor meiner Abreise gefragt habe, ob er auf mich warten würde. Jetzt ist etwas mehr als ein Monat vergangen und ich bin es, die nicht warten konnte...“ „Also hast du ihn nicht geliebt?“ „Zumindest nicht so, wie ich dich liebe... Ich befinde mich in einem Dilemma, Fleur! Es macht mir einerseits ein schlechtes Gewissen, wenn ich mit dir zusammen bin, ohne mich vorher von Thomas zu trennen, wobei ich ihm das aber auch nicht antun will, denn es hatte ihn wirklich glücklich gemacht, dass ich mich auf ihn einließ. Aber nicht mit dir zusammen zu sein ist auch keine Option.“ Fleur dachte einen Moment darüber nach und sagte einen Satz der in meinen Ohren erst wie ein schlechter Scherz klang: „Und wenn wir zu dritt auskämen?“ „Das meinst du nicht ernst, oder?“ „Naja... wenn er dich wirklich liebt, dann wird er sich wohl darauf einlassen. Und ich würde das auch. Und du hast uns doch auch beide gern, oder etwa nicht? Es... es ist ja auch nicht so, als würden mich Männer nicht interessieren....“ Sie errötete leicht. Ihre Idee klang so abstrus, dass sie schon wieder Sinn ergab. Tatsächlich wäre so eine Dreiecksbeziehung eventuell in der Gesellschaft sogar leichter zu erklären, als eine rein homosexuelle Beziehung. Ironie der Wertevorstellungen. Dennoch klang es wie eine plumpe Notlösung. Ich stieß einen leichten Seufzer aus und zwinkerte ihr zu. „Also am vernünftigsten wäre es, ihm alles zu gestehen und mich dann hoffentlich im Frieden von ihm zu trennen. Aber das kann frühestens in einem Jahr stattfinden. Und so lange sehe ich nun wirklich nicht ein, keinen Spaß mit dir haben zu dürfen.“ Mit diesen Worten zog ich sie zu mir und fing wieder an, sie zu küssen. Auf ihrer Zunge lagen die letzten Reste des Alkohols, die sich mit ihrem Speichel vermischt hatten. Es war eine angenehm süßlich-würzige Mischung, die mir den Kopf verdrehte. Dieses Mal waren es Fleurs Hände, die über meinen Brustkorb wanderten und mir eine Gänsehaut verpassten. Wie konnte denn etwas falsch sein, das sich so gut anfühlte? „Verdammt, diese Kopfschmerzen bringen mich um...“ Ich saß am Küchentisch und ließ mich von Fleur mit Wasser versorgen, während sie das Frühstück zubereitete. „Keine Sorge, ein Kater hat bisher noch niemanden wirklich umgebracht“, sagte sie amüsiert. Alkohol schien ihr nichts auszumachen. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass sie gestern auch nur angeheitert war. Beneidenswert. Ich sollte nachschauen, ob es gegen Kater einen wirksamen Zaubertrank gab. Doch aktuell gab es Wichtigeres zu besprechen. „Wie verfahren wir nun weiter? Mit dieser Beziehung?“ „Du meinst, nach außen hin?“ Sie hielt für einen Moment inne. „Hier in Taleswood laufen die Dinge anders, als im Rest der Welt. Es ist gut möglich, dass wir nicht dafür gerügt werden. Besonders Master Salem, würde... ich bin sicher, er würde es akzeptieren.“ Sie war immer so zuversichtlich, wenn es um Jack ging. Doch das wunderte mich nicht. Er hatte ihr Leben gerettet und sie kannte ihn schon seit fast 10 Jahren. Ich blieb etwas zurückhaltender. „Mir wäre es lieber, wenn wir das hier erst einmal für uns behalten würden. Ein kleines Geheimnis unter uns beiden. So lange, bis wir bereit sind, unser Glück auf die Probe zu stellen.“ Es war ihr anzusehen, dass ihr der Plan nur mäßig gefiel. Das Problem war Fleurs angeborene Ehrlichkeit. Geheimnistuerei war mit ihr fast unmöglich. „Hör zu, wir müssen ihm ja nicht vormachen, dass wir keine Freunde sind. Ich verlange auch nicht, dass du wieder anfängst, mich 'Miss' zu nennen. Aber Intimitäten werden einfach nicht vor seinen Augen ablaufen. Glaub mir, das kann auch spannend sein!“ „Klingt, als hättest du so etwas schon einmal gemacht.“ Ich merkte, dass ich etwas verlegen wurde. „Im Heim hatte ich einmal was mit einem älteren Jungen. Es waren nur ein paar Küsse, aber auch das war eigentlich verboten.“ „Wurdet ihr erwischt?“ „Nein, wir hatten uns vorher getrennt. Die ganze Geschichte war auch nur zwei Wochen kurz.“ „Sind deine Beziehungen immer so flüchtig?“ In ihrer Stimme schwang ein Anflug von Angst mit. Aber wer mir lang genug zuhörte, musste ja auch glauben, dass ich nur eine Frau für eine Nacht wäre. Ich stand auf, hob sie hoch und setzte sie auf die Arbeitsplatte. Im Nachhinein eine unkluge Aktion, immerhin war sie so schon drei Zoll größer, als ich. Auch ihr schien das etwas peinlich zu sein. Umso erstaunlicher, wie leicht sie war. Eine lange Zeit schauten wir uns nur ernst in die Augen, bis ich die Stille durchbrach: „Ich kann es dir nicht oft genug sagen: Jemanden wie dich gab es zuvor noch nie in meinem Leben. So gesehen, ist auch für mich diese Erfahrung komplett neu. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du mehr bist, als nur eine Anekdote in meiner persönlichen Liebesgeschichte.“ „Das klang nun gleichermaßen romantisch, wie arrogant“, bemerkte Fleur sarkastisch. Dann schob sie mir eine Strähne aus dem Gesicht und setzte ihr verliebtes Lächeln auf. „Aber für dich lasse ich mich auf dieses Abenteuer gern ein.“ Sie beugte sich gerade zu mir hinunter, da klopfte es an der Haustür. Jack war anscheinend früh wieder zurück. „Etwas unpassender Moment“, witzelte ich trocken. „Tut mir leid, den Rest verschieben wir auf später.“ Sie gab mir einen schnellen Kuss auf die Stirn und eilte zur Tür. Ich war es also wert, dieses Abenteuer zu wagen... Und ich spürte, dass auf sie das Gleiche zutraf... Da hallte ein spitzer Schrei durch den Korridor. Ich sputete zur Quelle und sah Fleurs angsterfüllten Blick auf die Gestalt in der Tür. Es war eine großgewachsene Frau mit langem, schwarzen Haar und einer Figur, die wahrscheinlich jeden Mann zum schmelzen brachte. Sie trug ein weinrotes, figurbetontes Kleid mit schwarzer Spitze und einen roten Hut mit breiter Krempe. La Belle... Die Schöne... der Name kam nicht von ungefähr. Sie bemerkte mich und zeigte ein verführerisches Lächeln. Diese Frau war gefährlich, das spürte ich. Da sie Homunkuli erschaffen konnte, mussten ihre magischen Fähigkeiten sehr hoch sein... mindestens auf Jacks Level, wenn nicht sogar noch höher. „Mon Dieu, ein neues Hausmädchen? Fühlt sich Jack mittlerweile so einsam, dass er sich eine Sammlung zulegen muss?“ Sie hatte einen starken, französischen Akzent. Ich bedeutete Fleur, zu gehen. „Ich bin seine neue Schülerin. Und solange er nicht hier ist, bin ich auch die Herrin des Hauses, wenn Sie also etwas zu besprechen haben, dann mit mir.“ „Eine Schülerin in diesem Alter? Na aus dir kann definitiv nichts werden, wenn er die ganze Zeit verreist. Obwohl...“ Sie musterte mich so genau, es fühlte sich an, als würde sie mich mit ihrem Blick ausziehen wollen. Bloß keine Schwäche preisgeben... „Deine Mutter heißt nicht zufällig Claire, oder? Das würde so einiges erklären...“ „Erkennt denn wirklich jeder in diesem verdammten Ort meine Herkunft nur vom Ansehen?“, gab ich genervt zurück. „Hat er es dir nicht gesagt? Quelle suprise, sieht ihm mal wieder ähnlich. Deine Familie mütterlicherseits ist eine der ältesten Magierclans Europas. Je älter das Blut, desto dominanter wird es vererbt. Deswegen sieht man schnell, wer wessen Kind ist. Aber es bedeutet noch mehr...“ Sie bemerkte meine Neugier und versuchte es als Vorwand zu nutzen, um ins Haus zu kommen, doch ich blieb eisern und blockierte ihr den Weg. „Wie man sich stur stellt, hat er dir anscheinend schon beigebracht.“ „Ihr seid in diesem Haus nicht willkommen, solange bis Jack etwas Anderes sagt.“ „Dir ist bewusst, dass du mich nicht aufhalten könntest, oder? Nein dumm bist du nicht, das sehe ich dir an.“ „Keine Sorge, ich bin mir im Klaren, wie mächtig Sie sind. Aber ich habe Jack das Versprechen gegeben, eine gute Schülerin zu sein. Dazu gehört auch, sein Haus zu beschützen. Außerdem: Sie wollen doch mit Jack kooperieren, oder? Ihre Ausgangslage wäre bestimmt furchtbar, wenn sie seine Schülerin töten.“ Hoffentlich verschätze ich mich hierbei nicht. Fleur beschrieb sie als unberechenbar. Aktuell schien sie in erster Linie eine kluge, gutaussehende Frau zu sein, die maximal fünf Jahre älter als Jack sein konnte. Doch wer weiß, wie lange das anhielt... „Du hast mehr Mumm, als man dir ansieht, Kleine.“ „Ich bin in Whitechapel aufgewachsen.“ „Touché. Na gut, ich muss ja auch nicht unbedingt reinkommen. Und wenn du Claires Tochter bist, betrifft dich die Sache eigentlich genauso wie Jack. Vielleicht sogar noch mehr.“ „Geht es um eine Kooperation?“ Ihre Stimmung änderte sich. Sie wirkte nicht mehr so berechnend wie zuvor, sondern schon beinahe nervös. „Gewissermaßen. Aber ich kann dir nicht hier davon erzählen. Wenn du mehr wissen willst, musst du mich besuchen. Ich wohne an der hinteren Grenze zum Märchenwald, östlich von Taleswood.“ „Also, wenn es so wichtig ist, können sie es mir doch auch hier erzählen.“ „Merde! Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, aber es geht nicht!“, brüllte sie mich wütend an. Ihre Augen funkelten bedrohlich und verfärbten sich von hellblau in blutrot. Ihre Stimme klang, als käme sie gerade aus der Hölle und ihre finstere Aura hätte wahrscheinlich nur ein Toter nicht bemerken können. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis sie sich wieder beruhigte, doch der Schreck saß tief in meinen Knochen. Es waren wirklich zwei grundverschiedene Personen. „Pardon. Ich sollte wahrscheinlich besser gehen. Du weißt, wo du mich findest. Hoffentlich bist du vernünftiger, als dein sogenannter Lehrermeister.“ Sie drehte sich um und ging. Ich wartete, bis sie außer Sichtweite war, schloss dann die Tür und sank zu Boden. Angstschweiß hatte sich auf meiner Stirn breitgemacht. Was für ein Mensch war sie nur? Für einen kurzen Moment hatte ich gerade das Gefühl, als wolle sie mich bei lebendigem Leibe entzwei reißen. Nur weil ich ihr einmal Widerworte gab? Auf jeden Fall war mir nun klar, warum Jack ihr nicht vertraute. Diese Frau war ein wandelndes Pulverfass. „Danke, dass du mich beschützt hast...“ Fleur kniete sich zu mir und nahm mich in den Arm. Ihre Nähe ließ mich wieder zur Ruhe kommen. Ich atmete tief ihren süßlichen Duft ein und schloss die Augen. Sie war okay, alles andere spielte keine Rolle. Kapitel 8: Langfinger auf Samtpfoten ------------------------------------ „Wie immer ein großartiger Gottesdienst, Reverend!“. Es war ein milder Sonntagabend im Mai und ich stand - so wie jede Woche - nach dem Gottesdienst mit Jack und Fleur zusammen in einem Kreis aus Freunden und Bekannten auf dem Kirchplatz. Die untergehende Sonne tauchte den gewaltigen Platz mit der sogenannten Schwebenden Uhr in dessen Mitte in warme Orangetöne. Die Kirche selbst hatte keinen eigenen Uhrturm - Versäumnis des Architekten – weswegen man die Chance nutzte, dieses Gebilde aufzustellen. Es handelte sich dabei um eine Sphäre von etwa zehn Fuß Durchmesser, die über einen festgelegten Ring aus Steinen frei schwebte. Statt einer geschlossenen Oberfläche, wurde sie nur durch wenige Verstrebungen zusammengehalten, sodass man das Uhrwerk gut erkennen konnte. Sie besaß zwei Ziffernblätter und rotierte gemütlich um ihre eigene Achse. Es hatte etwas Beruhigendes, den goldenen Zahnrädern bei ihrem gleichmäßigen Lauf zuzusehen. Über Diebstahl machte sich niemand Sorgen, denn sie war mit einem ähnlichen Schutzzauber belegt, wie die Hotelruine in London. Und selbst wenn den jemand hätte überwinden können; die Kugel wog schätzungsweise fünf Tonnen... Wie man die wohl in erster Linie hierhin verfrachtet hatte? Unter den Anwesenden waren der Doc, Bürgermeister Calvin Foxtrott - Sohn der Schneidereibesitzerin - Polizeichef Allan Floyd - ein großgewachsener Mittfünfziger, mit einer Vorliebe für Calabashpfeifen - und zu guter Letzt Reverend Desmond Miller, mit dem ich mich in den letzten Wochen oft und intensiv unterhalten hatte. Geboren in New York als Sohn einer ehemaligen Sklavin aus Tennessee und eines Magiers mit deutschen Wurzeln, verband er im Laufe seines Lebens seine magischen Erfahrungen mit christlichen Lehren und eröffnete hier die Protestant Church of Magic and Miracles, mit ihm als wahrscheinlich einzigen schwarzen Pastor Europas. Seine Hautfarbe war für die Taleswooder nie ein Thema gewesen – wer einen Fuchs zum Bürgermeister wählt, interessiert sich für so etwas nicht – und sie besuchten gerne seine Messen. Selbst ich, die nach dem Heim am liebsten nie wieder etwas mit der Kirche zu tun haben wollte, genoss die Zeit dort. Er war einem einfach auf Anhieb sympathisch. Fleur stand nahe bei mir, schien sich schon fast an mich zu schmiegen. Sie tat so, als sei sie müde, aber war nur mäßig überzeugend. Unauffälligkeit war einfach nicht ihre Stärke und so gab ich mir die größte Mühe, so unverdächtig wie möglich zu wirken. Ich spürte nur allzu oft, wie sehr sie der Wunsch antrieb, mich in aller Öffentlichkeit zu küssen und herauszuschreien: „Ja, wir lieben uns, habt ihr ein Problem damit?!“ Letzten Endes war ich allerdings in dieser Beziehung die Stärkere und solange ich es nicht zuließ, würde so etwas auch nicht passieren. Doch heute war sie besonders anhänglich, bettelte geradewegs um einen Kuss, wahrscheinlich weil Jack dabei war. Auch wenn sie mir über alle Maße vertraute, in seiner Nähe fühlte sie sich immer noch etwas sicherer. Ein wenig machte mich das eifersüchtig, doch ich ließ sie das nicht merken. Er war die erste Person in ihrem Leben, die sie gut behandelte. Da war so ein Verhalten sicher verständlich. „Dein Hausmädchen sieht mir etwas schläfrig aus, Jack“, bemerkte Polizeichef Floyd mit einem verschmitzten Grinsen in unsere Richtung. Ich mochte ihn nicht. Er hatte den gefräßigen Blick eines ausgehungerten Bären, auch wenn er ansonsten als Polizeichef vorbildlich agierte. “Hast sie wohl in letzter Zeit nicht nur für den Haushalt beansprucht?“ Leichtes Gelächter. Jack musterte uns einen Moment lang. Es war, als schien er zu ahnen, was zwischen uns lief. Ich schaute Fleur an und tat so, als würde ich sie wecken. In erster Linie, um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen, denn sonst hätte ich mich verraten. Ich hatte es mehr und mehr gelernt, dass der Magier mich lesen konnte, wie ein offenes Buch. Woran das wohl lag? Bei niemandem sonst schien ihm das so gut zu gelingen, wie bei mir. „Ihre Scherze waren auch schonmal besser, Commissioner. Aber Recht haben Sie. Jede Wette, die beiden Schnapsdrosseln haben sich wieder gestern an meiner Bar zu schaffen gemacht.“ Die Runde amüsierte sich auf unsere Kosten, aber so schöpfte immerhin niemand Verdacht. Ich spielte mit und verdrehte genervt die Augen. Jack drückte mir zwinkernd den Hausschlüssel in die Hand. „Tust du mir einen Gefallen und bringst sie nach Hause? Ich komme dann später nach.“ Ich nickte vorsichtig und setzte mich nach einer kurzen Verabschiedung zusammen mit Fleur in Bewegung. Es schien mir nicht so, als würden die anderen Anwesenden verstehen, was zwischen uns ablief, doch Jacks Zwinkern verunsicherte mich etwas. Es war fast so als hätte er mir noch „Amüsiert euch ruhig“ zuflüstern wollen, oder etwas in diese Richtung. Ob er vielleicht doch....? Als wir außer Sichtweite waren, zerrte ich Fleur in die nächstbeste Gasse, drückte sie gegen die Wand und funkelte sie wütend an. Sie schaute bedrückt zu Boden. Eigentlich wollte ich sie nicht anherrschen, aber jetzt musste ich die Rüge auch durchziehen. „Kannst du mir erzählen, was das soll?! “ „T-Tut mir leid Alice, ich... ich halte das einfach nicht mehr aus, diese Heimlichkeiten. Ich kann einfach nicht lügen.“ „Deine Gefühle zu mir konntest du doch auch fünf Wochen lang vor mir verstecken!“ „Das ist doch etwas völlig anderes gewesen! Ich wusste doch nicht, wie du reagieren würdest und hatte einfach Angst davor, du würdest mich abstoßend finden. Nicht nur weil ich eine Frau bin, sondern...“ „Sag es nicht!“, knurrte ich. Sie zuckte zusammen, doch eigentlich schüchterte ich sie nur ein, um nicht nachzugeben. „Naja du weißt schon... Aber sag mal... Bedeutet dir denn meine Liebe gar nichts?! Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass dich die Meinung anderer herzlich wenig interessiere! Auch das hat mich an dir fasziniert... “ Ich ließ verunsichert von ihr ab. Sie hatte eigentlich recht. Warum war es mir auf einmal so wichtig, der Welt gerecht zu werden? Nein, nicht der Welt... nur Taleswood wollte ich gerecht werden. Nur dem Ort, an dem ich mich zum ersten Mal wirklich zuhause gefühlt hatte. Wenn ich doch nur Gewissheit hätte, dass eine Beziehung wie die unsere kein Problem darstellte, dann hätte ich auch den Mut, zu ihr zu stehen. Fleur hatte sich unterdessen in Rage geredet: „Wir küssen uns, liegen einander manchmal stundenlang im Arm.... Aber sobald wir nicht mehr allein sind, wirst du kalt wie Stein! Das wird deiner Stärke nicht gerecht! Sieh mich doch nur an! Sieh was du aus mir gemacht hast! Bevor ich dich kannte, war ich so schüchtern und überängstlich wie ein kleines Kaninchen. Dann kamst du in mein Leben, mit deiner stolzen und lebendigen Art, die mich sofort in ihren Bann zog. So wollte ich auch werden! Du warst eine Inspiration. Von dieser Alice sehe ich gerade nicht viel in dir. Ich habe zu dir aufgesehen, aber im Moment frage ich mich, warum...“ Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute sie an, unfähig dem etwas entgegen zu bringen. „Bitte sei ehrlich zu mir. Bin ich für dich vielleicht doch nur eine Anekdote?“ Nein! Das stimmte nicht! Aber so sehr ich ihr auch sagen wollte, dass ich sie wirklich liebte, mein Mund blieb verschlossen. Mit jeder Sekunde die verstrich, wurde Fleurs Atem zittriger und ihre Augen füllten sich mit Wasser. „Ist dein Schweigen ein 'Ja'?“, schluchzte sie. Ich sah schweigend zu Boden. Sie ließ mich in der Gasse zurück. Ich hatte sie tatsächlich zum Weinen gebracht. In meiner Magengrube machte sich das flaue Gefühl des schlechten Gewissens breit. Doch meine Beine weigerten sich, ihr zu folgen. Ich lehnte mich traurig an die Wand um meine weichen Knie nicht zu beanspruchen und starrte ins Leere. Was war ich doch nur für eine Idiotin! Eine feige Idiotin, die zu ihren Gefühlen nicht stehen konnte. Mir war danach, mich so lange zu ohrfeigen, bis ich taub wurde... weinend sank ich zusammen. Ich bemerkte die Gestalt vor mir erst viel zu spät, als sie mir in den Nacken fasste und mit einem schnellen, geschickten Griff das Kettchen meines Medaillons löste. Ehe ich mich versah sprang der Dieb mit seiner Beute davon. „Hey!“ Sofort war ich wieder hellwach. Ich sprang auf und jagte ihm hinterher. Es war ein Kater in einem grauen Anzug mit Melone und einem Gehstock. Er war unheimlich flink und sprang gewandt durch die Straßen, über Mülltonnen und Kutschen hinweg, sodass ich ihm fast unmöglich folgen konnte. Immer wieder geriet ich ins Stolpern, weil er mir Sachen entgegenwarf, doch auch so war er mir immer einige Yards voraus. Ich musste schneller sein, um ihn einzuholen. Der Langfinger rannte gerade die Feuertreppe einer Fabrik auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinauf. Natürlich, Zeitmanipulation! Aber darüber hatte ich bisher nur gelesen und es war fast unmöglich einen neuen Zauber aus dem Stehgreif zu beherrschen. Aber ich musste es einfach versuchen, sonst wäre mein Medaillon verloren! Doch noch während ich darüber nachdachte, bemerkte ich nicht einmal die Kutsche von der Seite. Ich spürte nur, wie mein Körper durch einen plötzlichen Aufprall weggestoßen wurde und ich im hohen Bogen durch die Luft flog. Der Aufprall zerquetschte meine Knochen und Innereien. Mein Atem wurde schwer und meine Sicht verschwamm. Ich war komplett verdreht und konnte mich nicht bewegen. Mein Blut floss in einem dünnen Rinnsal die Straße entlang während ein langsamer Impuls durch meinen Körper stieß, mir mit jedem Atemzug unerträgliche Schmerzen verursachte und immer neues Blut in meinem Mund pumpte, sodass mir vom Geschmack ganz schlecht wurde. Musste ich jetzt sterben? Um mich herum hatte sich eine kleine Traube gebildet. Ich hörte ihre hysterischen Stimmen, aber konnte ihre Worte nicht verstehen. Jemand rüttelte an mir. Ein wohlbekannter Duft stieg mir in die Nase. Ein teures Frauenparfum. Die Gestalt drehte mich auf den Rücken und ich erkannte ihre schwarzen Haare. Nein... bitte nicht sie... dann verlor ich das Bewusstsein. Das Licht der Öllampe flackerte aufgeregt hin und her und war eine gewisse Zeit lang das Einzige, was ich wirklich wahrnahm. Mein Kopf dröhnte und in meinem Mund hing noch immer der metallische Geschmack von Blut, auch wenn er ansonsten staubtrocken war. Langsam klärte sich mein Blick und ich erkannte die Konturen der Lampe und des Nachttisches. Dahinter saß Fleur auf einem Stuhl und schlummerte. Anscheinend war ich zuhause in meinem Bett. Ich versuchte mich aufzusetzen, doch die Schmerzen machten jede noch so kleine Bewegung zu einem Kraftakt. Nach einiger Zeit saß ich aufrecht und tippte sie an. Sie sah so friedlich aus, während sie schlief. So, als hätten wir uns nie gestritten... wenn ich doch nur einmal ehrlich zu ihr wäre... vielleicht sollte ich sie nicht wecken. Plötzlich schlug sie langsam ihre großen Augen auf und schaute mich an. Ich erwartete bereits eine angespannte Situation, doch auf ihren Lippen bildete sich ein erleichtertes Lächeln, während sie sich auf die Bettkante setzte und mir vorsichtig das Gesicht streichelte. „Endlich bist du wach. Ich hatte schon Sorge, du würdest nicht mehr aufstehen.“ „Tut mir leid...“ „Das muss es nicht. Du bist doch nicht absichtlich vor die Kutsche gelaufen.“ „Nein, ich meine unseren Streit... Du hast Recht, ich bin nur ein Schatten meiner selbst. Das heißt aber nicht, dass du mir nichts bedeutest! Ich liebe dich wirklich, Fleur. Glaube mir das. Ich... bin nur einfach nicht so weit. Ich tue mir mit der Wahrheit hierbei so schwer, wie du dir mit der Lüge. Das ist ein unschönes Patt.“ Sie schaute mich traurig an und strich mir sanft durch das Haar. „Ich weiß das eigentlich auch... Aber es fällt schwer, so etwas richtig zu verstehen, wenn man selbst so nicht empfindet. Was hab ich denn auch schon zu verlieren, im Vergleich zu dir? Ich bin doch nur das tollpatschige Homunkulusmädchen von Jacob Salem... Aber du wirst jetzt schon von allen als festes Mitglied der Gemeinde respektiert. Und mit dir steht und fällt auch Master Salems Ruf. Wenn jemand um Entschuldigung bitten muss, dann ich. Ich sollte dich nicht in solche Situationen bringen, wie vorgestern Abend.“ „Vorgestern Abend?“, fragte ich erschreckt und schaute durchs Fenster. Draußen war es stockdunkel. „Welchen Tag haben wir denn heute?“ „Es ist Dienstagnacht. Du hast einen ganzen Tag geschlafen. Ich fürchtete schon langsam, du würdest gar nicht mehr aufwachen.“ Erst jetzt bemerkte ich, wie müde sie aussah... naja, müde für ihre Verhältnisse. Ihre Haare waren ausnahmsweise nicht gebunden und machten einen ungekämmten Eindruck. Ihre Augenlider fielen immer wieder halb zu und sie selbst hing mehr auf der Bettkante, als tatsächlich zu sitzen. Ob sie wohl die ganze Zeit hier über mich gewacht hatte? Die Frage stellte sich doch eigentlich nicht. Ich umarmte sie sanft und küsste sie auf die Wange. Sie drehte sich zu mir und wollte den Kuss erwidern, doch als sie mich an sich zog, spürte ich ein weiteres höllisches Ziehen und verzog das Gesicht. „E-entschuldige, das war zu grob. Ich sollte den werten Herrn wecken, er will bestimmt auch erfahren, dass du wieder wach bist.“ Ich wollte es ihr noch ausreden, Jack um diese Uhrzeit zu stören, doch sie war bereits aufgesprungen und verließ das Zimmer. Ich begutachtete meinen Oberkörper und sah, dass er zum Großteil in Bandagen steckte. Lediglich mein linker Arm war frei und beweglich, der rechte wurde durch eine Schlaufe gestützt. Meine Füße waren beide ebenfalls verarztet und konnten auch nicht wirklich bewegt werden. Ich hatte wahrscheinlich großes Glück gehabt, diese Sache zu überlebt zu haben, aber vorerst würde ich wohl kaum fähig sein, auch nur laufen zu können. Und zu allem Überfluss, war auch noch mein magisches Medium verloren. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht irgendetwas vor Wut gegen die Wand zu schmeißen. „Da hast du uns ja einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Wie geht es dir?“ Jack stand im Türrahmen und lächelte mild. Seine sonst so perfekt frisierten Haare waren zerzaust und sein Hemd lag nur schlackernd auf seinen Schultern. Anscheinend hatte Fleur ihn tatsächlich extra dafür geweckt, doch es schien ihn nicht wirklich zu stören. „Den Umständen entsprechend. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu viele Sorgen bereitet.“ „Nach dem ersten Schock ging es. Du warst noch am Leben und der Doc hat sich um dich gekümmert. Nichtsdestotrotz hast du ganz schön was abbekommen. Prellungen und Blutergüsse, eine Gehirnerschütterung, beide Füße verstaucht und dein rechter Arm ist gebrochen.“ Das war wirklich alles? Ich war mir sicher, dass auch einige meiner Rippen gebrochen waren und ich praktisch komplett verdreht war. Ob vielleicht...? Er setzte sich zu mir ans Bett und gab mir ein Glas Wasser. „Ein Mittel für bessere Knochenheilung ist darin aufgelöst. Es wird dich auch ein wenig schläfrig machen, damit du das Zusammenwachsen nicht so spürst“, erklärte er mir und legte seine Hand auf meine Stirn. Sie war rau, aber angenehm warm. Erst jetzt erkannte ich die dünnen Ringe unter seinen Augen und wie schlaff sein sonst so markantes Gesicht hing. Wahrscheinlich hatte er vor Sorge auch nicht sonderlich lang geschlafen. Obwohl wir uns noch nicht lange kannten, hatte ich schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass Jack mich wie ein Familienmitglied behandelte. Nein, eigentlich tat er das von Anfang an. Wir hatten nie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander gehabt und mir gefiel der Status Quo auch deutlich besser. Ein wenig hatte ich das Gefühl, er wäre so etwas wie ein Ziehvater... Nein, so innig war unsere Beziehung auch wieder nicht! „Wundfieber hast du zum Glück keines“, murmelte er beruhigt. „Aber dennoch bin ich neugierig, was dich dazu bewegt hat, blind über die Straße zu rennen.“ „Man hat mein Medaillon gestohlen“, flüsterte ich zähneknirschend. „Wer?“ „Ein Kater in einem grauen Anzug. Er hatte die Kette so schnell geöffnet, dass ich es erst bemerkt hatte, als sie mir weggezogen wurde.“ Jack sah mich skeptisch an. „Bist du sicher, dass es ein Kater war? Ein Kater in einem grauen Anzug mit einer Melone auf dem Kopf und einem Spazierstock in der Hand?“ „I-ich glaube schon.“ „Da laust mich doch... Vorausgesetzt, dass du keinem Gespenst begegnet bist, wurdest du tatsächlich von Coleman bestohlen. Ich dachte nicht einmal, dass er noch leben würde.“ Na toll, jetzt wurde ich schon von Mythen ausgeraubt. Das sprach ja nicht gerade dafür, dass ich meine Kette jemals wiederbekommen würde. Dennoch konnte ich meine Neugier nicht verleugnen. „Wer war dieser Coleman?“ „ Ein verflucht geschickter Dieb. Wenn er irgendetwas wollte, dann konntest du sicher sein, dass er es bekommen würde. Er war so gut, dass niemand wusste, wie er aussah, bis man ihn 1878 verhaften konnte. Im Übrigen von niemand geringeren, als unserem werten Polizeichef. Allerdings blieb er nicht sonderlich lange hinter schwedischen Gardinen. Er brach noch in der ersten Nacht aus und war daraufhin, wie vom Erdboden verschluckt. Ich hatte schon den Verdacht, die Polizei hätte ihn in einer Nacht – und Nebelaktion einen Kopf kürzer gemacht.“ „Verrückt...“, murmelte ich erstaunt. „Ein echtes Phantom, also...“ „So kann man es wohl sehen. Jetzt ruh' dich erst einmal aus. Und was dein Medium angeht...“ Er wuschelte mir mit einem milden Lächeln durch die Haare, „Keine Sorge, so etwas kann man ersetzen.“ „Sind Sie mir nicht böse? Immerhin war es ein Erbstück und ich konnte nicht darauf aufpassen...“ „Ich weiß, der Verlust schmerzt dich. Es ist ja auch ein kleiner Schatz für dich gewesen. In erster Linie ist es aber ein lebloser Gegenstand. Dass du okay bist, bedeutet mir viel mehr.“ „Bin ich für Sie denn mehr, als nur ein Lehrling?“ „Du tust ja so, als würde sich ein Lehrer nicht um seine Schüler kümmern. Aber sind wir nicht auch eine...ich meine...“ Jack schien mir noch etwas zu sagen wollen, doch schüttelte dann den Kopf. Ich konnte mir allerdings denken, was er sagen wollte. Eine Familie. „Verzeih, ich habe nur kurz laut gedacht. Versuch noch etwas zu schlafen, wir sprechen uns morgen. Er küsste mich sanft auf die Stirn und stand auf, um mein Zimmer zu verlassen. „Jack?“, hielt ich ihn zögerlich auf. „Als ich mich entschlossen habe, mit Ihnen zu gehen, da dachte ich mir 'Alles ist besser, als in Whitechapel zu bleiben'. Aber anfangs fühlte ich mich hier nicht wohl, als ein Mädchen, das aus ihrem Armenviertel gerissen wurde, nur um dann im kompletten Gegenteil zu landen. Dass ich mich hier eingewöhnen konnte, liegt vor Allem daran, weil Sie bei mir waren und sich um mich kümmerten. Und mir das Gefühl gaben, willkommen zu sein.“ „Es freut mich sehr, dass du das so siehst...“, murmelte er mit einem verlegenen Lächeln und ließ mich allein. Ich machte es mir in meinem Bett so bequem, wie es meine Verletzungen zuließen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Das konnte noch eine lange Nacht werden. Während ich so dalag und mir die Decke ansah, fiel mir wieder etwas ein: Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, war La Belle bei mir... Hatte sie mir etwa geholfen und mich versorgt? Nein, bestimmt war es nur Einbildung. Was sollte sie schon an einem Sonntag in Taleswood zu tun gehabt haben? Zumal sie nur mäßig willkommen war. Warum, hatte mir aber nach wie vor niemand erzählen wollen. Definitiv nicht wegen Fleur, denn auch wenn sie in der Gemeinschaft akzeptiert wurde, war sie noch lange kein vollwertiges Mitglied. Für die Meisten war sie nach wie vor nur ein Homunkulus, nicht mehr. „Vielleicht... viellleicht sollte ich Jack wirklich einmal darauf ansprechen. Es kann doch nicht nur an ihrer Art liegen...“, flüsterte ich mir zu. Obwohl ich so lange bewusstlos war, wurden meine Augen nun doch wieder schwer. Das Mittel schien zu wirken. Doch gerade, als mich der Schlaf übermannen sollte, hörte ich ein Klopfen an meinem Fenster. Der Kater! Durch das Mondlicht konnte ich seine Silhouette ganz eindeutig erkennen. Er stand auf dem Balkon und klopfte mit seinem Stock gegen die Scheibe. Der hatte vielleicht Nerven. Was ließ ihn glauben, dass ich ihn reinlassen würde? Und selbst, wenn ich wollte, mit zwei verstauchten Füßen war es mir unmöglich aufzustehen. Aber was wollte er hier? Ich musste es herausfinden und versuchte tatsächlich aufzustehen. Doch als meine Füße auch nur ein Stück belastet wurden, spürte ich einen so unerträglichen Schmerz, dass meine Beine nachgaben und ich nach vorne fiel. Gerade so konnte meine linke Hand mich auffangen und ich kroch auf allen Vieren zur Tür. Es war eine Tortur, zumal die Medizin mich nach wie vor immer schläfriger machte. Doch irgendwie schaffte ich es und drückte die Klinke runter – nur um festzustellen, dass der Kater gar nicht mehr dort war. Wann hatte er sich denn wieder aus dem Staub gemacht? „Entschuldige, aber du hast mir nun wirklich etwas zu lang gebraucht. Da habe ich mir selbst Zutritt über die Haustür verschafft“, erklang eine leicht hochnäsig wirkende Stimme hinter mir. Da saß dieser Flofänger doch tatsächlich auf meinem Bett und putzte sich! Sein Fell war hellbraun und mindestens genauso gut gepflegt, wie sein Anzug. Die Melone hatte er abgesetzt und aufs Bett gelegt. „Rate mal, warum ich so lange brauchte“, konterte ich wütend, schloss wieder die Tür und lehnte mich dagegen. Ich hatte nun wirklich keine Kraft mehr, wieder zurück zu kriechen. „Das mit deinem Unfall tut mir wirklich leid. Eigentlich hättest du mich nicht einmal bemerken sollen. Ich bin wohl doch etwas aus der Übung, nach fast 20 Jahren im Untergrund.“ „Offensichtlich, denn normalerweise sollte man nicht die Leute besuchen, die einen beim Klauen erwischt haben. Das weiß sogar eine ex-Kleinkriminelle wie ich. Also was willst du hier, Coleman?“ Er kramte in seiner Tasche und warf mir mein Medaillon vor dir Füße. Ich nahm es aufgeregt an mich und untersuchte es nach Schäden und ähnlichem. Nichts dergleichen. Auch das Foto wurde nicht entfernt. „Ich hätte es dir wiedergegeben, sobald meine Arbeit erledigt wäre, aber leider musste ich erkennen, dass ich für den Coup nicht nur den Schlüssel brauche, sondern auch seine Besitzerin. Deswegen bin ich hier.“ „Warte. Willst du mir sagen, du brauchst meine Hilfe?!“ Coleman nickte und lehnte sich auf seinen Spazierstock. Im fahlen Schein der Öllampe erkannte ich die mystischen Verzierungen im Holz und den unheimlichen Falkenkopf am Griff. Der Kater atmete tief ein, bevor er mir antwortete: „Du musst mir helfen, die Schwebende Uhr zu stehlen.“ Kapitel 9: Die Schwebende Uhr ----------------------------- Sofort war jegliche Müdigkeit aus meinem Körper verschwunden. Ungläubig sah ich Coleman an. War das etwa ein schlechter Scherz? Die Schwebende Uhr stehlen... „Bist du noch ganz dicht?! Warum sollte ich dir überhaupt dabei helfen, etwas zu klauen?! Und dann auch -“ Er war blitzschnell aufgesprungen und hatte mir die Pfote vor den Mund gedrückt. „Nicht so laut... was ist wenn, uns jemand hört?“ Das war auch mein Plan. Und tatsächlich klopfte Fleur nur wenige Sekunden später an meine Tür. „Alice? Ist alles in Ordnung?“ Sie kam herein und sah mich auf dem Boden sitzen. Doch von Coleman fehlte jede Spur. Ich suchte mein Zimmer ab, aber er war nicht da. Er konnte doch nicht gegangen sein... Wie hatte er das nur gemacht? „Warum bist du denn nicht im Bett?“, fragte sie mit sanfter, aber besorgter Stimme und kniete sich zu mir. „Er war gerade doch noch hier...“, murmelte ich verzweifelt. War es etwa doch nur Einbildung? Nein, dafür war es viel zu real gewesen. „Wovon redest du? Hier ist niemand, außer uns beiden... Bist du vielleicht geschlafwandelt? Komm, ich helfe dir wieder ins Bett.“ „Bin ich nicht, bitte glaube mir. Ich weiß doch was ich gesehen habe. Er war hier! Der Kater der mich bestohlen hatte! Sieh doch nur, er hat mir sogar mein Medail-“ Verdammt, wo war es denn nur? Ich hatte es doch noch gerade bei mir! Fleur schaute mich mitleidig an. Sie hielt mich doch nicht etwa für verrückt? Wütend stieß ich sie weg und krauchte zu meinem Bett zurück, ganz gleich, was ich dabei für eine jämmerliche Figur machte. „Bitte Alice, ich kann doch nichts dafür, dass hier niemand ist. Sei doch nicht so gemein zu mir“, flehte sie. Gemein? Wer unterstellte hier denn wem, einen Dachschaden zu haben? Doch gerade als ich ins Bett steigen wollte, spürte ich, wie sich ihre Arme um mich schlangen und sie ihr Gesicht an meinem rieb. „Tut mir leid...“, flüsterte sie, „Bist du mir böse? Habe ich etwas falsch gemacht?“ „Warum entschuldigst du dich denn, bevor du weißt, ob du was falsch gemacht hast?“, bemerkte ich sarkastisch. „Ich will nicht wieder streiten... Ich will doch einfach nur mit dir zusammen sein...“ Seufzend verdrehte ich meine Augen. Mir war eigentlich auch nicht danach, wütend auf sie zu sein. Sie konnte doch auch nichts dafür, dass dieser Kater sich anscheinend unsichtbar machen konnte - oder warum auch immer er vom Erdboden verschluckt war. Etwas sagte mir, dass ich mir anhören sollte, worum er mich bat. Ich ließ mir von Fleur ins Bett helfen und drückte sie an mich, so fest wie es mir mit meinen Verletzungen möglich war. „Ist schon okay... leg dich wieder schlafen... mir geht es gut.“ „Bist du sicher? Wenn du möchtest, kann ich noch bei dir bleiben.“ Ich schüttelte den Kopf und küsste sie sanft. Rührend, wie sehr sie sich um mich kümmerte. Es war ihre Art, ihre Liebe auszudrücken. „Ich komme klar. Ruh dich wieder aus.“ Sie nickte dankbar und verließ das Zimmer. Jeder konnte sehen, wie fertig sie war. Es war auch nicht in meinem Sinne, dass sie länger hier blieb, denn Coleman würde wohl nicht aus den Schatten treten, solange sie hier war. Und meine Theorie bestätigte sich sofort, als es im Haus wieder ruhiger wurde. „Du begehrst also auch Frauen?“ Seine Gestalt erschien aus dem Nichts, als würde er aus einem pechschwarzen See auftauchen. Illusionsmagie. Eine andere Erklärung gab es nicht. Ich hatte noch nie einen Tiermenschen gesehen, der Magie beherrschte. Und dann gerade so komplexe. Das war beeindruckend, doch ich versteckte meine Bewunderung darüber. „Meine Liebeleien gehen dich nichts an“, zischte ich. Das war wahrscheinlich meine aufrichtigste Antwort, die ich in Bezug zu dieser Beziehung je gegeben hatte. „Sie ist ein Homunkulus, nicht wahr? Auch wenn sie hübsch anzusehen ist, wer will denn bitte mit so etwas zusammen sein? Aber deine Präferenzen interessieren mich nicht. Du hast sie weggeschickt... Willst du dir also anhören, was ich zu sagen habe?“ „Habe ich denn eine andere Wahl? Du hast mein Medium wieder an dich genommen, als Fleur das Zimmer betrat. Ich bekomme es wohl nicht für umsonst wieder.“ Er seufzte lautstark und legte mir die Kette in die Hand. „Ich werde dich nicht erpressen. Wenn du mir nicht helfen willst, werde ich verschwinden und wir tun so, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Lass mir aber wenigstens die Möglichkeit, dir zu erzählen, was ich vorhabe.“ „Ich bin ganz Ohr.“ Obwohl meine Stimme ruhig klang, war ich unheimlich nervös. Ich hatte mich bisher nur als kleine Taschendiebin betätigt, Colemans Plan war eine ganz andere Liga. Obwohl er oberflächlich die zerbrechliche Erscheinung einer Katze hatte, war er trotzdem ein ausgebuffter Ganove, den man nicht unterschätzen durfte. Seine Augen hatten diesen unterkühlten Ton, der auf pure Berechnung aus war. „Du fragst dich sicherlich, warum ich ausgerechnet die Schwebende Uhr stehlen will. Was weißt du über dieses Artefakt?“ „Nur dass es durch Magie in der Luft gehalten wird und schon ein paar hundert Jahre alt ist.“ „Ist ja nicht besonders viel... Gut, dann erzähle ich dir ein wenig. Die Schwebende Uhr ist ein arkanes Medium, ähnlich deines Medaillons. Das Größte, das je erbaut wurde. Du weißt, dass arkane Medien dafür da sind, um Magie besser zu kontrollieren?“ Blöde Frage, das hatte mir Jack bereits zum Anfang erklärt. Und mir war auch sofort bewusst, was das für die Uhr bedeutete. Je größer die Masse eines Mediums, desto stärkere Magie konnte damit im Zaum gehalten werden. „Also willst du diese Macht für dich allein haben?“, konfrontierte ich ihn. „Du meinst, weil ich Magie beherrsche? Dafür bin ich leider nicht gut genug.“ „Verkaufe mich nicht für dumm, Coleman. Du kannst dich unsichtbar machen, deine Fähigkeiten müssen gewaltig sein.“ Er lachte hämisch, holte etwas Tabak aus seiner Sakkotasche und drehte sich eine Zigarette. „Mädchen, ich mache mir nichts aus solcherlei Dingen. Ich will diese Uhr auch nicht... Und auch nicht was da drin ist. Es ist ein Auftrag.“ „Für wen?“ „Das verrate ich nicht. Diskretion ist das A und O.“ „Dann will ich auch nichts weiter hören“, konterte ich und setzte eine desinteressierte Mine auf, auch wenn meine Neugier wahrscheinlich nicht zu übersehen war. Doch ich würde sicher nicht die Katze im Sack kaufen. Coleman schien eine Sekunde abzuwägen, ob er mit mir weiter feilschen, oder nachzugeben sollte. Er blies etwas Rauch aus. Durch den Geruch konnte ich erkennen, dass er scheinbar eine schärfere Marke konsumierte als Jack. Wie er so dasaß, die Beine übereinander geschlagen, den Blick konzentriert nach vorne gerichtet, wirkte er ein wenig wie eine moderne Variante des gestiefelten Katers. „Es wird dir nicht gefallen. Sie hat mich bereits vorgewarnt, dass du nicht gut auf sie zu sprechen seist...“ Sie? Mir schwante Übles. „...aber ich habe mir La Belles Vorhaben angehört und -.“ „Ist mir egal!“, gab ich energisch zurück, „Mit diesem Monster will ich nichts zu tun haben.“ „Warum? Weißt du, warum sie verstoßen wurde? Hat dir Jack jemals etwas davon erzählt?“ Ich hielt inne. Wir hatten tatsächlich nur einmal über sie gesprochen; nach dem Vorfall im März. Ich erinnerte mich daran, was Jack mir gesagt hatte. Sie sei eine Verräterin, unberechenbar und brandgefährlich und ich sollte mich von ihr fernhalten. Doch als ich ihn fragte, was sie denn getan hätte, winkte er nur ab. „Bitte glaube mir, Alice. Diese Frau führt nichts Gutes im Schilde. Halte dich einfach von ihr fern.“ Das war alles, mehr konnte ich ihm nicht entlocken. Doch es hatte mir gereicht, immerhin war ich mir die Gefahr, die von ihr ausging, bereits bewusst. Und was sie Fleur angetan hatte, konnte ich nicht verzeihen. Hätte ich vielleicht doch hartnäckiger bleiben sollen? „Wenn du willst, kannst du es aus ihrem Mund hören. Noch diese Nacht. Dann kannst du selbst entscheiden, ob du uns helfen willst, oder nicht.“ Uns... er stand also hinter ihrem Plan. Eigentlich ist ja der Freund meines Feindes mein Feind, doch er schien mir nicht bösartig zu sein. Aber vielleicht war es doch nur eine Falle...? Ich sollte ablehnen, ich sollte ihn des Hauses verweisen, mich schlafen legen und niemals wieder darüber nachdenken... zumindest versuchte meine Intuition mir genau das einzureden. „Angenommen – rein hypothetisch – ich wäre interessiert: wie stellst du dir vor, in meinem Zustand auch nur aus der Haustür zu treten?“ „Gutes Argument... dann werde ich dich tragen müssen.“ „Was?! Das meinst du doch nicht -“ Mit einer lockeren Bewegung hob er mich an Kniekehlen und Rücken hoch und sprang vom Balkon. Er bewegte sich pfeilschnell durch die Nacht und es hatte nicht den Anschein, als würde mein zusätzliches Gewicht ihn auch nur in irgendeiner Weise beeinträchtigen. Und das, obwohl er sogar ein paar Zoll kleiner war als ich. Anfangs war ich etwas nervös, doch Coleman ließ nicht eine Sekunde locker und seine angenehme Wärme sorgte dafür, dass ich trotz meines dünnes Negligés nicht fror. Wenn ich nach vorne schaute, sah ich im Dunkeln nur vereinzelt die Bäume des Waldes oder ein Paar leuchtende Augen an uns vorbeirauschen, der einzige Indikator für Colemans rasante Geschwindigkeit. Obwohl er scheinbar einen gigantischen Bogen ging, um Taleswood zu vermeiden, dauerte es nur eine Viertelstunde, bis wir an unserem Ziel ankamen. So lange brauchten wir normalerweise, nur um in die Stadt zu kommen. Beeindruckend. „Da wären wir,“ murmelte der Kater mit einer leichten Nervosität. Auf einem Hügel stand ein kleines, einstöckiges Haus, das auf dieser baumlosen Lichtung durch den fahlen Schein des Mondes erleuchtet wurde. Die Fenster waren teils rund, teils eckig und das leicht überwucherte Dach hatte keine gerade, sondern eine fast schon wellenförmige, asymmetrische Form, die an der Hinterseite mit dem Boden abschloss, während die Vorderseite gen Himmel zeigte. Der Weg über das windschief eingezäunte Grundstück führte in regelmäßigen Abständen durch wild wachsende Rosenbögen, an deren Spitze kleine Laternen hingen. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn irgendwie kam dieses Häuschen meiner Vorstellung eines klassischen Hexenhauses extrem nahe; ganz im Kontrast zu den meisten anderen Gebäuden in Taleswood, die nichts märchenhaftes an sich hatten. Doch mir war dennoch bewusst, wer hier wohnte. Während unserer kurzen Reise dachte ich auch über Colemans Rolle nach. So sehr ich ihm auch misstrauen wollte, er strahlte eine unheimliche Menge positiver Energie aus, die meine Zweifel an ihm ins Wanken brachten. Ich konnte nur hoffen, dass er im Zweifel entweder auf meiner Seite, oder zumindest neutral war. Mit jedem Schritt, den wir der Haustür näher kamen, konnte ich meine Angst weniger unterdrücken. Der Anblick ihres Wutausbruchs – auch wenn er nur wenige Sekunden andauerte – hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Ich musste aufpassen, was ich sagte. „Bevor du anklopfst“, hielt ich meinen Begleiter auf, „will ich, dass du mir versprichst, mich wieder sicher nach Hause zu bringen, egal wie ich mich entscheiden werde.“ Der Kater nickte mir ruhig zu und trat ein paar Mal gegen die Tür, da er mich zum Klopfen nicht absetzen wollte. Man würde erwarten, dass es zu solch später Stunde eine gewisse Zeit dauern würde, bis jemand auf unsere Anwesenheit reagierte, doch stattdessen öffnete uns nur wenige Sekunden später ein junger Mann. „Sie wünschen?“ Ich erkannte sofort, dass er ein Homunkulus war: weiße Haut, aschgraues, strubbeliges Haar, violette Augen. Anscheinend sahen sie alle so aus. Doch etwas unterschied ihn signifikant von meiner Liebsten zuhause. Sein Blick war leer und seine Stimme besaß nicht den Hauch von Charakter. Das waren also richtige Homunkuli: willenlose, blankpolierte Arbeitssklaven. „Wir sind mit der Herrin des Hauses verabredet“, sagte Coleman mit einem Hauch von Abscheu in seiner Stimme. Er konnte wohl mit diesen Wesen genauso wenig anfangen, wie der Rest von Taleswood. Ich versuchte dem Diener in die Augen zu sehen, doch egal wie sehr ich mich anstrengte, er besaß keinen Funken Seele. Er war nur eine Hülle mit einer Spur Intelligenz... Doch das bestätigte mich nur noch mehr darin, dass Fleur nicht zu ihnen gehörte. Der Diener führte uns durch einen Korridor, so voll gestellt mit Bücherregalen und ausgestopften Tieren an der Wand, dass Coleman seitwärts gehen musste, um mich weiterhin tragen zu können. Mittlerweile war mir meine Wehrlosigkeit wirklich peinlich geworden und ich hoffte nur, dass sie mir nicht auch noch eventuell zum Verhängnis würde. La Belle erwartete uns bereits in ihrem Salon, am Kamin. Der Raum war geräumig, aber nicht einmal annähernd mit dem Saal zu vergleichen, den wir zuhause hatten. Er besaß ein langes Sofa sowie einen Sessel. Des weiteren sah ich einige abstrakte Gemälde an der Wand und eine kleine, unauffällige Bar, die sich in der hinteren Ecke versteckte. Auf der anderen Seite befand sich ein rechteckiger Portalspiegel, der von einem Engel und einem Dämon gehalten wurde – beide nur mit einem Lendenschutz bedeckt. Das Auffälligste war der schmiedeeiserne Kronleuchter, der sich wie Geäst über die gesamte Decke hinweg zog und mit so vielen Öllampen ausgestattet war, dass es wohl einige Zeit dauerte, alle abends anzuzünden – dafür hatte sie ja die helfenden Hände. Außer einigen dekorativen Blättern, war das Ding allerdings absolut schmucklos und – für eine Frau, die ansonsten scheinbar sehr viel wert auf Eleganz legte – relativ zweckmäßig. Selbst Jack hatte einen größeren Hang zur Ästhetik. „Sie konnten sie also nicht allein überzeugen?“ La Belle lag auf dem Sofa, vertieft in ein Buch; das lange schwarze Haar kunstvoll hochgesteckt und mit nicht mehr bekleidet, als einem dunkelgrünen Morgenmantel, der so locker und freizügig an ihr lag, dass sie eigentlich auch direkt nackt sein könnte. Ein dünnes Homunkulus-Mädchen mit schulterlangem, offenem Haar stand neben ihr und schenkte ihr gerade ein Glas Wein ein. Ihre Herrin schickte sie mit einer lockeren Handbewegung weg. „Ich habe es nicht einmal versucht. Es ist Ihr Auftrag, Véronique. Ich wurde angeheuert ihn auszuführen, nicht um neue Leute zu rekrutieren.“ Coleman setzte mich vorsichtig auf dem Sessel ab und ging dann zur Bar. La Belle legte das Buch auf den kleinen Tisch vor ihr und begutachtete mich. „Manche Menschen kann nicht einmal ein Unfall entstellen, nicht wahr? Selbst im Anblick des Todes warst du noch immer hübsch anzusehen, petite Alice Maeldun.“ Maeldun? Was war das für ein Name? Oder doch nur eine französische Floskel? Doch etwas anderes war mir gerade noch wichtiger. „Also waren wirklich Sie es gewesen, welche die Erstversorgung übernahm.“ „Immerhin war es auch meine Kutsche, vor die du gelaufen bist. Ich erwarte von dir keinen Dank, solange du keine Entschuldigung erwartest. Immerhin warst du es, die nicht aufgepasst hat.“ Die war lustig. Wenn ihr Auftrag nicht gewesen wäre, hätte ich überhaupt nicht blind durch die Straßen diesem spitzohrigen Dieb hinterherjagen müssen. Doch ich wollte die Stimmung nicht kippen lassen. „Hat Coleman dich eingeweiht?“, fragte sie, nachdem ich ihr keine weitere Antwort gab. „Ich weiß, dass Sie die Schwebende Uhr begehren, doch ich wüsste gerne warum und was das Ganze mit mir zu tun hat. Sie müssen schon wirklich verzweifelt sein, ausgerechnet mich um Hilfe zu bitten.“ Sie nahm einen großen Schluck Wein und schaute das Glas melancholisch an. „Ja... 'verzweifelt' trifft es ganz gut... Ich will ehrlich zu dir sein, Alice. Es gibt gute Gründe, warum mich die Einwohner von Taleswood nicht gerade lieben. Leider vergessen sie nur allzu gern, dass sie selbst Dreck am Stecken haben.“ „Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie ein Sündenbock sind?“ „Mais non, ein Sündenbock wäre unschuldig und das bin ich nicht. Ich will nur sagen, dass auf Jack und viele andere das Gleiche zutrifft.“ Ich verstand kein Wort, von dem, was sie mir sagen wollte und musste wohl auch ziemlich ratlos ausgesehen haben. Was meinte sie mit „Unschuld“? La Belle seufzte und wandte sich an ihren Geschäftspartner: „Sie haben ihr ja wirklich nichts erzählt.“ „Ich habe es Ihnen gesagt, das ist Ihr Job, nicht meiner.“ „Nun gut... Sagt dir der Name Alexander Mycraft etwas?“ Ich nickte langsam. Jack hatte seinen Lehrmeister einmal erwähnt. Hatte er nicht gesagt, dass er verrückt war? „In dieser Uhr steckt sein Erbe und sein Wissen, denn vor 17 Jahren ist sein Geist darin gefangen worden. Ich brauche es...“ „Und weiter?“ „Tut mir leid, das ist vorerst alles, was ich dir sagen werde. Bring mir die Uhr und du bekommst die ganze Geschichte zu hören, was es mit diesem Gebilde auf sich hat.“ „Dann ist dieses Gespräch beendet. Ich bin es leid, diese ganze Geheimnistuerei mitzumachen. Niemand spricht Klartext mit mir, erzählt mir, was mit meinen Eltern passiert ist, oder woher diese Zwietracht kommt. Coleman, bitte bring mich Heim.“ La Belles boshaftes Grinsen sah ich nur eine Sekunde aus dem Augenwinkel, bevor eine riesige Ranke hinter meinem Sitz hervorkroch und mich an ihn fesselte. Die Dornen drückten sich in mein Fleisch und ich spürte, wie mein warmes Blut aus den Wunden herunterlief. „Was soll das, Véronique?! Ich werde nicht -!“, hörte ich Colemans Stimme, doch er wurde von meinem Schmerzensschrei unterbrochen, während die Ranken sich fester zogen. „Bleib auf deinem Platz, Katze! Und lass dir bloß nicht einfallen, Magie zu benutzen, sonst zieh ich dir das Fell über die Ohren! Du hast sowieso keine Magie, die der meinen überlegen wäre!“ Ihre Stimme war wieder ganz anders. Das war ihr boshaftes, mörderisches Ich. „Nun gut, Alice... Du siehst, wozu ich fähig bin, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass ich dich brauche.“ „W-wozu? Was hab ich Ihnen denn jemals getan?“, keuchte ich, kaum fähig Luft zu holen. Doch ich merkte, dass sie mich nicht umbringen wollte. Sie wollte mich nur quälen. „Du bist einfach nur die Tochter der falschen Mutter. So etwas passiert manchmal. Dein Blut ist mit der Uhr verbunden.“ „Ich habe mit ihr doch gar nichts zu tun!“ „Sie wurde von einem Vorfahren erbaut und versiegelt! Und dieses Medaillon ist der Schlüssel zu dem Wissen darin! Aber scheinbar muss ein Mitglied der Maeldun-Familie den Schlüssel benutzen. ICH brauche das Wissen von Mycraft und DU wirst es mir besorgen!“ „Bring mich doch um! Ich werde nicht - “ Die Ranke zog sich so eng, dass ich spürte, wie sie langsam anfing, meine Innereien zu zerdrücken und die Dornen rissen meine Haut durch die Bewegung weiter auf. Der Schmerz war unerträglich. „Ich werde dich nicht töten, du machst dir das zu einfach! Aber... was wäre, wenn Fleur...“ Sie wusste von uns? Woher denn nur?! Das war keine leere Drohung, sie würde einen Weg finden, Fleur in ihre Falle zu locken. Ich wollte ihr nicht helfen, doch mir blieb keine Wahl. Tränen liefen mir über das Gesicht. So fühlte es sich also an, erpresst zu werden. „Sie haben gewonnen...“, schluchzte ich. „Sprich lauter, Mädchen! Ich verstehe kein jämmerlich!“ „Ich helfe Ihnen, okay?! Nur tun Sie ihr bitte nichts!“ Die Ranke löste sich von mir und ließ mir wieder Luft zum atmen. Mein Negligé hatte einen dicken Blutfleck und mein Körper war übersät mit offenen Wunden. Mir war eiskalt und es tat alles weh. Véronique beruhigte sich wieder. Sie erhob triumphierend ihr Weinglas und leerte es in einem Zug. Mein Hass gegenüber ihr wuchs rasant an. „Nun gut, kommen wir zu den Vereinbarungen. Ihr zwei werdet die Kugel zu mir bringen, ich nehme die Macht an mich und werde die Uhr danach vernichten. Natürlich steht euch nach wie vor eure Belohnung zu, ich bin ja kein Unmensch. Das Miezekätzchen bekommt seine ausgemachte Bezahlung und Alice... du willst doch sicherlich hören, wie Jack deine Mutter ermordet hat, oder?“ Für eine Sekunde schien es mir, als würde mein Herz stehen bleiben. Nein, sie musste lügen. Das konnte, durfte nicht die Wahrheit sein! Sie wollte mich doch bestimmt nur leiden sehen! „Du musst mir nicht glauben, aber ich belüge dich nicht. Er hat Claire auf dem Gewissen und alle haben es gewusst. Bring mir die Uhr und ich erzähle dir alles, was du hören willst. Und zwar die Wahrheit und nichts, als die Wahrheit.“ Ich sollte protestieren doch meine Stimme versagte, während sich meine Augen weiter mit Tränen füllten. Wieso passierte mir denn nur so etwas immer wieder? Immer wenn ich dachte, dass mein Leben sich zum Besseren wenden würde, zerbrach meine Welt wieder. „So oder so wirst du sie mir bringen, denn wenn nicht... wirst du es bereuen... Und jetzt geht und kommt erst wieder, wenn ihr alles erledigt habt.“ Ich spürte, wie Coleman mich langsam wieder auf den Arm nahm und hinaustrug. Er schwieg, doch auf seinem Gesichtsausdruck war seine Wut mehr als eindeutig zu erkennen. La Belle wollte noch meine Wunden heilen, doch ich weigerte mich. Vielleicht bestand so ja die Chance, dass ich heute Nacht sterben würde und damit diesem Albtraum entrinnen konnte. Während wir wieder durch den Wald in Richtung Taleswood gingen, tauschten wir kein einziges Wort miteinander aus. Coleman sprintete nicht, so wie zuvor, sondern lief ein normales Tempo. Es war noch immer mitten in der Nacht, doch am Horizont konnte man langsam die ersten Sonnenstrahlen sehen. Als wir den Rand der Stadt erreichten, ließ er mich auf dem Boden nieder und warf mir sein Sakko über. Das Material war warm und bequem, doch konnte mein Frösteln nicht unterdrücken. „Bitte verzeih“, flüsterte er mit verbitterter Stimme, „Das ist alles meine Schuld. Wenn ich dich nicht mitgenommen hätte... Ich war mir sicher, dass sie gute Absichten hatte. Ich war wohl blind. Beschämend, insbesondere für eine Katze.“ „Du kanntest sie?“ „Sie war Mycrafts Mätresse... Eigentlich viel zu jung für ihn, doch er hatte ein Faible für blutjunge Mädchen. Sie schien aber nur an seinem Wissen über Homunkuli interessiert zu sein.“ „Woher weißt du das so genau?“ „Weil sie mich einmal angeheuert hatte, aus seinem Arbeitszimmer ein Buch zu stehlen. Ich wurde dabei viel zu leicht erwischt und ins Gefängnis gesteckt. Ich dachte, sie hätte mich reingelegt, aber anscheinend hatte ich einfach die Polizei unterschätzt, oder besser gesagt: Ich habe Mycraft unterschätzt. Er arbeitete mit der Polizei zusammen, nein, kontrollierte sie schon viel eher und gab ihr die Macht, die sie brauchte, um mich zu schnappen. Véronique half mir zu fliehen, deswegen dachte ich, sie würde auf der guten Seite stehen... am Ende haben wir alle unsere eigenen Motive.“ „Was meinst du mit 'Er kontrollierte die Polizei'?“ „Das weiß ich selbst nicht so genau. Es war, als wären sie seine Schachfiguren. Und sie ist ihm anscheinend auch verfallen. Ich bin direkt nach meinem Ausbruch aus dieser Stadt verschwunden, um meinen Pelz zu retten, daher kann ich dir leider nichts über die Krise von 1881 erzählen... Ich weiß nur, dass es etwas mit dieser Uhr zu tun hatte.“ Es schien mir nicht so, als würde auch nur ein Rätsel sich auflösen, ohne drei weitere zu erschaffen. Mycraft... ein mächtiger und einflussreicher Magier... was hatte er mit dieser Stadt gemacht? So sehr es mir auch missfiel, La Belle kannte die Antworten auf all das. Ich musste ihr sowieso helfen, also konnte ich auch meinen Vorteil daraus ziehen. Als wir am Kirchplatz ankamen, rotierte die Uhr so ruhig wie immer um ihre eigene Achse. Niemand war in der Nähe. Es war fast schon zu einfach. Coleman suchte den Ring aus Steinen ab, denn dort befand sich laut ihm eine spezielle Einkerbung für das Medaillon. Er fand sie schnell wieder und brachte mich an den passenden Platz. „Du steckst das Medaillon in diesen Schlitz und wir sehen was passiert.“ „Du hast keine Ahnung, was passiert?“ „Wenn alles glatt geht, wirst du damit die Barriere auflösen und wir können die Kugel mitnehmen.“ „Und wie stellst du dir das vor?! Das Ding wiegt locker fünf Tonnen!“ „Das lass mal meine Sorge sein.“ Ich starrte nervös auf die Vorrichtung. Sie war auf den Punkt genau dafür gemacht, das Medaillon wie einen Schlüssel hineinzuschieben. Aber was, wenn ich damit alles nur noch schlimmer machte? Es konnte doch alles mögliche eintreten. Vielleicht ist das auch ein Selbstzerstörungsmechanismus, wer wusste das schon. Ich war langsam absolut fertig mit den Nerven und wollte eigentlich nur noch nach Hause... Vorsichtig schob ich die Kette hinein. Als sie komplett einrastete, hörte ich ein gewaltiges Dröhnen über mir. Die Sphäre hatte aufgehört sich zu drehen, und begann, auseinander zu klappen und einen hellblau leuchtenden Kern freizulegen. Wir starrten ihn völlig perplex an, unfähig zu begreifen, was gerade passierte. Noch bevor wir reagieren konnten, wurden das Licht immer heller, ja schien uns geradezu einzusaugen. Obwohl wir noch immer fest auf dem Boden standen , fühlte es sich so an, als würden wir uns fortbewegen, immer näher an die Lichtquelle heran, bis sie uns selbst überstrahlte. Nur langsam machte ich meine Augen auf und sah, dass ich unter einem Baum lag. Die Sonne brannte auf mich herab. Der Wind säuselte einem ins Ohr, im Chor mit hunderten Vögeln. Wo war ich nur? Ich sah an mir herunter und bemerkte nicht nur, dass mein Arm wieder in Ordnung war, alles schien wieder gesund zu sein! War das nur ein Traum? Und warum fühlte sich dieser Körper so fremd an? Ich schaute mich um und sah Coleman in der Sonne schlummern. Das Gras um ihn war saftig grün und besaß ein paar Gänseblümchen. Wir waren anscheinend auf einem Hügel. Mein Blick ging in Richtung Horizont und ich erkannte tatsächlich Taleswood, doch etwas schien anders zu sein. Ich ging zum Kater und rüttelte ihn wach. Er konnte sich nur langsam von seinem Schlaf lösen und schaute mich mit einem Paar großen Katzenaugen an. „A-Alice bist du das?“, fragte er verunsichert. „Was soll die Frage? Natürlich bin ich es.“ Er neigte skeptisch den Kopf zur Seite. „Merkwürdig... Ich... ich spüre deine Aura, aber du siehst nicht aus wie sie... Du... du siehst aus wie Claire.“ Kapitel 10: Vergangene Wahrheit, wahre Vergangenheit ----------------------------------------------------- Schockiert schaute ich den Kater an, unfähig zu begreifen, was er mir gerade erzählte. Ich begutachtete meine Hände, meinen Körper, tastete sogar mein Gesicht ab. Ich war wirklich nicht mehr ich selbst. Statt meines Negligés trug ich eine einfache, weiße Bluse und einen schwarzen Rock. Mein Haar war anscheinend viel länger und durch eine Schleife hinten zu einem Pferdeschwanz verknotet. Der Körper in dem ich steckte, war um einiges größer, erwachsener und weiblicher als meiner... die Oberweite ließ mich schon fast neidisch werden. „Ich sehe also aus wie Mutter? War das hier etwa ihr Werk? Sind wir in der Vergangenheit?“ „Gewissermaßen. Wahrscheinlich ist das hier eine Erinnerung von ihr, die in der Uhr kompensiert wurde.“ „Aber warum habe ich dann nicht meine Gestalt? Du bist doch auch -!“ Colemans Körper war auf einmal viel blasser als zum Anfang. Nein nicht blass... durchsichtig! So als würde er sich auflösen! Ich versuchte ihn zu ergreifen, doch meine Hand ging ins Leere. „Ich bin hier wohl nicht erwünscht...“ „Wie meinst du das?!“ „Diese Erinnerung war einzig und allein für dich erhalten geblieben, Alice. Sie wird auch nicht beginnen, bevor ich verschwinde. Sieh dich mal um...“ Tatsächlich bemerkte ich jetzt erst, dass die Welt um uns herum stillstand und der Wind sowie das Vogelgezwitscher sich wiederholende Geräusche waren, als würden sie aus einem Grammophon kommen. „Aber Coleman...!“ „Du hast Angst, nicht wahr?“ Ich wollte es nicht zugeben, doch dieser Ort verpasste mir in der Tat ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Ich verstand noch immer nicht, wie all das hier funktionierte. „Keine Sorge... Eine Erinnerung ist unbeeinflussbar. Du kannst hier also nichts falsch machen. Es geht Claire wohl darum, dir die Ereignisse von 1881 aus ihrer Sicht zu zeigen...“ „Aber was ist denn mit dir?!“ „Wie gesagt, ich bin unerwünscht... Aber ich werde auf dich in der Realität warten. Viel Erfolg, Alice Maeldun.“ „Nein! Bitte warte doch!“ Ich wollte hier nicht alleine sein! Wieder griff ich nach seiner Pfote... und wieder... und wieder... so als würde jemand versuchen Wasser mit der offenen Hand zu schöpfen. Ich merkte in meiner Verzweiflung gar nicht, wie der Auflösungsprozess gestoppt wurde und Coleman nicht nur in seinem aktuellen Status verharrte, sondern sich auch rematerialisierte. Es endete erst, als ich ihm durch mein Gefuchtel eine Ohrfeige verpasste, die ihn härter traf, als er erwartet hätte. Die Zeit hörte gleichzeitig auf, stillzustehen. „Verdammt Alice, was war das denn?“, fauchte er, während er sich die Wange hielt und seine Melone aus dem Gras fischte. Seine Beschwerde nahm ich kaum wahr. Er war noch hier und ich damit nicht allein! Es war mir egal, ob er für La Belle arbeitete, denn irgendetwas sagte mir, dass dieser Kater mein Verbündeter war und so fiel ich ihm um den Hals und fing an, seinen Kopf zu kraulen. „Das gibt’s nicht, du bist wieder normal!“, rief ich glücklich. „Das versuche ich schon die ganze Zeit zu sagen, aber du warst ja zu sehr mit rumheulen beschäftigt. Für ein toughes Mädchen hattest du grade einen ziemlich jämmerlichen Eindruck gemacht. Und könntest du bitte damit aufhören?!“ Er stieß mich von sich und richtete seine Kleidung. Es brauchte nicht viel, um zu erkennen, dass er ein chronischer Einzelgänger war. Ihm war es wohl peinlich, einer Frau so nahe zu sein. „Womit denn genau aufhören?“, fragte ich mit einem neckischen Zwinkern. „D-du weißt schon dieses... Geknuddel... sehe ich aus wie ein Schmusetiger?! Hör mal, nur weil ich mich für dein Schicksal mitverantwortlich fühle, sind wir noch lange keine Freunde! Aber ich muss zugeben... Du hast dich über die Grenzen dieser Erinnerung hinweggesetzt. Etwas wovon ich nicht einmal wusste, dass es möglich ist... Wie hast du das gemacht?“ Ja, wie eigentlich? Ich hatte mir doch nur gewünscht, dass er bei mir blieb, damit ich nicht allein war. Doch da ich sowieso nicht verstand, wie solche Zonen funktionierten, brachte es auch nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nur wie ging es jetzt weiter? Noch ehe ich darauf eine Antwort fand, tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um und erschrak – vor mir stand Fleur! Nein, das war nicht Fleur. Das Mädchen sah zwar fast genauso aus wie sie, doch die typischen Homunkulusmerkmale – violette Augen, weiße Haut, aschgraues Haar – waren nicht vorhanden. Wobei ihr Gesicht so blass war, dass man es fast für weiß halten konnte. Sie atmete schwer und schien schon fast umzukippen. „Excusez moi, Madmoiselle... ich meine... Miss... ich brauche... Hilfe.... s'il vous plait...“flüsterte sie mit einer wohlklingenden aber extrem heiseren Stimme und einem starken französischen Akzent. Kaum hatte sie ihren Satz beendet, da bekam sie einen Hustenanfall und fiel nach vorn. Ich fing sie auf und fühlte ihre Stirn: Eiskalt und klitschnass. „Hey, was haben Sie denn?“, rief ich, während ich versuchte sie zu stützen. Ein wenig Blut lief aus der Hand, mit der sie sich den Mund zuhielt. Sie musste schwerkrank sein. Nach einiger Zeit beruhigte sie sich wieder, doch zitterte am ganzen Körper. „Können wir Ihnen irgendwie helfen, Mädchen?“, fragte Coleman besorgt, doch die junge Frau schien ihn gar nicht zu bemerken. Sie wischte sich die Hand und ihren Mund mit einem Taschentuch ab und atmete ein paar mal vorsichtig durch. Dann lächelte sie gequält und sprach: „Pardon Miss... falls ich Sie belästigt haben sollte. Mir wurde gerade schwindelig und ich sah niemanden sonst hier draußen. Aber mir geht es schon wieder besser, ich werde Sie dann nicht mehr aufhalten.“ „Wo wollen Sie denn hin?“ „W-weg... Machen Sie sich keine Sorgen, m-mir geht es gut.“ „Also ich bin kein Arzt, aber Sie sehen definitiv so aus, als bräuchten Sie einen“, bemerkte Coleman sarkastisch doch schien wieder überhört worden zu sein. Ob er für das Mädchen überhaupt existierte? Doch seiner Aussage musste ich zustimmen. „Bei allem Respekt meine Dame. Wie Sie ihre Freizeit verbringen geht mich ja eigentlich nichts an, aber Sie gehören definitiv ins Krankenhaus.“ Sie schnaubte verächtlich: „Als könnten die mir helfen... ich muss weg von dieser verfluchten Stadt und... von ihr...“ „Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?“, flüsterte ich Coleman zu, doch der schüttelte den Kopf. „Miss, haben sie was gesagt?“ „Nein, nein, ich denke nur etwas laut“, antwortete ich schnell. Anscheinend war mein spitzohriger Begleiter für den Rest der Zone wirklich nicht existent. Er schien gerade das Gleiche zu denken. „Also wie gesagt, ich lasse Sie in Ihrem Zustand ganz sicher nicht einfach durch die Gegend marschieren. Wenn Sie schon nicht zu einem Arzt wollen, dann sollten Sie aber zumindest Bettruhe haben. Kommen Sie mit.“ „Nein! Bitte lassen Sie mich in Ruhe!“, rief die junge Frau und riss sich wieder von mir los. Erst dachte ich, sie hätte Angst vor etwas, aber sie sah eher aus, als würde sie etwas plagen. „Bitte... mir geht es wirklich....“ Wieder bekam sie einen Hustenanfall und krümmte sich noch mehr als zuvor. Ihr Husten klang extrem rau und trocken und musste ihr enorme Schmerzen zufügen, denn ich bemerkte ein leichtes Schluchzen während der kurzen Pausen. Wie könnte ich ihr denn nur helfen? Also gut, sie wollte nicht mit mir gehen, aber kannte ich nicht irgendein Mittel, das ihr zumindest gegen den Husten helfen könnte? „Hmm... vielleicht etwas Schlohkrautextrat... aber wo kriege ich jetzt Schlohkraut her und wie sollte ich das verarbeiten...“, murmelte ich vor mir hin. „Vielleicht kann die gute Frau da uns weiterhelfen“, bemerkte Coleman. Ich sah in seine Richtung. Das durfte doch nicht wahr sein! Nicht einmal hier konnte ich La Belle entgehen. Ich erkannte sie sofort, auch wenn sie deutlich jünger war. Sie hatte auch jetzt eine Figur, für die so manche Frau töten würde. In meinem Hals machte sich ein Klos breit, groß genug, um jeden Atemzug zu einer Herausforderung zu machen. Doch als sie näher kam merkte ich, dass etwas anders an ihr war. Ihre Aura... Normalerweise spürte jeder Magier sofort, dass diese Frau einen gewissen Grad von Finsternis mit sich herumtrug, aber jetzt... sie wirkte schon fast unschuldig, so verrückt das auch klingen mag. „Florence!“, rief sie besorgt schon von weitem. Sie ignorierte mich und stürzte sich direkt auf die junge Frau am Boden. „Was machst du denn hier?! Das hilft deiner Gesundheit nicht weiter! Bitte komm wieder mit mir zurück!“ Florence hieß sie also. Eigentlich hätte ich schon an ihrem Akzent bemerken müssen, dass sie zu La Belle gehörte. Was wohl ihre Verbindung zueinander war? „Ich will nicht mehr!“, schluchzte Florence. „Ich halte diese ewigen Behandlungen mit den immer gleichen Ergebnissen einfach nicht mehr aus! Sieh es endlich ein, dieser Quacksalber kann mein Leben auch nicht retten! Und das Schlimmste daran ist, dich auch noch mitleiden zu sehen...“ „Was sagst du denn da? Ich leide doch gar nicht...“, meinte Véronique sanft. „Ach wirklich? Erzähl mir doch nicht, dass dir dieses dumme Liebesspiel mit ihm Spaß ma-!“ Panisch drückte La Belle ihrer Freundin die Hände auf den Mund und schaute mich verängstigt an. Es ging wohl um ihre Liebschaft mit Mycraft. War dieses Mädchen etwa der Grund dafür? „M-miss Claire, w-was für eine Freude, Sie zu sehen. Vielen Dank, dass Sie sich um meine kleine Schwester gekümmert haben“, stotterte sie verlegen. Die kleine Schwester... Jetzt fiel mir auch ihre Ähnlichkeit zueinander auf. Und Florence wiederum sah Fleur zum Verwechseln ähnlich. Ich hatte eine gewisse Vorahnung, was in der Zukunft passiert war, aber hielt mich mit Spekulationen zurück. „ Ist sie schwerkrank?“, fragte ich Véronique. „Machte sie auf dich etwa einen kerngesunden Eindruck?“, konterte Coleman sarkastisch, doch ich ignorierte ihn. „Schwerkrank ist eine nette Untertreibung... Florence ist... sie ist dem Tode nahe... und wir wissen nicht, was ihr fehlen könnte. Wir waren schon bei hunderten Ärzten und... naja ich hoffe darauf, dass Mycraft ihr helfen kann...“ „Kann er nicht“, mischte sich Florence ein. „Er experimentiert an mir auch nur herum wie ein Medizinmann bei den Wilden, aber einen wirklichen Fortschritt macht er auch nicht. Aber mit dir Spaß im Bett haben, das kann er...“ „Florence!“, rief die Magierin wütend. Es wunderte mich nicht, dass sie scheinbar nicht gern über ihre Beziehung zu Mycraft sprach. Niemand wollte gern als Mätresse von irgendjemandem in Erinnerung bleiben. „Ich sehe mir ganz sicher nicht an, wie meine geliebte Schwester ausgenutzt wird! Und ich habe keine Lust, die letzten Monate meines Lebens ans Bett gefesselt zu werden! Verstehst du das denn nicht? Ich bin des Wegrennens müde. Lass uns doch lieber meine verbleibende Zeit mit schönen Erinnerungen füllen...“ Véronique fing an zu weinen und vergrub ihr Gesicht in der Brust ihrer Schwester. Ein Stück weit tat sie mir wirklich leid. Sie war es immerhin, die mit dem Tod am Ende zurechtkommen musste. Dennoch musste ich vorsichtig sein. Bestimmt würde sich hier erklären, wie La Belle zu dem geworden war, was sie war. Und dieses arme, kranke Mädchen war – ohne es zu wissen - ein Grund dafür. Florence strich ihrer Schwester sanft durch das Haar und tröstete sie. Obwohl sie die Jüngere von beiden war und nach wie vor ihre Krankheit sie sehr schwächte, strahlte sie eine unheimliche Stärke aus. Ich beobachtete die beiden eine Zeit lang verträumt, bis ich merkte, wie Coleman an meiner Bluse zog. „Was ist denn schon wieder?“, flüsterte ich. „Hast du es nicht bemerkt? Die Zeit ist wieder angehalten...“ Verwirrt sah ich mich um. Tatsächlich! Die Vögel am Himmel, das Gras im Wind und auch die beiden Schwestern, innig umarmend, verharrten in ihrer Position, ohne sich auch nur einen Zoll zu bewegen. Schockiert sah ich zu Coleman, doch glücklicherweise löste er sich nicht auf... Dafür aber Véronique und Florence, so schnell, dass ich nicht einmal die Chance hatte, sie aufzuhalten. „Was passiert denn nur?“ „Ich war noch nie in solch einer Zone, aber so sollte es definitiv nicht sein. Ich fürchte, du hast die Erinnerung kaputt gemacht, in dem Moment in dem du mein Verschwinden verhindert hast. Wenn wir Pech haben, sind wir deswegen hier drin gefangen...“ Colemans Worte machten mich nervös. Was war, wenn er Recht haben sollte? Aber wir müssten doch irgendwas tun können! „Am besten, wir schauen uns in Taleswood selbst um, dort finden wir bestimmt Antworten“, schlug ich vor. Ich bezweifelte, dass es so einfach wäre, diesem Phänomen auf die Schliche zu kommen, doch irgendwo musste man ja anfangen. „Warte, was heißt hier 'wir'? Wenn du nicht gewesen wärst dann...!“ Kurzerhand packte ich Coleman an einem Ohr und zog ihn mit mir. Er sollte besser schnell merken, dass ich nicht mit mir diskutieren ließ. „Autsch! Verdammt, ist ja gut, ich komme mit! Aber lass bitte meine Ohren los, die sind empfindlich!“ In Taleswood bot sich uns ein gespenstisches Bild. Wir gingen allein die lange Hauptstraße entlang, schauten links und rechts in die Häuser, doch alles war wie ausgestorben. Bars, Geschäfte, einfach alles sah aus, als sei es noch eine Sekunde zuvor belebt gewesen und auf einen Schlag verlassen worden. Und durch die gestoppte Zeit wirkte der Ort wie ein Gemälde, aus dem man jegliche Charaktere entfernt hätte. An einem Obststand wurde offensichtlich eine Sekunde zuvor ein Korb mit Äpfeln umgeschmissen. Die Früchte standen in der Luft und konnten selbst durch unser Eingreifen nicht bewegt werden. In einer Bar wiederum stand ein Schwall Bier auf dem Weg ins Glas in der Luft, so als wäre es blitzschnell eingefroren worden und Scherben eines umgestürzten Bierkruges schwebten wie Planeten um ihren Ursprung. „Das ist unglaublich...“, bemerkte ich. „Und unheimlich“, ergänzte Coleman. „Was hast du schon wieder gemacht, um das hier auszulösen?“ „Ich habe gar nichts gemacht... Zumindest glaube ich das... Ich hatte es anfangs nicht einmal bemerkt. Außerdem war doch erst alles in Ordnung! Woher kommt nur diese Anomalie?!“ „Ich kann euch das erklären“, ertönte eine raue Stimme hinter uns. Wir drehten uns um. In der Tür des Pubs stand ein großer, kräftiger Mann mit provisorisch zurückgekämmten Haar und rauchte eine Zigarette, dessen sanftes Aroma sich im Raum verteilte. Seine Kleidung war zerknittert und wirkte, als hätte er sie sich nur schnell übergeworfen. „Jack?“ Sein Name blieb mir vor Überraschung fast im Hals stecken. Er drehte sich weg und hielt sich die Brust. „Ich... ich weiß, dass du es bist, Alice. Aber...“ Ich sah an mir herunter und spürte, wie ich rot wurde. Ich hatte schon fast vergessen, in wessen Körper ich steckte. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“ „Glaubst du, ich hätte es nicht gemerkt, dass du das Haus verlassen hast? Ich habe gesehen, wie du von der Uhr verschluckt wurdest. Ich wusste, dass Claire hier eine Erinnerung verborgen hatte, aber etwas schien schief gelaufen zu sein, weswegen ich dir gefolgt bin.“ „Du... du bist gekommen, um mich zu retten?“ Mein Herz schlug immer schneller, während ich ihm langsam näher kam. „Bitte, bleib zurück... Es tut weh, dich so zu sehen.“ Ich wollte seiner Bitte nachkommen, doch trat trotzdem näher und drückte mich an ihn. Er wirkte so glücklich und traurig zugleich, als er mich sah. Ganz gleich ob La Belle Recht hatte, oder nicht: Ich sah es Jack an, wie sehr er Mutter geliebt hatte. Und ich konnte auch nicht verleugnen, dass ich froh war, ihn hier bei mir zu haben. Langsam drückte auch er mich an sich. "Ich bin einfach nur froh zu sehen, dass es dir gut geht...", flüsterte er. Coleman kam nun auch dazu und hatte einen äußerst skeptischen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Auch Jack schien dem Kater nicht freundlich gesinnt zu sein. Er machte ihn wahrscheinlich für all das verantwortlich. „Erklären Sie es mir, Mr. Salem. Soweit ich weiß, können projizierte Erinnerungen nur über Schlüsselgegenstände betreten werden. Wie sind Sie hier hergekommen, wenn wir das Medaillon besitzen.“ „Korrigiere: ALICE besitzt das Medaillon. Sie dürften genauso wenig hier sein, Katze!“ „Ich bin hier, weil Ihr Mädchen es so wollte. Sie hat mich mit ihrer Magie hierher gebracht.“ „Ist das wahr?“, fragte Jack mich. Ich nickte langsam. Er seufzte und drückte mich sanft von sich. „Das ist unglaublich. Du bist wirklich genauso begabt wie deine Mutter... wenn nicht sogar noch begabter. Also dann bin ich dir wohl eine Erklärung schuldig...“ Er holte aus seiner Hosentasche sein arkanes Medium: Ein dunkelblauer Dolch aus Indien mit goldenen Verzierungen. Ich kannte ihn bereits von unserer Reise durch den Portalspiegel. Doch was hatte diese Klinge damit zu tun? Ich sah, wie ein paar dicke Tränen seine Wange hinunterliefen und er den Griff enger umfasste. „Mit dieser Waffe konnte ich die Erinnerung betreten... denn damit habe ich damals Claire getötet.“ Kapitel 11: Schicksalsscherben ------------------------------ „Mit dieser Klinge... habe ich Claire getötet.“ Die Worte hallten als endloses Echo in meinem Kopf nach. Warum sagte er so etwas? Warum jetzt? Warum hier? Wozu hatte er mich vorher belogen, wenn er es mir jetzt so direkt sagte. War ich jetzt etwa auch dran? Ich fühlte mich, als hätte ich Blei im Magen, während ich langsam zurücktrat. Wem konnte ich denn noch trauen? „Das ist nicht wahr...“, flüsterte ich. „Das ist nicht wahr!“ „Doch, es ist wahr!“, schrie Jack. „Claire war durchgedreht, sie war eine Gefahr für uns alle! Ich hatte keine verdammte Wahl!“ „Nonsens!“, keifte Coleman. „Claire war eine exzellente Magierin! Manche behaupteten, sie wäre sogar mächtiger als Mycraft gewesen! So jemand verliert nicht einfach die Kontrolle über seine Kräfte!“ „Ich schwöre euch, das ist die Wahrheit! Bitte glaube mir, Alice!“ Glauben? Warum sollte ich ihm glauben? Was glaubte dieser Kerl eigentlich, was ich für ihn war? Eine Buße für seine Sünden? Oder doch nur ein Ersatz für Claire? La Belle hatte von Anfang an Recht gehabt! Niemand in dieser Stadt ist frei von Sünde! Ich hockte mich hin und hielt mir die Ohren zu. Bitte... macht, dass dieser Horror endlich aufhört... „Er lügt! Wenn Claire wirklich durchgedreht wäre, dann hätte er sie niemals aufhalten können! Was hat dich wirklich dazu gebracht, sie zu töten, Jacob?! War es Eifersucht?! War es Hass?!“ Bitte seid still... „Ich habe Claire geliebt, verdammt! Ich wollte das nicht, aber es gab keinen Ausweg!“ „HALTET ENDLICH DIE KLAPPE!“ Mein Schreien zerriss ihren Streit und sorgte endlich für Ruhe. Wankend verließ ich den Pub, ohne die beiden noch einmal anzusehen. Ich brauchte Zeit für mich allein... und frische Luft. Mir war schwindelig und speiübel. „Bitte warte, Alice!“ Jack versuchte mich an meiner Schulter festzuhalten, doch ich riss mich los. „Lass mich in Ruhe!“ „Ich bitte dich, höre mir zu! Ich verspreche dir, zu allem eine ehrliche Antwort zu geben. Ich werde dich auch nicht mehr belügen.“ „Wirklich? Dann beantworte mir eins: Was bin ich für dich?“ Jack stand wortlos da und versuchte eine Antwort zu finden. Ich wartete eine Minute. Zwei. Drei. Ich wollte ihm glauben, ich wollte ihm all die Geheimnistuerei verzeihen und mir all seine Sünden anhören. Das war ich ihm schuldig. Doch ich wollte es wissen. Wie stand er zu mir? „Bitte sag doch irgendwas... Bitte sei nicht nur stumm...“, flehte ich schon fast. Es kam nichts. Er schaute einfach nur gen Boden und schwieg. Langsam füllten sich meine Augen mit Tränen. „Alice... ich... das...“ „Geh weg...“ „Nein, warte...“ „Lass mich allein! ...bitte...“ Er zögerte einen Moment, doch verschwand dann wieder in den Pub. Was ist in dieser Welt nur schiefgelaufen und warum musste ich ein Teil von ihr sein? Wieder lag alles, was mir jemals wichtig war, in Scherben. Meine Schritte hallten genauso von der Straße wider, wie damals. Damals, in jenem Albtraum - groß unterschied sich diese Zone davon nicht mehr... Ich wünschte mir einfach nur, von hier zu fliehen. Ziellos streifte ich durch die noch immer menschenleere Szenerie, betrat das Rathaus, die Kirche, Lady Foxtrotts Schneiderei, doch alle boten das gleiche Bild. Die Kleider hingen wie in Stein gemeißelt an den Ständern und von den sonst so eifrigen Mitarbeitern fehlte jede Spur, als ich in den Laden der Füchsin trat. Ich erinnerte mich daran, wie auch sie mir damals etwas sagen wollte, bezüglich Mutter... Hatte mich vielleicht jeder in Taleswood zum Narren gehalten?! Wie kam ich überhaupt auf die Idee, dies als mein Zuhause bezeichnen zu wollen?! Ich wollte diesen vermaledeiten Ort nicht mehr sehen... nie mehr... Und so schlich ich leise schluchzend weiter, immer weiter in Richtung Stadtgrenzen, als ich in der Ferne die Brücke über dem Madcap River entdeckte. Und am Geländer – es war kaum richtig auszumachen, so als hätte man es mit einer Fata Morgana zu tun – stand eine Person. Je näher ich kam, desto klarer wurde, dass es weder Jack noch Coleman sein konnten, denn zu keinem passte die feminine Statur und als ich noch näher trat, erkannte ich La Belles langes schwarzes Haar. Ein wenig mulmig war mir schon, doch je weiter ich schritt, desto mehr wurde mir klar, dass es sich nicht um die „echte“ Véronique handelte - wobei echt ein relativer Begriff war. Die Erinnerung an ihr früheres Ich, starrte in einer Mischung aus Trauer und Verzweiflung auf die sich gleichmäßig bewegende Wasseroberfläche und ihre ewig gleich falsch schwimmenden Bewohner, so als würde sie darin die Lösung für all ihre Probleme suchen. „Sie ist nicht böse... sie kann dir hier nichts tun... Aber du willst doch die Wahrheit erfahren, oder etwa nicht?“, machte ich mir in Gedanken Mut, während ich weiter zu ihr schritt. „Oh... Miss Claire...“, begrüßte sie mich fast schon teilnamslos. In ihren blauen Augen spiegelte sich wieder, dass sie gerade ganz weit weg war. Ich blieb vor ihr stehen und schwieg. Sie würdigte mich nur eines kurzen Blickes, der von meinem Gesicht runter zu meinen Bauch ging und dort für einen kurzen Moment hängen blieb, bevor sie sich wieder dem Madcap River zuwandte. „So langsam sieht man es...“ Ich schaute an mir hinunter, erkannte aber nichts. Doch mir war nach einer kurzen Bedenkzeit klar, was sie meinte. Wenn diese Erinnerung 1881 darstellte, dann war Mutter bereits mit mir schwanger. Wahrscheinlich wurde so etwas nicht abgebildet. „Sie müssen nicht mit mir sprechen, Miss... Ich weiß, was alle über mich erzählen... Aber das ist der Preis...“ „ ...der sie auffressen wird.“ Der Übergang von Véronique zu ihrer Schwester war so fließend, dass ich ihn nicht bemerkte. Auf einmal stand Florence vor mir und beendete den angefangenen Satz so, als wäre er aus ein und demselben Mund gekommen. Ihre Gestalt hatte sich plötzlich gewandelt - und von der älteren zur jüngeren Schwester gewechselt. Ich versuchte meine Verwirrung um diese Eigenart runterzuschlucken und mich auf den Kontext zu konzentrieren. Wie auch immer diese Zone funktionierte, man würde mir keine Zeit lassen, mich an jene Gesetze zu gewöhnen. Aber es musste einen Grund geben, dass diese beiden zu genau diesem Zeitpunkt existierten. „W-was meinen Sie mit auffressen?“ „Sie klammert sich schon lange an diesen letzten Strohhalm Hoffnung, dass ich noch zu retten wäre.“ „Sie sind sich da nicht so sicher, oder?“ Florence seufzte, lehnte sich ans Geländer und schaute gen Himmel. „Ich werde sterben, Miss Claire... diese Gewissheit habe ich schon lange. Ihr Lehrmeister kann mich auch nicht davor bewahren, sondern nur Aufschub gewähren. Dafür mache ich ihm keine Vorwürfe... Ich würde mir nur wünschen, dass Véronique das endlich einsieht und anfängt, ihr eigenes Leben zu leben.“ „Sie will es einfach nicht verstehen!“, schrie La Belle. Wieder war der Wechsel so übergangslos und unscheinbar gewesen, dass ich ihn kaum bemerkt hatte. Waren das etwa Ausschnitte aus Gesprächen, die Mutter mit den Schwestern geführt hatte? „Was ist denn schlimmer? Ein paar Jahre lang von der Gesellschaft bespuckt werden, oder ein ganzes Leben lang ohne sie zu sein?! Ich kann das aushalten! Ich liebe sie doch!“ „Véronique ist so unfassbar dumm... warum erkennt sie denn nicht, wie weh es mir tut, sie so leiden zu sehen?! Sie hat vorher nie geweint... Dieser Mycraft macht sie kaputt...“ Langsam fing in meinem Kopf an, sich alles zu drehen. Der ewige Wechsel zwischen den beiden Frauen, die sich indirekt beschuldigten, einander nicht zu verstehen, setzte einem klar denkenden Menschen mit der Zeit zu. Ich konnte nicht wissen, wie sich Mutter dabei gefühlt hatte, aber wahrscheinlich war es ihr selbst unangenehm zwischen ihnen zu stehen. War es das, was sie mir damit sagen wollte? „Warum reden Sie nicht mit ihr?“, fragte ich Florence kleinlaut. „Das habe ich doch schon hundertmal gemacht. Ich... ich weiß, sie hat panische Angst davor, allein zu sein... Aber ich kann es nicht ändern. Wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe?“ Ich schwieg und wartete ihre Antwort ab. Sie holte immer wieder Luft und setzte an, doch es fiel ihr schwer die Worte richtig zu formulieren. „Véronique hat sich verändert...“ „Inwiefern?“ „Sie... Sie wirkt manchmal so boshaft und schreit mich ohne Grund an, manchmal höre ich eine unheimliche Mischung aus Kichern und Wimmern und manchmal ist sie wie in einer anderen Welt... So war sie vorher nie. Und ich habe das Gefühl, dass sie sich immer weiter von mir distanziert. Ich habe Angst, dass sie bei meinem letzten Atemzug nicht mehr um mich trauern würde.“ Mein Herz wurde schwer, bei diesen Worten. Ich musste daran denken, dass ihre Befürchtungen tatsächlich eingetreten waren. Ob sie die Verwandlung ihrer Schwester noch mitbekommen hatte? Wer war Mycraft und was hatte er mit den Menschen dieser Stadt gemacht? Jack, Coleman, die Polizei, die Foxtrotts... waren sie auch betroffen? „Sie denken so viel über den Tod nach. Wie fühlt er sich an?“, fragte ich sie. „Früher wollte ich vor ihm weglaufen, tat alles dafür, ihm von der Schippe zu springen. Doch mittlerweile ist mir klar, dass es eine Grenze gibt, wie weit man seine Würde verlieren darf, nur um zu überleben.“ „Sie... Sie erwarten ihn?“ Es fiel mir schwer, das auszusprechen. War ihr bewusst, was sie da sagte? „Gewissermaßen. Keine Angst, ich wähle nicht den Freitod. Es ist nur... vielleicht wäre es für alle besser, wenn mein Leben schon vor einiger Zeit geendet wäre...“ Das konnte ich zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Dieses Gefühl hatte ich auch, bevor ich in jene Welt eintrat. Vielleicht wäre es besser, ich wäre nie nach Taleswood gekommen... Doch diese Frau war anders als ich. Sie bereute nicht ihr Leben. Sie ging nur mutig auf dessen Ende zu. Plötzlich krümmte sich Florence und fing wieder an zu husten, lauter und stärker als jemals zuvor. Sie griff nach dem schmiedeeisernen Geländer, doch hatte keine Kraft mehr und fiel nach vorn. Ich hielt sie noch fest, doch sie endete trotzdem auf allen Vieren, das Gesicht nach unten gerichtet. Das wäre es gewesen: Florence stirbt vor meinen Füßen. Doch nach einer mir ewig erscheinenden Minute, schien sie sich tatsächlich wieder zu erholen. Langsam half ich ihr hoch. Sie war schweißgebadet und noch blasser als zuvor. Ein paar Blutflecken klebten an ihrem Ärmel und an der Schürze ihres Kleides. „Ich hatte schon Sorge, Sie würden nicht mehr zurückkommen“, witzelte ich zynisch. Sie lachte einmal kurz. „N-noch ist es nicht soweit. Sagt mir, Miss Claire... Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass mich Mycraft retten könnte?“ Ich kannte ihn nicht. Was sollte ich denn sagen? Aber ich wusste, dass er es nicht mehr geschafft hatte. Florence war tot. Nur deshalb gab es Fleur in meiner Welt. „Ich... ich glaube Sie haben nicht mehr viel Zeit...“, antwortete ich traurig. Sie war doch nur eine Erinnerung! Warum tat es dann so weh, ihr das zu sagen? „Verstehe... Das heißt, ich habe auch keine Zeit mehr, das hier zu bereuen.“ Mit diesem Satz wandte sie sich schnell zu mir und küsste mich sanft auf den Mund. Mein Herz machte einen Aussetzer: Ihre dünnen Lippen waren so unheimlich warm und gaben bei der Berührung ein vertrautes, leichtes Zucken von sich, das ein Kribbeln in meinem Bauch hervorrief. Es war eine Mischung aus schüchterner Zurückhaltung und lustvollem Verlangen. Fleur... Fleur küsste genauso... Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So fühlte es sich also an, überrumpelt zu werden.... Florence sah mich mit hochroten Wangen an und versuchte krampfhaft erklärende Worte zu finden: „Verzeiht... ich... das... wenn Sie mich nun schlagen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.“ „Wa- Was war das denn?“ Ich konnte meine Frage kaum hören, weil mein eigener Herzschlag sie übertönte. „Wissen Sie, mein Leben war kurz, aber das heißt nicht, dass ich es nicht erfüllt gelebt habe. Ich habe das Klavierspielen sowie einige Fremdsprachen erlernt. Ich war außerhalb von Frankreich und habe viele interessante Personen getroffen. Alles was mir noch fehlte, war mein erster Kuss...“ „U-und den wollten Sie von mir?“ „Sie haben mir als einzige ruhig zugehört. Aus kindlichem Humor getrieben, dachte ich gerade spaßeshalber darüber nach, wie es wohl wäre, wenn Sie das wären. Und auf einmal zog es genau hier... “ Sie legte eine Hand auf ihre linke Brust. „Verrückt, nicht wahr?“ Ich schüttelte den Kopf und lächelte sie an. „Eigentlich ergibt erst dadurch vieles Sinn“, murmelte ich. „Verzeihung, haben Sie was gesagt?“ „Nicht so wichtig. Ich bin dir nicht böse, Florence. Wie... Wie hat es sich denn angefühlt?“ Sie kicherte verlegen und spielte mit ein paar Strähnen ihres Pferdeschwanzes. „Ich bin mir nicht sicher... aber es war nicht unangenehm, auch wenn alle sagen, dass solch eine Liebe falsch sei... Ich bin froh, dass du so nicht reagiert hast.“ Es war verrückt so etwas zu denken, aber etwas in mir sagte, dass sich Fleur vielleicht in mich verliebt hatte, weil ein Teil von ihr sich an diese Erfahrung mit Mutter erinnerte. Aber war das denn möglich? Besaß sie vielleicht wirklich einen Teil von Florence' Seele? „Verdammt, ich glaube ich verliebe mich gerade! Das geht doch nicht, du bist doch verheiratet!“, fluchte sie auf einmal und raufte sich die Haare. Ich kam nicht umhin, von ihrem Verhalten amüsiert zu sein. Sie war wirklich niedlich. Wenn sie doch nur niemals aufgehört hätte, zu existieren... Ich beugte mich zu ihr, küsste sie schnell auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: „Keine Sorge. Wir sehen uns irgendwann in anderer Form wieder.“ „Dann freue ich mich schon darauf...“ Mit diesen Worten löste sie sich langsam auf und verschwand im Nichts. Währenddessen fing sie an schwach vor sich hin zu summen. Eine vertraute Melodie... Ein altes Volkslied... Ich fiel auf meine Knie und hielt meine Brust. In meinen Ohren hallte noch etwas das Summen nach, dann hörte ich eine Stimme... leise... weit, weit entfernt... „Florence ist tot. Sie ist heute morgen nach einem Anfall nicht mehr aufgewacht... Ich... ich konnte nichts dagegen tun! Aber wisst ihr, Miss Claire... Noch ist nicht alles verloren... auch wenn ich nicht so fähig bin wie Sie, ich werde meine kleine Schwester wiedersehen! Koste es, was es wolle!“ Das war La Belle. Sie hatte also die Verwandlung ihrer großen Schwester nicht mehr miterleben müssen. Aber wie weit war Véronique nur gegangen, um sie zurückzuholen? Obwohl ich Florence nicht wirklich kannte, machte sich eine unfassbare Traurigkeit in mir breit... Mutter... hattest du vielleicht etwas für sie empfunden? Ich stand auf und wandte mich in Richtung Stadt. Noch immer war sie wie ausgestorben. Auch die Zeit hielt nach wie vor an, doch das war mittlerweile Nebensache. Wo sollte ich als nächstes lang? Ich ließ mich von meiner Intuition treiben und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Diese Erinnerung war ein Trümmerfeld, allerdings konnte ich nicht sagen, ob das meine Schuld war, oder sie von Anfang an so gewesen ist. Nichtsdestotrotz gab es Ausschnitte, die zumindest teilweise intakt waren. Wenn ich diese fände, vielleicht würde sich so ein Teil des Puzzles vervollständigen, das Taleswood darstellte. Die Einsamkeit störte mich mittlerweile kaum mehr. Denn während ich durch die verlassenen Straßen schritt, konnte ich mich von einem Gedanken nicht trennen: War Véronique vielleicht noch zu retten? Konnte ich irgendetwas dafür tun, dass sie wieder zur Besinnung brachte? Doch dafür musste man zunächst wissen, wie Mycraft sie so verdorben hatte. „Verflucht, was denkst du denn da?! Überleg doch nur, was sie dir angetan hat!“, versuchte ich mir lauthals einzureden, doch mir war nur allzu bewusst, dass die Welt nicht einfach nur schwarz oder weiß war. Dennoch konnte ich ihre bisherigen Taten nicht außer Acht lassen. Eine Zwickmühle. Ich seufzte und schaute zum ersten Mal, seit ich losgelaufen war, nicht mehr auf den Boden. Ich hatte mich von meinen Füßen treiben lassen und sie hatten mich tatsächlich zurück zur Kirche geschickt. War hier also die nächste Erinnerung? Diese Antwort sollte sich durch ein lautes „Hey Claire!“ hinter mir ergeben. Ein Mädchen in einem rotbraunem Kleid und einer dicken Brille auf der Nase schaute mich grinsend an. Ihr blondes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, die über ihre Schultern hingen. Sie konnte elf maximal zwölf Jahre alt sein. Aber diese Erscheinung... Keine Frage, das war Doktor Engels – naja wahrscheinlich war sie zu diesem Zeitpunkt eher noch unter ihrem Spitznamen bekannt. „Hallo...Gretchen?“, begrüßte ich sie vorsichtig. Ich hoffte, damit nicht in ein Fettnäpfchen zu treten, auch wenn mir Coleman sagte, dass meine Worte diese Welt sowieso nicht beeinflussen könnten. Doch scheinbar lag ich richtig, denn das Mädchen blies beleidigt ihre Backen auf und meinte: „Hört endlich auf mit diesem dummen Spitznamen! Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“ Dann schüttelte sie den Kopf und holte aus einer kleinen Umhängetasche eine Phiole mitsamt einer milchigen blassroten Flüssigkeit raus. „Was soll das sein?“, fragte ich, denn mir war kein Zaubertrank dieser Konsistenz bekannt - vorausgesetzt, dass es einer war. „Natürlich ein echter Liebestrank“, verkündete sie grinsend und schüttelte die Phiole locker zwischen ihren Fingern. Der Inhalt gab ein leicht rosafarbenes Leuchten von sich. Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Du weißt schon, dass es so etwas wie einen Liebestrank nicht gibt, oder?“ Selbst ich wusste, dass es maximal einige aphrodisierende Mixturen gab, allerdings keinen Trank, der wahre Zuneigung erzeugen konnte. Es war schlichtweg unmöglich, so eine tief sitzende Emotion künstlich zu erschaffen. Greta sah das hingegen etwas anders. „Aber natürlich gibt es so etwas! Du siehst es doch direkt vor dir!“ „Also gut ich spiele mal mit“, sagte ich mit einem sarkastischen Lacher. „Und für wen ist dieser 100%ig funktionierende Liebestrank?“ „Natürlich für Jack, das weiß du doch!“ Sie umklammerte die Phiole fest und bekam ein leichtes Glänzen in den Augen. „Mit diesem Trank werde ich endlich seine unterdrückten Gefühle befreien und er kann mich endlich als Frau sehen und nicht als kleine Spielkameradin.“ Nur mit Mühe konnte ich mir das Lachen verkneifen. Greta machte nicht nur eine wirklich putzige Figur dabei, wie sie über Jack schwärmte, es war auch wirklich amüsant zu sehen, dass ihre einseitige Beziehung nun schon seit über 15 Jahren ging, wobei... eigentlich war das ziemlich traurig... Doch man sollte einem kleinen Mädchen nicht die Hoffnung nehmen. „Also gut, das ist also ein echter Liebestrank?“ „Absolut. Verwechselung ausgeschlossen.“ „Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich habe noch nicht ein einziges Alchemiebuch gelesen, das die Herstellung eines Liebestranks erklärt. Genau genommen, kenne ich nur welche, die davon abraten.“ Das kleine Mädchen stemmte die Arme in die Hüfte, beugte sich nach vorne und schaute mich siegessicher an. „Tja, meine liebe Claire, du magst ja gut in Magie und so sein, aber halt immer noch nicht so gut wie der Meister selbst.“ Mycraft hatte ihn gebraut? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Gretas geistiger Schaden! Lag es wirklich an diesem Gebräu?! Und wenn ja, warum? Warum tat man einem kleinen Mädchen so etwas an?! „Greta, warte!“ Doch sie war bereits verschwunden. Schnell schaute ich mich um, suchte nach ihr. Sie musste doch wieder auftauchen, oder etwa nicht? So funktionierte diese Welt doch! Doch es war jemand anderes, der mich zu sich rief. Ein junger Mann mit kurzem dunkelbraunen Haar, nicht viel älter als ich selbst in der Wirklichkeit. Ich erkannte die Gesichtszüge und die Statur sofort, auch wenn sie sich in den Jahren stark verändert hatten. Jacks Anblick – auch wenn es nur sein ehemaliges Ich war – verpasste mir ein ungutes Gefühl in der Magengrube. „Hast du Gretchen irgendwo gesehen?“, fragte er besorgt. Ich schüttelte schweigend den Kopf und versuchte mir klarzumachen, dass es nur eine Erinnerung war, so wie Véronique. Selbst wenn sie mir böse gesinnt waren, konnten sie mir nichts tun. Sie waren nicht real. Doch es fiel schwer das zu akzeptieren, wenn man in ihre lebhaften Gesichter sah. „Sie... ich glaube, sie hat uns zusammen gesehen. Sie meinte nur, ich hätte schon vom Liebestrank genommen und bräuchte nicht noch ihren... Verstehst du, was sie meinte?“ Wieder schüttelte ich den Kopf, doch zeitgleich keimte in mir eine böse Vorahnung auf. Warum klang es so verdächtig danach, als hätten Mutter und Jack eine Affäre gehabt? Jack griff nach meiner Hand, die ich sofort wieder zurückzog. Für einen kurzen Moment schaute er mich verwirrt an. Es musste ihm vorkommen, als würde ich ihn ablehnen. Vielleicht war dem auch so... oder ich wollte gerade einfach nicht in seiner Nähe sein - ganz gleich, aus welchem Zeitalter er stammte. Er atmete ein paar mal tief durch und antwortete mir mit einer ernsten Stimme, die seiner echten so ähnlich war, dass es mich ängstigte: „Wenn du mich fallen lassen willst, dann tu es. Das ist dein gutes Recht. Ich habe nie etwas für dich getan, was mir die Erlaubnis gegeben hätte, dich zu besitzen. Aber es wird unsere Verbindung zueinander nicht aufheben und das weißt du.“ Was für eine Art von Folter war das? Der echte Jack war nicht hier, er konnte es nicht sein. Warum also fühlte sich dieser Satz so an, als wäre er nicht nur für Claire, sondern auch für mich bestimmt gewesen? Oder war es nur das, was ich daraus hören wollte? „Jedenfalls bitte ich dich darum, mir zu helfen Gretchen zu suchen, bevor sie sich noch was antut. Es ist unser beider Verantwortung.“ Mit diesen Worten zerrte er mich am Arm durch die gesamte unbelebte Stadt, bis er mir nichts, dir nichts verschwand und ich wieder einmal alleine dastand, in einer kleinen dunklen Gasse. Doch ich war mittlerweile an derlei Tricks gewohnt. Ruhig suchte ich die Umgebung ab, nach irgendjemanden, der vielleicht mein nächstes Bruchstück sein könnte. Und da sah ich sie sitzen, an der Wand gelehnt mit der leeren Phiole neben sich... Ihr Schluchzen war kaum zu überhören. Ich fühlte mich schlecht, auch wenn ich es nicht war, die all ihre Träume zerstört hatte. Nein, in Wahrheit konnte niemand etwas dafür... Es hat wohl einfach nicht sein sollen. Langsam näherte ich mich ihr und legte meine Hand auf ihren Kopf. „Claire...“ Sie schaute mich mit ihren großen, verheulten Augen an. Ihre Brille saß schief und war mit ihren Tränen benetzt. „Ich... ich habe sie ausgetrunken... Ich dachte, so finde ich vielleicht jemanden, den ich genauso lieben kann, wie Jack dich liebt. Aber... Aber...“ Sie umfasste die Phiole und warf sie wütend gegen die Wand. Hätte Greta etwas stärker geworfen, dann wäre sie wohl zerbrochen. „Nicht einmal das kann ich... Und dieser Liebestrank? Du hattest Recht, er war Mist! Der Meister hat mich belogen!“ „Aber was war es denn dann?“ „Weiß ich nicht... ist mir auch egal. Wenn ich so gut wäre wie du, oder wie Sam und Jack, dann hätte er das wahrscheinlich nicht gemacht. Er dachte wohl, ich sei zu dumm, um das zu wissen. Stimmte ja auch...“ „Wir alle fangen mal bei null an. Wenn ich eines gelernt habe, dann dass Magie Zeit braucht um sich zu entwickeln. Es ist nicht deine Schuld.“ Es schockierte mich, dass Mycraft in Kauf nahm, dass einer seiner Schüler das Zeug zu sich nahm, unwissend, was die Konsequenzen sein könnten. Doch wahrscheinlich gehörte das zu seinem Plan. „Ja... nicht meine Schuld... Sondern ihre... ist doch so, oder Karl? Richtig, es ist Claires Schuld!“ „G-Gretchen? Ist alles in Ordnung?“ Mit einem unheimlichen Glühen in den Augen starrte sie mich wütend an. Ihre Lippen formten sich zu einem verdrehten Grinsen und sie begann an ihren Zöpfen zu zerren. Ich bekam es mit der Angst zu tun und wich zurück. „Er hat Recht! Du bist eine Hure, Claire! Du hast deinen Ehemann betrogen! Du bist Schuld an all dem, nur du und niemand sonst!“ Ehe ich mich versah, verschwand nicht nur Greta vor meinen Augen, auch der Rest der Welt versank in ewiger Dunkelheit. Es stimmte also... Jack war Mutters Liebhaber. Und so sehr ich mir auch wünschte, sie dafür zu verurteilen... Ich durfte nicht vergessen, dass ich kein Stück besser war. „Sieh nur Mutter... Wir gleichen uns sogar in diesem Punkt...“, lachte ich verächtlich. Aber auch wenn Greta sicherlich allen Grund hatte, sie zu hassen... So wie sie reagiert hatte, wurde sie definitiv manipuliert. Karl war kein angeborener Fehler, er wurde ihr eingepflanzt. Aber mit welchem Ziel? Doch ich hatte keine Zeit mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Wo war ich nur? In welche Richtung ich auch sah, erwartete mich gähnende Leere. Von Coleman oder Jack fehlte jede Spur. Alles was ich hörte, war mein eigener Atem... und die vertraute Melodie einer Spieluhr irgendwo weit in der Ferne. Es war ein altes Volkslied... Erst summte ich es nur mit. Es gab mir den Mut, durch diese Finsternis zu wandern, wobei ich versuchte auszumachen, aus welcher Richtung die Musik kam. Doch nach einiger Zeit reichte mir das nicht mehr ich fing an vorsichtig mitzusingen: „Alas my love, you do me wrong...“ Kapitel 12: Mutter ------------------ Immer wieder musste ich meinen Gesang, zwecks meiner mangelnden Textsicherheit, unterbrechen und fing wieder von vorne an. Eigentlich hätte man erwarten können, dass ich ihn mittlerweile recht gut beherrschte, immerhin bat ich Fleur nur allzu oft darum, mir Greensleeves vorzuspielen. Diese Zwangspausen halfen mir jedoch auch, mich neu zu orientieren und dem Klang der Spieluhr so näher zu kommen. Allerdings war ich mir nicht wirklich sicher, ob ich überhaupt wirklich dem Klang folgte, denn wann immer ich das Gefühl hatte, der richtigen Spur zu folgen, schien die Quelle wieder aus einer komplett anderen Richtung zu kommen. Wie lange lief ich schon? Mein Zeitgefühl war an diesem Ort quasi nicht existent. Es konnten ein paar Minuten vergangen sein, vielleicht aber auch mehrere Stunden. Was wäre, wenn ich hier für immer festhinge, wie eine Falle, in die ich blindlings getappt war? Ich biss mir auf die Zähne und versuchte den Gedanken zu unterdrücken, um nicht komplett zu verzweifeln. Stattdessen versuchte ich mich auf Mycrafts Plan zu konzentrieren. Es half mir, mich von meiner Angst abzulenken. Taleswood hatte nebst ihm noch sechs weitere Magier. Über das Schicksal von dreien hatte ich Gewissheit. Véronique war nach dem Tod ihrer Schwester wahnsinnig geworden. Wahrscheinlich hatte sie ihre Freiheit an Mycraft verkauft, um von ihm die Erschaffung von Homunkuli zu erlernen. Hatte sie sich erhofft, Florence einfach einen neuen Körper zu geben? Eventuell wurde es ihr auch ausgeredet, den Tod ihrer Schwester zu akzeptieren... Claire wurde nach eigenen Angaben von Jack erstochen, weil sie durchgedreht war. Hatte man auch ihren Verstand gebrochen? Aber wie? Und war es überhaupt vorgesehen, dass sie starb? Dem Doc wiederum wurde durch ihren eigenen Liebestrank eine Stimme in den Kopf gesetzt, die sie verdorben hatte. Aber etwas an ihr unterschied sich gewaltig von Véronique und Mutter: Sie war nicht annähernd so begabt wie die beiden. Der Trank war auch eigentlich nicht für sie vorgesehen – sondern für Jack! Konnte es sein, dass Greta ihn unbewusst gerettet hatte? Ihn niemals hätte seine Gefühle wegnehmen können, weil sie dafür zu sehr in ihn verliebt war? „Jack... war ihm auch etwas dieser Art zugestoßen? Konnte er vielleicht auch verrückt geworden sein? Warum hat er mich dann nach Taleswood gebracht?“, murmelte ich gedankenversunken. „Er tat das, damit er dich bei sich hat. Weil er dich liebt“, säuselte eine Stimme mir zu. Erschrocken wirbelte ich herum, doch noch immer schien mein einziger Begleiter die endlose Finsternis zu sein. Und zu allem Überfluss war die Spieluhr verstummt. Aber das war mir egal. Diese weiche, wohlklingende Stimme... Sie kam mir doch verdächtig bekannt vor... „Bist du das, Mutter?“, fragte ich ins Nichts. Schweigen. War sie etwa wieder fort? Konnte sie es überhaupt gewesen sein? „Bitte antworte mir! Wer bist du? Wo sind wir? Und was weißt du über Jack... und mich?“ Die Stimme zögerte, bevor sie mir antwortete: „Willst du mich sehen?“ Sie sehen? Wie sollte das hier gehen? Es war stockfinster. Was hatte sie vor? „Willst du mich sehen?“, wiederholte sie. Ging es ihr etwa nur um die Frage, ob ich mir eine Begegnung wünschte, losgelöst von jeglicher Machbarkeit? Ob ich den Wunsch hatte, ihr in die Augen zu blicken? Darüber musste ich nicht nachdenken. „Wenn es eine Möglichkeit gibt... ja, ich will dich sehen!“ Kaum hatte ich es ausgesprochen empfing mich das gleißende Licht einer Pforte, die sich genau vor mir öffnete. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit und vor mir bildeten sich die Umrisse eines kleinen, einfachen Raumes, mit nicht mehr ausgestattet, als einem Bett, einem kleinen Fenster und einem Nachttisch mit einer Spieluhr. Es war der gleiche Raum, durch den ich auch einst dem Albtraum entkam. Doch etwas war anders: Statt einem Schatten, saß auf der Kante... der junge Jack, mit einem Baby auf dem Arm. Es schien zu schlafen und er hielt es eng an sich gedrückt mit einem verliebten Lächeln auf den Lippen. Sie reagierten nicht auf mich, oder bewegten sich sonst wie, so als wären sie nur eine Fotografie. Nicht so die Person, die im Bett lag: eine schöne, junge Frau mit langem, rotblondem Haar. Sie trug ein weißes Nachtgewand mit Rüschen an den Ärmeln und hatte einen Verband um ihr rechtes Auge gebunden. Das Linke hingegen – es besaß die gleiche blassgrüne Farbe, wie die meinen - schaute mich unter Tränen an und sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Doch es mussten wohl Tränen der Freude sein, denn ihre Mundwinkel gingen nach oben. „M-Mutter?“, stotterte ich. Sie nickte. „Bitte tritt doch näher, Alice. Ich würde dich gern berühren“, bat sie mich und streckte vorsichtig ihre Hand aus. Mir wurde vor Aufregung schlecht und meine Beine weigerten sich schon fast, mich ihr zu nähern, doch ich zwang mich dennoch dazu. „Sieh nur, zu was für einer jungen Dame du herangewachsen bist“, sagte sie mir mit zittriger Stimme und strich über meine Wange. Ihre Hand war angenehm weich. In ihrem tränenden Auge spiegelte sich mein Antlitz. „Ich bin wieder ich selbst?“ „Dich muss die zerbrochene Zone wohl etwas verwirrt haben. Es war nicht einmal geplant, dass sie erschaffen wurde.“ „Was ist sie dann?“ „Man könnte sie als Abfallprodukt bezeichnen. Was du vor dir siehst ist nicht meine komplette Seele, sondern nur der Teil, den ich vor dem Wahnsinn retten konnte.“ Sie schlug die Decke um. Mein Herz setzte vor Schreck für einen Moment aus. Dort, wo eigentlich ihre Beine sein sollten, waren lediglich zwei fest verbundene Stümpfe übrig, die nur gerade so unter dem mit Spitze besetzten Saum des Nachthemds hervorlugten. „Deswegen bin ich leider ans Bett gefesselt. Aber immerhin, es hätte schlimmer kommen können. Stell dir vor, ich hätte meinen Kopf abgeben müssen“, lachte Mutter leicht beschämt und bedeckte sich wieder. Ich blieb schweigend vor ihr stehen und schaute sie einfach nur an. Ich wusste nicht, was ich zu all dem sagen sollte. Das war also meine Mutter... „Hast du Angst vor mir?“ Ich schüttelte den Kopf. Nein, Angst war es nicht. „Verachtest du mich etwa?“ „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie ich zu dir stehe. Du bist meine Mutter, aber wir haben uns nie wirklich getroffen. Ich... so grausam es auch klingt, aber ich kann nicht wirklich etwas für dich empfinden. Tut mir leid...“ Sie verkrampfte ihre Hände um ihre Bettdecke und zerrte für eine kurze Sekunde zitternd an ihr, als sie das hörte, bevor sie einmal laut seufzte. „Ist schon okay“, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln „Ich habe mir so etwas schon gedacht. Auch wenn ich mir natürlich das Gegenteil erhofft hatte.“ Ein Funken schlechtes Gewissen machte sich in mir breit, auch wenn es dafür keinen Grund gab und sie das wahrscheinlich auch so sah. Ich wollte sie nicht traurig machen, aber ihr auch keine Gefühle vorspielen, die ich nicht hatte. Dennoch: wenn man mit jemandem im Blute verbunden war, spielte es kaum eine Rolle, ob man jene Person kannte, oder nicht. Wir waren Mutter und Tochter, daran bestand kein Zweifel. Bevor ich reagieren konnte, nahm sie mich bei der Hand und zog mich zu sich aufs Bett. „Auch wenn du keine Erinnerung an mich hast, ich habe dich niemals vergessen. Es besteht vielleicht die Möglichkeit, dass wir uns nie wiedersehen werden, also... Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dich einmal umarme?“ Ich schüttelte den Kopf und legte ihn an ihre Brust. Dass ich keinen Herzschlag vernahm, war nicht weiter überraschend, aber dennoch beängstigend. Doch abseits dessen, fühlte sie sich so warm an, als wäre sie noch lebendig. Mein Blick war auf die Spieluhr fixiert, eine mit rotem Leder überzogene Box, auf die zwei große cremefarbene Buchstaben eingenäht wurden: A und M. Alice Maeldun? Mutter schien meine Gedanken erraten zu haben. „Sie sollte eigentlich dein Arkanes Medium werden. Dein Großvater Maeldun hatte sie mir vor vielen Jahren zu meinem Geburtstag geschenkt. Er behauptete immer, die Mechanik wäre aus einem Zahnrad der Schwebenden Uhr gebaut worden und aus dem Rest hätte er das Medaillon gefertigt, das mein Medium wurde – und nun dir gehört. Ich habe sie mit Leder überzogen und Jack hat sie mit deinen Initialen bestückt. Damit du niemals vergessen solltest, wer du bist.“ Sie stoppte für einen Moment und schniefte. Auf meine Wange fielen ein paar Tropfen. Ich richtete mich auf und schaute auf Jack und das Baby in seinem Arm. Die Frage war mittlerweile schon fast überflüssig, dennoch stellte ich sie, um absolute Gewissheit zu haben: „Das Kind dort...“ „Das bist du.“ „Also ist Jack...“ Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Erkenntnis gefiel, denn ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich den Satz im Gedanken beendet hatte. Zu viel hatte er mir verschwiegen, als dass ich ihm einfach verzeihen könnte. Ganz gleich, was er war. Mutter legte eine Hand auf meine Schulter und schenkte mir ein beruhigendes Lächeln. „Ich bin mir sicher, er hat immer nur das Beste für dich gewollt.“ „Woher willst du das wissen?“, lachte ich verächtlich. „Ich habe es gesehen. Er war in dich verliebt, in dem Moment, in dem du geboren warst...“ „Ach wirklich?! Würde ein liebender Vater sein Kind in ein Heim für Ungewollte bringen?! Würde ein liebender Vater sein Kind danach auf der Straße verrotten lassen und sogar in Kauf nehmen, dass es beinahe vergewaltigt wird?! Mir ist schon klar, warum er sich diese Lügen ausgedacht hatte! Wenn er mich liebt, hat er eine wirklich komische Art das zu zeigen!“ Meine Wange war heiß und schmerzte, während ich in Mutters wütendes Gesicht blickte. Sie schien mir eigentlich niemand zu sein, der seine eigene Tochter ohrfeigen würde. Ich wusste, dass es ungerecht war, was ich sagte und dass mir Jack mehr als einmal gezeigt hatte, dass ich ihm viel bedeutete. Doch vielleicht hätte man mir auch nur einmal erklären sollen, was in Taleswood vorgefallen war. „Ist dir vielleicht einmal in den Sinn gekommen, dass er dich einfach nur beschützen wollte?“ „Vor Mycraft?“ „In gewisser Weise. In erster Linie aber vor meinem Ehemann Samuel. Das ist eine lange und ein Stück weit auch beschämende Geschichte.“ „Wir haben Zeit.“ Sie setzte sich in ihrem Bett auf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Man sah ihr an, wie sie versuchte, die passenden Worte zu finden. „Am Anfang gab es nur Samuel, Jack und mich. Wir waren Mycrafts Schüler und allesamt sehr begabt. Sam und ich noch ein ganzes Stück weit mehr als Jack. Immerhin war er auch noch jünger. Und weil starke Magier auch starke Nachkommen zeugen würden, war klar, dass Sam und ich schon früh heirateten… Da war ich nicht einmal so alt wie du jetzt... Aber um ehrlich zu sein... Ich habe ihn nie geliebt. Er konnte nichts dafür und ich habe es auch wirklich versucht, aber... Es funktionierte einfach nicht. Aber das konnte ich niemandem sagen... Naja, außer deinem Vater. Er hatte mir immer zugehört und sich um mich gekümmert, wenn es mir schlecht ging. Ich dachte anfangs: 'Er ist wie kleiner Bruder, mehr nicht'. Aber dann wurden wir älter und ich begann mehr in ihm zu sehen. Jack war einfühlsam und zärtlich und wann immer er in meiner Nähe war, wurde alles um mich herum nichtig. Er fühlte genauso, das wusste ich. Und irgendwann begannen wir eine Affäre, aus der du am Ende hervorgingst.“ „Und Mycraft hatte davon erfahren?“ „Ich wusste damals nicht, was sein Plan war. Korrigiere: ich weiß es jetzt auch nicht. Alles was ich weiß, ist, dass er sich Stück für Stück in die Köpfe der anderen Magier einnistete. Er brach ihren Geist und übernahm ihn dann. Dass Sam auch auf seine Seite gezogen wurde, das ist unserer Affäre zu verdanken. Jack und ich waren untergetaucht, als im Sommer 81 langsam die Krise begann. Véronique, Greta und Sam waren bereits in Mycrafts Bann und wer wusste, wann wir folgen würden. Wir versteckten uns hier etwas außerhalb der Stadt und ließen uns von Freunden mit dem Nötigsten versorgen. Ich brachte dich auch in diesem Versteck zur Welt. Du warst gerade einmal eine Woche alt, da hatte Mycraft uns aufgespürt. Er schickte Sam zu uns, der uns festnahm und zu ihm führte. Wir kooperierten und ließen uns anketten. Ich… ich wollte nicht, dass es Tote gab, aber als Mycraft anfing, dich auf einen Tisch zu legen und einen Dolch herauszuholen...“ Ihre Pupillen wurden kleiner und ein dünner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn. Ich ergriff ihre Hand und spürte wie sie zitterte. „Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich kann mich nur daran erinnern, wie eine Klinge mich von hinten durchbohrte, während ich über meinem Ehemann saß, der bereits mehr tot als lebendig aussah... im letzten Moment nutzte er einen Zeitsprung und floh aus dem Zimmer... Und ich hörte nur noch Jack an meinem Ohr, der mich anflehte, ihm zu verzeihen.“ Die letzten Worte ertranken in einem Wimmern und sie lehnte sich heulend an meine Schulter. Sanft strich ich ihr durchs Haar und tröstete sie. „Verstehst du, was ich dir sagen will? Er hatte mich getötet, um sich selbst, aber vor allem dich zu schützen. Er wusste, dass ich dir in meiner Rage etwas angetan hätte.“ Dessen war ich mir bewusst und ich spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Am Ende wollte er mich also nur beschützen... Nein, ich musste all das auch aus Jacks Mund hören! Egal, ob er all die Jahre nur das Beste für mich wollte, er schuldete mir diese Antworten. „Bitte hasse ihn nicht dafür... Er hatte keine Wahl. Wenn du jemanden verachten möchtest, dann mich. Ich war zu schwach, um dich zu beschützen und dabei einen kühlen Kopf zu bewahren...“ „Ich hasse dich nicht... Ich hasse keinen von euch... Ihr habt mich doch nur beschützen wollen, nicht wahr? Aber ich werde dennoch Jack danach fragen.“ “Wonach denn?”, fragte sie besorgt. “Nach allem. Er soll mir über alles erzählen, was im Zusammenhang mit Mycraft steht und… und er soll mir von dir erzählen.” Ich wischte ihre letzten Tränen von der Wange und drückte sie noch einmal an mich, denn ich spürte, dass langsam meine Zeit an diesem Ort zu Ende ging. Und sie anscheinend auch. „Tja... So habe ich mir meine Begegnung mit meiner Tochter nicht erhofft, aber ich bin dennoch froh, dass ich dich noch einmal sehen konnte.“ „Darf ich dir noch zwei Fragen stellen?“ „Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen. Wenn du wieder einmal zwischen den Welten wanderst, ist es aber möglich. Doch gedulde dich jetzt erstmal. Eine Reise ins Jenseits kostet viel Kraft. In jedem Falle werde ich auf Jack und dich warten, egal wie lange es dauert.“ Dies beantwortete meine erste Frage bereits, bevor ich sie stellen konnte. Wie lange man wohl brauchte, um Gedankenlesen zu lernen? Aber mir war klar, was sie meinte. Spätestens wenn ich starb, waren wir wieder vereint. Ob es den Tod leichter machte, wenn man wusste, dass jemand auf der anderen Seite auf einen wartete? „Also gut, dann eine letzte Frage: Kann es sein, dass Florence, die kleine Schwester von Véronique in dich verliebt war?“ Mutter begann rot anzulaufen und zu stottern, während sie sich frische Luft zufächelte. „Nun... also... w-woher weißt du das?“ „Ach, reine Intuition“, antwortete ich locker und stand vom Bett auf. Vor mir öffnete sich die Tür und gab ein weißes Licht frei, das unheimlich anziehend auf mich wirkte. „Alice?“ Ich drehte mich noch einmal um und sah ihr sanftes Lächeln. „Du weißt, ich liebe euch beide über alles. Daran hat sich nie etwas geändert. Und sag Jack... sag Jack, dass ich ihm dankbar bin, dass er die Bürde der Schuld auf sich nahm, um mich vor dem Wahnsinn zu bewahren. Ich nickte ihr noch einmal glücklich zu und ging durch die Tür. Das Licht war hell, blendete mich aber nicht und ich spürte, wie ich langsam in einen tiefen Schlaf fiel. Bereit, meinem Vater gegenüber zu treten. „Hey Alice, wach auf!“ Coleman rüttelte an mir und verdeckte mit seinem Kopf die Sonne, die mir ansonsten direkt ins Gesicht geschienen wäre. Wie lange hatte ich geschlafen? Müde richtete ich mich auf und streckte meine Glieder. Ich lag auf dem gepflasterten Weg in jener Gasse, in der ich Greta zuletzt traf, bevor alles schwarz um mich herum wurde. War meine Begegnung mit Mutter am Ende vielleicht nur ein Traum gewesen? Nein unmöglich, dafür erschien mir die Erinnerung daran zu real. „Wie lang habe ich geschlafen?“ „Keine Ahnung. Jack und ich waren losgelaufen, dich zu finden und als ich in diese Gasse eingebogen war, lagst du hier. Kannst du mir mal erklären, wo dein Kostüm ist?“ „Mein Kostüm?“ Ich schaute an mir herunter und bemerkte, dass ich nicht mehr in Claires Körper steckte. Was für ein verrückter Ort. „Was hast du jetzt wieder kaputt gemacht?“ „Gar nichts. Keine Sorge, Mieze, diese Zone war von Anfang an beschädigt, wir waren's nicht“, lachte ich und klopfte ihm so schwungvoll auf den Rücken, dass seine Melone verrutschte. „Na du hast mal eine unangebrachte Laune...“, brummte er. „Kannst du mir erklären, warum...“ „Jetzt nicht. Ich will erst etwas mit Jack besprechen. Ist er noch im Pub?“ „Da wollten wir uns wieder treffen, sobald wir dich gefunden hatten.“ Ich hatte eigentlich erwartet, von ihm einen abwertenderen Ton zu hören, nachdem die beiden sich so gestritten hatten. Aber es war mir auch egal. Schnell rannte ich über die Hauptstraße in Richtung des Pubs und traf den großgewachsenen Magier bereits vor der Tür an. Schweigend sahen wir uns für einige Zeit an. Die Nervosität stand uns beiden ins Gesicht geschrieben. Er spürte, dass ich Bescheid wusste, doch wagte es nicht auf mich zu zugehen. Hätte er mich nun umarmen wollen, ich hätte ihn auch nicht gewähren lassen. „Willst du noch immer wissen, was du für mich bist?“ Ich musste ihm nicht antworten. Er atmete tief durch: „Du bist der letzte Funken Hoffnung, den ich seit Claires Tod habe. Ich habe versprochen, auf dich zu achten. Nicht Claire, sondern mir selbst und ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir etwas passieren würde. Weil du mein eigen Fleisch und Blut bist. Ich weiß, das macht meine Lügen nicht mehr gut und dein Vertrauen muss ich mir erst wieder verdienen. Aber eines kannst du mir glauben: Ich liebe dich vom ganzen Herzen, Alice.“ Ich schaute zu ihm hoch. Er war mir während er sprach immer näher gekommen und stand nun direkt vor mir. So sehr er auch versuchte, Haltung zu bewahren, ich sah in seinem Blick, wie sehr er mich darum anflehte ihm zu verzeihen. Wie sehr er sich wünschte, mich nun, nachdem er mich immer wieder belügen musste – aus welchen Gründen auch immer – endlich offiziell in den Arm zu nehmen, wie es sich für Vater und Tochter gehörte. Seine Augen verschwammen hinter einem dünnen Tränenfilm. Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln und sprach: „Ich habe Mutter getroffen. Sie hat mir erzählt, was sich bei ihrem Tod zugetragen hat. Und sie hat mich gebeten dir zu sagen, dass sie dir dankbar ist. Dankbar, dass du ihr die Bürde abgenommen hast.“ Jack fiel auf seine Knie und drückte sein Gesicht gegen meinen Bauch. Er versuchte nicht zu weinen, aber seine Schultern bebten lautlos und ich hätte es ihm nicht übel genommen, wenn er seinen Tränen freien Lauf gelassen hätte. „Bitte vergib mir, Alice. Ich werde dich nicht mehr belügen, ganz gleich, wie düster die Wahrheit auch sein mag. Bitte bleib bei deinem nichtsnutzigen Vater. Wenn ich dich auch noch verliere, dann...“ Ich fuhr mit meiner Hand beruhigend durch sein Haar. Es war etwas strohig und rau an der Oberfläche, aber weich an der Wurzel. So wie Jack selbst. Egal wie hart er auch aussah, egal wie groß seine magischen Fähigkeiten waren, im tiefsten Inneren war er unglaublich verletzlich. „Du hast mir viel zu erzählen, nicht wahr.“ Er nickte kaum merklich und drückte seine Arme nur noch fester um mich. „Ist schon okay... Ich werde dich nicht verlassen... Vater.“ Kapitel 13: Vater ----------------- Der Rauch aus Jacks Zigarette verteilte sich in sanften Wellen, die durch den fahlen Lichteinfall sichtbar wurden. Das Konzept des Zeitstillstands traf scheinbar nicht auf persönliche Gegenstände und deren Endprodukte zu. Er lag auf dem Bett, die Beine fest auf den Boden platziert und starrte unentwegt zur Decke. Dass die im Wald verborgene Hütte sich unweit von dem Ort befunden hat, an dem unser heutiges Zuhause stand, war genauso erstaunlich, wie die Tatsache, dass die beiden sich mehrere Monate dort verkriechen konnten, bis sie gefunden wurden. Dazu musste man wissen, dass die Hütte mit einem äußerst mächtigen Illusionszauber belegt worden und somit beinahe unsichtbar war. Aber wieso das alles? Das war nur eine von hunderten Fragen, deren Antwort mir Jack schuldete. Weswegen er mich auch hierhin führte, mich schweigend durch das falsche Taleswood gezogen hatte, nur um dann hier zu landen. Doch obwohl ich diesen Ort schon so oft gesehen hatte, es war das erste Mal, dass ich ihn mit dem Wissen betrat, dass es mein Geburtsort war, irrelevant dessen, dass es sich nur um eine „Kopie“ handelte. Denn sobald ich die Türschwelle passiert hatte, überkam mich eine Welle aus Erinnerung, so nah und rein, als wären sie erst gestern geschehen. Magie ist kein starres Element, sondern mehr wie ein lebendiger Geist, der mit seinen Trägern eine Symbiose eingeht. Sie bildet eigene Erinnerungen, auf die auch der Wirt selbst zu einem gewissen Grad zugreifen kann. Genau das passierte mit mir. Fester drückte ich Jacks Hand, die ich, seit wir Coleman am Pub zurückgelassen hatten, nicht mehr losgelassen hatte. Auch diese fühlte sich mit dem Bewusstsein, dass es meines Vaters Hand war, ganz anders an. Zwar nach wie vor warm und rau, aber all das wurde mit einem Male fast schon ein Teil von mir. Und dennoch... in dem Moment in dem ich ihn jetzt ansah, kam mir das Wort 'Vater' nur schwer über die Lippen. Und das, obwohl ich ihn als solchen vorher gerne sah. Er hieß mich in seinem Haus willkommen, gab mir Essen und Kleidung und mit der Magie auch eine Aufgabe in meinem Leben. Und das war weit mehr wert, als ein paar Geständnisse. „Wie war sie?“ Ich setzte mich zu Jack und beobachtete ihn. Erst jetzt fiel mir ein, dass es auch für ihn anstrengend gewesen sein musste, diese Nacht mir hinterherzulaufen. Auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, die roten Ränder um seine Augen sprachen Bände. Es fühlte sich richtig an, mit etwas zu beginnen, über das er vielleicht gerne sprach. Dazu kam allerdings auch, dass ausgerechnet jetzt, wo ich vielleicht die Chance dazu hätte, einmal alles zu erfahren, mein Kopf sich beinahe leer anfühlte und alle Fragen wie weggefegt waren. So hatte ich noch ein paar Minuten Bedenkzeit. Jacks Mundwinkel zuckten nach oben, als er begann zu sprechen und sein Blick hatte etwas seltsam Verträumtes: „Wenn ich sie mit einem Wort beschreiben sollte... Unwirklich. Ihr Auftreten, ihr Charakter, einfach alles an Claire wirkte so, als sei sie nicht von dieser Welt. Sie war ein unfassbar geduldiger, ausgeglichener Mensch, langsam, aber zielstrebig und so bewegte sie sich auch. Alles was sie tat, fühlte sich an, als würde die Zeit um sie herum fast stillstehen und wenn man sie betrachtete wünschte man sich, als würde so auch ihre Schönheit für immer erhalten bleiben...“ Ein kurzes Lachen entfuhr ihm: „Naja zumindest wünschte ich mir das. Etwas an ihr zog mich unaufhörlich an, faszinierte mich, machte mich verrückt nach ihr. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu meiner Frau zu machen.“ „Aber es ging nicht nach dir.“ Er nickte. „Sam und Claire waren schon früh einander versprochen worden. Samuel war ein großartiger Magier, seine Familie hat eine lange magische Tradition und noch dazu war er der Sohn eines Industrieellen aus Manchester. Und Claire war eine Maeldun, das hieß schon alles.“ „Was ist mit deiner Familie?“ „Um ehrlich zu sein, weiß ich darüber nichts... Meine Mutter ist keine Magierin. Vater war gebürtiger Salem, aber wenn ich sein Talent geerbt hätte, dann wäre wahrscheinlich schon eine Kerze anzuzünden eine Herausforderung gewesen. Ich habe mir das alles zum größten Teil selbst beigebracht und - ohne anzugeben, aber ich bin verdammt gut darin! Aber das zählt nicht viel in solchen Angelegenheiten. Blut ist einfach dicker als Wasser – beziehungsweise Schweiß. 'Oh, ein Salem? Wer soll das sein?' Und ich hätte mich auch beinahe damit abgefunden...“ Ich zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf zur Seite. Für jemanden, der so verliebt zu sein schien, war das eine ungewöhnliche Aussage. „Ich hätte deine Mutter Sam überlassen. Er hatte in jungen Jahren auf mich aufgepasst wie ein großer Bruder, mein Respekt ihm gegenüber war ungebrochen. Aber er wollte sie eigentlich nicht. Und wo Claire alles versuchte, das beste aus der Situation zu machen - auch um ihrem Namen gerecht zu werden - hielt Samuel es nicht für nötig, das gleiche zu tun. Mehr noch: Er lehnte sie in aller Öffentlichkeit ab. Er hat sie nicht einmal auf der Hochzeit küssen wollen.“ „Er hat Mutter gehasst?“ „Nein, im Gegenteil, die beiden... wir drei... waren eng befreundet, unser ganzes Leben lang. Aber er hat sie nicht geliebt. Ich weiß nicht, ob er jemand anderen im Auge hatte, oder ob es ihm ums Prinzip ging. Fakt ist, er hat sich einen Dreck um ihre Ehe geschert. Claire hat das sehr weh getan, sie hat sich auch immer selbst daran die Schuld gegeben. Und auch wenn ich ihn heute verstehen könnte, damals habe ich Sam für sein Verhalten abgrundtief gehasst.“ „Also hast du Mutter getröstet und ihr seid euch so einander näher gekommen.“ „Das fasst es ganz gut zusammen, ja. Ich hatte auch keinen Skrupel, damit ihre Ehe und wahrscheinlich auch ihren Stand in der Gesellschaft zu zerstören und ihr war das eigentlich auch egal. Wir wussten halt nicht, was für Kreise das zieht.“ Ich wanderte aufmerksam durch den Raum, während ich Jacks Erzählung lauschte. Es war mir nach wie vor schleierhaft, wie die beiden so lange hier drin gehaust haben sollten, mitten im nirgendwo. Die Hütte stand im Wald, der das Salem – Anwesen umgab. Von außen konnte man sie kaum erkennen und dennoch wurden sie am Ende gefunden... Aber wieso mussten sie überhaupt all die Strapazen auf sich nehmen? „Diese Frage...Warum...“, lachte er und setzte sich auf. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen sollte.“ „Fang bei der Person an, um die sich all das drehte: Mycraft.“ Nie hatte man mir gesagt, wer dieser Mann war und ich hatte es auch nie gefragt. Er war wie ein Gespenst, auf dessen Name ein Fluch lag. „Alexander Mycraft war mindestens genauso exzentrisch wie brillant. Ein Mann, den moralische Grenzen nicht kümmerten, wenn es um die Magie ging. Für ihn galt: Wenn ein Zauber möglich ist, sollte man ihn auch ausprobieren. Einer der Gründe, warum er sich zum Beispiel exzessiv mit Homunkuli auseinandergesetzt hatte.“ „Nimm es mir nicht übel, aber erwartet man bei so jemandem nicht, dass solch eine Haltung eines Tages zur Eskalation führt?“, fragte ich ihn skeptisch, doch ich durfte nicht vergessen, dass die Sache über 16 Jahre her war. Jack schien mir zuzustimmen: „Für mich war Mycraft immer so etwas wie ein Vorbild und ein Stück weit auch eine Vaterfigur. Mit meinem richtigen Vater hatte ich mich immer in den Haaren wegen der Magie. Er sah es nicht gern, wenn ich damit spielte, wollte – konnte - mich aber nicht unterrichten. Dann stand Master Mycraft eines Tages vor unserer Tür und bot mir an, mit ihm nach Taleswood zu gehen, denn er könnte mich lehren, was ich so unbedingt lernen wollte. Ich war damals vielleicht sieben oder acht Jahre alt und dementsprechend zog er mich auch auf und behandelte mich immer wie seinen eigenen Sohn. Er war streng, aber gerecht. Vielleicht wollte ich auch nicht sehen, wenn etwas nicht stimmte...“ „Und was ist dann passiert?“ Eine weitere Zigarette kam zum Vorschein. Jack rauchte in der Regel nicht viel, doch jetzt war es schon die Dritte oder Vierte, die er sich ansteckte. Im Licht war es nur schwer zu erkennen, aber er konnte das leichte Zittern seiner Hand kaum unterdrücken. Immer wieder setzte er zu einem Satz an, doch verschloss sich daraufhin. „Ich... ich weiß es selbst nicht... Wenn ich daran denke, fällt mir nur ein, wie meine ganze Welt langsam zerbrach... Sam... Sam war der Auslöser... Es war ein schleichender Prozess, dass seine Abneigung gegen die Zwangsehe mit Claire sich langsam aber sicher in pure Feindseligkeit gegenüber ihrer Person verwandelte. Bis er eines Tages so weit ging, dass sie zu uns – ich wohnte in Mycrafts Haus – fliehen musste, weil...“ Jacks Hände ballten sich zu Fäusten. Es war so still, dass man das Beben seines Atems vernehmen konnte. „...weil er versucht hat, sie umzubringen. Ich weiß noch, wie sie vor mir stand, mit einer Platzwunde am Kopf, fertig mit den Nerven... Sie war stärker als er, aber... ach verdammt, sie hätte sich doch noch nicht einmal gewehrt, er war immerhin nach wie vor ein Freund! Und ich?! Ich war zu schwach, um gegen ihn anzutreten!“ Wie eine lebende Fackel sah Jack aus, als - von seiner Wut angeheizt - seine Hände Feuer fingen und er damit begann auf die Wände einzuschlagen. „Das hier! Das hätte ich damals schon können müssen!“ Dieses und ähnliches schrie er für eine gefühlte Unendlichkeit heraus, bis er wimmernd zusammenbrach und seinen Kopf gegen die Wand schlug. So aufgelöst hatte ich ihn noch nie gesehen... Ich kniete mich zu ihm und lehnte mich an seinen Rücken. So sehr ich auch alles wissen wollte, er tat mir dennoch leid und an seiner Stelle hätte ich nicht gewusst, ob ich meinem Kind die volle Wahrheit erzählen könnte. „Verzeih... ich habe Claire nie wirklich beschützen können, genauso wenig wie dich... Ich wusste mir nicht zu helfen.... Verdammt Alice, ich war kaum älter als du es heute bist, fast noch ein Kind! Das ist der Grund, warum ich dich abgab, unauffindbar und alle Verbindungen zu mir trennend. Das Leben im Heim muss die Hölle gewesen sein, all die Jahre zu glauben, man wäre ungewollt... Das kann man mit nichts wieder gutmachen. Ich wollte nur... nur das dir nichts passiert...“ „Ich weiß...“, flüsterte ich und drückte mich enger an ihn heran, um meine Wärme auf ihn zu übertragen. Ruhig konzentrierte ich mich auf seinen Herzschlag, dessen Frequenz langsam wieder abnahm, bis sie auf einem normalen Level war. Ich lauschte ihm, wie einem Metronom, bis es das Einzige war, was ich noch wahrnahm. Doch dann riss mich ein plötzlicher Ruck aus meinen Träumen und ich schreckte auf. Es war wie ein Erdbeben, kurz und leicht, aber dennoch deutlich spürbar. Aber es schien nicht, als hätte Jack dies bemerkt. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. „Sie war schon mit dir schwanger, als sie zu uns kam. Aber Obdach bekam sie von Mycraft nicht, er meinte 'Eine Hure im Haus reicht'. Er wusste wahrscheinlich von unserer Affäre und es ist sein gutes Recht. Aber dennoch, wer würde eine schwangere, verfolgte Frau des Hauses verweisen?!“ „Und deswegen seid ihr in diese Hütte gezogen?“ „Wo sollten wir denn sonst hin?! Unser Meister hatte kein Interesse sie zu schützen, Greta hasste Claire abgrundtief aus Gründen, die ich nicht verstand und der Rest von Taleswood... die hätten uns doch auch ausgegrenzt, wenn sie wüssten von wem das Kind wäre... Ausgerechnet Véronique, die 'Hure im Haus', half uns, brachte uns zu dieser Hütte, die sie Gott-weiß-woher kannte und versorgte uns mit Lebensmitteln und Kleidern für vier Monate. Und ich hatte angefangen ihr zu vertrauen und sie zu schätzen... Tja, stellte sich heraus, dass sie eine falsche Schlange ist. Sie hat uns verkauft, Sam und Mycraft fanden uns, zehn Tage nach deiner Geburt und... und... Ich weiß einfach nicht, warum sie dich töten wollten, aber Claire hat die ganze Zeit gebettelt, sie hatte nur Augen für dein Wohl und irgendwann... ist sie durchgedreht. Es ging blitzschnell, sie musste die Zeit manipuliert haben. Ehe wir uns versahen, stand sie da, packte Mycraft am Kopf und... ich... ich glaube er hatte zwischen all den Schmerzensschreien sogar gelacht... Und Claire hatte dieses versessene Grinsen, dieses... Ich kann es nicht beschreiben... Aber du hast ihr Gesicht gesehen und du wusstest: In dem Zustand war sie bereit, alles und jeden zu töten.“ Ich konnte nicht anders, als mich an die Nacht zurückzuerinnern, als mir das gleiche passierte. Allein der Gedanke daran jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken und ich spürte, wie mir schlecht wurde. Wie weit war wohl ich davon entfernt gewesen, Thomas umzubringen? Das hätte ich nie ertragen können... sein Blut an meinen Händen zu sehen. „Ich erspare dir die Details. Sagen wir einfach, es war grausam... Überall Blut, du hast die ganze Zeit geweint, ich war komplett verängstigt und hatte einfach nur gehofft, dass sie wieder normal wurde. Wurde sie nicht. Sam hatte sich von seinem Schock gerade so erholt, wollte verschwinden doch sie packte ihn und prügelte auf ihn ein, zerkratzte sein Gesicht und schlug seinen Kopf gegen den Holzboden... Sie benutzte nicht einmal Magie, bloß rohe Gewalt... Ich glaube, das war der Punkt, an dem mir klar wurde, dass die echte Claire verloren war... Und der Dolch... Ich nahm ihn und stach einfach auf sie ein... bis sie Sam endlich in Ruhe ließ. Ich hatte es gesehen, in seinen Augen, er war so wie ich ihn kannte...“ „Aber ich dachte, er wollte Mutter töten...“ „Das weiß ich doch, Alice!“ Jack sprang auf und presste seinen Kopf gegen die Wand. Die Adern seiner Hand kamen deutlich hervor, während er seine Finger in einem Holzbalken vergrub. Wieder ein Beben, diesmal hatte ich es mir definitiv nicht eingebildet! „Ich weiß nicht, was in meinem Schädel vorging, als ich den Dolch nahm, okay?! Vielleicht war es dumm, aber das ist was ich sah, entschuldige bitte, dass ich nur dein Leben und meines im Kopf hatte!“ Ich wusste nicht, ob er wütend auf mich, oder sich selbst war. Und ich wusste auch nicht, wie ich auf all das reagieren sollte. Wie konnte eine Mörderin einen Mörder verurteilen? „Sam entkam irgendwie dem ganzen Szenario. Ich weiß auch bis heute nicht, wo er ist und was er tut. Und an dem Abend war mir einfach nur klar, dass ich verschwinden musste, weg von Taleswood und dich musste ich verstecken. Es war... der einzige Gedanke, den ich klar und deutlich fassen konnte. Ich schnürte meine Sachen und nutzte den Spiegel um nach London zu fliehen, gab dich im Saint Peter's ab, in der Hoffnung, dass du dort sicherer wärst als bei mir und... naja, den Rest kennst du.“ „Woher weißt du, dass La Belle dich verraten hat?“ „Sie hat es mir gesagt“, antwortete er, als hielte er es selbst nur für einen schlechten Scherz. „Es war ungefähr drei Jahre später. Sie steht an der Haustür meiner Eltern und offenbart mir, dass sie uns verkauft hatte, für ein paar verdammte Bücher über Homunkuli und dann... verlangt sie auch noch von mir, dass ich ihr sage, wo du dich befändest, sie bräuchte dich für... was auch immer, es ist mir egal! Sie... Sie...“ „Sie hatte eine todkranke Schwester...“, platze es aus mir heraus. Hatte Jack das nicht gewusst? Hatte irgendjemand das gewusst, außer Mutter? „Véronique hatte sich an Mycraft verkauft, um sie zu retten, aber vergebens. Dann versuchte sie an Mycrafts Homunkulibücher zu kommen, um eine Kopie von ihr zu erschaffen und daraus ist Fleur entstanden... Sie steht bestimmt auch unter Mycrafts Bann, so wie Samuel und Greta und wahrscheinlich wie auch du und Claire sollten...“ „Alice! Es ist gleichgültig, wen sie verloren hat! Das entschuldigt niemals, dass sie anderer Leute Leben zerstört hat und es noch immer tut!“ Jack packte mich am Kragen. „Oder willst du mir erzählen, dass du freiwillig hier bist?! Womit hat sie dir gedroht?!“ Ein weiteres Beben, stärker als die vorherigen. Wieso nur merkte er davon nichts? Jack starrte mich an, zu gleichen Teilen erfüllt von Wut und Sorge. Nein, ich kann es ihm nicht sagen... „Diese... ich habe mir immer geschworen, nie wieder jemanden zu töten, aber Véronique ist die Ausnahme... Sag es mir, Alice!“ „Ich will nicht!“ Verzweifelt versuchte ich mich aus dem Griff zu befreien und drehte meinen Kopf weg, damit ich ihn nicht ansehen musste, doch Jack krallte sich nur noch fester in meine Bluse und schüttelte mich. „Ich will nicht, verflucht! Es geht dich nichts an!“ „Und wie es mich was angeht, wenn meine Tochter erpresst wird! Wie hat sie dir gedroht!?!“ „Es ging um Fleur!“ Sofort lockerte er seinen Griff. „Idiotin!“, hörte ich meine innere Stimme fluchen. „Nun musst du da durch.“ „S-sie hat gedroht, sie zu töten, wenn ich ihr nicht helfe die Goldene Uhr zu stehlen. Sie dachte, dort wären Mycrafts Kräfte gefangen.“ „Was hat sie das denken lassen?“ Wütend darüber, wie Jack mit mir umgesprungen war, stieß ich ihn von mir und drehte mich von ihm. „Keine Ahnung, ist mir auch egal! Du siehst, hier gab es nichts dergleichen zu holen.“ „Vielleicht waren es auch Claires Kräfte, oder das Erbe der Maelduns, auf das sie es tatsächlich abgesehen hatte... Also liegt dir Fleur sehr am Herzen?“ Ich nickte langsam. „Naja, den Verdacht hatte ich bereits. Ich kann es auch nachvollziehen.“ Fragend schaute ich ihn an, doch bekam nur ein kurzes Kopfschütteln als Antwort. „Ein anderes Mal vielleicht.“ „Bist du einverstanden damit?“ „Was soll ich schon dagegen tun? Du bist wie du bist und wenn es eine Frau ist, die dich glücklich macht, nun gut, dann ist das so. Du darfst aber nicht vergessen, dass Fleur kein Mensch ist. Sie ist bereits zehn Jahre auf dieser Welt, die Hälfte ihres Lebens...“ „Aber sie ist doch nicht wie ihresgleichen! Vielleicht...“ „Vielleicht lebt sie länger, aber halte dich nicht daran fest. In der Zeit, seit ich sie kenne, ist sie nicht einen Tag gealtert. Wenn du Pech hast, wird sie eines Tages einfach zusammenbrechen und nie wieder aufstehen, sodass du dich nicht einmal wirklich von ihr verabschieden kannst.“ Es tat weh, das zu hören, doch Jack hatte Recht. Man musste diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Die Wahrscheinlichkeiten standen gut, dass sie nicht anders war als alle andere Homunkuli und dennoch... dennoch merkte ich, wie meine Sicht vor Tränen verschwamm und ich versuchte nicht zu weinen. Er legte seine Hände auf meine Schultern. „Ich will nur, dass du darauf vorbereitet bist. Ich habe sie ja auch gern, was glaubst du, warum ich sonst diesen Tollpatsch als Hausmädchen behalten hätte?“ Uns beiden entwich ein kurzes Lachen, das die angespannte Atmosphäre auflockerte. Dann drehte Jack mich zu sich und strich mir sanft über das Gesicht, doch sein Ausdruck blieb ernst. „ Solange ich lebe, wird Véronique weder dir, noch Fleur etwas antun. Ich war damals vielleicht zu schwach, dich zu beschützen, aber heute sieht das anders aus.“ „Du wirst sie nicht töten, oder?“ „Das kann ich nicht garantieren... Bisher hatte ich sie einfach von Fleur weggehalten, aber zu dir kam sie durch, weil du keine Angst vor ihr hast. Wenn sie mir einen guten Grund liefert, dann...“ Ich verstand, was er mir sagen wollte. Es war ihre alleinige Verantwortung. Nichtsdestotrotz wollte ich niemanden wegen mir sterben sehen – egal ob Freund oder Feind. Coleman erwartete uns bereits sehnsüchtig an der Uhr, die uns wieder zurückbringen sollte und wie es aussah, hätte er angefangen uns zu suchen, wären wir nur ein wenig länger fort geblieben. Warten musste in dieser Welt so ziemlich das Schlimmste sein, das man sich vorstellen konnte und der Kater war nun wirklich nicht jemand, dem man ein hohes Maß an Geduld schon an der Nasenspitze ansah. „Das hat aber gedauert, mir gingen fast die Kippen aus und danach hätte ich in diesem Stillleben keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr gehabt. Nicht einmal sich im Pub betrinken funktioniert.“ „Was machen Katzen denn sonst den ganzen Tag? Ein ausgedehntes Nickerchen hätte doch sicherlich auch die Zeit totgeschlagen.“ Genervt verdrehte Coleman über meine Antwort die Augen, wahrscheinlich kannte er Scherze dieser Art nur zu genüge – oder er war einfach nicht gut. „Also hast du bekommen, was du wolltest?“, fragte er mich, während Jack alles für unsere Rückreise vorbereitete. „Mehr, als wonach ich gefragt hatte. Tut mir leid, aber wir werden wohl deiner Chefin nicht die Uhr übergeben können.“ „Hmm passt schon. Nachdem sie mit dir so 'freundlich' umgesprungen war, hatte ich sowieso das Gefühl, dass sie mich übers Ohr hauen könnte.“ „Sie hat mich nicht belogen... Jack hat Mutter getötet... Ich frage mich nur, ob sie mir wirklich alles erzählt hätte...“ „Du sprichst ihn nicht mit Vater an?“ Erst jetzt fiel mir auf, wie akribisch ich darauf achtete, dieses kleine Wort zu vermeiden. Es fühlte sich einfach ungewohnt an. Ich zuckte mit den Schultern und sprach: „Das braucht noch etwas Zeit. Was wird nun aus dir? Wirst du Taleswood verlassen?“ „Wenn es mir möglich ist, werde ich das wohl tun. Ich weiß aber nicht, wie...“ „Jack könnte dir bestimmt helfen...“ „Dir scheint ja wirklich etwas an mir zu liegen.“ „Ich glaube nicht, dass du schlecht bist, Coleman. Auch wenn wir uns nicht wirklich kennen. Und Freundschaft kann nicht ohne gemeinsame Unterstützung entstehen.“ Skeptisch hob der Kater eine Augenbraue, doch grinste darauf, richtete seine Melone und klopfte mir auf die Schulter. „Vorsicht Kleine, ein reines Herz kann schnell missbraucht werden. Aber bewahre es dir, so gut du kannst. Man kann davon nie genug haben“ Kaum sprach er den Satz aus, da fing die Uhr an sich zu bewegen und hüllte uns drei in ein gleißendes Licht. Jack stellte sich hinter mich und hob mich hoch. „Bevor du uns zuhause zusammenbrichst, weil deine Beine noch immer nicht funktionieren.“ Es dauerte nur Sekunden, bis es verschwand und wir uns wieder in Taleswood befanden, dem Taleswood aus dem wir stammten. Ein Blick auf die Uhr verriet uns, dass tatsächlich seit unserem Besuch nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen war. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was dies für das Konzept von Raum und Zeit in der zerbrochenen Zone bedeutete, zumal ich von der einen auf die andere Sekunde todmüde war. Mehr noch, ich fühlte mich wie gerädert und ausgebrannt. Solch eine Erschöpfung war mir neu. Der Besuch im Jenseits, die Zone selbst, all das musste unfassbar an meinen Kräften gezehrt haben. Coleman und Jack waren dagegen noch halbwegs fit. „Das war wohl genügend Aufregung für heute Abend. Kein Problem, wir gehen jetzt erst einmal nach Hause und...“ Er stoppte und fasste mich fester. Ich sah zu Jack auf und erkannte wie er anfing mit den Zähnen zu knirschen, während er einen Punkt vor sich fixierte. Ich folgte seinem Blick. Die Person vor uns war trotz der Dämmerung nicht zu verkennen, denn die Silhouette zeigte eine Figur, so weiblich, so perfekt dass... ja, dass so manche Frau dafür töten würde... „Hallo Jack...“, rief die Person mit ihrer rauchigen Stimme und einem unüberhörbaren Akzent. „Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen...“ Kapitel 14: Zerstörte Idylle ---------------------------- Zwei gigantische, alles vernichtende Wirbelstürme trafen aufeinander. Der eine finster und gewittrig, dessen Blitze die Luft in Schwingungen versetzten und bei jedem Einschlag gewaltige Druckwellen von sich gaben, der andere von Eis geprägt, so kalt, dass alles in seiner Umgebung gefror und dessen frostiger Niesel die Haut mit abertausend Nadeln angriff und selbst die heißeste Flamme im Keim erstickte. Solche und ähnliche Bilder kamen mir in den Kopf, als Véronique La Belle und Jacob William Salem aufeinandertrafen. Ihre Auren - als wäre jede für sich nicht schon angsteinflößend genug – wirkten, als könnten sie in diesem Moment selbst die Elemente aus dem Gleichgewicht bringen. Sie waren zwei entgegensetzte Urgewalten. Vor mir standen die beiden mächtigsten Magier Taleswoods, daran gab es keinen Zweifel. Coleman empfand ebenso, denn seine Krallen bohrten sich in meine Haut und er gab ein halb verängstigtes Fauchen von sich, während er die beiden mit großen Augen ansah. Auch in mir machte sich die Angst breit, denn dass Jack mich hinter sich absetzte, bedeutete, dass er nicht wegrennen würde. Hatte ihm die Reise in die zerbrochene Zone nicht ebenfalls zugesetzt? War er denn überhaupt fähig zu kämpfen? „Was für ein bezauberndes Bild... Vater und Tochter, liebevoll vereint. Wie lange hattest du nur darauf hingearbeitet?“ „Was willst du?“, knurrte er die schöne Französin an. „Du weißt, dass du hier nicht willkommen bist.“ „Ich bin nicht wegen dir hier, Jack. Das sollte dir auch bewusst sein.“ „Du bekommst Alice nicht, intrigantes Miststück! Ich will kein unnötiges Blutvergießen, aber wenn du nicht zurückbleibst, dann...“ „Was dann? Du bist wahrlich nicht in der Position, Forderungen zu stellen...“ Noch war sie nicht mehr als ein Schatten auf der Straße, doch je näher sie kam desto eher erkannte ich die Details ihres schönen Gesichts und außerdem... Dass sie nicht allein war. In ihrer Hand hielt sie eine Art Leine, die hinter sie verlief und als sie daran zog, kam eine junge Frau hervor. Mein Atem stockte. Ihr hübscher, porzelanartiger Körper war entblößt und präsentierte unzählige Blutergüsse und Narben. Vom Hals, über die Brust, bis in den Schritt zogen sich Spuren einer Misshandlung, die ich mir nicht einmal in Ansätzen vorstellen konnte. Das lange, aschgraue Haar war zerzaust und die sonst lieblich violetten Augen waren so leer, dass man das Gefühl hatte, in das Gesicht einer Toten zu sehen. Es war ein grausiger Anblick und dennoch konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Wie viele Schläge, wie viele Stiche hatte sie nur über sich ergehen lassen müssen? Dann erblickte sie mich und ein kleines Lächeln huschte über ihren Mund. „Alice... endlich bist du da, um mich zu retten.“ Nein, das durfte nicht wahr sein! Dass Jack bei mir war, war doch nicht geplant gewesen! Warum wurde sie da mit reingezogen?! „Unmöglich...“, murmelte Jack mit zittriger Stimme. Er schien wie paralysiert. Coleman drehte den Kopf zur Seite. Ich hatte wirklich versucht zu glauben, dass vielleicht noch etwas Gutes in La Belle schlummerte, doch mit diesem Anblick löste sich all das in Rauch auf. „Fleur!“, rief ich und kroch auf sie zu. Das war meine Schuld. Wie könnte ich nur jemals um Vergebung dafür bitten? La Belle ließ die Leine fallen und Fleur rannte humpelnd auf mich zu. „Nicht Alice, das -“ , versuchte Jack mich noch aufzuhalten, hielt mich bei der Schulter, doch ich schlug seine Hand weg. „Lass mich! Wenn du nicht hier wärst, dann wäre das nicht passiert!“ „Aber das ist bestimmt eine Falle!“ Und wenn schon. Ich war bereits in eine Falle getappt, als ich Colemans Bitte folgte, wie viel schlimmer konnte das hier schon werden? Freudig fiel mir das Homunkulusmädchen in die Arme und drückte sich an mich. Sie wirkte noch zerbrechlicher als sonst und ich ertappte mich bei dem Gefühl der Scham sie so zu umarmen. Doch das war mir egal. „Verzeih... bitte verzeih mir...“, wimmerte ich und fuhr mit meinen Fingern in ihr Haar. Es war seltsam strohig, nicht annähernd so weich wie sonst. Und warum... Warum war sie so eiskalt? „Endlich bist du da, um mich zu retten...“ „Ja, alles wird wieder gut...“ „Endlich bist du da, um mich zu retten...“ In einer Schrecksekunde schien es so, als würde die Zeit stillstehen, während Jack den Schopf des Homunkulus packte und sie gewaltsam von mir zerrte. Er musste noch etwas gerufen haben, dann spürte ich auch schon, wie die Klinge an meinem Nachthemd zerrte und ein großes Loch hinterließ. Nur eine Sekunde später und sie hätte sich stattdessen in mein Fleisch versenkt. Jack warf Fleur auf den Boden, zückte seinen Dolch und fuhr mit zwei Fingern über die Klinge. Sie folgte der Bewegung, wurde immer länger und dünner, bis der Dolch zu einem Degen wurde. Fleur schlug auf dem Boden auf und brach sich dabei einen Arm, doch schrie nicht, oder zeigte sonst eine Reaktion. Sie sprang wieder auf, hastete auf mich zu, genau in Jacks Hieb, der sie horizontal zerteilte, als wäre sie Papier. Doch es kam kein Blut aus ihr, keine Innereien... Sie löste sich einfach auf... „Eine überzeugende Hülle, Véronique. Für einen Moment war ich auch darauf reingefallen. Aber diese Blessuren... Ein echter Homunkulus trägt keine oberflächlichen Narben, dafür verheilt der Körper zu schnell und zu sauber. Und ich bin mir sicher, selbst du würdest die echte Fleur nicht innerhalb einer halben Stunde so zurichten können.“ Also doch... Trotz des Schreckens atmete ich erleichtert aus. „Was ist eine Hülle?“, fragte ich Coleman, der sich zu mir kniete und mir aufhalf. „Ich weiß nicht viel darüber. Es sind extrem kurzlebige Wesen, die selbst mit Stoffen aus der Luft erschaffen werden können, die aber in ihrem Handeln sehr beschränkt sind.“ „Naja, für einen süßen kleinen Schock hat es ja gereicht.“ Ein sadistisches Lachen kam von La Belle. Wirbel aus dünnem, weißem Nebel bildeten sich um ihre Hand, formten sich zu einem Strudel und erschafften binnen kürzester Zeit eine Figur. Anders als Fleur zuvor war es eine Gestalt ohne erkennbares Geschlecht oder Konturen, lediglich zwei glühende Augen waren vorhanden und ihre Hände glichen den Klingen einer Schere. „Beeindruckend, aber eine Hülle ist kein Gegner für einen erfahrenen Magier“, meinte Jack betont gelassen, doch ich konnte in seinem Blick erkennen, dass er anders fühlte. Sein Atem ging schwer und auf seiner Stirn versammelten sich kleine Schweißperlen. Die Reise war auch für ihn anstrengend gewesen und das sonst ausgeglichene Duell zwischen den beiden verschob sich eindeutig zu Véroniques Gunsten. Ihrem hämischen Lächeln nach zu urteilen, war sie sich dessen bewusst. „Ach das unterfordert dich? Wie du meinst...“ Schneller als einer von uns darauf überhaupt hätte reagieren können, brach eine riesige dünne Ranke mit rasiermesserscharfen Dornen aus dem Boden hinter Jack und verpasste ihm mit einem Hieb eine klaffende Wunde entlang der rechten Schulter und quer über den Rücken. Dann ein zweiter Schlag in die Kniekehlen. Faser für Faser nahm seine Kleidung das Blut auf, bis sich ein paar dicke, dunkelrote Streifen gebildet hatten. Jacks halb unterdrückter Schmerzensschrei ging in La Belles amüsiertem Gelächter gefolgt von einigen französischen Bemerkungen, deren Bedeutung ich nur erahnen konnte unter. Sie wischte über den Kopf der Hülle. Ein Teil des Nebels folgte ihrer Hand und bildete einen weiteren der Scherenkämpfer. Und dann noch einen und noch einen... So schnell, dass aus dem einem kleinen Helferlein eine ganze Gruppe wurde, die uns wie eine Horde böser Geister umringt hatten. Wie viele waren es? Zehn? Zwanzig? Da alle gleich aussahen, war es unmöglich, sie zu zählen. „Ist dir das nun Herausforderung genug?“ Die Magierin präsentierte stolz ihre... Produkte und bis sich auf die Unterlippe. „Dieser Kampf ist überfällig. Wir beide, an den Grenzen unserer Macht... allein schon der Gedanke erregt mich....“, stöhnte sie hervor und fuhr sich mit ihren Händen über Gesicht und Brust, als wäre diese Situation tatsächlich eine wahr gewordene, erotische Fantasie. „Dann lass uns den Tanz wagen, Jacob William Salem...“ Jack spuckte wütend aus und richtete sich mithilfe seines Degens auf, dann drehte er seinen Kopf leicht zur Seite und schaute den Kater und mich an. Selbst jetzt hatte meine Sicherheit für ihn oberste Priorität, das sah man sofort. „Coleman, ich weiß nicht, was Ihr Tarif ist, aber wenn Sie meine Tochter wohlbehalten zuhause absetzen, soll es Ihr Schaden nicht sein.“ „Vergiss es! Ich bleibe bei dir!“, rief ich, versuchte auf ihn zu zu kriechen doch Coleman hielt mich zurück und hob mich gegen meinen Willen hoch. Wütend wehrte ich mich dagegen, doch es war, als wären meine Muskeln mittlerweile wie ausgebrannt. „Lass mich los, Katze, ich will...“ „Das war keine Bitte, Alice!“ Jacks Stimme glich einem Donner und ließ beim geräuschempfindlichen Coleman die Nackenhaare zu Berge stehen. Ich wagte es nicht, noch einmal Widerworte zu geben. „Ich habe es dir gesagt, du bist der größte Schatz in meinem Leben. Ich kann dich aber jetzt nicht beschützen, also wirst du gehen.“ „Nein, das kannst du nicht...“ „Und wie glaubst du mir zu helfen?!“ Er hatte Recht. In meinem aktuellen Zustand war ich ihm doch nur ein Klotz am Bein und würde ihn nur unnötig in Gefahr bringen. Aber das konnte er trotzdem nicht verlangen. Ich wollte ihn nicht allein lassen... was wäre wenn... wenn er nicht mehr zurückkam? Der Gedanke ging mir nicht mehr aus dem Kopf, während Coleman mich an sich drückte und mit einem großen Satz über die Szenerie hinweg sprang. Véronique hielt uns nicht auf. Ich zeterte, schrie, flehte Coleman an, mich doch wenigstens in sicherer Entfernung abzusetzen, nur so nah, dass ich alles sehen konnte, doch er blieb hartnäckig und mir fehlte die Kraft, mich anständig zu wehren. Das Letzte was ich sah, bevor Coleman mich in Windeseile wegtrug, war, wie die Armee der Hüllen sich auf Jack stürzte, gefolgt von einem hellen Leuchten . Wie lange konnte so ein Duell dauern? Vielleicht war es in diesem Moment bereits vorbei. „Glaub bloß nicht, dass ich mich dafür jetzt entschuldige.“ Ich ignorierte Colemans Worte. Er hatte sein Tempo stark gedrosselt, als das Anwesen auf dem Hügel zu sehen war und horchte in dessen Richtung, suchte nach Geräuschen, die auf Gefahr schließen konnten. Doch da war nichts. Der Wind wehte seicht über meinen Körper und pfiff uns dabei ein sanftes Lied. Jack ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was, wenn er doch tot wäre? Ich hatte ihn gerade erst als meinen Vater kennengelernt, er konnte nicht jetzt schon wieder gehen. Das war nicht fair! „Bitte sag mir, dass er okay ist...“ Ich vergrub mein Gesicht in Colemans Weste. Sein Atem ging schwer und seine Arme zitterten leicht. Müdigkeit übermannte mich, so stark, dass ich nicht einmal weinen konnte. „Was soll ich dir erzählen? Nimm's mir nicht übel Alice, dein alter Herr ist ein guter Magier, er wird es La Belle nicht einfach machen. Aber er muss auch erschöpft gewesen sein von der Reise. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das kalt gelassen hat.“ „Das will ich nicht hören...“ „Und ich bin kein Märchenonkel. Diese Stadt – so sehr sie auch als märchenhaft beschrieben wird - hat schon lange keine Happy Ends mehr produziert. Willst du hören, was ich denke? Selbst, wenn Jack alle Hüllen tötet, ist La Belle noch immer fit. Und wenn sie keinem unerwarteten Anflug von Mitleid erliegt, dann wird sie es sich nicht nehmen lassen, ihn zu töten...“ „Das will ich nicht hören!“ Mein Schlag gegen seine Brust kam nicht mehr gleich, als einem kleinen Klopfer, den er wahrscheinlich nicht einmal wirklich wahrnahm. Auch mein Wimmern trieb ihn nicht dazu an, sich zu entschuldigen und eigentlich erwartete ich das auch nicht. Der Kater hatte bereits genug für mich getan. Es wirkte fast unwirklich, wie ruhig und friedlich die Villa dalag, wenn der Mond so tief stand, dass er fast die Spitze des oberen Dachs berührte und zeitgleich die Sonne an der anderen Seite des Horizonts aufging. Vier Monate waren vergangen, seit ich das Anwesen zum ersten Mal in voller Pracht sah, an jenem Tag, an dem Jack mir zum ersten Mal die Stadt gezeigt hatte. Um Vertrauen bat er mich damals, erkaufte es sich mit Geschenken, das gab er selbst zu... Jetzt betrachtet erschien es mir fast logisch, doch damals war es mir, als hätte ich ihm alles geglaubt, obwohl er nur ein Fremder war. Wie sehr nur wünschte ich mir, dass er jetzt bei mir wäre... Energisch schlug Coleman gegen die Tür, was mit mir im Schlepptau anstrengender war, als er zugeben wollte. Einmal. Keine Reaktion. Noch einmal. Es schien, als habe sich etwas in der oberen Etage geregt. In diesem Moment wäre der zickige Löwenkopf von Doktor Engels von Nutzen gewesen – auch wenn wir es wohl kaum ertragen würden uns täglich sehen zu müssen. Endlich hörte ich das ersehnte Klacken des Schlosses und einen Spalt weit – so weit es die Kette zuließ - öffnete sich die Tür und Fleurs rechtes Auge blickte hinaus. Für einen Moment überkam mich die Angst, dass dieses Mädchen dort vor mir nicht Fleur sein könnte. Was wäre nur, wenn Véronique doch hier war, wenn sie doch in das Haus eingebrochen und Fleur entführt, oder ihr gar Schlimmeres angetan hätte und hier nur eine weitere ihrer Hüllen stünde. Es hätte mich nicht einmal wirklich überrascht... Doch zum Glück erkannte ich diesen besorgten Gesichtsausdruck und den lebhaften Glanz im Auge, fast so als wäre es nicht einfach nur ein künstlich erschaffenes Wesen, sondern ohne Zweifel ein echter Mensch aus Fleisch und Blut, der hier vor mir stand. Schnell schlug sie die Tür wieder zu. Man hörte an kleinen Flüchen, dass sie mit der Sicherheitsvorrichtung leicht überfordert war und so dauerte es einen kurzen Moment, bis sie die Tür wieder aufriss und mich ansah, als wäre ich ein Geist. Den Kater, auf dessen Arm ich saß, schien sie nicht einmal wahrzunehmen. „Alice? Was in aller Welt machst du hier draußen, d-du solltest doch im Bett sein und und...“ „Lass uns bitte erst einmal reinkommen. Es war eine harte Nacht und ich bin todmüde.“ „Was? Ja natürlich... Ich meine nein, also schon, aber wer ist das? Und was ist mit Master Salem, er scheint auch außer Haus zu sein und...“ „Das ist der Kater der mich um mein Medaillon erleichtert hatte und dann bei mir einbrach, so wie ich es dir erzählt habe.“ Ihre Schuldgefühle waren unübersehbar und ich konnte es nicht verleugnen mich an dem Anblick zu erheitern, wie sich ihr Kopf beschämt zwischen ihren Schultern versteckte. Fleur war eine Konstante in meinem Leben geworden, obwohl wir uns noch nicht lange kannten. Ich konnte mir sicher sein, dass sie zwischen all den Höhen und Tiefen, bei mir war, um mich glücklich zu machen. Dafür liebte ich sie. Coleman setzte mich ab und ich begrüßte sie mit einem langanhaltenden Kuss. Die Berührung ihrer zarten, pulsierenden Lippen, das Vergraben meiner Finger in ihrem weichen Haar, ihr süßlich würziger Duft, und dazu der Blick in ihre Augen... in ihre wunderschönen, violetten Augen, gepaart mit diesem Lächeln, dass einem sagte: „Es ist alles wieder gut.“ All dies gab mir ein wenig von meiner Kraft zurück, die mich so urplötzlich verlassen hatte und es ließ mich für einen Moment meine Sorge um Jack vergessen. Fleur fragte nicht, wie ich nun dazu kam, sie vor jemand anderem zu küssen, warum es mir nichts mehr ausmachte, sondern erwiderte ihn einfach nur dankbar. Doch es war nicht die Zeit, den Moment auszukosten. „Bitte lasst uns erst einmal reingehen, ich habe viel zu erzählen...“ Je länger ich berichtete, was uns in dieser Nacht zugestoßen war, desto anstrengender wurde es, mich darauf zu konzentrieren. Meine Lider wurden schwer und immer wieder verschwamm meine Sicht zu einem unscharfen Einerlei für wenige Sekunden. Hinzu kam die Angst um Jack. Eine halbe Stunde verging und noch immer fehlte jede Spur von ihm und jede neue Minute, in der nichts passierte, zog sich immer länger. Colemans Miene verdüsterte sich, je später es wurde, doch er erwähnte nicht jene Befürchtung, die ihm ins Gesicht geschrieben stand und ich hätte sie auch nicht hören wollen. Nach einiger Zeit verließ er den Salon um vor der Tür Ausschau zu halten. „Das klingt alles so unglaublich...“ Fleur wusste sichtlich nicht, wie sie auf all das reagieren sollte, immerhin musste der Bericht über zerbrochene Zonen und Geisterbegegnungen selbst für sie – war sie doch aus Magie geboren – wie ein Produkt meiner Fantasie erklingen. Ich fragte sie, ob der Name Florence bei ihr Erinnerungen weckte, doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie musste meine Frage verneinen. „Aber es beruhigt mich, zu wissen, dass ich nicht nur geboren wurde, um zu sterben“, antwortete sie beruhigt. „Es ist nur eine Theorie. Und außerdem... was La Belle dir angetan hat, ist und bleibt unentschuldbar. Und beinahe hätte sie mich auch noch mit einer billigen Kopie von dir reingelegt. Wie konnte ich nur so blind sein...“ Fleur setzte sich auf die Lehne meines Sessels und umarmte mich. „Es ist okay. Du hattest dich um mich gesorgt und deswegen nicht richtig nachgedacht. Für mich beweist das nur, dass ich dir wirklich etwas bedeute und das ist mir wichtiger als alles andere auf der Welt.“ „Und dennoch ändert es nichts daran, dass sie jetzt gegen Jack kämpft und wenn er dabei stirbt...“ „Das wird er nicht!“ „Woher willst du das wissen?!“ Das Homunkulusmädchen lächelte mild und strich mir über die Wange. „Tue ich nicht. Aber ich glaube ganz fest daran und das solltest du auch.“ „Nicht alles ist allein mit Hoffnung gelöst.“ „Aber Zweifel löst genauso wenig.“ „Du hast ihn sehr gern, nicht wahr?“ Ich klang deutlich eifersüchtiger als ich wollte, doch Fleur ignorierte dies. „Als ich Master Salem zum ersten Mal traf, kannte ich nur einen weiteren Menschen: Madame La Belle. Ich kann mich daran erinnern, wie viel Hass er mir entgegenbrachte in der ersten Zeit, aber dennoch ließ er mich bei sich wohnen. Er sah in mir kaum mehr als eine Möglichkeit, Madame La Belle eins auszuwischen. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass dem so wäre. Doch mit der Zeit erkannte ich, dass er sich trotz alledem immer um mich sorgte und mich behandelte wie... ja, wie einen Menschen. Das... das war das erste Mal, dass ich an einem Ort wirklich willkommen war.“ „Ich glaube, ich weiß, was du meinst...“ „Und du bist auch so, Alice. Es kann vielleicht daran liegen, dass du so unwissend warst, als du mit dieser Welt konfrontiert wurdest, aber du hast mich einfach... normal behandelt.“ Sie hatte Recht. Ich habe sie nie als etwas anderes gesehen, als einen normalen Menschen. Bisher dachte ich, weil ich sie nie als etwas anderes kennengelernt hatte, aber da war noch etwas... Noch ein anderer Grund... Fleur stützte sich auf die Lehne und kam meinem Gesicht so nahe, dass ich ihren warmen, zittrigen Atem in meinem Gesicht spürte. Mein Herz raste immer schneller, während ihre Lippen den meinen immer näher kamen, bis die Spannung zwischen ihnen kribbelnde Funken hervorrief. Doch bevor wir uns küssen konnten, stürmte Coleman durch die Salontür. Mit einem Gesicht, als würde die Hölle losbrechen. Und scheinbar lag die Wahrheit nicht allzu weit davon entfernt. „Jemand ist auf dem Weg hierher! Eine Hundertschaft, oder so! Ich hörte mehrere Schritte, steif, kontrolliert, definitiv keine einfachen Bürger!“ Es war nicht zu übersehen. Der Kater, der sonst so schien, als hätte er immer alles unter Kontrolle, war panisch. Und das sollte etwas heißen. „So bewegt sich nur die Polizei von Taleswood. Wenn sie wirklich mit Mycraft unter einer Decke steckten, wie ich damals vermutete...“ Mir war schlagartig klar, was das hieß. Aber warum die Polizei? Was bedeutete das für den Kampf zwischen Véronique und Jack? Wurden sie etwa verhaftet, oder gar getötet? Schläge an der Tür. „Miss Alice, hier ist die Polizei! Machen Sie die Tür auf, wir haben nur ein paar Fragen!“ Ich kannte die Stimme. Das war Polizeichef Floyd, kein Zweifel. „Mach ihm bloß nicht auf!“, befahl mir Coleman. „Er wird kontrolliert, da bin ich mir sicher.“ „Wenn sie die Tür nicht öffnen, müssen wir Gewalt anwenden!“ Ein lauterer, stärkerer Rumms. Sie wollten also wirklich einbrechen! „Du musst hier weg, Alice! Sie werden nicht nur reden, glaube mir!“ Ich glaubte Coleman, zumal die Männer vor unserem Haus mir keinen Grund gaben, anders zu denken. Aber was sollte ich denn nur tun? Warum passierte das alles? Wieder einmal geriet alles außer Kontrolle, wieder zerbrach alles. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass jemand da oben sich einen wirklich üblen Scherz mit mir erlaubte. Und dabei hatte ich nach dem Saint Peter's doch mit dem ganzen Religionsschnickschnack abgeschlossen... Coleman rüttelte mich wach. Ein zweiter Rumms. Lange machte die Tür das nicht mehr mit. „Komm zu dir, Maeldun! Du musst hier weg, mit deiner Freundin! Ist das ein Portalspiegel?“ Der Spiegel, natürlich! Allerdings war ich nicht sicher, ob ich wirklich wusste, wie er funktionierte. In der Theorie musste man zwar nur den Wächter – so hieß die Figur in der Spitze des Rahmens – mit seinem Blut besudeln und an den Spiegel denken, zu dem man wollte, doch wer wusste schon, ob dies so einfach war. „I-ich weiß nicht ob ich das kann...“ „Du musst! Ich halte euch den Rücken frei. Hausmädchen! Nimm Alice und trage sie durch den Spiegel! Es ist wichtig, dass sie hier lebend rauskommt.“ Fleur gehorchte sofort. Anders als ich, war sie völlig bei der Sache. Fast schon gespenstisch, war sie doch sonst immer etwas langsam. Es schien, als witterte sie die Gefahr, die uns blühte. „Komm mit uns, oder flieh über die obere Etage!“ Ich griff Coleman am Arm und schaute tief in seine gelben Augen. „Aber bring dich selbst in Sicherheit!“ „Mach dir um mich keine Sorgen. Die Hauptsache ist, dass dir nichts passiert.“ „Warum ist dir das so wichtig?“ Er zögerte einen kurzen Moment. „Weil du etwas Besonderes bist. Ich habe es selbst gesehen. Außerdem... naja, so entstehen doch Freundschaften, oder? Und nun halt still.“ Mit einer Kralle kratzte er mir meine rechte Handfläche auf. Heiß und pulsierend trat mein Blut aus der Wunde, als würde es kochen. Fleur nahm mich auf und trug mich zu dem Spiegel. Und tatsächlich: als ich die Hand auf den Schlangenkopf legte und mir ganz genau meinen Spiegel in London vorstellte, verschwamm langsam die Oberfläche und wurde betretbar. Genau in dem Moment gab unsere Haustür nach. Alles was ich noch sah, bevor Fleur und ich hinter der Oberfläche verschwanden, war ein Polizist, der um die Ecke bog. Ein Schuss löste sich und der Kater... ging in einer roten Wolke zu Boden. Ich wollte noch schreien, doch es schien, als wäre meine Stimme eingefroren. Schneller, immer schneller rannte Fleur durch die pechschwarze Halle, während mein Blick über ihrer Schulter an dem kleinen, verschwommenen Bild hing, welches immer kleiner wurde, bis es nur noch ein Punkt im Nichts war. In diesem Moment traten wir aus der Halle. Übelkeit, Kopfschmerzen und das Gefühl als würden meine Glieder verbrennen mischten sich mit Angst, Schock und Trauer. Ich registrierte nichts mehr um mich herum. Sprach Fleur zu mir? Waren wir angekommen? Meine Sicht war nicht mehr als ein einziges leeres Grau und in meinen Ohren klang der Schall wider, als wären sie mit Wasser gefüllt. Und zeitgleich überkam mich eine Erkenntnis so klar und direkt, dass es mir Angst machte, wie gleichgültig sie mir doch gerade war: Coleman war tot. Jack war es vielleicht auch. Und ich... ich hatte gerade all meine magischen Kräfte verloren. Doch genauso schnell, verschwanden auch diese Gedanken, verblassten und wurden mir fremd, während sich mein Bewusstsein in die vollkommene Leere verabschiedete. Kapitel 15: Erwachen -------------------- Die brüchige, in Abendlicht getauchte Decke war das Erste, was ich sah, als ich erwachte. Die verworrenen, tiefen Risse ließen sich anfangs nur schwer erkennen und es dauerte einen Moment, bis sich meine Sicht scharfstellte. Meine Kehle war staubtrocken und mein Magen knurrte so gequält, als läge meine letzte Mahlzeit schon mehrere Tage zurück. Frischer, frühsommerlicher Wind zog unter meine Decke, krauchte mein Bein hoch und kitzelte meine nackte Haut. Scheinbar hatte ich letzte Nacht vergessen, mein Nachthemd anzuziehen. Letzte Nacht? Welchen Tag hatten wir eigentlich? Mein Kopf fühlte sich so leer an, als hätte ich eine monatelange Erinnerungslücke. Es waren verschwommene Bilder, wie Gemälde die im Regen ausgewaschen wurden: unklar, blass und somit unmöglich zu erkennen, was sie einst mal darstellten. Und ganz gleich, wie lange ich mich konzentrierte, es fühlte sich an, als hätte ich die letzten Tage nicht einmal existiert... Mir war unwohl, aber sicherlich gab es dafür eine einfache Erklärung. „Am besten frage ich Thomas, was vorgefallen war“, flüsterte ich. „Dann kommen die Erinnerungen sicherlich wieder.“ Doch gerade als ich mich streckte, zuckte meine rechte Hand zurück, denn sie hatte etwas – oder jemanden - in meinem Bett berührt. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht einer hübschen, jungen Frau, mit seltsam grauem Haar. Verdammt! Schlagartig war ich hellwach und fuhr hoch. Mit einem leichtem Räkeln reagierte sie auf meine Bewegungen, blieb jedoch schlafend und zu meinem Glück entblößte die verrutschte Decke, dass sie selbst zumindest irgendeine Kleidung trug – zu meinem Erstaunen sah es fast aus, wie ein Dienstmädchenkostüm. Das bedeutete zwar nicht, dass zwischen mir und der Fremden nichts in der Nacht gelaufen war, verringerte aber zumindest die Wahrscheinlichkeit. Doch war sie wirklich fremd? Es war, als hätte ich sie schon einmal gesehen, etwa so wie bei einem Déja-Vu. Bei näherer Betrachtung fiel mir auf, wie eben, gleichmäßig und rein ihre Haut war, als sei sie aus feinstem Porzellan. Vorsichtig strich ich ihr über Haut und Haar. Wie weich... Wenn wir beide wirklich miteinander geschlafen hatten - aus welchem Grund auch immer - dann war es nichts, wofür man sich schämen müsste - abgesehen von der Tatsache, dass wir beide Frauen waren. Trotz ihres sonderbaren Aussehens konnte ich nicht verleugnen, dass sie wirklich schön war. Fast schon betörend schön. Je länger ich das Mädchen anschaute, desto mehr machte sich das Gefühl in mir breit, dass ich sie kannte und desto mehr verstärkte sich meine Neugier, ob wir uns näher gekommen waren. Wie sich solch zarte Lippen wohl anfühlten zu küssen...? Zeichen, dass sie langsam aufwachte, ließen mich zurückweichen und mein Herz schneller schlagen. Ich hatte das sonderbare Mädchen vielleicht für einen Albino gehalten, doch soweit ich wusste waren deren Augen rot. Ihre hingegen leuchteten in einem ruhigen, durchdringenden Violett, so unwirklich pur, dass ich ernsthafte Zweifel hegen musste, hier einen Menschen vor mir zu haben. Aber was sollte sie denn sonst sein? Ein beruhigtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie mich erblickte und sie richtete sich langsam auf. Sie schien etwas größer als ich zu sein – in mehr als nur einem Zusammenhang – woraus ich schloss, dass sie ein wenig älter als ich sein musste, vielleicht 18 oder 19 Jahre alt. „Du bist wach, ich bin so froh. Als wir heute morgen hier ankamen, warst du sofort in Ohnmacht gefallen und hast dann den ganzen Tag durchgeschlafen. Ich dachte schon, du würdest diesmal wirklich nicht mehr aufwachen...“ Ich hatte einen ganzen Tag durchgeschlafen? Das erklärte zumindest, wieso mein Magen mir bis zu den Kniekehlen hing... nein Sekunde! „W-was soll das heißen, diesmal?! Und wer bist du überhaupt?!“ Nun war es eindeutig das wir uns kannten, war es doch unübersehbar, wie überrascht und zeitgleich verletzt das seltsame Mädchen über meine Frage war. Doch der Ausdruck verflog binnen Sekunden. „Ist schon okay, Alice. Du bist sicherlich nur ziemlich durcheinander. Wen wundert das, du musst ja komplett dehydriert sein. Bleib du liegen und ich bringe dir etwas zu trinken.“ Es war wohl kaum ihre Absicht, dennoch überkam mich ein extremes Gefühl des Schams, als sie mich wieder ins Bett drücken wollte und dabei die Decke zurückfiel, welche ich zum Bedecken meiner Brust benutzt hatte. Hitze stieg in ihre Wangen, so wie auch in die meinen. „T-tut mir leid, das war keine Absicht. Und bevor du fragst: I-ich habe dich ausgezogen, um dir deine Bandagen abzunehmen und dich mit einem kühlen Lappen abzuwaschen, weil du so geschwitzt hast... Aber ich habe nichts unanständiges gemacht, das schwöre ich! N-Naja, ich habe schon hingeguckt u-und ich musste dich zum Waschen auch anfassen, aber in keiner belästigenden Absicht, oder so!“ Eine fiebrige Hitze fuhr wie ein Blitz von meinem Rückgrat bis in meine Brust und zog ein leichtes Schaudern mit sich. Leider hatte ich eine sehr bildliche Fantasie und ihre zusätzliche Bemerkung verstärkte nur die Vorstellung, wie sie mir über Brust und Glieder strich, meine Haut mit ihren zarten Händen massierte... die schwachen Berührungen mehr und mehr einem lüsternen Grapschen gleichkamen... sie nach und nach meinen ruhenden Körper mit ihren Händen erforschte, bis sie beim Schritt ankam und vielleicht doch meine Wehrlosigkeit ausnutzte... dann langsam stöhnend ihre Finger in mich schob und gleichmäßig rhythmisch bewegte, bis ich in meiner Ohnmacht unbewusste Laute der Lust von mir gab und... verdammt, warum erregte mich der Gedanke nur so? Und was fiel mir ein, dem Mädchen, das alles sofort zu unterstellen? Wer sagte denn, dass sie überhaupt so tickte? Mehr noch, irgendwie war ich mir gewiss, dass sie die Wahrheit sagte, warum auch immer... Es war zum Haare raufen. Da fiel mir etwas ein: „Wie hattest du mich genannt?“ „Alice“, antwortete sie ohne zu zögern, doch ich sah, dass sie sich langsam ernsthafte Sorgen um meine geistige Gesundheit zu machen schien, so sehr wie sie ihre Stirn in Falten legte. Nur woher hatte sie diesen aufgeschnappt und warum - nebst allem anderen - wirkte er so vertraut? In jedem Falle war er besser als mein Echter, aber dennoch... „Hör mal, ich heiße Sarah und nicht Alice. Vielleicht habe ich dir gestern den falschen Namen gegeben, das tut mir leid. Auch dafür, was vielleicht gestern vorgefallen war, nachdem wir uns kennengelernt haben...“ „Gestern? Wir kennen uns seit mehreren Monaten!“, kam es von ihr erzürnt rüber, denn es musste für sie wohl so wirken, als spielte ich ihr einen üblen Streich. „Hör zu, ich habe mir die letzten Tage fast ununterbrochen Sorgen um dich gemacht und habe dementsprechend keine Lust auf solche...“ „Ich weiß nicht, wovon du redest!“ Sie glaubte mir nicht, das sah ich ihr an. Wer konnte es ihr verdenken, schien es doch so, als stünden wir uns tatsächlich nahe... seit Monaten? Warum nur konnte ich mich seit meinem Geburtstag an keinen Tag mehr klar erinnern? Stärker strengte ich mich an, doch selbst die banalsten Dinge waren wie weggeblasen und das führte dazu, dass ich anfing vor Frust an der Decke zu zerren und laut mit den Zähnen zu knirschen. Nur eine Kleinigkeit, irgendwas... „Warte... du... kannst dich wirklich nicht erinnern?“ Ihre Stimme klang entschuldigend, doch gleichzeitig so, als würde sie das zutiefst verletzen. Als hätten wir zusammen viel erlebt, was man niemals vergessen würde und ich... ich habe es dann doch vergessen. „Es ist schwer zu erklären. Dein Gesicht ist mir vertraut, dennoch kann ich es nicht zuordnen und wenn ich an all die Dinge denke, die in den letzten Wochen vorgefallen sein könnten, ist es, als wäre einfach nichts erinnerungswürdiges passiert. Da ist einfach... nichts...“ Ein kleiner Schrecken entfuhr mir, als das Mädchen sich schnell zu mir setzte und mir mit nervöser Miene tief in die Augen blickte. „Verflucht, das ist schlecht... das ist sehr schlecht...“, murmelte sie aufgeregt. Sie packte meine Hände und besah sie sich genau, dann drückte sie mir eine Kette in die Hand. Es war ein hübsches goldenes Medaillon mit aufwendigen Verzierungen aus hochwertigen Steinen – ein unbezahlbares Schmuckstück. „Erkennst du das hier wieder?!“ „Ich... nein, das wüsste ich“, lachte ich verunsichert. Doch kannte ich es wirklich nicht? Genau wie das Mädchen vor mir, dessen Name mir noch immer partout nicht einfallen wollte, strahlte die Kette eine gewisse Vertrautheit aus, als habe sie mal einen hohen persönlichen Wert für mich besessen. „Schnippe mit den Fingern!“, befahl sie mir darauf und blickte mich noch dringlicher an. „Was, wieso?“ „Bitte tu es einfach und stell dir dabei vor... stell dir dabei vor, du würdest dadurch Feuer machen wollen!“ Mir war klar, dass mit mir etwas nicht stimmte, doch anscheinend saßen auch bei meinem Gegenüber einige Schrauben locker. Doch in ihrer Stimme lag eine solche Dringlichkeit, dass es schien als würde davon das Schicksal der Welt abhängen. So schlug ich Daumen und Mittelfinger schnell aneinander und stellte mir dabei vor... naja,was eigentlich? Ich stellte mir vor, dass vielleicht ein Funke kommen würde, oder die Reibung meine Finger entzünden könnte, aber erwartungsgemäß passierte nichts davon. „So, zufrieden?“ Nein, zufrieden war sie sicherlich nicht. Die junge Frau geriet in Panik, sprang vom Bett und stapfte im Zimmer auf und ab. „Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein...“, murmelte sie. „Was haben wir nur getan, warum ist das denn nur passiert...?“ „Beruhig dich doch erstmal!“, bat ich sie energisch, da ich endlich eine Erklärung haben wollte. „Ich sagte dir doch, ich kann mich an nichts erinnern. Ich verstehe nicht, was passiert ist und wer du bist, also hilf mir doch zunächst damit auf die Sprünge!“ Ich wünschte, ich hätte dies nicht verlangt. Langsam und unnötig umständlich erzählte mir Fleur - so nannte sich das sonderbare Mädchen - was mir angeblich in den letzten Monaten widerfahren war. Von einer Stadt inmitten eines Waldes, voller Fabelwesen und Magiern und ich mittendrin, als Schülerin eines Mannes, der mein leiblicher Vater sein sollte, bis die Sache eskalierte und sie mit mir von dort fliehen musste und nun hatte ich alles vergessen. Jeder andere hätte kein Wort geglaubt, doch es war mir, als stimmte dies alles. Als hätte ich all das erlebt, dennoch kamen keine Bilder zum Vorschein, die es hätten belegen können. Und so war es dennoch nur ein Märchen, so ernst ich es auch nehmen wollte. Doch es erklärte zumindest, warum sie so merkwürdig aussah. „Aber was genau bist du?“ „...Ich...“, begann sie zögernd und es schien, als hätte sie Angst davor, wie ich reagieren könnte. „Ich bin kein echter Mensch. Ich wurde nicht geboren, sondern aus chemischen Zutaten mithilfe von Magie gebraut. Ich altere nicht und entwickle mich auch geistig niemals weiter. Man nennt meine Art Homunkulus. Wir sind künstliche, menschenähnliche Wesen, oftmals benutzt für niedere Arbeiten, oder - wie in meinem Fall - um im Namen der Wissenschaft unser kurzes Leben zu geben. Master Salem - dein Vater - hatte mich davor gerettet und ich war aus Dankbarkeit als Hausmädchen bei ihm geblieben.“ Sie machte eine kurze Pause bevor sie weitersprach. Ich wagte es nicht sie zu unterbrechen, verstand ich doch sowieso nur die Hälfte von dem, was sie erzählte. „Für ihn und auch für dich war meine Herkunft bedeutungslos. Ihr habt mich behandelt wie einen echten Menschen und wir zwei... ich weiß nicht, wie ich das sagen soll... wir waren ineinander verliebt.“ Mehr als ein verunsichertes Lachen konnte ich mir nicht abgewinnen. Fleurs Schönheit war über jeden Zweifel erhaben und sie schien eine gute... Person zu sein, aber verliebt? Das konnte ich mir nicht vorstellen, so war ich doch gar nicht... „Ist das etwa auch alles weg?“ Fleur schaute mich mit großen Augen an und schien den Tränen nahe zu sein. Ich konnte mir nur in Ansätzen vorstellen, wie es sich wohl anfühlen musste, an der Seite von jemandem zu stehen, der sich nicht einmal an deinen Namen erinnern konnte – und nun sogar die Liebe, welche beide einst angeblich verband, verleugnete. Und tatsächlich kullerten zwei dicke, klare Tränen aus ihren verwaschenen Augen. Doch wer sagte, dass alles, was sie mir erzählte, auch der Wahrheit entsprach? Wenn es Magie doch wirklich gab, wäre es dann nicht auch ein Leichtes, mich von dieser Geschichte zu überzeugen? So oder so waren meine echten Erinnerungen versteckt, doch ich spürte, dass sie nicht gänzlich verloren waren. Es schien eher so, als würden sie schlummern... Eine schaurige Vorstellung. Ich brauchte frische Luft nach der ganzen Geschichte, doch als ich gerade aufstehen wollte, hielt Fleur mich fest. „Ich flehe dich an, Alice“, schluchzte sie. „Bitte sage mir, dass ein kleiner Teil von dir sich noch an unsere Zeit erinnert. Bitte sage mir, dass es einen Teil in dir gibt, der mich noch immer liebt.“ Ein Stück weit tat sie mir ja leid, aber ich musste ihre Bitte mit einem Kopfschütteln beantworten, auch wenn dies bedeutete, sie nur noch trauriger zu machen. Ein klägliches Quieken kam aus ihr und ich wischte ihr die herunterlaufenden Tränen von den Wangen. Sie erschien so zerbrechlich, dass ich mich in ihrer Nähe besonders vorsichtig verhielt. „Verzeih Fleur. Ich glaube dir deine Geschichte - vorerst - aber das bringt nicht die Alice zurück, die ich vielleicht einst war. Vielleicht waren wir in Taleswood ein Paar, aber in meinem Hier und Jetzt... ich kann deine Gefühle nicht vollends erwidern. Ich muss nun erst einmal den Kopf frei kriegen, ein wenig spazieren gehen oder so.“ Es bedurfte einer kurzen Bedenkzeit, bis ich fortsetzte: „Und zwar allein. Aber wenn du möchtest kannst du gern hier warten.“ „Du vertraust mir?“ „Ich denke schon. Ich glaube nicht, dass du mich anlügst, maximal weißt du es nicht besser. Mitnehmen kann und will ich dich nicht, dafür bist du zu auffällig, aber wie gesagt, es steht dir frei, hierzubleiben. Fühl' dich wie zuhause... erwarte nur nicht allzu viel.“ „Gibt es denn nichts, was ich für dich tun kann?“ Was für ein merkwürdiges Mädchen. Sie schien komplett auf mich fixiert zu sein und obwohl ich doch gerade ihre Gefühle verletzt haben musste, hielt sie das nicht davon ab, mir beizustehen. Selbst wenn ich sie gerade erst kennengelernt hatte, gab es mir ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich jemanden auf meiner Seite wusste. Kühles Wasser ließ ich meine ausgetrocknete Kehle hinunterlaufen, bevor ich mich anzog. Fleur drehte sich beschämt zur Seite und auch mir machte es mehr aus, nackt vor ihr zu stehen, als ich zugeben wollte. Ob es daran lag, wie sie für mich empfand? Ironischerweise empfand ich weniger Scham als viel mehr Erregung darin, mich ihr so zu präsentieren und ihre flüchtigen Blicke zu erhaschen, derer sie sich bei aller Disziplin nicht erwehren konnte. Sie war süß, keine Frage. Ihre schönen Rundungen und das liebliche Gesicht, in Kombination mit ihrer ungewöhnlichen Erscheinung, hatten einen ganz eigenen Charme. Noch dazu duftete sie so verflucht gut. Nichtsdestotrotz konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, mich irgendwann mal in sie verliebt zu haben. Aber wenn dem so war... ich musste ihn sehen. Es würde mir dann sicher wieder besser gehen. Immerhin liebte ich Thomas... oder? „Wie geht es deinen Beinen?“, fragte sie schließlich. „Du meinst wegen des Unfalls, den ich laut dir hatte?“ Tatsächlich schmerzten sie ein wenig, wenn ich Druck auf sie ausübte, doch ich konnte laufen. „Ich glaube es geht, danke.“ „Der Doc hat wirklich ein gutes Händchen. Hoffentlich ist sie okay...“ „Du machst dir Sorgen um die Menschen in Taleswood, nicht wahr?“ „Taleswood ist meine Heimat, auch wenn sie nicht immer gut zu mir war. Aber ich will trotzdem helfen! So gut ich kann... Deswegen müssen wir wieder zurück! Du musst ihnen helfen! Du musst deinem Vater helfen!“ „Ich muss gar nichts, Fleur!“ Es ging mir auf die Nerven, wie sie mich dazu drängte zurück in dieses Taleswood zu gehen, von dem ich doch nichts wusste. „Du weißt nicht, wie wir dorthin kommen, ich weiß es nicht, also WAS WILLST DU TUN UM UNS DAHIN ZU BRINGEN?!“ In dem Moment in dem ich laut wurde, bereute ich es auch zeitgleich. Fleur zuckte zusammen doch blieb ruhig und entspannt. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie losweinen würde, aber stattdessen atmete sie kurz durch und machte einen kleinen Knicks. „Du hast Recht. Solange du deine Erinnerungen nicht wieder hast, sitzen wir hier fest. Es ist nur... ach egal. Bitte verzeih, wenn es dir hilft, dann lasse ich dich jetzt allein. Ich... werde einfach hier warten...“ Ich wartete keine weitere Antwort mehr ab, sondern zog mich an und verließ das Zimmer so schnell es ging. Meine Kleider rochen muffig, als hätte ich sie schon lange nicht mehr angezogen. Doch es war das einzige, was ich hatte, was blieb mir also übrig? Big Ben schlug sechs, als ich aus der Pforte der Ruine auf die gepflasterte Straße trat. Die letzten warmen Strahlen kitzelten meine Nase und tauchten die sonst so verruchte Straße in ein freundliches, orangenes Licht. Noch waren die Gaslaternen nicht erhellt, doch das würden sie gleich. Die letzten Arbeiter kamen von ihrer Schicht heim, waren auf den Weg in den nächsten Pub, oder sprachen mit den Huren in der Gosse. London bereitete sich langsam auf sein Nachtleben vor und beinahe hätte ich gesagt, es wäre alles beim Alten, doch da fiel mir noch nicht auf, wie unnatürlich finster und leblos die Fenster gegenüber mir waren. Rußbefleckt, stand die Tür zur Steamed Rat offen - nein, sie war komplett aus den Angeln genommen - und präsentierte ein mattes, pechschwarzes Innenleben. Die Fenster waren zu abstrakten Formen verdreht, die keiner echten Struktur zugeordnet werden konnten, das Glas geschmolzen und zersplittert. Die Luft im Inneren war schwer und trocken und es roch nur noch leicht nach verbranntem Holz. Es war wohl schon länger her, seit das Feuer ausgebrochen war. Warum konnte ich mich daran nicht mehr erinnern...? Schnell stürmte ich auf die Straße und suchte nach einem bekannten Gesicht, das ich darüber ausfragen konnte, doch auf einmal war mir jeder in der Stadt fremd. Niemand sah so aus, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Müssten nicht Deans Jungs zu dieser Zeit auf den Straßen sein? Tatsächlich! Groß, breitschultrig... keine Frage, das war einer von Deans Bodyguards... allein? „Hey!“, rief ich und lief auf ihn zu. Seinem Blick nach zu urteilen, musste er einen Geist vor sich stehen haben und trotz dessen, wie ausgelaugt ich mich fühlte, war ich mir ziemlich sicher, dass ich quicklebendig war. Bleich wurde sein Gesicht, als er mich sah und es bildeten sich Schweißtropfen auf der Stirn. Eine Sekunde noch schien er zu überlegen, ob er weglaufen sollte, doch ich war ihm schon zu nahe. Warum nur hatte dieser Fleischbrocken so viel Angst vor einem kleinen Mädchen wie mir? „S-Sarah? Scheiße, ich dachte fast du wärst tot...“ „Tot?“ „N-nach der Sache mit Dean... Ich schwöre dir, wir sind Tom nicht mehr zu nahe gekommen, also bitte tu mir nicht weh!“ „Wovon redest du?“, versuchte ich ihn zum Reden zu bekommen, doch mit jedem Schritt den ich ihm näher kam, ging er einen zurück und fing langsam an zu wimmern. Aber das konnte ich auch zu meinem Vorteil verwenden, also packte ich ihn am Ärmel. „Was ist mit der Steamed Rat passiert? Lebt Tom noch?!“ „Thomas? Der ist doch daran schuld! Seit du weg bist, hat der Kerl einen totalen Schuss!“ Unmöglich... Mein Tom sollte für all das hier verantwortlich sein? Mein lieber, schüchterner, zurückhaltender Thomas, der keiner Fliege was zur Leide tun könnte? „Willst du mich eigentlich verarschen?!“, knurrte ich ihn an, denn von allem, was ich heute gehört hatte, glaubte ich diesen Mist am allerwenigsten. „Ich schwöre, es ist die Wahrheit. Frag ihn doch selbst, wenn du mir nicht glaubst! Aber bitte lass mich in Ruhe...“ Endlich ließ ich von dem heulenden Gorilla ab. Die Sache mit Dean... Was das wohl bedeutete? Ich bezweifelte, dass ich noch etwas Vernünftiges aus ihm bekam. Hoffentlich kannte Tom die Antworten. Und hoffentlich... hoffentlich erkannte ich ihn noch wieder. Kapitel 16: Thomas ------------------ Obwohl ich seine Adresse kannte, war ich noch nie zuvor bei Thomas zu Hause. Umgekehrt sah es genauso aus. Unser Hauptkontakt bestand eigentlich ausschließlich aus meinen Besuchen in der Steamed Rat, doch es brauchte nie mehr, als die wenigen Minuten vor und nach seinem Dienst, dass wir einander ans Herz wuchsen. Zumindest daran konnte ich mich noch sehr gut erinnern: Es war ein paar Wochen nachdem ich die Ruine bezogen hatte. Sobald die Euphorie, dem alten Gefängnis entkommen zu sein, verflog, blieb ein Gefühl der Einsamkeit zurück, das ich in Whitechapel so zuvor nie empfunden hatte. Früher dachte ich immer, ich kannte alle Ecken und alle Menschen, aber dies war nur eine kindliche Illusion. In Wahrheit war mir alles außerhalb meiner gewohnten Bahnen fremd und ich war allein. Deprimiert ging ich Tag für Tag durch die Straßen, stahl mir vom Markt ein bisschen Geld zum Überleben zusammen, doch die meiste Zeit starrte ich vom Balkon aus ins Leere. Ich vermisste nicht das Heim, aber die Kinder dort; Menschen, mit denen ich mein Leid teilte, mit denen ich mich verstand, die mir halfen, den Alltag zu überstehen. Hier draußen war man ein Niemand, ein Schatten unter tausenden und es war den anderen gleichgültig, wie es um dich stand, solange sie nicht deinen Schmerz teilten. Beinahe hätte ich sogar in der nächstbesten Fabrik angeheuert, nur um Leidensgenossen zu finden, als er mir einen Abend im Mai - fast genau vor vier Jahren - auffiel. Dabei sah er nicht einmal besonders aus, oder verhielt sich auffällig, nein... er war einfach wie ich... unsichtbar... ein Schatten, der schüchtern zwischen den Pöbeleien hindurchhuschte, in den ramponierten Pub, der meiner Ruine gegenüber lag. Es schien mir erst, als wäre er nur eine Einbildung gewesen, so unscheinbar war der dürre Junge mit dem dunklen Haar. Doch ich blieb sitzen, mich ans Geländer klammernd, die Beine von der Kante baumelnd und fixierte mit meinem Blick den Eingang zur Steamed Rat, wie ich den verwitterten, hölzernen Lettern darüber zum ersten Mal bewusst entnahm. „Hoffentlich bieten sie nicht wirklich gedämpfte Ratte an“, murmelte ich. „Wobei... wenn sie es nicht tun, wären das ja falsche Versprechungen...“ Wie lange ich noch über diese und ähnlich belanglose Fragen in jener Nacht sinnierte, könnte ich mittlerweile beim besten Willen nicht sagen, doch es half mir dabei, die Zeit totzuschlagen, denn ich wusste: In dem Moment, in dem ich aufgegeben und mich weggedreht hätte, hätte ich den Jungen abgeschrieben – und ab dann niemals mehr wahrgenommen. Egal wie lange es dauerte, egal wie sehr mich die Müdigkeit immer wieder übermannte. Ich musste ihn sehen, mich vergewissern, dass ich nicht nur ein Gespenst gesehen hatte. Doch meine Hoffnungen versiegten, als die Lichter des Pubs erlöschten, nach einer ewig langen Nacht, in der nichts geschah. Die ersten Sonnenstrahlen ließen sich bereits am Horizont erahnen, als der Letzte aus dem Lokal torkelte und Stille in meinem Block einkehrte. Big Ben schlug gerade zur vierten Stunde des Tages. Er war wohl doch nur Einbildung... Und beinahe hätte ich mich zu Bett begeben, da hörte ich ein geräuschvolles Rumoren an der Pubtür. Abgenutzte Kleidung, die trotzdem mit großem Eifer gesäubert und gebügelt worden war und eine dürre Figur einkleidete, die stolz und aufrichtig voran ging, mit kaputtem dunklem Haar, das dennoch - so gut es ging - gekämmt war. Der Verdacht bestand schon zuvor, nun war er jedoch Gewissheit: Dieser Junge fiel mir auf, denn er passte in Whitechapel und zeitgleich tat er es auch nicht, oder besser gesagt: er wollte es nicht. So, als wäre er am falschen Ort geboren worden. Er war anders, keine Frage. Und das weckte von der ersten Sekunde an mein Interesse an ihm. Von dort vergingen anderthalb Wochen, in der ich jeden Tag geduldig auf seine Ankunft wartete und ihn dabei beobachtete, wie er die Steamed Rat betrat. Doch ich sprach ihn nie an. Nicht zwangsläufig aus Angst - auch wenn diese eine gewisse Rolle gespielt haben könnte. Ihn zu beschatten war vor allem ein lustiger Zeitvertreib und ihn anzusprechen hätte diesen beendet. Mir fiel auf, wie unterschiedlich seine Schichten ausfielen. Von Sonnabend auf Sonntag schloss er gegen vier ab und kam um neun wieder, um für ein paar Stunden aufzuräumen. Unter der Woche war bereits gegen Mitternacht Feierabend, doch dafür kam er um vier wieder und servierte den Arbeitern einen Kaffee zur Stärkung, verkaufte ihnen aber auch Tabak und kleine Lunchpakete für die Arbeit. Einen freien Tag hatte er scheinbar nicht und arbeitete jeden Tag etwa elf Stunden lang. Ich fragte mich, was er wohl in der wenigen Freizeit machte, die ihm verblieb. Wahrscheinlich schlafen, denn dort zu arbeiten musste an den Kräften zehren. Und so, wie er aussah, wurde er dafür nicht gut genug bezahlt. Armer Tropf. Ich mochte ihn, ohne ihn wirklich zu kennen. Wir waren beide Niemand und nicht ein einziger in unserem Block nahm uns überhaupt wahr. Wir waren... Leidensgenossen, zu einem gewissen Grad. Und es war diese Erkenntnis, die mich allen Mut zusammennehmen ließ, ihn anzusprechen. „Hey!“, rief ich von meinem Balkon aus hinunter, denn ich dachte mir, dass es auf die kecke, direkte Art am besten funktionieren würde. Der Junge blieb einen Moment stehen und schaute sich verunsichert um, konnte er offensichtlich nicht ausmachen, aus welcher Richtung der Ruf kam, geschweige denn, ob er gerade gemeint war. „Ja, dich meine ich! Hier oben! Etwas mehr nach rechts... mein Rechts!“ Endlich sah er mich an, mit einem Paar müden, trockenen Augen. Mein Herz schlug schneller. Nicht aus Aufregung, sondern aus Nervosität, denn in meinem blinden Aktionismus hatte ich noch gar nicht den kommenden Schritt durchdacht. Was sollte ich denn nun zu ihm sagen? Ich wusste eigentlich gar nicht, wie man sich in der richtigen Welt Freunde suchte. Im Saint Peter's waren sie einfach schon immer da gewesen. Es war sein schwaches Lächeln, das meine Anspannung löste. „Wie geht’s?“, fragte ich nach einigen Momenten peinlichen Schweigens und beantwortete seine Mimik mit einem schiefen Grinsen. „Ganz gut, denke ich. Und selbst?“ „Ja... ganz gut trifft es... ganz gut. Arbeitest du da?“ Ich zeigte auf den Pub. Eigentlich eine unnötige Frage, aber er wusste ja nicht, dass ich ihn die letzten Tage bespitzelt hatte und es gab mir Zeit, über ein anständiges Gesprächsthema nachzudenken. „Ich bin der Kellner“, antwortete er nickend. „Bist du nicht etwas zu jung, um Alkohol auszuschenken?“, entgegnete ich lachend, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte meinen Rücken, bis ich ein leises Knacken vernahm. Mit der Zeit war es mehr als unangenehm, nonstop am Geländer zu sitzen. „Und bist du nicht etwas zu jung, um so spät noch hier draußen rumzulaufen?“ „Ich wohne hier.“ „In der Ruine?“ „Nee, nur auf dem Balkon“, konterte ich und streckte ihm die Zunge raus. Er schien nicht ganz zu glauben, dass jemand in der Ruine noch wohnen könnte und wenn man ihren Zustand - außerhalb meines Zimmers - betrachtete, war dies auch kaum verwunderlich. Eigentlich hätte die Bude schon vor meiner Ankunft nicht mehr stehen dürfen. „Willst du nicht hochkommen? Ich kann dir mein Zimmer zeigen“, bot ich kurzerhand an, bereute meinen Übereifer jedoch sofort. Ich kannte den Jungen doch gar nicht. Was, wenn er nicht so nett war, wie er schien? Doch meine Bedenken lösten sich von selbst, denn er verzog nur das Gesicht und antwortete: „Wenn es recht ist, bleibe ich lieber draußen.“ Er war der erste von vielen, die sich - aus welchen Gründen auch immer - niemals dazu durchringen konnten, auch nur einen Fuß in mein Zuhause zu setzen. Ein Geheimnis, das ich bis heute nicht gelöst hatte... „Also du wohnst wirklich da drin? Mit deinen Eltern?“, hakte er nach, noch immer ernsthaft an meiner Aussage zweifelnd. „Seh' ich so aus, als ob ich welche hätte?“ „Jeder hat Eltern.“ „Ich aber nicht.“ Und damit stand ich nicht allein. Ich war zwischen Elternlosen aufgewachsen. Und wir hatten keine, nicht weil unsere Erzeuger tot waren, sondern weil sie keine Eltern sein wollten. Daher sei es einem kleinen Mädchen nicht zu verübeln, wenn es auf solche Fragen leicht verbittert reagierte. Auch wenn mein Gegenüber nichts dafür konnte. „Also bist du da ganz allein?“ Ich nickte. „Kommst du aus einem Heim?“ Ich nickte wieder. „Bist wohl ausgebüchst, wie?“ „Du hast ja eine echte Kombinationsgabe, Mister Scotland Yard“, gab ich zurück, denn mit frechen Antworten konnte ich aufkommende negative Emotionen – ganz gleich ob Wut, Trauer, Hass, oder Angst - schon immer am besten überspielen. Wenn man mich im Heim ohrfeigte, hielt ich nicht demütig die andere Wange hin, sondern provozierte den zweiten Schlag. Ja, damit machte man sich unbeliebt bei seinem Gegenüber. Satans-Sarah nannten sie mich, aber ich konnte nicht ändern, wer ich war. Umso mehr freute es mich, als der Junge anfing über meine Bemerkung leise zu lachen. „Netter Einfall, aber ich heiße eigentlich Thomas. Thomas Nowak. Und du?“ „Ich bin Sarah.“ „Nur Sarah?“ „Nur Sarah. Für 'nen Nachnamen fehlte den Fatzken die Kreativität.“ „Wow. Du kommst nicht zufällig aus dem Saint Peter's? Das würde mich zumindest nicht wundern...“ „Du bist ja ein richtiger Detektiv“, stichelte ich Thomas weiter an, wollte unbedingt herausfinden, wo seine Geduld reißen könnte. Es lag wohl daran, wie ruhig und sanft er auf mich wirkte. Etwas, das im düstersten aller Stadtteile der düstersten aller Städte wie eine Rarität wirkte. Irgendwo musste sein Knackpunkt sein, der Punkt, an dem ihm eine kleine Göre wie meine Wenigkeit auf den Keks gehen würde, doch tatsächlich schien er sich noch immer über meine Aussagen zu amüsieren. Fast so, als... als ob er mich wirklich mochte... „Naja ich lese gerne Kriminalgeschichten. Kennst du Doyle?“, fragte er nach kurzer Zeit. „Wen?“ „Edgar Allen Poe? Wilkie Collins?“ „Dir ist aber schon bewusst, dass du mit einem Straßenkind sprichst, oder?“ Er winkte lächelnd ab. „Ist auch nicht so wichtig. Es freut mich jedenfalls, dich kennen zu lernen, Sarah.“ Daran heute zu denken - einem Tag, an dem ich meine Straße wieder mit dem Gefühl betrat, eine Fremde zu sein - half mir dabei, neuen Mut zu fassen. Ich erwartete nicht, dass Tom mir auf der Stelle mit meinem Gedächtnisproblem helfen könnte. Aber er war klug, weltoffen und hilfsbereit. Und vielleicht würde es mir schon helfen, wenn er mir einfach erzählte, was in letzter Zeit passiert war. Vorausgesetzt, er war noch der Alte... Die Worte von Deans Leibwächter hingen mir noch immer im Ohr und dämpften das Geräusch meiner Schritte auf den Pflastersteinen, genauso wie alle anderen Töne, Gerüche und Eindrücke, die mir London bot. Ich nahm sie nicht wahr, das Treiben in den Pubs, die Schreie von den Bolzplätzen, das Rumhuren in den Gossen. Tom sollte an dem Feuer schuld sein? Ich konnte es mir kaum vorstellen, aber wenn dem so war... Der Gedanke daran ließ meine Bewegungen immer zögernder werden, mich Umwege gehen und so erreichte ich die Adresse, welche eigentlich nur wenige Minuten von meinem Zuhause entfernt lag, erst, als die Sonne hinter den höchsten Gebäuden verschwunden war und die langen Schatten den Boden unter meinen Füßen in Dunkelheit hüllten. Das war meine Angst. Ich hatte nicht sehr oft in meinem Leben echte Angst verspürt - und sie noch seltener gezeigt - und so war sie immer etwas, womit ich nur wenig umgehen konnte. Fester, immer fester verkrampfte sich mein Magen, während ich mich dem großen Mehrfamilienhaus näherte, unter dessen Dach Tom ein Zimmer bezog. Meine Hände begannen zu zittern, wenn ich daran dachte, wem ich vielleicht begegnen könnte... „Nun übertreib mal nicht!“, bläute mir meine innere Stimme wieder Vernunft ein. „Für einen Brand gibt es tausend mögliche Gründe. Und selbst, wenn Tom tatsächlich Feuer gelegt hat, ist er deswegen noch lange kein anderer Mensch!“ Ich drückte meine Zunge gegen den Gaumen und atmete mehrmals tief durch, bevor ich die alte, verwitterte Tür aufstieß. Es war ein Ritual, um mich zu beruhigen. Ein unangenehmer Geruch von Fäulnis verschiedenster Art kam mir entgegen und ließ mich für einen Moment zurückweichen. Schmutz war ein unabwendbares Nebenprodukt des Lebens und je mehr Menschen auf einem Raum lebten, desto schmutziger war es. Was dies für eine Millionenstadt wie London bedeutete, kann sich jeder denken, doch ich vergaß diese Sache nur allzu oft, besaß ich doch den Luxus, ein riesiges Gebäude für mich zu haben. Meine Nase hatte sich schnell an den Geruch gewöhnt und so wagte ich einen Blick in das Treppenhaus. Wie schon die Tür, schien das Holz des Fußbodens ebenfalls etwas morsch zu sein, denn es knarzte unter jedem meiner Schritte. Der letzte Rest Tageslicht, welcher durch ein jämmerlich kleines Fenster schien, half kaum dabei, etwas zu erkennen und so tastete ich mich nur langsam hoch, immer darauf bedacht, nicht über ein loses Brett zu stolpern, oder mir an dem Geländer einen Splitter einzufangen. Auf meinem Weg begegnete ich nur wenigen Menschen. Im ersten Stock lag ein Kerl laut schnarchend mitten im Flur, umringt von Bierflaschen. Im zweiten lehnte ein Liebespaar an der Wand und küsste sich. Im dritten drangen lediglich menschliche Laute aus den Zimmern selbst. Der Flur war leer. Das Dachgeschoss war das kleinste von allen. Ungefähr nach einem Drittel war der Flur zu Ende und man stand vor einer brüchigen Mauer. Eine Tür mit einem kleinen Fenster zeigte, dass es von dort aufs Dach ging; vermutlich ein Rettungsweg, sollte mal Feuer ausbrechen. Allerdings bot so das Geschoss gerade einmal Platz für zwei weitere Zimmer, je eines auf jeder Seite. Aus dem linken Drang lautes Geschrei, wahrscheinlich ein Streit zwischen Eheleuten und die Mauern waren wahrlich nicht dick genug , um die Hysterie der Frau zu unterdrücken. „...mit Alkohol und Huren und weiß der Teufel, wofür du sonst noch dein Gehalt rauswirfst! Wie sollen die Jungs denn so eine anständige Vaterfigur haben?!“ Alltag in Whitechapel, aber mich ging es nichts an und außerdem konnte ich so schnell ausschließen, welche der Türen zu Thomas' Zimmer gehörte - vorausgesetzt er hatte keine Ehefrau, von der ich nichts wusste. Doch selbst nach mehrmaligen Klopfen blieb die andere stumm. Nichts regte sich in dem Zimmer dahinter. „Idiotin. Selbst wenn er es war, braucht er trotzdem einen Job zum Leben. Bestimmt hat er woanders angefangen“, knurrte eine Stimme in meinem Kopf, krampfhaft versuchend, meine Furcht zu übermannen, doch mit jeder weiteren Sekunde konnte ich sie nicht mehr zurückhalten. Diese Gedanken, dass es zu spät sein könnte... Dass Thomas vielleicht doch die Kontrolle über sein Leben verloren hatte... Und dass es meine Schuld war. „Ist das eine deiner Huren, Harold?! Machen die jetzt schon Hausbesuche!?“ Ich hatte es nicht bemerkt, wie die Furie aus der gegenüberliegenden Wohnung die Tür geöffnet hatte und es war mir auch egal. Thomas würde nicht kommen. „N-Nein, ich schwöre, die kenne ich nicht! Was willst du hier, Mädchen?! Mach, dass du verschwindest, du machst mir nur noch mehr Ärger!“ Das war ihr Ehemann. Versoffener Mistkerl. Er packte mich am Kragen, zerrte mich von der Tür weg und hauchte mir mit jedem seiner Worte eine Ladung Bier vom Vortag entgegen. Warum musste mich so einer jetzt anfassen?! „Hast du nicht gehört? Ich sagte, du sollst verschw-“ Jede Geduld hatte seine Grenzen und meine war nun ausgereizt. Kurzerhand rammte ich meine Faust in seinen Bauch, sodass er mich loslassen musste und sich krümmte. Ich überlegte, ob ich noch nachlegen sollte, entschied mich dann allerdings dazu, das Haus zu verlassen. Frischluft... ich musste unbedingt Frischluft schnappen. Vielleicht hätte ich tatsächlich nachtreten sollen. Der Suff bringt Menschen dazu, dumme Dinge zu tun. In Harolds Fall lief es darauf hinaus, dass er mir die Treppen hinterherjagte und da ich meine Umgebung kaum wahrnahm, holte er mich im Erdgeschoss tatsächlich ein, packte mich an den Haaren und revanchierte sich für den Schlag, indem er ein Knie in meinen Rücken bohrte. Ausgerechnet auf eine meiner Blessuren. Auf den Druck folgte ein langgezogener Schmerz, der sich durch meine Knochen zog und jegliche Kraft aus meinen Beinen stahl. Wie ein Sack ging ich zu Boden, rang nach Luft, da sah ich im Zwielicht schon einen Fuß, kurz bevor er sich in meiner Magengrube versenkte. Wie aus einem kaputten Ball drückte sich sämtliche Luft aus mir und es fühlte sich an, als würden meine Innereien dabei zerreißen. Zu meinem Glück war Harold doch betrunken genug, dass seine Koordination nachließ und so fiel er über mich und landete mit einem lauten Krachen neben mir. Nun war ich an der Reihe. Mit der einen Hand packte ich ihn im Hals und drückte ihn auf den Boden, die andere landete mehrmals als Faust in seinem Gesicht. Zu unkoordiniert, um sich aus diesem Griff zu befreien, blieb dem Mistkerl nicht mehr übrig, als mich nach jedem Schlag als „Schlampe“, oder „Miststück“ zu bezeichnen. Als würde das meinen Zorn senken. Am liebsten hätte ich all meinen Frust an diesem Häufchen Elend abgearbeitet. Es waren meine Müdigkeit und die Schmerzen in meiner Faust, die mich zum aufhören zwangen. Den letzten Rest Speichel in meiner Kehle gesammelt, spuckte ich ihm ins Gesicht und drohte ihm, nicht wieder aufzustehen. Was für ein beschissener Abend. Gedächtnisverlust, Thomas war sonst wo und nun auch noch eine Prügelei. Als ich wieder aus dem Haus trat, konnte ich all das Aufgestaute nicht mehr unterdrücken. In meinem Hals saß kein Kloß mehr, es war ein Felsbrocken und der wollte raus. Den Blick zu Boden gerichtet verschwammen meine Füße langsam, Schluchzer drangen aus meiner Kehle, doch ich biss nur noch fester auf die Zähne, wollte meinen Tränen keinen freien Lauf lassen. Allerdings wurde mir davon speiübel und so gab ich am Ende doch noch nach. Ich weinte nicht gern. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit und ganz besonders nicht allein. Und ich hasste es, getröstet zu werden. Doch die Hände, die mich bei den Schultern nahmen, gehörten nicht irgendwem. „Mein Gott, du bist es wirklich...“, flüsterte eine zittrige, mir wohlbekannte Stimme und als ich aufsah, erkannte ich ihn auch durch den dünnen Film sofort wieder. Er wirkte etwas anders, irgendwie frischer, doch abgesehen davon, war er ganz der Alte. Und als er mir dieses überdimensionale Lächeln schenkte, das ich schon immer an ihm mochte und alles, was er nach einiger Zeit herausbekam, ein kurzes „Hey...“ war, da fragte ich mich, warum ich mir eigentlich jemals Sorgen gemacht hatte. Und ein langer, zärtlicher Kuss machte den restlichen Ärger wieder in Ordnung. Nur warum fühlte es sich zeitgleich so an, als hätte ich das nicht verdient? „Also ist wahrscheinlich alles, was Fleur mir gesagt hatte, wahr...“, murmelte ich ernüchtert. Auch wenn Thomas nur über all das berichten konnte, bevor ich angeblich nach Taleswood ging, machte das Fleurs Geschichte nur noch glaubhafter. Doch es wurmte mich... Ich sollte Dean getötet haben? Er war eine Ratte und Tom versicherte mir, dass es Notwehr war, aber dennoch fühlte ich mich, als könnte ich das klebende Blut an meinen Händen spüren. Mein Magen schmerzte und das hatte in diesem Moment nichts mit Harolds Tritt zu tun. Eine Prügelei war schön und gut, aber Mord? Und noch dazu hatte ich all das vergessen... Wir saßen gemeinsam auf einer Bank an der Hauptstraße und beobachteten das nächtliche Treiben. Aus dem Pub gegenüber drang ein wenig Musik und herzliches Lachen. Einige Kinder sputeten nach Hause und von hier und dort konnte man auch den ein oder anderen Streit vernehmen. Städte wie diese schlafen nie wirklich. Thomas Atem ging schwerer wenn ich mich an ihn drückte und ich konnte sein aufgeregtes Herz hören. Und dieses Geräusch ließ meines ein wenig zur Ruhe kommen. Ich hatte ihn schon immer gern, aber zu wissen, dass er mich liebte, hatte damals auch meine Gefühle für ihn verstärkt. Es tat gut, ihn bei mir zu wissen. „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Alice. Feuer kam aus deiner Hand, wie aus dem Nichts. So werden wohl Jünger geschaffen...“ „Wie meinst du das?“ Er lachte kurz. „Naja, als du fort warst, habe ich angefangen, wie ein Verrückter nach Taleswood zu forschen. Nach geografischen Daten, historischen Erwähnungen, so etwas eben.“ „Ah ja, Detektivarbeit also“, bemerkte ich und konnte mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. „Du weißt, damit kenne ich mich aus“, gab Tom lachend zurück. Er ließ schon immer alle Sticheleien über sich ergehen, doch ich meinte es nie wirklich böse. „Long story short: Offiziell existiert Taleswood nicht und Magie ist ein Hirngespinst.“ „Aber...?“, fragte ich, denn es schien als wäre er trotz der Pause noch nicht ganz fertig. „Aber ich wollte nicht glauben, dass ein Hirngespinst so eine Zerstörung anrichten konnte. Ich habe es gesehen, gefühlt, gehört, gerochen... Und so sehr ich mir auch das Gegenteil wünsche, aber die Eindrücke sind in mein Gedächtnis gebrannt. Und als ich weiter gesucht habe, bin ich auf einen... äußerst dubiosen Laden gestoßen...“ „Dubios? Inwiefern?“ „Insofern, dass er vollgestopft ist, mit allerlei Büchern über Magie und Enzyklopädien rund um Fabelwesen und magische Orte, unter anderem auch mit Artikeln über Taleswood. Eine Stadt umringt von einem Wald, beheimatet mit den fantastischsten Wesen der Erde und kontrolliert durch Magie. Niemand kann sie finden, es sei denn, er will es aus tiefstem Herzen.“ Langsam war meine Neugierde geweckt. Thomas erzählte so begeistert davon, wie schon lange nicht mehr. Ich hatte es nie wirklich bezweifelt, doch langsam war ich mir gewiss: Es musste die Wahrheit sein. Umso wichtiger, dass ich mein Gedächtnis wiederbekam. Aber noch etwas ließ mich nicht los. „Hast du... deswegen den Pub niedergebrannt?“ „Weswegen?“ „Du hast ihn also niedergebrannt!“ Thomas wollte kurz lachen, mich vielleicht mit einem Scherz beruhigen, doch es war mir anzusehen, wie aufgebracht ich darüber war. Ich vertraute ihm, ich sah, dass er noch immer der Gleiche war, aber mich ließ das nicht los. Wenn er mir nur den Grund nennen könnte... Ruhig atmete er ein paar mal durch, dann sah er mir mit besorgter Miene in die Augen. „Versprich mir bitte, dass du das niemandem erzählst! Bitte geh nicht zur Polizei!“ „Das werde ich schon nicht. Außerdem interessieren die Bobbies sich doch sowie nicht für unser Viertel“, beruhigte ich ihn und strich ihm sanft über die Wange. „Es ist... also... es war ein Unfall! Nachdem du weg warst, haben viele von Deans Jungs erzählt, du hättest ihn kaltblütig ermordet. Ich hielt mich aus Angst einige Zeit lang zurück, wollte keinen Ärger. Es hätte mich ja auch den Job gekostet... Wobei ich sowieso gekündigt hätte, sobald ich gewusst hätte,wie man Taleswood erreicht. Ich hätte sicher nicht ein Jahr lang auf dich gewartet, nicht so kurz nach unserem ersten Kuss. Also habe ich anfangs alles in mich reingefressen, aber ich wollte es nicht dabei belassen. Sie...sie sollten sehen, dass du es nicht akzeptierst, wenn man schlecht über dich redet.“ „Und deswegen hast du den Laden angezündet?! Bist du bescheuert?!“, herrschte ich ihn an, denn zu jemandem, der sonst an alles rational heranging, passten solch impulsive Aktionen wirklich nicht. „Ich schwöre dir, es war ein Unfall! Ich wollte nur ein kleines Feuer legen, außerhalb der Öffnungszeiten, alles ungefährlich! Es sollte niemand verletzt werden. Nur eine kleine Warnung, um alle, die in jener Nacht anwesend waren, daran zu erinnern, was wirklich geschehen war. Aber dann wurde ich von einem von Deans Jungs dabei erwischt und ich wollte im Pub Schutz suchen, rannte mit der Fackel in der Hand noch den Keller runter und stolperte. Und die Fackel... Der ganze Alkohol... Und was hat das verdammte Stroh da gemacht?! Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben!“ Tom war absolut verängstigt. Lag es an den Geschehnissen selbst, oder an der dauerhaften Furcht, dass dies noch Konsequenzen mit sich ziehen könnte, aber es ließ sich nicht verleugnen, dass es Spuren hinterlassen hatte. Glücklicherweise nur seelische, wie er mir versicherte. „Aber weißt du, es hat auch was gutes. Seitdem lassen mich die Ganoven des Viertels in Ruhe“, sprach er und setzte ein schiefes Grinsen auf. Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte meine Stirn an seine, um ihn zu beruhigen. „Alles wird gut. Ich passe auf dich auf. Und um ehrlich zu sein...“ Meine Wangen wurden heiß. „...finde ich das irgendwie bewundernswert, was du auf dich nimmst, nur um meine Ehre zu schützen.“ In diesem Moment fiel mir wieder ein, was Fleur gesagt hatte. Thomas saß hier und kämpfte für mich und ich... betrog ihn nach ein paar Monaten. Wenn es wirklich der Wahrheit entsprach, war ich kaum weniger jämmerlich als der gute Harold auf den ich gerade noch so herabgesehen hatte. Aber solange ich noch nicht absolute Gewissheit hatte, wollte ich ihm nichts davon erzählen. Es würde unsere Beziehung nur belasten. „Ist alles in Ordnung, Alice?“ Mist, hatte ich mir etwas anmerken lassen? „J-ja... es ist alles okay.“ „Du denkst wahrscheinlich über all das noch nach... kann mir kaum vorstellen, wie sich so ein extremer Gedächtnisverlust anfühlt. Ich könnte dir morgen früh den Laden zeigen. Vielleicht hilft dir das ja weiter.“ „Gute Idee.“ Das sagte ich nicht nur so, ich meinte das absolut ernst. Der Laden war aktuell meine beste Anlaufstelle. Mit einem Satz sprang ich von der Bank. „Dann treffen wir uns morgen früh um 8 vor meiner Haustür. Und bring doch auch deine Freundin mit. Fleur hieß sie, richtig? Sie kann uns bestimmt weiterhelfen.“ „J-ja das mach ich.“ Ausgerechnet Fleur... Es stimmte schon, sie war aus Taleswood, dementsprechend war es klug, sie dabei zu haben. Mir war dennoch nicht wohl bei dem Gedanken... Mit einem letzten, innigen Kuss verabschiedete ich mich von Thomas. Doch egal wie viel Herzblut ich darein steckte, es blieb ein bitterer Nachgeschmack in meinem Mund hängen. Kapitel 17: Albträume --------------------- Manchmal hatte ich das Gefühl, dass der Mond ein besonderes Interesse an meinem Balkon hatte. Es war gleichgültig, in welcher Nacht, oder zu welcher Uhrzeit; wenn er nicht gerade von Wolken verdeckt wurde, strahlte er immer genau in mein Fenster hinein. So war Fleur, eingekuschelt in meinem Bett und die Arme unterm Kissen vergraben, trotz mangelnder Kerzen recht gut zu erkennen. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht und kitzelten wohl ihre Nase, denn sie zuckte zwischendurch mit den Nasenflügeln. Doch das war ihre einzige Regung. So ruhig und friedlich, wie sie dalag, konnte mancher sie für eine lebensgroße Porzellanpuppe halten. Gerade das schwache Licht verstärkte den Eindruck eines Mädchens, das – ich kann es nunmehr nicht verleugnen – nicht von dieser Welt zu sein schien. Ihre schneeweiße Haut leuchtete schon fast und ließ alles um sie herum in den Hintergrund rücken. Es bestand keine Chance, dass ich in dieser Nacht noch ruhen könnte und so war es für mich selbstverständlich, Fleur mein Bett zu überlassen. Nicht nur aufgrund dessen, dass ich den ganzen Tag schon in den Federn verbracht hatte, auch hielt meine Nervosität vor dem morgigen Tag den Schlaf fern. Doch es war nicht der dubiose Buchladen, der mich nervös machte, sondern ein Treffen zwischen Thomas und Fleur. Ich wusste, dass er es verdient hätte, die Wahrheit zu erfahren, aber ob er mir einen Seitensprung verzeihen würde? Ich redete mir ein, dass doch die Möglichkeit bestand, dass es nicht die Wahrheit war, dass Fleur das vielleicht nur erfunden hatte, um mich für sich zu gewinnen, aber je häufiger ich das in meinem Kopf wiederholte, desto lauter wurde eine Stimme, die mir die Lächerlichkeit meiner Worte vorhielt. Als ob etwas in mir die Wahrheit kannte... Ich setzte mich zu ihr ans Bett und strich sanft die Strähne aus ihrem Gesicht. Ein schwaches Seufzen entwich ihr und für einen Moment stellte ich mir vor, dass es ein Ausdruck von erleichterter Dankbarkeit war, weil ich sie von dem lästigen Störenfried befreit hatte. Sie war so unglaublich weich und makellos... Welcher Sadist würde solch eine Schönheit erschaffen, nur um sie dann zu foltern und töten zu wollen? Ich lehnte mich weiter vor, sah das langsame Auf- und Abwippen ihrer Schultern bei jedem Atemzug und nahm ihren angenehm würzig-lieblichen Geruch auf, der mich unwillkürlich an eine Mischung aus Kräuter- und Blumendüften erinnerte, dabei aber nicht einen einzigen Bestandteil offenbarte. War es wirklich ein gewöhnliches Parfum, dass sie trug? Es schien fast so als käme der Duft von ihr selbst. Ich erschrak kurz, als einer ihre Hände über meinen Arm glitt, mich an der Schulter hielt und sanft zu mich zog. War sie etwa wach? Nein, es war nur eine sehr schwache und zufällig anmutende Bewegung und es dauerte nur Sekunden, bis sie mich wieder losließ, doch es schien so, als wollte sie mich bei sich haben. Ich kannte Whitechapel nur allzu gut, aber wie musste es wohl auf jemanden wie sie wirken? War es so viel anders, als ihre Welt? Fühlte sie sich einsam, besonders jetzt, wo die einzige Person, die sie hier kannte, sich nicht erinnern konnte? „Ein wenig neben ihr zu liegen, wird wohl nichts ausmachen...“, murmelte ich und schob sie etwas zur Seite, sodass auch ich genug Platz auf dem Bett fand. Es erstaunte mich, wie wenig sie wog, immerhin war sie größer als ich. Woraus sie wohl im Inneren bestand? Vielleicht war sie unter ihrer Haut komplett leer. Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen, denn als ich über ihren Hals fuhr, vernahm ich ganz deutlich ihren gleichmäßigen Herzschlag. Und sie atmete ja auch. Vielleicht bestand ihr Körper einfach nur aus einem deutlich leichteren Material. Aber zu was machte sie das? Musste sie aus dem gleichen Fleisch bestehen, wie ein jeder sonst, um ein Mensch zu sein? Sie selbst benannte sich nicht als solcher, sondern als Homunkulus... Als ein Wesen aus dem Reagenzglas... Doch wenn man ignorierte, woraus sie bestand und woher sie kam, dann war sie am Ende nicht weniger menschlich als ich oder Thomas. Sie geht aufrecht, wie jeder andere. Sie spricht, wie jeder andere. Sie weint, wie jeder andere. „Und sie liebt, wie jeder andere...“, beendete ich in Gedanken meine Aufzählung und rutschte näher zu ihr, dass mir ihr warmer Atem schwach entgegenbließ. Was fand sie nur an mir, einer Bettlerin aus London, so wie es viele hier gab? War ich es wert, sich auf ein verbotenes Abenteuer einzulassen? Und warum störte es mich nicht darüber nachzudenken? Ich erinnerte mich daran, dass ich diesen Gedanken schon vor einigen Stunden hatte. Bei jeder anderen Frau hätte mich das verunsichert, beängstigt, vielleicht sogar angewidert, jedoch nicht bei Fleur. Und obwohl mein Bewusstsein sich noch immer dagegen sträubte, hatte ihre Nähe nach wie vor etwas Anziehendes... Kopfschüttelnd setzte ich mich auf. Es fühlte sich an, als würde ich mir all das nur weismachen, um Fleurs Aussagen zu decken. Ich glaubte ihr zwar – zu einem Gewissen Grad – aber deswegen musste ich mich nicht davon hinreißen lassen, zumindest nicht hier und nicht in diesem Moment. Doch es erschrak mich, wie wenig ich die Konsequenzen bedacht hatte, sie jetzt hier sofort zu küssen. „Ist das dein wahres Ich?“, warf mir mein Gewissen vor. „Ganz gleich, was zwischen dir und Fleur vorgefallen war, du spielst gerade mit den Gefühlen zweier Menschen – einzig und allein, weil du mit deinen eigenen Erinnerungen nicht klarkommst. Bist du dir dessen überhaupt bewusst? Das hat keiner von beiden verdient.“ Die Knie an meine Brust herangezogen, saß ich da und beschimpfte mich in Gedanken selbst. Was war denn nur los mit mir? Erst nein, dann auf einmal doch? Es war, als wären meine Gefühle komplett außer Kontrolle geraten. Auf der einen Seite wollte ich nur das glauben, was ich sah, doch andererseits... naja, das Thema hatte ich bereits angeschnitten. Und so hätte ich wohl noch die ganze Nacht verbracht, wenn nicht ein kurzes, unterdrücktes Wimmern gewesen wäre. Ich konnte es an den Konturen erkennen, wie Fleur das Gesicht verzog und sie wand sich von einer Seite zur anderen. Ein Albtraum wahrscheinlich. Armes Ding. Als wäre unser aller Tag nicht schon stressig genug gewesen. Ich entschied mich, sie aufzuwecken. Erst rüttele ich sie sanft an ihrer Schulter, dann stärker, gab ihr sogar einen Klaps aufs Gesicht, doch nichts davon wirkte. Sie war wie gefangen in der Traumwelt, drang immer tiefer ein , so als würde sie mit einem Teil ihres Bewusstseins ganz woanders sein. Und je länger sie in ihrem Traum blieb, desto schwerer wurden die Symptome. Im Mondschein glitzerte ihr Gesicht von dem Gemisch aus Schweiß und Tränen und jenes war es auch, welcher ihren Körper mittlerweile eiskalt werden ließ, ganz gleich wie sorgsam ich sie auch zudeckte. Ihr Atem stockte immer wieder und sie rang nach Luft, als würde jemand sie würgen und dazwischen presste sie ein leises Quieken aus, wie ein gequältes Tier, während sie sich zuckend einrollte. Aus dem Wimmern bildeten sich kurze, unverständliche Worte in einer fremden Sprache. „La souffrance... arrêtez... je ne peux plus...“ Es klang französisch, aber sicher war ich mir nicht. Auch gingen mir langsam die Ideen aus. Mehr panisch, als irgendetwas anderes, setzte ich meine kläglichen Bemühungen fort, sie aufzuwecken. Fester, immer fester haute ich sie, kniff sie, schüttete ihr Wasser ins Gesicht und versuchte sie lauthals zu rufen, doch es war unmöglich, zu ihr durchzudringen. Es machte mir Angst. Fast schien es so, als würde Fleurs Geist an einem anderen Ort furchtbare Qualen erleiden und solange sie dort war, würde niemand sie daraus befreien können. Mit einem gewöhnlichen Albtraum hatte das hier nur wenig gemein. Wie viel Zeit wohl vergangen war? Ich hatte meine Weckversuche aufgegeben und stattdessen sie bei ihrer vom Schweiß feuchten Hand genommen. Wirklich helfen konnte ich ihr nicht – ein vernichtendes Gefühl der Machtlosigkeit. „Bitte... wach einfach wieder auf...“, war alles was ich noch sagte. Nicht einmal in Ansätzen wollte ich mir vorstellen, was sie fühlte, doch allein zuzusehen, hätte jedem normalen Menschen zugesetzt. Was ist, wenn sie sterben würde... nein, das durfte ich nicht denken. Ihre Worte konnte ich noch immer nicht verstehen, doch es war, als wären sie verzweifelter, flehender geworden und wechselten sich mit plötzlichen Heulkrämpfen ab. Aber da war noch etwas... zwischen ihren fremdsprachigen Worten schlich sich das Wort „Bitte“... und ein gehauchter Name: Claire... Und je länger sie sprach, desto mehr englische Begriffe mischten sich in ihren Wortschatz, bis sie endlich einen zusammenhängenden Satz von sich gab: „Miss Claire... du bist hier? Ich... spüre dich... Bitte... ich... bin... müde... Bitte... er...“ Dann verstummte sie. Ihre Hand, welche die meine zuvor noch so fest hielt, ließ endlich los. Immerhin schlug ihr kleines Herz noch, wie eine kurze Überprüfung zeigte. Außerdem wurde ihr Puls endlich langsamer und ihr Atem beruhigte sich – es war vorbei. Ein kurzes Seufzen kündigte ihr Aufwachen an. Zitternd rappelte sie sich auf, zog ihre Nase hoch und wischte sich den Schweiß von Stirn und Augen. Ihr Gesicht sollte eigentlich von Furcht gezeichnet sein und davon war sicherlich auch einiges in ihren Ausdruck gemischt, doch geprägt war er von Verunsicherung. Ungefähr so schaute ich wohl auch einige Stunden zuvor aus der Wäsche. „War es wieder dieser Traum?“, fragte sie mit heiserer Stimme und räusperte sich darauf. „Ich glaube nicht, dass das nur ein einfacher Traum war... Hast du sowas öfter?“ „Stimmt ja, du hast es noch nie mitbekommen. Etwa einmal im Jahr – manchmal auch häufiger – werde ich von einem schrecklichen Albtraum heimgesucht... Wenn ich aufwache, kann ich mich nicht mehr an die tatsächlichen Bilder erinnern, aber es bleibt die Gewissheit, dass mir in diesem Traum etwas Schlimmes zugestoßen sei.“ „Vielleicht eine Erinnerung aus der Zeit, als du gefoltert wurdest?“, fragte ich, war unterdessen auch aufgestanden und hatte einen feuchten Lappen geholt, über den Fleur sichtlich dankbar war. Schlaf sollte zur Erholung dienen, doch davon war bei ihr nichts zu erkennen. Müde wusch sie sich das Gesicht, fuhr sich auch über Arme und Schultern, bevor sie mir antwortete: „Es fühlt sich viel... gegenwärtiger an, als eine Erinnerung. Aber wie gesagt, die Bilder verblassen in dem Moment, in dem ich aufwache. Am Ende bleibt mir nur ein Gefühl der Erschöpfung übrig.“ „Es klang, als würdest du gequält werden. Und du hast immer wieder kläglich etwas gemurmelt, erst in einer fremden Sprache, aber deine letzten Worte waren auf englisch und schienen an jemanden gerichtet zu sein, der zu diesem Zeitpunkt vielleicht in deiner Nähe war. Claire... so war der Name.“ Sie stoppte für einen Moment, schaute mich fragend an. „Claire? So hieß doch deine Mutter... das ist verrückt, warum sollte ich denn ihren Namen genannt haben? Ich kenne sie doch gar nicht...“ „Du hast sie um Hilfe gebeten, so klang es zumindest. Und du sagtest, du könntest sie spüren...“ Die Tatsache, dass ich während der Zeit ihre Hand gehalten hatte, ließ ich außen vor, auch wenn ich nicht genau wusste, warum. Immerhin hätte ich sie vorhin beinahe geküsst. „Ich konnte sie spüren...Merkwürdig...“ Merkwürdig? Merkwürdig war der Tonus des ganzen Tages, das hier war lediglich das Tüpfelchen auf dem i. Und es bestand keine Chance, dass die nächsten Tage auch nur annähernd normaler werden würden. Erst jetzt bemerkte ich, wie müde mich die ganze Situation gemacht hatte. Erschöpft fiel ich zur Seite und kuschelte mich ins Kissen. Es war noch etwas feucht von Fleurs Schweiß. Ich war dabei und doch kam es mir noch immer so unwirklich vor, was mit ihr passiert war. Obwohl niemand ihr wirklich geschadet hatte, wandte sie sich vor Schmerzen, als stünde sie unter Hypnose, oder so... An ihrer Stelle würde ich nie mehr schlafen wollen. Und als sie sich an mich lehnte, ließ ich es, trotz schlechten Gewissens Thomas gegenüber, zu. „Ist es okay, wenn ich heute Nacht in deinem Arm liege? Auch wenn du dich nicht an unsere Beziehung erinnern kannst...“, fragte sie schüchtern. Eigentlich wollte ich es bei einem kurzen Nicken belassen, doch etwas machte mich ungemein redselig: „Ich verstehe es einfach nicht. Warum wolltest du ausgerechnet mir so nahe sein?“ Sie richtete sich auf und schaute mir ins Gesicht. Der Schatten verdeckte fast alles, doch der schwache Mondschein spiegelte sich in ihren Augen und ließ sie ein wenig schimmern, wie zwei violette Edelsteine. „Warum sollte ich das denn nicht wollen?“ „Ich habe zuerst gefragt!“ Sie kicherte kurz und legte ihren Kopf auf meine Brust. So nah war es mir gerade doch etwas unangenehm, doch ich wollte sie nicht wegstoßen, jetzt wo sie mir ihr Herz öffnen wollte. Es imponierte mir, wie direkt sie war. Die meisten Menschen würden aus Herzensangelegenheiten – ganz gleich welcher Art – ein großes Geheimnis machen. Doch sie hatte damit kein Problem. „Es ist schwer zu sagen... Ich fühle mich einfach zu dir so vertraut hingezogen, als wäre ich schon vor Jahrzehnten in dich verliebt gewesen. In deinen Armen fühle ich mich sicher... „Das klingt nicht nach mir...“ „Ich habe es aber gesehen! Als du Madame La Belle zum ersten Mal begegnetest, bist du nicht eine Sekunde zurückgewichen – auch wenn sie dich mit einem Schlag in Stücke gerissen hätte. Dein Mut ist meine Inspiration.“ „Das klingt eher dumm als mutig.“ Wieder richtete sie sich auf und starrte mich an, mit einem noch stärkeren Glanz in ihren Augen. Ich hätte es erwarten müssen, so, wie sie mich angesehen hatte, doch vielleicht hatte ich einfach nur nicht geglaubt, dass sie so... spontan sein könnte. Doch ich konnte nicht verleugnen, dass es mir gefiel. Für ihre verschüchterte Art konnte Fleur verdammt gut küssen. Das sanfte Zucken ihrer dünnen Lippen stimulierte die meinen in einer Weise, wie ich es von Thomas nicht kannte... Thomas! Fest hielt ich sie an ihren Schultern und drückte sie von mir weg. Das war falsch. Er schlief nur wenige Blocks von mir entfernt, wie konnte ich auch nur eine Sekunde daran Gefallen haben?! Auch Fleur schien ihren Fehler erkannt zu haben, beachtete man ihren geschockten Gesichtsausdruck. Langsam formte ihr Mund einige Worte der Entschuldigung, stumm, als habe der eigene Aktionismus ihr die Stimme geraubt. Dann drehte sie sich haareraufend weg. „Oh nein, was tue ich denn nur?! B-bitte verzeih... was ist denn nur in mich gefahren?!“ „Keine Sorge, das ist doch halb so wild“, versuchte ich sie zu beruhigen und verdrehte die Augen. Man konnte auch aus einer Mücke einen Elefanten machen. „Aber du warst doch gar nicht einverstanden. Und ich... Ich hatte einfach dieses Bedürfnis, dich zu küssen. Alice... ob es dumm war, oder nicht, aber du hast dich zwischen uns gestellt, egal wie gefährlich es für dich war. Ich kann nicht anders, als mich in deiner Nähe wohl zu fühlen.“ Sie drehte sich zu mir und lehnte sich wieder an. Im Schweigen ignorierten wir, was gerade vorgefallen war. Es brauchte keine Worte, um uns darauf zu einigen, nicht mehr darüber nachzudenken. Was geschehen war, war geschehen. Ich machte ihr keinen Vorwurf. Doch ob sie dies wirklich so schnell abtun konnte? Zumindest ließ sie es sich nicht nehmen eingekuschelt an meiner Schulter nur wenige Minuten später einzuschlafen. Und auch mich übermannte langsam aber sicher die Müdigkeit. Gemächlich bewegten sich meine Lider nach unten und die wenigen Konturen des Raumes verschwanden im Nichts. Das letzte was ich fühlte, bevor ich endlich ins Reich der Träume erlöst wurde, war ein sanfter Restimpuls auf meinen Lippen... Kapitel 18: Der erste Kontakt ----------------------------- „Entschuldige den etwas muffigen Geruch“, murmelte ich, während ich versuchte, Fleur so gut es ging, unter einem alten Stofftuch zu verstecken, welches ich ihr wie eine Haube über den Kopf warf und tief ins Gesicht zog. Doch hierbei stellte sich ein gewisses Problem heraus: Versuchte ich ihr langes Haar bis zur Spitze zu verdecken, rutschte das Tuch vom Kopf; zog ich den Stoff hingegen tief genug ins Gesicht, dass ihre Augen im Schatten lagen, reichte es hintenrum nicht mehr... Ich hätte ihr ja einfach den langen Schopf etwas gekürzt, aber auf den Vorschlag reagierte sie recht empfindlich und abgesehen davon fehlte uns dafür die Zeit. Nach dem Vorfall in der Nacht waren wir nur schwer aus den Federn gekommen. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie tief die Ringe unter meinen Augen waren, doch Fleur sah man ihre Müdigkeit nicht an. Stattdessen zierte ein verschmitztes Grinsen ihr Gesicht. „Heute gut gelaunt?“, fragte ich und ließ mich von ihrer Laune anstecken, was mich zumindest etwas vitaler werden ließ. Fleur schüttelte den Kopf. „Es ist nur... Master Salem hatte anfangs auch Anstalten gemacht, mich unter Tüchern und Kapuzen zu verstecken. In der Welt außerhalb von Magierstuben wird unsereins entweder gefürchtet, oder verachtet. Es ist nicht so, als habe er anfangs nicht auch zumindest eine gewisse Distanz zu mir gewahrt – verständlicherweise, immerhin war ich eine Schöpfung seiner Erzfeindin. Aber das hielt ihn nie davon ab, sich um mich zu sorgen. Und jetzt sehe ich dich in einer ähnlichen Position.“ „Was sollte ich denn sonst tun? Du bist in Whitechapel nicht zuhause, dich auf die Straße zu werfen, wäre nicht richtig. Das wäre auch wirklich nicht mein Stil.“ Und selbst wenn, wollte ich das nicht. Nicht nur um ihres Wissens wegen, sondern auch, weil ich nicht umhin kam, sie zu mögen, ab dem ersten Moment, an dem ich sie sah. Fleur war hübsch, ehrlich, liebenswert, vielleicht ein wenig anhänglich, aber daran gemessen, wie angenehm ihre Präsenz für ihr Umfeld war, gab es wirklich schlimmeres. Wie könnte einer sie bitte verachten? „Trotz aller Umstände, die ich dir mache?“, fragte sie mich noch einmal mit leichtem Nachdruck, nicht um sicherzugehen, vielmehr, als sehe sie wirklich sich selbst in der Mitverantwortung. „Es ist doch nicht deine Schuld, dass ich keine Erinnerungen mehr habe. Wenn es stimmt, was du sagtest, dann war die Entscheidung nach London zu gehen unvermeidlich. Außerdem wusste niemand von uns über die Konsequenzen Bescheid, oder etwa nicht?“ „Das stimmt schon, aber dennoch... Auch mein Verhalten letzte Nacht, es...“ Fleur hielt inne und schaute deprimiert zu Boden. Ich fragte nicht nach, was sie mir sagen wollte, hatte es nicht einmal genau mitbekommen. Aber wenn es um letzte Nacht ging, dann war ich nicht besser, denn letzten Endes habe ich sie auch zu keinem Punkt zurückgehalten. Fast so, als wollte ich das alles... „Fürchtest du dich, Alice?“, fragte sie, nachdem ich einige Minuten nur schweigend am Tuch herumgewerkelt hatte, mich dann aber kurzerhand für die Option entschied, es ihr tief ins Gesicht zu ziehen. Ihre blasse Haut würde wohl mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ihr graues Haar – auch wenn es in keiner Relation zu ihrer jugendlichen Statur stand. Hoffentlich war es nicht allzu weit, bis zu Thomas' Laden. Ob ich wirklich heute meine Erinnerungen wiederbekam? Ich wollte es nicht unbedingt glauben und gerade machten mir auch völlig andere Dinge Sorgen... „Furcht? Nein, vielleicht bin ich ein wenig aufgeregt, das ist dann aber auch alles“, verleugnete ich meine Nervosität. Wie es wohl war, wenn die beiden aufeinander trafen? Würde Fleur vielleicht sofort mit der Tür ins Haus fallen? Hoffentlich hatte mein vergangenes Ich sie genug über diese prekäre Lage in Kenntnis gesetzt... „Hör mal Fleur, du bist ja recht vornehm aufgewachsen, also sei über die Zustände da draußen bitte nicht allzu schockiert...“, versuchte ich das Thema zu wechseln, doch erst jetzt, als ich sie wieder direkt ansah, fiel es mir auf. Der freudige Glanz in den Augen, das lebhafte Lächeln, generell jeder Ausdruck von Optimismus war einer unheimlichen Anspannung gewichen. Fest presste sie ihre Lippen aufeinander und atmete unruhig. Dünne Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. „Ist irgendwas?“, fragte ich sie. „Ich... Ich bin mir nicht sicher...“ „Fühlst du dich unwohl?“ Ohne mir zu antworten, lief sie ans Fenster, presste sich gegen die Wand und lugte hinaus. Ich wollte ihr folgen, doch sie hielt mich zurück. Sie wagte es kaum zu atmen und je länger sie so stand, desto mehr übertrug sich auch auf mich ein mulmiges Gefühl. „Lass mich raten... Jetzt ist auch noch ein Killer hinter mir her?“, versuchte ich mit ein wenig Ironie die Situation wieder in gelenkte Bahnen zu bringen, aber zu einem gewissen Grad fürchtete ich mich vor ihrer Antwort. Glücklicherweise verließ Fleur endlich ihre Position, doch damit war ihre Anspannung nicht verloren. Während sie an mir vorbei lief, packte sie mich am Arm und zog mich mit sich. „H-hey was soll das denn?!“ Wie in Trance hastete sie, mich einfach nicht loslassend, aus dem Hotel, machte auf der Straße dann plötzlich halt und schaute sich panisch in der Gegend um. Auch ich überschaute meine Straße, ließ meinen Blick von Westen nach Osten schweifen, entlang an den Eingängen der Wohnhäuser, den schwarzen Fenstern der Steamed Rat und schaute mir besonders gut die Gesichter jedes einzelnen Passanten an, doch niemand stach heraus. Da waren einige Kinder an der Straßenecke, die um eine handvoll Pennys bettelten und dabei immer wieder die gleichen Phrasen wiederholten. Eine ältere Dame fegte die Treppe ihres Hauses und unterhielt sich mit einem Mann, der am Fuße stand und eine rauchte. Seinem deprimiertem Gesichtsausdruck nach und gemessen an der frühen Uhrzeit, wurde er wahrscheinlich gerade gekündigt. Einige Schläger kamen aus einer Gasse, sichtlich angetrunken und pöbelten ein paar Passanten an. In der Ferne hörte man das dampfende Werkeln von Maschinen und die Echos der Pferdekutschen, die über das Pflaster donnerten, vermengt unter das Bellen einiger Straßenköter und dem Gemisch verschiedenster Stimmen, mal hallend aus den Hinterhöfen, mal dumpf aus den nahen Gebäuden. Leicht legte ich eine Hand auf Fleurs Schulter und nickte ihr beruhigend zu. Dann gab ich ihr einen Stoß in die richtige Richtung. Sie beruhigte sich zwar etwas, doch es entging mir nicht, dass sie noch immer Augen und Ohren offen hielt. „Vielleicht hilft es, wenn du mir erklärst, was uns verfolgt.“ „Tut mir leid...“ Das waren ihre ersten Worte, nach einer gefühlt ewigen Wartezeit. „Ich hatte dieses komische Gefühl... Eine boshafte, bedrückende Präsenz, die ich nur von einer Person kenne... Meiner Schöpferin.“ Ich blieb stehen und schaute Fleur perplex an? Diese La Belle, von der sie mir erzählt hatte? Hatte sie uns wirklich verfolgt? Schnell wirbelte ich herum und beobachtete jede feminin anmutende Person nochmal genaustens. Doch je länger ich mir die handvoll Passanten an diesem sonnigen und scheinbar sorglosen Morgen ansah, desto mehr fügten sie sich alle in das Bild ein. Nein, heraus stach niemand. Insbesondere niemand, der schon von weitem äußerst boshaft wirken musste. „Bist du dir sicher?“, flüsterte ich ihr zu und versuchte, mich weniger zu allen Seiten umzusehen, sonst machten wir uns nur unnötig verdächtig. „Ich... ich weiß nicht. Ihre Aura ist eigentlich unverwechselbar. Kalt, wüst und erbarmungslos wie ein Blizzard in den Bergen. Mal ist sie stärker, dann aber auch wieder sehr schwach, aber jetzt fühlt es sich eher an, als wäre sie von einem auf den anderen Moment verschwunden.“ „Ist so etwas denn möglich?“ „Ich weiß nicht...“ Sie war sichtlich beunruhigt und ich musste nicht fragen, wieso. Wer immer es auch war, der sich vielleicht in unserer Nähe umhertrieb, es war nicht in meinem Sinne, ihn zu treffen. Lieber glaubte ich ihr vorher als im Nachhinein eines Besseren belehrt zu werden. Forsch packte ich ihre Hand und führte sie die morgendliche Straße entlang, blieb nicht stehen und sah nicht zurück, bis ich Thomas – etwas zerzaust, aber ausgeschlafen – vor seiner Haustür sitzen sah. Über all den Ärger hatte ich schon beinahe vergessen, wie sehr ich mich vor seiner Begegnung heute eigentlich fürchtete. Ein leises, sanftes „Hey“ war das erste, was er sagte, als wir uns gegenüberstanden. So begrüßte er mich fast immer. Tom redete nie viel, wenn man ihn nicht dazu aufforderte. Stattdessen war er einfach für einen da und hörte zu. Ganz gleich, wie viel man ihm zu erzählen hatte. Eigentlich liebte ich das mitunter am meisten an ihm, doch wie sollte ich ihm sagen, dass es gerade seine Nähe selbst war, die mich bekümmerte? Kühl waren seine Hände, als er sie auf mein Gesicht legte und seine schmalen Finger in meinem Haar vergrub. Langsam kam er mir näher, doch ich wollte ihn eigentlich nicht küssen. Nicht jetzt, nicht hier. Nur widerwillig ließ ich ihn seine Lippen auf die meinen legen und als ich sah, wie Fleur darüber ihr Gesicht in ihren Händen vergrub, wurde er nur noch ungenießbarer. Tom spürte das und ließ wieder schnell von mir ab. „Verzeih... Ich sollte dich aktuell nicht so überrumpeln.“ Dieser Idiot, warum entschuldigte er sich nur dafür? Es war doch das Normalste auf der Welt, seinen Liebsten zu küssen und im Arm zu halten und ich hegte doch Gefühle für Tom. Warum nur konnte ich es dann nicht genießen? „Weil er dir gefallen hat, Fleurs Kuss in der Nacht“, redete mir meine innere Stimme ein. Ich versuchte entgegen zu halten, mir einzureden, dass dem nicht so war, doch sie ließ mich nicht in Ruhe. „Sie gefällt dir, sie gefiel dir von der ersten Sekunde an. Und schon bald wirst du dich an jede Liebkosung erinnern, die ihr ausgetauscht habt. Wie kannst du Tom so noch in die Augen sehen?“ Das ist nicht wahr... „Was hat er nur verbrochen, sich in dich zu verlieben? Eine Straßengöre, eine Mörderin, eine Hure...“ Das ist nicht wahr! Selbst wenn es der Wahrheit entsprach, was konnte ich denn für all das? Ich hatte nie darum gebeten, auf der Straße zu leben, ich hatte nie jemanden töten wollen und ganz sicher hatte ich nie darum gebeten, mich... mich in sie zu... „Alice?“ Kurz zuckte ich zusammen, als Thomas meinen Namen nannte und sah ihn an. Er hatte seine Hände von mir genommen und schaute mich erwartungsvoll an. „Entschuldige, hattest du was gesagt?“ In meinem kurzen Konflikt mit mir selbst, hatte ich meine Umwelt komplett ausgeblendet. Es konnte sich eigentlich nur um wenige Augenblicke gehandelt haben, doch fühlte es sich an, als sei währenddessen eine beachtliche Zeitspanne vergangen. Unfassbar, wie schnell man sich in Gedanken selbst fertigmachen konnte. Tom lachte kurz und schüttelte den Kopf. „Normalerweise bin doch ich das immer, der in seinen Gedanken alles um sich herum vergisst. Ich wollte eigentlich nur, dass du uns einander vorstellst.“ Ich schaute zu dem Homunkulusmädchen herüber. War es ihm etwa noch nicht aufgefallen, die schneeweiße Haut, die seltsam violetten Augen, das aschgraue Haar? Fleur machte einen kurzen Knicks, wobei sie ihre dunkle Maid-Uniform am Rock ein Stück weit anhob und das Gesicht zu Boden richtete. Der Anblick hatte sie sicher verletzt und ich konnte es ihr nicht verdenken. Doch als sie ihren Kopf gehoben hatte und ihre Blicke einander trafen, wurde auch Thomas sich ihrer sonderbaren Gestalt bewusst, die sich noch zuvor unter dem Schatten des Tuches versteckt hatte. Sicher reagierte jeder grundsätzlich anders, wenn er Fleur zum ersten mal traf, doch es war wohl Toms allgemeiner Weltoffenheit geschuldet, dass er – alle sichtbare Neugier zum Trotze – erstaunlich ruhig blieb. Und hätte ich in jenem Moment der Begrüßung nicht auf seine leicht zittrige Hand geachtet, die für einen Moment sogar zurückzuckte sowie seinen schwereren Atem, der von dem starken Schlagen seines Herzens zeugte, dann wäre seine Entspannung schon fast gespenstisch gewesen. Aber vielleicht kam er mir nur so ruhig vor, weil ich selbst große Anspannung fühlte, als die beiden sich die Hand gaben. „Guten Morgen, Mister Nowak. Mein Name ist Fleur, ich bin eine Freundin von Alice. F-Freut mich sie kennenzulernen.“ Fleur war schüchtern wie eh und je und auch Thomas antwortete ihr nur sehr zurückhaltend. So hatte ich das Gefühl, dass sie voreinander eine gewisse Angst verspürten, auch wenn sie wirklich nicht einander abgeneigt schienen. „Vielen Dank, dass Sie so gut auf Alice aufgepasst haben, Miss Fleur.“ „B-bitte nennen Sie mich nicht 'Miss', ich bin doch nur eine einfache Bedienstete. Fleur reicht absolut.“ „Verstanden. Thomas reicht ebenfalls bei mir, niemand nennt in dieser Gegend einen beim Nachnamen.“ „Okay...“ Und dann gaben die beiden ein verschüchtertes Lachen von sich und es schien, als tauten sie ein wenig auf. „Wo liegt der Laden, den du erwähnt hattest?“, fragte ich Tom, denn hier wollte ich keine Wurzeln schlagen. Gerade nahm meine Furcht wieder ein wenig ab, jetzt wo sie die ersten Worte miteinander gewechselt hatten. Dennoch fühlte ich mich dabei im Herzen Elend und wusste, dass ich mich auf kurz oder lang nicht mehr verstecken konnte. Doch es gab wichtigeres... Zumindest redete ich mir das immer wieder ein. „Es ist eine Tür, eingebaut in den Deich, auf Seiten der City. Nur wenige Minuten vom Tower entfernt. Wir brauchen also nicht allzu lang.“ Ich überließ Thomas die Führung, fühlte mich selbst auf einmal etwas verloren in meiner eigenen Heimatstadt und außerdem merkte ich nun auch die Schwere auf meinen Lidern, zwecks des Schlafmangels und meine Gedanken kreisten sich im Hintergrund eigentlich nur darum, wie ich einen von beiden vor dem Kopf stieß, ohne ihn oder sie dabei unnötig zu verletzen und vor allen Dingen wen. Den liebenswerten, schüchternen Jungen zu meiner Linken, den ich lange genug kannte, um ihm mittlerweile in allen Belangen blind zu vertrauen, oder doch dieses mindestens genauso liebenswerte und genauso schüchterne Mädchen zu meiner Rechten, zu der ich mich so unfassbar hingezogen fühlte, ganz gleich, wie sehr ich nicht auf meine Gefühle hören wollte? Vielleicht hätte ich besser niemals ein Faible für derlei Menschen entwickeln sollen. Sie zu verletzten, wird einem immer auch selbst wehtun. „Du siehst erschöpft aus... zu wenig Schlaf?“ Natürlich hatte Tom es bemerkt. Ich sollte ihn nicht noch mehr Sorge bereiten. „Fabelhaft kombiniert. Zu schade, dass sie keine Vandalen bei Scotland Yard zulassen.“ „Das war nun wirklich nicht schwer. Das sieht jeder an deinen Augen.“ „Ach wirklich? Ist es doch so schlimm?“, antwortete ich mit einem kurzen Lachen und machte dann eine kurze Pause. Man konnte sie einfach nicht erzwingen, die Leichtigkeit, mit der wir uns sonst unterhielten. Vielleicht würde sie niemals wiederkehren. „Du... du weißt, dass ich mich diesbezüglich schon lange nicht mehr lustig mache, oder?“ „Hm? Was meinst du?“, fragte er verwundert. Wieder machte ich eine Pause, atmete langsam durch. „Na wann immer ich dich mit deiner Beobachtungsgabe aufziehe. Dass du zu Scotland Yard gehen solltest, das meine ich schon lange ernst.“ „Ich weiß... Aber da gehöre ich nicht hin.“ „Tust du wohl.“ „Was sollen die schon mit jemandem wie mir anfangen? Ein paar Groschenromane lesen, das kann doch wirklich jeder.“ „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Wütend stellte ich mich vor ihn und funkelte ihn an. Er wusste, warum ich wütend war. Thomas hatte manchmal die schlechte Angewohnheit, sich selbst nicht wertzuschätzen und dann auch nicht auf die zu hören, die es ihm ausreden wollten und das brachte mich zur Weißglut. „Hier geht es nicht um mangelnde Erfahrung, für die du all dein Leben weiß Gott nichts konntest. Wenn diese Spinner von der Polizei lieber einen wichtigen Neuzugang verlieren würden, als mal ihr stures Weltbild zu überdenken, dann sind sie... Spinner eben. Aber du hast es ja bisher nicht einmal versucht! Du vergeudest all dein Talent und deine Wissbegierde und ich weigere mich, das mir länger anzusehen!“ Was tat ich da? Natürlich lag mir etwas an ihm, aber versuchte ich nicht gerade eher die Aufmerksamkeit nur von mir zu lenken. „Alice, es geht doch jetzt gar nicht um...“ „Halt die Klappe! Fleur, sag auch mal was dazu.“ Das Homunkulusmädchen war sichtlich überfordert damit, dass ich sie so plötzlich eingebracht hatte. „A-also ich habe dazu wirklich keine richtige Meinung... Aber vielleicht...“ Auf einmal fingen ihre Augen an zu leuchten und zum ersten Mal, seit sie auf Tom getroffen war, huschte ein Lächeln über ihren Mund. „Vielleicht können Sie ja mitkommen. Nach Taleswood. Wir haben auch eine Polizei und die sucht immer gute Leute, egal welchen Standes.“ Was hatte sie vor? Sie wusste doch über unsere Situation Bescheid, warum sollte sie dann vorschlagen, dass wir nur enger zusammenleben? Aber zum Glück war ich nicht die einzige, die Zweifel daran hatte. Auch Tom wusste nicht so recht, wie er dazu stehen sollte. „Das ist... ein gutes Angebot, aber ich glaube nicht, dass ich in einer solchen Stadt gut aufgehoben bin. An mir ist doch nichts besonderes.“ „Keine Sorge, die meisten Menschen in Taleswood sind vollkommen normal. Ich bin sicher, Master Salem würde Ihnen auch ein Gästezimmer für die erste Zeit zur Verfügung stellen.“ Wurde sie... wurde Fleur etwa rot? Was war nur in sie gefahren? Doch um ehrlich zu sein, konnte ich ihr nicht widersprechen. Ich wollte ja, dass Thomas endlich in seinem Leben etwas tat, das ihm gerecht wurde, aber welchen Zweck verfolgte Fleur mit diesem Vorschlag? „Wir haben jetzt wichtigeres zu tun“, warf ich ein und machte mich wieder auf, dem Weg zu folgen, den wir gerade gegangen waren und die anderen stimmten mir zu. Denn egal, was die Zukunft für uns drei brachte, zuerst mussten wir uns um die Gegenwart kümmern. Aber abgesehen davon, hatte mich Fleur so dermaßen eiskalt erwischt, dass ich möglichst schnell von dem selbst angestoßenen Thema wieder abkommen wollte. Trocken und schwer hing der Kohlenstaub in der Luft, ausgestoßen von den unzähligen Schiffen, welche Tag für Tag die Themse entlang fuhren und Güter wie Personen über den Fluss bis hinunter zur Nordsee transportierten. Wenn es nebelig war, vermischte es sich zu einem so undurchsichtigen Grau, dass man beinahe die Hand nicht vor Augen sah. Doch nicht an diesem sommerlichen Tag und das war auch gut so, denn Tom konnte sich zwar das ungefähre Umfeld gut merken, jedoch nicht die genaue Tür, welche in die steinernen Hänge eingelassen waren und hinter denen sich diverse Lager befanden, prallgefüllt mit Waren, die nur auf ihren Abtransport warteten. Und davon gab es eine Menge. Zudem sah jene, vor der wir halt machten nicht sonderlich anders aus, als alle anderen. Hier sollte sich also ein Buchhandel befinden? Nichtmal als Buchlager würden sich diese Orte anbieten, waren sie doch immer ein wenig hochwassergefährdet. Abgesehen davon waren die Räume nicht sonderlich groß, da die Waren oft nur kurz zwischengelagert wurden. Da bemerkte ich die Inschrift am Rahmen, so dermaßen durch die Witterung verwachsen, dass man sie kaum als Buchstaben entziffern konnte. „L-Lost T-Tales Booktrade“, entzifferte Fleur mit halb zugekniffenen Augen. „Wie hast du denn diese Bude gefunden?“, wollte ich nun doch wissen, doch Thomas gab nur eine schwammige Antwort, um ein offenes Geheimnis, weitergeleitet über einen, der einen kannte, der einen kannte und so weiter. Kurzum: Er konnte den genauen Informationsweg auch nicht mehr zurückverfolgen und das wurmte ihn deutlich mehr als mich. Zweimal klopfte er an die schmucklose Tür mit einigen Sekunden Abstand, dann schwang sie von selbst auf und offenbarte auf den ersten Blick nur gähnende Leere. Dann entzündete sich in der Finsternis eine Kerze... und daraufhin noch eine und noch eine, bis ein großer Saal hell erleuchtet war, viel riesiger und edler, als es die Tür andeutete. Die Wände waren bis zur Decke mit Regalen aus dunklem, gleichmäßigen Holz verdeckt über und über gefüllt mit Büchern, stellenweise überhangen mit Karten und Schemata, deren Inhalt ich von meiner Position aus nicht entziffern konnte. In dem runden Raum, welcher von der Größe aber auch von der Ausstattung her gut und gerne als edler Ballsaal durchgehen konnte, stand in dessen Mitte ein relativ breiter, ovaler Glastisch, verziert mit bunten Malereien aus unterschiedlichen Epochen und auch von unterschiedlichen Künstlern, sodass es etwas durcheinander wirkte. Und an diesem Tisch, eingezwängt zwischen Büchern saß eine große, etwas ältere Frau mit kurzem aschgrauem Haar, schneeweißer Haut und violetten Augen, die uns fixierten. Sie stand auf und lächelte uns freundlich zu, winkte uns mit einem Arm heran. „Bitte... Nicht so schüchtern, die Damen und der Herr. Ich sehe hier immer gern Gäste.“ Dann hielt sie inne und ihre Augen wurden größer. Gerichtet waren sie...auf Fleur. Und als ich sie ansah, erkannte ich, dass meine Begleiterin genauso reagierte. „Was ist los? Was ist mit ihr?“, fragte ich sie. Nur langsam fingen ihre Lippen an, zittrig Worte zu formen, gestört von dünnen Tränen, die ihre Wangen herunterliefen. „Unmöglich... Sie... Sie ist wie ich...“ Kapitel 19: Schicksalsbänder ---------------------------- Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Schwestern, wenn sie sich so gegenüber standen, oder wie Mutter und Tochter. Die gleiche Haut, das gleiche Haar, die gleichen Augen, obwohl... auf den zweiten Blick unterschieden sie sich doch stark voneinander. Fleur war deutlich kleiner und besaß ein eher rundliches Gesicht mit großen Augen und ihr Haar war glatt und weich. Die Augen der Dame – welche vielleicht 50 Jahre alt war – waren hingegen eher schmal, das Gesicht hatte schärfere Konturen und ihr kurzes, dickes Haar kräuselte sich an der Spitze. Und mit ihrer etwas dünnen Statur war die Frau selbst mir ähnlicher. Doch faszinierter als ich, waren die beiden voneinander, als sie ihre Hände aufeinander legten und sich tief in die Augen sahen, als hätten sie sich selbst zum ersten mal im Spiegel gesehen. Fleur atmete schwer und zitterte wie Espenlaub. Ihre Hand zuckte leicht, als wollte sie sie wegziehen. So vergingen einige Minuten der Stille, bis die Dame zu sprechen anfing. „Du hast diesen lebhaften Glanz in deinen Augen.“ „Du auch...“, flüsterte Fleur. „Deine Hand ist so warm und ich fühle deinen aufgeregten Puls.“ „Ich deinen auch...“ Ihre Stimme war zittrig und sie legte ihre linke Hand auf ihren Mund, um ihr Schluchzen zu ersticken. Aber zeitgleich lächelte sie vor Glück, so herzlich, wie ich nicht dachte, dass jemand so lachen könnte. „Wie heißt du, Kind?“ „F-Fleur. Und wie heißt du?“ „Cat...“ Von dem Moment an, als die beiden sich sahen, hatten sie alles um sich herum vergessen. Weder mich, noch Thomas nahmen sie wirklich wahr. Hatte Fleur gerade zum ersten Mal eine andere ihrer Art gesehen? Homunkulus, so nannte sie sich doch... Oder steckte noch weitaus mehr dahinter? „Weißt du, was mit ihnen los ist?“, fragte mich Tom, doch ich zuckte nur mit den Schultern, noch immer gebannt von dem Zusammentreffen dieser beiden Frauen. Ich traute mich nicht, sie anzusprechen, aber konnte auch nicht meinen Blick abwenden, von diesem Schauspiel. Wie die beiden das Gesicht der jeweils anderen abtasteten, durch ihr Haar fuhren und dabei nicht eine Sekunde aus den Augen ließen. „Sei bitte ehrlich, Fleur: Kannst du... kannst du wirklich... fühlen? Wie ein... wie ein echter Mensch?“ Fleur nickte langsam und Cat lächelte erleichtert. Fühlen... War das für Homunkuli etwa nicht selbstverständlich? Ich spürte eine sanfte Kraft, die an meiner Schulter zog. Thomas gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass wir die beiden erst einmal in Ruhe lassen und uns stattdessen in der Bücherei umsehen sollten. Und als ich mich von ihm an die Hand nehmen und vom Eingang weg in den Saal entlang der überdimensionalen Bücherregale führen ließ, da fiel mir zum ersten Mal auf, wie still es hier war. Durch die Tür drang kein einziges Geräusch vom andauernd lärmenden Betrieb auf der Themse, das Donnern der unzähligen Kutschen über uns erreichte nicht einmal die Decke und selbst unsere Schritte wurden auf dem purpurnen Teppich fast komplett gedämpft, sodass wir am Ende beinahe den Atem des anderen hören konnten, wäre da nicht das Gespräch der beiden Damen am Eingang. Noch nie zuvor war ich in einer echten Bibliothek, doch ich bezweifelte, dass es dort auch nur annähernd so gespenstisch still war. Doch auch sonst fing der Raum eine ganz eigene Atmosphäre ein. Hatte man sich an dem luxuriösen Mobiliar – wenn man denn diese doch recht begrenzte Einrichtung so nennen wollte – satt gesehen und sich lange genug darüber den Kopf zerbrochen, welch unvorstellbare Summen dafür geflossen sein mussten, fiel einem erst einmal auf, wie dermaßen wenig auf Symmetrie geachtet wurde, dass man schon fast blanke Absicht unterstellen müsste. Dies fing damit an, dass der Tisch nicht genau in der Mitte stand, sondern etwas nach rechts oben gerückt war, zu wenig, als dass man es sofort bemerkt hätte, aber deutlich genug, dass es einen bei jedem erneuten Anblick störte. Auch selbst wagte das gläserne Möbelstück mit seinen verworrenen Formen jeden halbwegs guten Geschmack herauszufordern – und ich machte mir nun wirklich nicht viel aus Möbeln. Doch die Tatsache, dass die Tischplatte von einer runden in eine eckige Form überging, das eine Bein verschnörkelt und golden, das andere hingegen silbern und schmucklos war und noch dazu irgendein verkappter Künstler – vielleicht aber auch hundert – versucht hatte, verschiedenste Stile und Epochen aus Ost und West auf dieser fragwürdigen Leinwand zu verewigen... ja, das war auch mir zu viel des Guten. Doch die Regale standen dem in nichts nach. Mal waren die Abstände zwischen den Reihen kleiner, dann größer, manchmal schienen sie sogar leicht schief zu stehen und die Bücher darin folgten genauso wenig irgendeinem System. Alte neben Neuen, Atlanten neben Romanen, V neben A. Dass manche noch dazu von Landkarten und diversen Schemata verdeckt waren, fiel dabei kaum mehr ins Gewicht. „Und wie sollen wir nun irgendwas finden?“, fragte ich Tom, nachdem wir getrennt die Bücherwand entlang gelaufen waren und uns nun vor Kopf trafen. „Lady Cat kennt sich hier aus. Sie meinte, sie arbeitete so lange schon hier, dass sie jedes Buch und dessen Standort in – und auswendig kenne.“ „Stimmt, du warst ja schon einmal hier... Warte! Wenn du jemanden wie Fleur schon vorher kanntest, warum warst du dann so nervös, als ihr euch begegnet seid?“ Ich merkte eine unscheinbare Berührung seines Handrückens an meinem, als ich diese Worte aussprach. Dann zuckte Tom zurück und senkte beschämt den Kopf. „Es klingt bestimmt total einfältig, aber als du von ihr erzählt hattest und sagtest, dass du dich nicht mehr an sie erinnern könntest, da wurdest du etwas traurig und... so, wie du sie bei der Hand nahmst, wie nahe sie gerade eben immer bei dir war... naja, da wurde ich einfach eifersüchtig. Du... du bist meine einzige Freundin und ich... hatte einfach Angst, dich zu verlieren... Tut mir leid, ich weiß es klingt bescheuert.“ „Hör bitte auf damit...“ „Was meinst du?“ „Dich für jede Kleinigkeit zu entschuldigen. Das geht mir auf den Geist...“ Und so standen wir wieder da und starrten schweigend auf die Buchrücken, während ich langsam eine eisige Wand zwischen uns hochfuhr. Alchemistische Enzyklopädie: Bände 1-12, Maeldun versus Salem, Mages in the United States, Faune Fantastique Ich konnte es nicht. Jetzt war Fleur nicht einmal mehr in der Nähe und ich konnte ihm trotzdem nicht in die Augen sehen und „Ich liebe dich“ sagen, egal wie sehr ich es auch wollte. Denn auf meiner Zunge lag der Drang, ganz andere Worte auszusprechen. Werewolves: Myths and Facts, Europa: Lugares Magicos, Les LaFayettes „Ich habe Fleur geküsst.“ So schwer konnten die Worte doch nicht sein. Tom würde es verstehen. Weil er mich immer verstand. Oder es zumindest versuchte. Es würde alles wieder in Ordnung kommen. Dennoch nahm mir ein Brocken im Hals jegliche Luft und alle Töne blieben in mir stecken und zerfraßen mich wie Säure. Das Vermächtnis der Familie Faust, Fairytales and their Origins, Mages' Feuds Fest drückte er meine Hand, fuhr mit seinen Fingern zwischen meine und drehte mich zu ihm. Seine Augen waren leicht verschwommen, doch keine Träne wich aus ihnen. Er lächelte sanft, während er mir über die Wange strich und flüsterte: „Ich weiß, es ist dafür nicht die rechte Zeit, aber... ich habe das Gefühl, du bist noch schöner geworden in den letzten Monaten.“ Bevor ich noch wirklich anfing zu heulen, legte ich meine Arme um ihn, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Fest umschlossen sich unsere Lippen und ich umspielte mit meiner Zunge die seine. Er schmeckte noch immer bitter, aber es tat dennoch gut. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf seine Hände, die vorsichtig auf meinen Hüften lagen und langsam nach hinten wanderten. So innig waren wir noch nie und ich versuchte, jede Sekunde davon auszukosten. Doch es war ein plötzliches metallisches Knacken an meiner Seite, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog und uns viel zu schnell wieder voneinander trennte. Warum nur hatte ich das Gefühl, dass so etwas schon häufiger vorkam? Auch Tom und die anderen hatten es bemerkt und wir starrten gebannt auf die Mitte des Raumes. Aus dem Boden fuhr, unter dem Geräusch ratternder Zahnräder und ausgestoßenen Dampfes, ein rundes Stück von vielleicht sechs Fuß Durchmesser, nach oben gedrückt durch eine silbrige Säule und gefolgt von einem Treppengeländer, das sich wie eine Schlange um die Säule wand. „Oh nein, was tut er denn...?“ Lady Cat raufte sich die Haare, als sie das beeindruckende Gebilde erblickte und die schweren Schritte einer Person hörte, die langsam die Treppe hinaufstieg. In ihrem Ton lag ein leichter Anflug von Panik, so, als wäre die Situation von ein auf dem anderen Moment deutlich gefährlicher geworden, wenn auch nicht klar war, für wen. Langsam stieg aus dem Loch ein Mann in schwach gebückter Haltung. Er hatte wohl mal einen anständigen Kurzhaarschnitt und einen schicken Schnauzer gehabt, doch wer wusste, wie lange das her gewesen war. Nun waren die dunkelblonden Haare lang und zerzaust, der Bart dicht und ungepflegt. Sein Gesicht und seine Arme trugen einige bläuliche Narben und die Augen hatten ein paar tiefe Ringe. Nur die feine Kleidung hielt mich davon ab, ihn für einen Bettler zu halten. „Mister Abbott. Sie sollten doch nicht...“, wollte Cat noch den Mann aufhalten, aber es brauchte nur eine mahnende Handbewegung, dass sie verstummte und einen Schritt zurücktrat. Ihre Ehrfurcht vor dieser Person war ungewöhnlich, denn er war weder besonders groß noch besonders kräftig. Doch je näher er zu mir schritt, desto mehr spürte ich auch, dass dieser Mann eine ungewöhnliche Ausstrahlung besaß, die in mir auf unerklärliche Weise Bauchkrämpfe hervorrief. „So... du hast mich also gefunden... Und nun? Willst du Rache?“ Mit diesen Worten hob er seine Arme in die Luft und offenbarte seine leeren Handflächen. „Ich habe keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel. Jack, Véronique, jetzt sogar Claires Kind... Aber wenn du es bist, die mich nun endlich umbringen wird... Du hast wenigstens allen Grund, mich zu hassen.“ Dieser Mann – den ich noch nie zuvor gesehen hatte – offenbarte mir, dass er bereit war zu sterben und er meinte dies absolut ernst. Das sah ich in seinem starren, resignierten Blick. Mit angehaltenem Atem beobachteten die anderen unser Aufeinandertreffen. Niemand wagte es ein Wort zu sagen, niemand löste die Anspannung, die sich in jener bizarren Situation aufbaute und die Luft zum Kochen brachte. Es war meine Antwort, die jene durchbrach: „Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst, alter Mann.“ „W-was heißt hier alt?! Ich bin nicht einmal vierzig!“, rief er empört. „Außerdem was heißt hier, du seist nicht wegen mir hier? Du bist Claires Tochter, diese Aura kenne ich zu gut!“ „Noch einmal: Ich habe keine Ahnung wer du bist und ich weiß auch nicht, warum ich dich abmurksen sollte. Ich... ich hab aktuell echt andere Sorgen.“ Der Unbekannte wusste nicht so recht, ob er jetzt erleichtert sein sollte, dass sich seine Vermutung nicht bestätigt hatte, oder beschämt über seinen überdramatisierten Auftritt. Er kratzte sich am Hinterkopf und murmelte eine Entschuldigung. „Dir... sagt also der Name Samuel Abbott gar nichts?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen, mein Gedächtnis ist etwas lückenhaft. Deswegen sind wir hier.“ „Oh... verstehe...“, beruhigt setzte sich der Mann auf den einzigen Stuhl und atmete tief durch. „Ich muss zugeben, für eine Sekunde hatte ich meine Entscheidung fast bereut.“ „Ich denke, nach diesem Auftritt sind sie uns ein paar Antworten schuldig, Sir“, mischte sich Tom ein und trat einen Schritt vor, stellte sich schützend zwischen mich und den Herrn, der offensichtlich dieser Samuel Abbott war. Auch Fleur eilte zu mir und blieb an meiner Seite. Ich erwartete eigentlich nicht, dass dieser Mann eine echte Bedrohung darstellte. Trotzdem gefiel mir die Sorge der beiden, auch wenn es meine spätere Entscheidung nicht einfacher machen würde. „Ich bin sicher niemandem etwas schuldig, der sich an diesen Ort stiehlt, ohne den Hauch einer Aura zu besitzen, junger Mann“, antwortete Abbott, reichlich unbeeindruckt von Toms Auftritt. „Sir, Sie wissen, dass wir jedem den Zugang...“ „Ich weiß, Cat. Sie müssen es mir nicht andauernd von Neuem erzählen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Außerdem war ich ja bereit, reinen Tisch zu machen... Das hat sich die Kleine verdient. Wie heißt du eigentlich?“ Ich zögerte einen Moment, bevor ich ihm antwortete: „Sarah...“ Abbott zog eine Braue hoch und sah mir tiefer in die Augen. Seine Iris hatte eine sonderbare Farbe. Es waren zwei Töne, ein blauer und ein grüner, die jedoch nicht stillzustehen schienen, sondern sich vermengten und wieder trennten, wie zwei Substanzen in einem Reagenzglas. „A-L-I-C-E“, buchstabierte er laut und deutlich. „Das klingt schon eher nach einem Namen, den Claire gewählt hätte. Du vertraust mir noch nicht, wie? Kann's dir nicht verdenken...“ Dann lehnte er sich zurück, holte ein Stofftuch aus seiner Westentasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Was auch immer er gerade getan hat, es kostete ihn viel Kraft. „K-können Sie etwa Gedanken lesen, oder so?“ Ich fühlte mich entblößt und angegriffen, aber gleichzeitig war ich auch etwas fasziniert von seiner Fähigkeit, wollte wissen, wer oder was dieser Mann eigentlich war. „Gedankenlesen? Seh ich aus, wie ein Wahrsager mit ihren komischen Glaskugeln? Nein, ich kann Auren sehen und daraus Dinge entnehmen, die mit ihr verbunden sind. Zum Beispiel auch Erinnerungen an den Namen der Person.“ „Auren?“, fragte Tom neugierig, denn wenn es etwas Neues zu lernen gab, dann wurde er immer hellhörig. „Das ist das, was du nicht hast“, gab Abbott missmutig zu Wort, setzte dann aber einen deutlich sanfteren Ton an: „Entschuldige, ich meine das nicht persönlich. Es ist nur... Eine Aura entsteht durch die Magie im Körper eines Wirts. Sie stößt eigentlich immer einen kleinen Teil ihrer Energie ab, zu wenig, als dass normale Menschen sie wahrnehmen könnten, aber Magier haben eine Art sechsten Sinn für so etwas. Und meiner ist besonders ausgeprägt... auch wenn er mal besser war...“ „Und deswegen haben Sie gewusst wer ich bin?“ „Magie wird im Clan immer weitergegeben und wächst mit jeder Generation heran, dementsprechend auch die Menge an Energie, die abgegeben wird. Du entstammst aus dem ältesten Magierclan Europas, das führt zu einer sehr mächtigen und prägnanten Aura. Ich kannte sie von deiner Mutter. Sie war wie die Wellen des Meeres: gleichmäßige, ruhige Wogen, aber imstande unfassbar große Kraft aufzubringen. Bei dir sehe ich noch dazu einen schweren Sturm, der die See regelmäßig zum Kochen bringt... Das Bild ist kaum schwächer...“ Dann richtete er das Wort an die beiden Homunkuli: „Ihr beide tragt auch eine Aura mit euch. Schwache, verschwommene Portraits von Menschen, die schon lange tot sind, auch wenn sich in die Aura der Kleinen etwas vermischt, was Cat wiederum nicht besitzt. Es sieht fast aus wie ein... Band aus starker Magie, die mir noch dazu nicht unbekannt ist, aber ich kann sie einfach nicht entziffern. Seltsam... Aber du, junger Mann...“ Er funkelte Thomas an, doch der ließ sich davon nicht einschüchtern. Fester kniff er die Augen zu, konzentrierte sich stark, doch schüttelte dann mit dem Kopf. „Du bist so dermaßen normal, dass es schon verdächtig ist...“ „Meine Normalität macht mich verdächtig?“ „Gewöhnliche Menschen sind Magiern nie wirklich wohlgesonnen gewesen, ganz gleich, wie sehr sie von deren Fähigkeiten profitiert hatten.“ „Ich profitiere aber nicht von Alice und will es auch niemals. Ich liebe sie einfach nur.“ Abbott hielt inne und schaute verdutzt in die Runde. Sein Blick schweifte von Tom zu mir, dann zu Fleur, dann wieder zu mir und zu guter Letzt wieder zurück zu Tom. Ich spürte sofort ein gewisses Unbehagen, als hätte er Wind von unserer schwierigen Situation bekommen. Hoffentlich deutete er meinen Blick richtig. Für eine Sekunde dachte er darüber nach, ob er tatsächlich etwas sagen sollte, doch schüttelte dann lachend den Kopf und murmelte so etwas wie: „Tja, wo die Liebe hinfällt...“ Dann richtete er sich wieder auf. „Aber gut, ich helfe dir. Vielleicht kann ich so ein wenig meiner Schuld begleichen...“ Langsam schritt er näher zu mir und sah mir tief in die Augen. Sein Blick hatte mittlerweile etwas leicht Trauriges, oder sogar Reue und ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas gestehen wollte, doch stattdessen fragte er mich etwas: „Hast du das Gefühl, dass deine Erinnerungen richtig fort sind?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es ist eher das Gefühl, als sei dort eine Barriere aus Milchglas, hinter der sie sich verkriechen. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr Dinge scheinen klarer zu werden.“ „Tja, so sehe ich das auch. Die Symptome sind ganz typisch für einen recht dummen Fehler, den man besser nicht in der Ausbidung machen sollte. Deine Aura ist aktiv, doch ich merke, dass sie eigentlich stärker sein müsste. Sie kommt nach und nach zurück. Und mit ihr deine Erinnerungen.“ „Soll das heißen, ich soll einfach warten?! Wie lange denn?“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht einen Monat, oder zwei. Eventuell könnte man das ganze auch Beschleunigen, wenn man die Magie in dir aufwecken kann.“ „Das geht nicht, wir haben nicht so viel Zeit!“, mischte sich nun auch Fleur lautstark ein, die noch gar nichts gesagt hatte und sobald man ihr die volle Aufmerksamkeit gab, bereute sie es auch schon wieder. Abbott missfiel, wie das Homunkulusmädchen mit ihm sprach. „Und was soll ich dagegen tun?! Jeder Magier weiß, dass man im ersten Jahr niemals seinen Ausbildungsort verlassen darf und dennoch hat sie genau das getan.“ „Aber es war doch...“ „Lass mich raten: Es war noch dazu ein Portalzauber? Und dich musste sie auch noch mitnehmen?!“ Als Fleur die Frage mit einem schwachen Nicken bejahte, wand sich der ältere Mann ab, schlug die Hände vor das Gesicht und lachte verächtlich. „Glauben Sie das, Cat? Was hat sich Jacob dabei nur gedacht?! Ihm musste doch bewusst gewesen sein, dass sie dabei hätte sterben können! Dieser Bastard kann nach all den Jahren noch immer nicht für eine handvoll Pennys nachdenken...“ „Aber es war nicht Master Salem!“, platzte es Fleur heraus und wieder bereute sie die plötzliche Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Sie zog ihren Kopf tiefer zwischen die Schultern, als erwartete sie eine Tracht Prügel. „Es war Chaos ausgebrochen. Die Polizei klopfte in jener Nacht an die Tür, als Alice mir davon erzählte, dass Master Salem mit meiner Schöpferin kämpfte...“ „Deiner... Schöpferin?“ Abbott ließ nicht locker und Fleur war zu schüchtern, um dem Magier etwas entgegenzubringen. Ihr brach Schweiß aus, während sie unter Tränen Silbe für Silbe ihres Namens wiederholte: Véronique La Belle. Sofort wich ihrem Gegenüber die Farbe aus dem Gesicht und sein Ausdruck zeugte von einer plötzlichen, scheinbar fatalen Erkenntnis. „Das Band... deswegen kam es mir so bekannt vor. Diese Hexe... Sie weiß wo du bist... Und das hast du gewusst...“ „Ich...“, versuchte sich Fleur zu erklären, doch Abbott ließ sie nicht zu Wort kommen. „Du verdammte, künstlich geschaffene Dreckshure! Was hast du dir dabei gedacht, uns alle in Gefahr zu bringen?!“ Er trat auf sie zu, holte mit der Hand aus, wollte ihr offensichtlich zur Strafe die Wange rot schlagen, doch vorher spürte er meinen Fuß in der Magengegend, denn ich stellte mich zwischen die beiden und nahm das weinende Mädchen in den Arm. Ich verstand nicht ganz, worum es ging aber auch wenn Fleur einen Fehler gemacht hatte, würde ich es nicht akzeptieren, dass man sie verletzte. Sanft strich ich ihr über den Schopf und gab ihr einen tröstenden Kuss auf die Stirn. Es war, als hätte ich mir einst geschworen, sie zu beschützen. Dann war es Thomas, der sich zu uns gesellte und auch selbst seine Hand auf ihren Rücken legte. Er sagte nichts, so wie immer und ich konnte mir nur vorstellen, wie all das für ihn klingen musste, wenn es schon mich überforderte. Aber das war ihm in diesem Moment so gleichgültig wie mir. In diesem Moment hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass es für uns drei doch noch ein glückliches Ende geben könnte... „Mister Abbott, Fleurs Anwesenheit ist meine Schuld. Ich hielt sie für wichtig, da sie aus Taleswood stammte. Und selbst wenn uns das Risiko bewusst gewesen wäre, hätten weder Alice, noch ich sie allein gelassen. Letzten Endes habe ich sie hierhin geführt, es obliegt also meine Verantwortung.“ „Deinen Schneid in allen Ehren, Junge, aber du kennst Véronique nicht. Sie löscht alles aus, was ihr im Weg steht. Mich hätte sie damals fast umgebracht, wäre Jack nicht aufgetaucht. Und noch mehr ist es mir ein Rätsel, wie er das überstanden hat. Deswegen hatte ich mich versteckt.“ „Ich wusste es nicht...“, wimmerte Fleur. „Ich wusste wirklich nichts von diesem Band.“ Abbott rümpfte die Nase und sah uns missbilligend an. Cat gesellte sich besorgt zu ihm und ergriff das Wort: „Beantwortete mir eine Frage, Fleur: Spürst du eine unserer Auren?“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber die deiner Schöpferin... Die spürst du schon, oder?“ Sie nickte. „Und dir ist nie in den Sinn gekommen, dass es auch anders herum der Fall sein könnte?“ Mir reichte es mit diesem Verhör. Ich verstand, dass Abbott große Furcht vor der Frau hatte, die Fleur immer nur ihre Schöpferin nannte und sicherlich gab es hierfür gute Gründe, aber das gab ihm kein Recht, sie so zu behandeln. Tom dachte anscheinend dasselbe und wir waren bereit, gemeinsam für sie einzustehen, aber es waren tatsächlich ihre zarten, schneeweißen Hände die uns links und rechts an den Ärmeln hielten. „Ihr beiden...Vielen Dank... Aber sie haben schon Recht... Es war dumm von mir und riskant. Am besten sollte ich einfach gehen.“ „Gut, dann gehen wir zusammen heim“, verkündete ich bewusst lautstark. Sie sollte nicht denken, dass sie allein war. Tom sah einen Moment verwirrt über meine Entscheidung aus, doch dann stimmte er mir stumm zu und wand sich ein letztes Mal an die Hausherrin: „Lady Cat, könnten wir uns ein paar Bücher über Taleswood ausleihen? Dann versuchen wir auf eigene Faust mehr herauszufinden.“ Cat machte eine schnelle Verbeugung und suchte sofort passende Lektüre zusammen. Schlagartig war jede Anspannung genommen und beide Seiten beruhigten sich wieder. Ich atmete ein paar mal tief durch, bevor ich mich zu dem Mann bewegte, den ich gerade noch als meinen Feind ansah. Niemand konnte mich dazu bringen, ihn zu mögen, doch ich musste akzeptieren, dass meine Motive nicht die seinen waren. Ich reichte ihm die Hand und er schlug mit einem entschuldigenden Lächeln ein. „Ich weiß, ich ging zu weit. Den Tritt habe ich verdient, aber sie kann trotzdem nicht bleiben.“ „Ihr Verhalten kann und werde ich weder akzeptieren, noch verstehen, aber Sie haben mir dennoch weitergeholfen, insofern bin ich Ihnen dankbar.“ „Das musst du nicht sein. Deine Geburt stand nicht unter einem guten Stern und das ist zum Teil auch auf meinem Mist gewachsen. Sieh es als Begleichung meiner Schuld. Oder zumindest als Anzahlung. Du wirst wohl jetzt mit diesen Worten nicht viel anfangen können, aber wenn du Jack wiedersiehst, dann sag ihm bitte... Sag ihm, das mir alles unendlich Leid tut... Ich war nicht ich selbst und... sag ihm einfach, es tut mir leid.“ Ich wollte nicht nachfragen, was ihm genau Leid tat, denn was es auch immer war, es musste dafür gesorgt haben, dass Samuel Abbott sich viele Jahre hier verkrochen hatte und um sein Leben bangte. So glaubte ich ihm nur allzu gern, dass seine Reue echt war. „Können wir?“ Tom trug gut ein halbes Dutzend Bücher mit sich und sein seliger Gesichtsausdruck verriet, dass er sich jetzt schon darauf freute, sie durchzuarbeiten. Ich nahm ihm zwei Exemplare ab und gab ihm einen dankbaren Kuss auf die Wange; den ersten, der sich wieder wirklich schön anfühlte. Dieses Mal, so war ich mir sicher, würde alles gut werden. Doch in jenem Moment als ich mich nach Fleur umsah, erkannte ich die Furcht in ihrem Gesicht. Sie zog sich zusammen, als sei ihr bitterkalt und da spürte ich es auch, dieses unangenehme Gefühl der Kälte, erst kaum wahrnehmbar, dann aber immer stärker, eisig und brutal, wie ein... ja, wie ein Blizzard in den Bergen. „Nein... Das ist nicht wahr... Sie ist hier...“, stammelte Mister Abbott hinter mir und als ich zur Tür sah, folgten die Schläge. Einer, dann eine Pause, dann noch einer und die Tür schwang auf. Unter einem langen Kapuzenumhang konnte man nicht einmal erkennen, wer es war, aber nach allem was ich gehört hatte und allem, was ich jetzt spürte, gab es nur eine, die unter ihm stecken konnte. Niemand wagte es einen Ton zu sagen, weder sie, noch wir. Sie trat humpelnd ein und die Tür schwang zu. Ihre Hände, die aus dem Stoff hervortraten, waren komplett in Bandagen gewickelt, die fast mehr rote als weiße Stellen besaßen. Und als sie die Kapuze abnahm, schnappten wir alle nach Luft. Wenn ich sagen würde, sie musste einst eine wirklich schöne Frau gewesen sein, dann würde ich dies aufgrund eines Fetzens gesunder Haut beim rechten Auge bis zum Mund, der ein Paar volle, rote Lippen besaß vermuten. Der Rest war von einer gigantischen Brandwunde überzogen und das linke Auge versteckte sich unter einem blutgetränkten Verband. Ihre pechschwarzen Haare waren angesengt und zerzaust und an manchen Stellen fehlten ganze Büschel. „Und er hat es schon wieder nicht geschafft, mich zu töten“, lachte sie mit einer schwachen, aber rauchigen Stimme und einem starken französischen Akzent. Schneller als irgendjemand reagieren konnte, hatte Mister Abbott einen Schritt vor gemacht, aus seiner Westentasche einen kleinen Revolver gezogen und abgedrückt. Der Knall verursachte ein höllisches Klingeln in meinen Ohren, doch als ich wieder zu unserer Besucherin sah, stand sie noch immer da, ohne sich auch nur bewegt zu haben. Er hatte verfehlt? Die Frau lachte hämisch. „Sam, du kleiner Idiot! 13 Jahre und du hast nichts dazugelernt?“ Ich schaute zu ihm, starr mit weit aufgerissenen Augen, unfähig etwas zu sagen, doch nicht vor Schock. Entlang seiner Finger, über seinen Arm bis zu seinen Füßen erstreckte sich ein Geäst aus dünnen, grünen Ranken, die ihn aber festhielten, als wären sie aus Stahl, ganz gleich wie sehr er dagegen ankämpfte. Ich rief noch so etwas wie „Schnell, wir müssen ihm helfen!“ und sah, wie Tom und Cat mit mir zusammen zu dem gefesselten Magier rannten, aber dann spürte ich einen schlagartigen Druck in meiner Magengegend und eine Kraft, die mich nach hinten schleuderte. Wir landeten in alle Himmelsrichtungen verteilt, auf dem Boden. Tom richtete sich wieder auf und rannte los, aber die fremde Frau erschien plötzlich vor ihm und packte ihn an seinem Hals. „Nicht doch, mein Hübscher, so viel überschüssige Energie.“ Sie drückte noch fester zu und Tom rang um Luft. Bitte nicht! Nicht ihn... Ich versuchte mich aufzurappeln, doch meine Beine gaben nach. „Bleib liegen, petite Alice. Ich töte keine Unschuldigen. Was ja leider nicht auf unseren guten Sam zutrifft.“ Mit einem Schnippen fing Abbotts Arm an, sich gegen seinen Willen zu bewegen. Er zeterte, kämpfte mit aller Gewalt dagegen an, bettelte, als ihm für alles andere die Kraft fehlte um sein Leben, doch die Ranken führten ihn wie eine Puppe und am Ende richtete er seine eigene Waffe gegen die Schläfe. Ich konnte es nicht mitansehen. Jammern, heulen, dann kam der Schuss und Cat schrie auf, fing kurz darauf an zu weinen. Dann ein dumpfes Geräusch. Als ich meine Augen öffnete, lag Abbott reglos auf dem Boden und sein Haar war mit Blut besudelt. Endlich ließ Véronique Tom los und verpasste ihm noch einen Tritt in den Bauch, sodass er hustend auf dem Boden liegen blieb. Er konnte nicht mehr aufstehen. Fleur kniete im Raum wie weggetreten, zitterte vor Angst und hatte die Augen weit aufgerissen. Stur fing ich an, in ihre Richtung zu krabbeln. Ich musste zu ihr... Sie durfte Fleur nichts tun. Zu spät merkte ich, dass ich ihr eigentliches Ziel war. Auf halbem Wege fing sie mich ab, packte mich am Kragen und schleifte mich zur Wand. Mit einer Hand am Hals und die andere an meiner Stirn drückte sie mich aufrecht gegen das Regal. Jemand schrie meinen Namen... Eine helle Stimme... „So... was dein Vater kann, kann ich schon lange. Zugegeben ich hatte Glück, also gehen wir sicher, dass ich das nächste Mal keines brauche. Es ist ja eigentlich schade um die restliche Magie, die Sam noch intus hatte, aber wenn ich deine Reserven aussauge, reicht das wohl auch.“ Ihr Auge war glühend rot, als würde es brennen und ihre Stimme hatte etwas unfassbar Böses in sich, dass es unmöglich nur von ihr kommen konnte. So, als würde jemand anderes durch sie sprechen. „I-ich... ich weiß nicht...“ Es war zwecklos. Meine Stimme versagte nicht nur vor Angst, sondern auch, weil ich schlicht und ergreifend kaum Luft holen konnte. „...Wovon Sie sprechen, ja ja ich kenne das Gelaber, überspringen wir alles, das ist kein Verhör. Weißt du, anfangs dachte ich ja, du wärst lebend eventuell nützlicher, aber bei dir weiß man nie, ob du einen nicht doch übers Kreuz legst. Deswegen gehen wir jetzt doch den leichten Weg. Ich stehle dir deine Magie, bring dich um und wir müssen uns nie wieder sehen. D'accord?“ „F-Fleur... T-Tom...“, presste ich heraus, den Tränen nahe. Warum nur passierte mir so etwas immer wieder. „Ich verstehe nicht, was dir an diesen beiden so liegt, aber du hast mein Wort, dass ich ihnen nichts tun werde. Fleur darf ich sowieso nicht töten, weil...“ Ein erneuter Schuss durchbrach unser Gespräch und brachte meine Peinigerin aus der Fassung. Ihre Atmung geriet ins Wanken und für einen Moment dachte ich, jemand hätte auf sie geschossen. Doch nirgendwo offenbarte sich der erlösende Blutfleck. Und als sie sich umdrehte, konnte ich Fleur sehen, die neben dem toten Sam hockte. Ein dünner, heller Blutfilm lief aus ihrem Mundwinkel und in ihrer Hand hatte sie den Revolver – mit dem Lauf auf ihre eigene blutgetränkte Brust gerichtet. Es kam mir vor, als verginge nun alles in Zeitlupe. Véronique nahm entkräftet ihre Hände von mir und ich stolperte zu dem weißen Mädchen, das mich noch ein letztes Mal unter Tränen anlächelte, wie nur sie es konnte. Auf einmal erinnerte ich mich wieder an alles. An ihre tollpatschige Art, an ihren schönen Gesang, an den Abend im Observatorium, an meinen ersten Whiskey und ganz besonders erinnerte ich mich an unseren ersten Kuss. Und ich erinnerte mich an Jack, an den Reverend, an die Schneider bei Foxtrott, an Doktor Engels, an jeden anderen, dem ich in Taleswood begegnet war und auch an Mutter. All das wollte ich ihr erzählen und ihr zum Schluss noch sagen, wie sehr ich sie doch liebte. Doch als ich sie endlich in den Armen hielt, waren ihre Augen bereits leer und ihre Haut kalt und sie lag reglos da, wie eine Marionette, der man die Strippen gekappt hatte. Kapitel 20: Bittersüß --------------------- Ich konnte nicht sagen, wie lange mich diese alles verschluckende Schwärze umgab und ich wusste auch nicht, ob ich darin stillstand, oder mich fortbewegte. Es war anders als das Nichts, dass ich betreten hatte, als ich bei Mutter war. Obwohl man weder was sah, noch sonst irgendwie wahrnahm machte sich das bleierne Gefühl der Gleichgültigkeit breit, das mich alles vergessen ließ und in dem ich wohl versauert wäre, wenn da nicht auf einmal ein fremder Duft entgegen kam. Er roch nach brennendem Feuer und brachte Wärme und Geborgenheit. Es knisterte in meinen Ohren und jemand schritt leichtfüßig von links nach rechts. Hinzu kamen das gedämpfte Geräusch von Donner und prasselndem Regen. Ich war wohl in einem Haus. Die Welt war verschwommen, als ich die vom Schlafsand verklebten Augen öffnete, doch mit jedem Blinzeln gewann meine spärlich beleuchtete Umwelt an immer mehr Details – dieser Ort war mir nicht unbekannt. Anscheinend lag ich auf einer Couch, zugedeckt mit einer Wolldecke. Flackerndes Licht offenbarte einen Billardtisch und zwei hohe Bücherregale vor mir. Keine Frage: Das hier war der Salon des Salem-Anwesens. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um zur Lichtquelle zu schauen. Vor dem frisch entfachten Kamin stand eine Person – eine junge Frau. Sie hatte sich eine weite Decke über ihre Schultern geworfen und drehte mir den Rücken zu, sodass mir Statur und Gesicht verborgen blieben. Doch um sie zu erkennen, brauchte es nicht mehr als ihr langes, aschgraues Haar. Konnte es wirklich sein? Ich sah sie doch sterben. Doch als sie mein Aufstehen bemerkte und sich zu mir drehte, da sah ich direkt in ihre großen, violetten Augen, so lebhaft glänzend, wie sie immer waren, als wäre nie etwas Schreckliches passiert. „Fleur...“, hauchte ich, kaum fähig, vor Aufregung wirklich zu sprechen und mein wummernder Herzschlag übertönte meine wenigen Worte. Ihr zartes Lächeln bedeutete mir, zu ihr zu kommen, doch es brauchte dafür keine Aufforderung. Auf unsicheren Füßen tapste ich auf sie zu, sehnsüchtig danach, sie im Arm zu halten, doch ich stolperte und sie fing mich auf. Ein kurzer Moment des Fröstelns überkam mich, als ich meine Decke verlor, aber dann umgab mich ihre Wärme und schüttelte jede Furcht von mir. So viel wollte ich in diesem Moment sagen, doch aus mir kamen nur dicke Tränen, so sehr war mir zum Weinen zu Mute. Vor Glück, aber auch vor Erleichterung. Es fühlte sich an, als wäre eine unfassbare Last von meinen Schultern gefallen. „Sch...Sch... Es ist doch alles wieder gut...“, beruhigte sie mich und kraulte sanft meinen Hinterkopf. Ich presste mich fester an ihre Brust und tränkte ihr Unterhemd mit Rotz und Wasser, doch sie machte keine Anstalten, mich von sich zu drängen. Und bis ich mich tatsächlich wieder gefangen hatte, ließ sie mich keine Sekunde los. „Aber... ich sah dich sterben... All das Blut...“ „Denk nicht mehr drüber nach. Wir sind hier... zusammen. Das ist doch das Wichtigste.“ Sie hatte recht. Was kümmerte mich, was passiert war? Wir waren wieder zuhause und das gemeinsam, mehr brauchte ich nicht. „Aber... wo ist Tom?“ „Er kommt gleich zu uns. Ruh dich jetzt aus, es kommt alles wieder in Ordnung.“ Ich folgte ihrem Rat und drückte mich noch enger an sie, nahm ihren lieblichen und zugleich würzigen Duft nach unzähligen Blumen und Kräutern tief in mich auf und schloss die Augen. Fleur strich mir weiter über das Haar, vergrub ihr Gesicht darin und so ineinander verschlungen sanken wir langsam zu Boden. Mein Kopf war leer, frei von jeglicher Sorge der letzten Zeit und ließ all den gewonnen Platz für das Mädchen in meinen Armen. Dann fing sie an zu summen. Eine langsame, gefühlvolle Melodie, erfüllt von Liebe und Schmerz und es fühlte sich an, als hätte ich sie ewig nicht mehr singen gehört. Ich lauschte einige Zeit gebannt, dann richtete ich mich auf und sah ihr tief in ihre durchdringenden, violetten Augen. „Was ist mit La Belle passiert?“, flüsterte ich. „Du hast sie besiegt.“ „Ich... ich habe...“ „Du hast deinen Schwur nicht gebrochen und nicht nur mich, sondern uns alle gerettet. Niemals werde ich dir das vergessen.“ Sanft legte sie eine Hand auf meine Wange und strich mit ihrem Daumen die letzte Träne weg, die meinem Auge entfliehen wollte. Ich hielt sie fest, schmiegte mich fest an sie, küsste die Innenflächen. Mein Blick wanderte von ihrem Gesicht hinunter zu ihren Körper, lediglich bedeckt durch den dünnen, alt-weißen Stoff ihrer Unterwäsche und blieb am Ende auf ihrem Schritt hängen. Langsam schob sich ihr Daumen zwischen meine Lippen und meine Zähne. Sanft fing ich an, ihn mit der Zunge abzutasten und daran zu saugen. Fleur atmete unruhig, wich meinem Blick aus, drückte die andere Hand gegen die Brust, als müsste sie ihr Herz im Zaum halten. Sie spürte, wonach es mir verlangte und ich spürte, dass sie auch so empfand. Ich ließ vom Daumen ab und fuhr mit meinem Mund küssend über ihren Arm und ihren Hals, sah dann wieder auf, ihren Lippen so nah, dass ich ihr bittendes Zucken auch ohne Berührung bemerkte. Langsam legten wir sie aufeinander, küssten uns immer inniger, während meine Finger unter die Träger ihres Unterhemdes fuhren und über die Schultern zogen, dass es von selbst hinabrutschte und nur von ihrer Brust noch gehalten wurde. Zum ersten Mal wehrte sie sich nicht dagegen und aller Unerfahrenheit, aller Angst zum Trotze gierte ich nach dem, was uns erwartete. Da wurden wir von dem Zuschlagen einer Tür unterbrochen und sahen Tom vor uns stehen, wie er uns in unserer Zweisamkeit erwischt hatte. Sein Gesicht lag im Schatten und ich konnte seine Gefühle in diesem Moment nicht einmal erahnen. Weder er noch ich bekamen einen Ton raus, während er sich uns langsam näherte, doch ich spürte zum ersten Mal keine Furcht vor den Konsequenzen. Ich konnte es nicht beschreiben, doch etwas war anders diesmal. Fleur stand als erstes auf und schritt ihm entgegen, bis ihre Gesichter nur wenige Zoll voneinander entfernt waren. Lange sahen sie einander nur an, doch nicht mit Eifersucht oder Abscheu, sondern prüften den anderen mit einer Neugier, die auch mich ansteckte. Langsam trat ich näher, beobachtete die beiden, die einander mit ihren Blicken durchschauten und erforschten. Obwohl ich auch nur ein dünnes Unterkleid trug, brachte allein dieser Moment, diese Atmosphäre mein Blut in Hitzewallungen. Thomas erwischte Fleur unvorbereitet, als er sie, getrieben von ungezügelter Begierde, anfing zu küssen, doch sie ließ es zu. In meiner Brust zersprang mein Herz fast bei diesem Anblick. Ich packte Tom am Kragen und zog ihn von Fleur weg, schmeckte ihren Speichel in seinem Mund während unsere Zungen einander umspielten. Das Homunkulusmädchen drückte mir zeitgleich ihre Lippen auf den Hals, saugte sich immer wieder an der dünnen Haut fest, hinterließ zahllose Knutschflecken. Das Kitzeln ließ mich erschaudern. Ich wandte mich von Thomas ab und riss Fleur in einer fließenden Bewegung das hängende Unterhemd vom Leib. Ein Stöhnen, halb schmerzerfüllt, halb erregt entwich ihr, als ich in ihre Brustwarze biss, erstickt durch einen weiteren Kuss von ihm. Meine Hände fuhren ihren Rücken entlang zum Bauch, fassten den Bund ihres Höschens und zogen es von ihrer Hüfte. Sie selbst knöpfte Thomas' Hemd und Hose auf, zittrig und immer wieder unterbrochen, durch meine lüsternen Berührungen. Doch es dauerte nicht lang und die beiden rissen auch mir das letzte Stückchen Stoff vom Leibe. Meine Wangen brannten vor Lust und ich war unfähig noch einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Berauscht von tausenden Eindrücken auf unsere Sinne einprasselnd, dass wir nicht mehr wussten, woher sie kamen, küssten, streichelten, erforschten und liebkosten wir uns, bis uns dies nicht mehr reichte und wir jene absolute Nähe zueinander suchten, die sonst nur Ehepaaren vorbehalten war. Brennende Hitze folgte nur wenige Sekunden auf schaurige Kälte, erfüllt von gleichmäßig pulsierenden Stößen die uns immer süchtiger nach mehr werden ließen, bis uns endlich der Höhepunkt erlöste, nur um von neuem Verlangen gepackt zu werden. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir uns tatsächlich liebten, doch in den andauernden Akten, schweißfeucht aneinander gedrückt, spürte ich eine Verbindung zwischen uns, wie ich sie mir schon einige Zeit lang gewünscht hatte. Dies wurde mir bewusst, als die beiden am Ende erschöpft aber glücklich neben mir lagen – sie direkt an mich gekuschelt, mit dem Gesicht so nah, dass ich ihren dünnen Atem auf meiner Schulter spürte, er hinter ihr, Kinn an Rücken und die Arme fest um sie geschlungen. Wer sagte, dass man Liebesglück nicht auch dreiteilen konnte? Ich fröstelte etwas, als ich aufstand, warf mir eine Decke über und deckte mit der anderen meine Freunde zu. Fleur schlief tief und fest, während Thomas neben ihr lag, sie schweigend beobachtete. Seine Hand fuhr über ihre Kurven und blieb auf ihrer Hüfte liegen. Dann richtete er ihr zerzaustes Haar mit liebevoller Vorsicht. Eigentlich sollte ich einen Anflug von Eifersucht verspüren, doch da war nichts. Nichts außer purer Freude. Mein Lächeln steckte ihn an. Ich lehnte mich vor und küsste ihn sanft. Das Gewitter war weitergezogen. Lediglich das gleichmäßige Knistern des Feuers, übertönt durch das gelegentliche Knacken der verbrennenden Holzscheite, blieb im Hintergrund erhalten. „Bist du glücklich?“, flüsterte er. Ich nickte, kniete mich wieder hin und lehnte an seiner Schulter. „Sehr sogar. Hier zu sein... Mit euch.... So hätte ich mir mein erstes Mal sicherlich nicht ausgemalt. Direkt zu dritt.“ Wir lachten leise. „Sie ist so ganz anders als du...“, murmelte er und ließ von ihren aschgrauen Haaren ab. Sein Blick hatte etwas Verträumtes. „Ich finde, sie hat sehr viel von dir. Vielleicht habe ich mich deswegen in euch beide verliebt... Hast du sie auch gern?“ Es brauchte einen Moment für seine Antwort, doch ich sah ihm an, dass sie nicht „Nein“ war. Dann drehte er sich zu mir und verschränkte seine Finger in meine. „Ich glaube, ich kann mich irgendwann auch in sie verlieben. Und bis dahin bleiben wir zusammen.“ Noch ein letzter, inniger Kuss, dann wurde Tom auf einmal traurig, schaute geknickt zu Boden und in mir machte sich eine gewisse Vorahnung breit: Es war zu schön, um wahr zu sein. „Du weißt, dass das hier nicht die Realität ist?“ Ja, ich wusste es, oder besser gesagt: Ich hatte es mir schon gedacht. Ehe ich mich versah, war es um mich herum wieder finster. Kein Kaminfeuer, das mir Licht spendete und keine Menschenseele in meiner Nähe. Ich war allein, zurück in dieser tristen Finsternis. „Und wenn schon! Wen interessiert das schon, solange wir glücklich sind?! Ich will hierbleiben, Tom! Mit dir und Fleur!“ „Aber Alice...“ Ich erschrak vor Fleurs Stimme, denn sie war so kalt, so emotionslos, dass sie fast fremd klang. „Ich bin tot, weißt du nicht mehr?“ Da blitzten sie wieder auf, verschwommene Bilder von Fleurs reglosem Körper in meinem Arm und ihren glasigen, ins Nichts starrenden Augen. Dann weitere Bilder... Bilder, in denen ich sie losließ, aufstand und mich zu ihrer Mörderin umdrehte. Véronique war wie gelähmt, ihr Auge von Tränen verschwommen. Als sie merkte, was ich vorhatte, war es schon zu spät. Egal was sie tat, egal wie oft sie mit den Fingern schnipste, es passierte nichts. Ihre Magie war versiegt. Sie rappelte sich auf, wollte fliehen. Ich stand vor ihr, obwohl sie mir vorher noch den Rücken kehrte. Sie erschrak, bettelte um ihr Leben. Ich zog an der Kette meines Medaillons und sie wurde immer länger... legte sie um ihren Hals... „Lasst das! Ich will das nicht! Wozu holt ihr mich in diese Traumwelt, wenn ihr mich dann wieder in die Realität entlasst, wenn es euch gerade passt?! Warum lasst ihr mich Dinge erleben, die niemals eintreten werden?!“ Für einen weiteren Moment herrschte Stille. Dann antwortete Thomas: „Wir können dafür nichts. Dies ist deine Welt und du hast sie nach deinem Herzenswunsch gestaltet. Aber nun musst du in die echte Welt zurückkehren.“ „Ich will nicht! Lasst uns doch einfach zusammen sein! Wollt ihr das denn nicht auch?!“ „Aber Alice...“, schon wieder ihre Stimme. Warum musste es ausgerechnet ihre sein? „... hörst du denn nicht, wie er dich ruft?“ Rufe? Schweigend saß ich da und lauschte. Ich hörte tatsächlich etwas. Wie ein fernes Echo hörte ich das gleichmäßige Poltern einer Kutsche über Pflastersteine. Ich hörte prasselnden Regen, unterbrochen von lauten Donnerschlägen. Und ich hörte eine Person, die nach mir rief. Die meine Hand hielt und nicht von meiner Seite wich. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich darauf. Die Geräusche meiner Traumwelt verblassten und mit ihr die Erinnerung an den Sex und die Zweisamkeit. Dafür wurden die Geräusche aus der Ferne immer näher und ich erkannte endlich die Stimme, die mir zurief. Er war mir ganz nah... Und er hielt anscheinend meine Hand, denn ich fühlte einen leichten Druck. „Bitte... Bitte wach auf...“ Langsam öffnete ich meine verklebten Augen. Alles, was ich zunächst sah, war ein schwarzes Nichts, bis ich erkannte, dass es die Decke einer Kutsche war. Eine Bodenwelle brachte den Sitz zum Poltern. Und da spürte ich die Aufregung neben mir. Langsam, ganz langsam drehte ich mich zu ihm. Er sah nicht viel anders aus als vorher, nur schrecklich fertig mit den Nerven. Doch als sich unsere Blicke trafen, wurde er hellwach und drückte noch fester meine Hand. „Alice? Bist du wieder wach? “ „T-Tom...“ Meine Kehle war ausgetrocknet und ich fühlte mich wie gerädert und ausgehungert. Aber vor allen Dingen quälte mich diese Leere in meinem Herzen. Denn mir wurde klar, dass nichts an diesem Traum real gewesen war. „Lady Cat!“, rief Tom und klopfte gegen das Fahrerfenster. „Sie ist aufgewacht, halten Sie bitte an!“ „Tom..“ Schwach packte ich ihn am Hemd und zog daran. Sofort kniete er sich wieder zu mir. „Ist alles okay, ich bin bei dir...“ Die Kutsche hielt an. Ich spürte, wie hunderte Emotionen sich gleichzeitig aus mir drücken wollten, so gewaltsam, dass mir davon schlecht wurde. Auch wenn ich die Antwort kannte, fürchtete ich mich davor, stellte aber dennoch die Frage: „F-Fleur... Ist sie...“ „Es tut mir leid... Ich weiß, ihr wart eng befreundet...“ Tränen überwältigten mich und ich heulte laut und kläglich, wie ein ausgemergelter Schlosshund. In meinen Gedanken blieb mir nur ihr glückliches Lächeln. „Nicht nur befreundet, Tom! Ich... Ich habe sie geliebt...“ Kapitel 21: Wiederkehr ---------------------- Ich hasste es zu weinen. Zu weinen bedeutete, Schwäche zu zeigen, etwas, das ich mir in meinem Leben eigentlich nie leisten konnte. In Whitechapel wurde mit den Schwachen der Boden gewischt und so beschloss ich früh, die Tränen aufzuhalten, wann immer es ging, denn ich wollte mich nicht mein Leben lang verkriechen. Als Preis dafür schmerzte es umso mehr, wenn ich ihnen freien Lauf lies. In diesem Moment schmerzte es so sehr, wie noch nie zuvor. Es brodelte in meinem Herzen, wie heißer Sud – eine kochende Mischung aus Wut, Trauer und Verzweiflung, gespickt mit immer wiederkehrenden Bildern von ihr. Tausende Male sah ich ihr lebensfrohes Lächeln, hörte ihre glockenhelle Stimme, spürte ihre zarten Lippen auf meinen, erinnerte mich an jeden Moment in dem wir uns nahe waren, als wäre er erst gestern gewesen. Und ich liebte jeden einzelnen davon, jeder Moment in dem Fleur bei mir war, machte mich so glücklich, dass ich ihn mit nichts auf der Welt hätte tauschen wollen. Wenn ich jemals gewusst hätte, dass uns nur noch so wenig Zeit zustand, dann hätte ich noch hunderte mehr geschaffen, ich hätte mich niemals mit ihr gestritten und vor Allem hätte ich von Anfang an offen zu unserer Beziehung gestanden. Nein... ich konnte es nicht akzeptieren! Den einen Moment war sie noch bei mir und dann wachte ich auf und sie sollte für immer fort sein?! Wieso nur mussten sich immer die für mich opfern, die ich eigentlich beschützen wollte?! Und wieso mussten sie dabei immer lächeln, als ob alles gut werden würde? Es wurde nie gut. Es wurde von mal zu mal nur noch schlimmer. Immer tiefer ging das Loch, in das ich fiel und die Luft um mich herum wurde erdrückend und schwer. Salziges Wasser floss in Mund und Nase, benetzten meine Atemwege. Es fühlte sich an, als würde ich in einem warmen Meer ertrinken, doch ich konnte trotzdem nicht zu weinen aufhören. Tom tröstete mich nicht, aber dies hätte ich auch niemals erwartet. Ich verdiente seinen Trost nicht. Ich verdiente auch seine Gegenwart nicht. Aber hatte er überhaupt meine Worte verstanden? Als ich ihn ansah, war sein Blick zu Boden gerichtet, die Augen starr auf einen Punkt fixiert. Immer wieder fuhr er sich zittrig über sein Gesicht, rau und kratzig von jenen dünnen Stoppeln um sein Kinn, die man jedoch noch nicht sah. „Thomas...“, schluchzte ich und er sah mich an, seufzte auf. „Ich habe sie wirklich geliebt. Nicht wie eine enge Freundin, sondern wie eine Geliebte. Verstehst du das?“, hakte ich noch einmal nach, viel eindringlicher und schärfer, als es hätte klingen sollen. Ich wollte ihn doch gar nicht weiter verletzen. Es sollte nur aufhören, diese endlose Heimlichtuerei. Tom nickte nur stumm, sah mich mit traurigem Blick an. Seine Augen waren eingefallen und unter ihnen bildeten sich ein paar tiefe, blauschwarze Ringe, Überbleibsel der letzten Tage. Eigentlich hatte er doch gar nichts mit all dem zu tun und trotzdem wurde er auch in diesen Strudel gezogen, aus dem es scheinbar keine Rettung gab. Hatte ich mir eigentlich jemals Gedanken darüber gemacht, wie er sich dabei fühlte? Hatte ich eigentlich für nur eine Sekunde seine Unterstützung nicht als selbstverständlich angenommen? Sein ganzer Hass und seine ganze Wut abzubekommen, war mehr als gerecht. Ich hätte mit allem gerechnet und es ertragen, bedeutete es nur, dass ich nicht mehr allein war. Doch er tat nichts. Er schrie mich nicht an, er schlug mich nicht, er... weinte nicht einmal. Warum war er so ruhig? Wusste er es etwa? Hatte er das gemeint, als er sagte, dass er eifersüchtig auf uns war? „Selbst ohne Erinnerungen konntest du es nicht unterdrücken, Alice. Ich konnte es genau sehen, das verliebte Lächeln auf deinen Lippen, die begierig darauf warteten, sie zu küssen.“ „Tom, ich...“ „Ich bereue es nicht, dich geliebt zu haben und dich nach wie vor zu lieben. Und ich bereue es auch nicht, hier und jetzt bei dir zu sein. Und selbst jetzt, wenn jeder andere Mann sicherlich außer sich sein müsste, kann ich nicht anders, als dir beizustehen – als Freund.“ „Aber... warum? Warum kannst du mich nicht hassen, warum kannst du nicht einfach nur wütend sein?“, schluchzte ich. Er nahm meine Hand in die seinen, beugte sich vor und küsste jeden Finger einzeln, massierte die Handfläche mit seinen Daumen. Sie waren kühl und rau und es schien mir fast, als würden sie ein wenig zittern. „Weil das nicht so einfach ist...“, flüsterte er kurz, bevor er sie wieder auf meinen Oberschenkel legte. Das angenehme Gefühl seiner Massage und die Berührung seiner Lippen hallten noch einige Zeit lang nach, versetzten mir zeitgleich jedoch einen eisigen Stich ins Herz. Eigentlich dachte ich, dass wir nach vier Jahren einander blind verstanden, doch nun erkannte ich, wie weit wir eigentlich von einander entfernt waren. Wir lebten immer in zwei verschiedenen Welten – geografisch, aber auch seelisch. Fleur kannte ich nicht annähernd so lang, doch es schien mir immer, als wäre sie ein Teil von mir. Das hieß nicht, dass ich ihn nicht liebte. Die Gefühle waren nur nicht vergleichbar. „Was... was willst du jetzt tun, Tom?“ „Ich weiß es nicht.“ „Bitte, bleib bei mir...“ Nun war es an mir, nach seiner Hand zu greifen. Er seufzte noch einmal, dann bebten seine Schultern und zwei dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Schnell zog er die Hand zurück und verschränkte sie vor seiner Brust, zog sich immer weiter zusammen, als wäre ihm kalt. „Ich habe Angst.“ „Vor mir?“ Er schüttelte den Kopf. „Vor dem, was noch sein könnte. Als Fleur die Waffe auf sich richtete, da... es erinnerte mich zu sehr an damals... Was auch immer in dir schlummert, es frisst dich auf und wer weiß, wie lange du es noch unter Kontrolle hast. Vielleicht gehst du irgendwann auch auf die los, denen du eigentlich nicht weh tun willst. Aber noch weniger will ich mitansehen, wie du daran zugrunde gehst.“ Ich schloss meine Augen und versuchte zu begreifen, was passiert war, nachdem ich Fleur losgelassen hatte. Ich sah Véronique... Ihr rechtes Auge hatte wieder die alte azurblaue Farbe angenommen, frei von jeglicher Boshaftigkeit, aber auch frei von jeder magischer Macht, als wäre sie mit Fleurs Tod auf einen Schlag aus ihr gewichen. Ihre Lippen zitterten, während sie angsterfüllt zu mir schaute, formten flehende Worte, dass ich ihr nichts tun sollte – so zumindest schien es mir. Doch als sie erkannte, dass sie sich nicht wehren konnte, ließ sie sich bereitwillig die Kette um den Hals legen. Aber bis es soweit war, war sie von Blessuren übersät. Ich hatte zu keiner Zeit irgendetwas gefühlt, keine Wut, keine Genugtuung, nicht einmal wirklich das Verlangen, sie zu töten. Als hätte jemand anderes meine Hand geführt. Und als sie mir so nahe war und sich ihre Augen langsam nach oben drehten...da lächelte sie und flüsterte noch ein letztes Mal etwas in ihrer Muttersprache: „Attends-moi soerette. Je te reverrai...“ Einen Moment später bekam sie nur noch ein gequältes Krächzen aus ihrem Mund, bevor ihr Kopf zur Seite kippte und der Körper schlaff zusammensackte. Schockiert riss ich die Augen auf. Fester schnürte sich die Luft in meinem Hals, geschürt durch Schock und Ekel vor mir selbst. Zittrig rieb ich über meine Arme, als könnte dies die Erinnerung abschütteln. An meinen Knöcheln war die Haut aufgerieben. „Mein Gott... was habe ich denn nur getan?“, hauchte ich. Es ging nicht darum, was Véronique uns angetan hatte und wozu sie noch imstande gewesen wäre. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Hatte Jack mir nicht gesagt, dass mein Medaillon mich vor solchen Ausbrüchen schützen würde? Oder war ich solch ein Monster, dass selbst die stärksten Talismane nutzlos waren? Die Luft brannte in meinen Lungen wie giftiger Dampf und die Wände der Kutsche engten mich immer weiter ein, zerquetschten mich geradezu. Da spürte ich zwei Hände an meinen Schultern. „Bleib von mir weg, Tom! Ich will dir nicht weh tun!“, schrie ich, doch es hielt ihn nicht davon ab, seine Arme um mich zu legen und meinen Kopf zu streicheln. Langsam hörte ich auf zu zittern und das Gefühl der Enge wich einer warmen Geborgenheit. Zaghaft erwiderte ich die Umarmung, drückte mich fest an ihn, rieb mein Gesicht an seinen dünnen Stoppeln. „Ich habe wirklich Angst, Alice...“ „Die habe ich auch...“ Angst vor dem, was uns noch erwarten könnte und Angst davor, eines Tages mit dem Blut eines geliebten Menschen an meiner Hand aufzuwachen. Es waren jetzt schon zu viele durch mich oder wegen mir gestorben... Noch ein letztes Mal drückte mich Thomas, bevor er von mir abließ und wir uns wieder ansehen konnten. Die aufkommende Stille wurde nur durch das rhythmische Trommeln des Regens, das Rumpeln der hölzernen Räder und ein gelegentliches Donnern unterbrochen. Wir mussten zurück nach Taleswood, daran führte kein Weg vorbei. „Ich kann dich nicht allein gehen lassen, dafür bedeutest du mir zu viel...“ Für einen Moment, an dem er über meine Wange strich und sein umsorgendes Lächeln auf seinem Antlitz erschien, dachte ich, es könnte noch Hoffnung für uns geben. Doch dann wurde sein Ausdruck ernst und er lehnte sich zurück, wich meinem Blick wieder aus. „Es ist nur... Ich versuche meine eigenen Gefühle zurückzustellen, nach allem was passiert ist, aber... Es hat mir trotzdem wehgetan...“ Das verstand ich nur zu gut. Zwar war der Wunsch auch in mir stark gewesen, wie Fleur eine Lösung anzustreben, mit der wir alle glücklich waren, doch ich wusste, dass dies niemals passieren würde. Fest biss ich die Zähne zusammen und ertrug seine Worte. Kein Flehen, kein Weinen, nur Akzeptanz. „So wie es jetzt ist, kann ich nicht mehr mit dir zusammen sein, nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das verstehst du doch, oder?“ Ich nickte leicht und schaute traurig zu Boden. Natürlich verstand ich seine Worte. Und eigentlich sollte ich keine Forderungen stellen, doch es platzte einfach aus mir heraus: „Aber du bleibst trotzdem bei mir!?“ „Als Freund. Ich weiß, ich bin nicht gerade nützlich, aber vielleicht kann ich dir trotzdem helfen... irgendwie.“ Es war vielleicht nicht die beste Zeit zum Lächeln, doch wenigstens blieb Tom bei mir und das war schon mehr als ich verlangen konnte. Nicht nur, weil ich ihm wehgetan hatte, sondern auch, weil die ganze Sache für ihn nicht ungefährlich war. Ich musste ihn beschützen, dieses Mal. Nie wieder sollte sich eine geliebte Person für mich opfern müssen. Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum Stillstand. Wir sahen aus dem Fenster, doch durch die Scheiben erkannte man nur eine graue Suppe, so dicht, dass man nicht einmal sagen konnte, ob es sich dabei um Nebel handelte oder doch nur die Scheiben beschlagen waren. Ich hatte es gar nicht mitbekommen, dass sich Regen und Gewitter verzogen haben und Thomas schien mindestens genauso überrascht. „Lady Cat?“, fragte ich und klopfte an die Fahrerscheibe. „Was ist los?“ Keine Antwort. Schnell sprangen wir hinaus, um zu sehen, was dort draußen vor sich ging, doch der Nebel war so dicht, dass ich beim Umdrehen kaum mehr die Kutsche erkennen konnte. „Tom? Tom bist du da?“ Ich erschrak kurz, als er meine Hand nahm. Noch nie hatten wir so etwas gesehen. Der Nebel umgarnte unsere Beine und legte sich als eiskalter Tau auf unsere Kleidung. Doch etwas stimmte nicht damit. Er wirkte... fast so, als wäre er nicht natürlichen Ursprungs. Ich konnte es nicht erklären, aber seine Anwesenheit sorgte in meinem Bauch für ein Unbehagen, ähnlich dem, das ich damals in der Albtraumwelt spürte. Um uns nicht zu verlaufen, hielt Tom sich mit der anderen Hand an der Kutsche fest, während wir langsam zu ihrer Vorderseite gingen. Sie war nicht sonderlich groß, doch aus Angst uns hier draußen zu verlieren, wagten wir uns nur langsam Schritt für Schritt vor. Außerdem wurde uns mulmig, weil Cat uns nicht antwortete. Doch als wir die leere Fahrerbank sahen, war uns klar warum: Sie war spurlos verschwunden. Und mit ihr auch die Pferde. „Lady Cat?! Lady Cat, sind sie da?!“, rief Tom in die Ferne, doch es war totenstill um uns herum. Was war das nur? Sie konnten doch nicht einfach verschwinden... oder etwa doch? „Verflucht, Tom, lass doch meine Hand nicht los“, schimpfte ich, denn auf einmal spürte ich nicht mehr seine Berührung und das Letzte, was ich wollte, war, dass wir uns nun auch noch trennten. „Ich hab doch gar nicht losgelassen...“, antwortete er mit schwacher Stimme. Tatsächlich, seine Hand war noch da, aber es war nicht mehr wirklich mit fester Haut zu vergleichen, sondern eher mit dem unscheinbaren Gefühl von Seide. Oh nein! Verschwand er jetzt etwa auch?! Ich zog ihn schnell an mich, tastete mich von seinem Arm zu seinem Gesicht, fühlte Wangen und Stirn. Er war so eiskalt wie der Nebel. „Bist du okay? Wie fühlst du dich?!“ „Ich... ich weiß nicht... Ich fühle mich irgendwie... müde... und leer...“ Schnell gab ich ihm ein paar Klapse auf die Wange um ihn aufzuwecken, doch es fühlte sich an, als könnte er bei jeder Berührung zu Staub zerfallen. Was steckte nur dahinter?! Vielleicht würde es ihm wieder besser gehen, wenn wir in die Kutsche stiegen. Doch als ich seinen linken Arm entlangtastete, bemerkte ich, dass seine Hand ins Leere führte und so bedeutete jeder Schritt, dass wir uns dem Wagen näherten, oder noch weiter von ihm weggingen. Ich drehte mich in jede Richtung und griff in den Nebel hinein, hoffte auf etwas Holz zu stoßen, doch da war nichts. Wir waren hier drin verloren und Tom würde vielleicht gleich ebenfalls verschwinden. Und ich? Ich fühlte mich seltsam normal, bis auf diese unangenehme Furcht, doch es ging mir in jedem Fall bedeutend besser als meinem Freund. „Hey, Tom. Du hast mir versprochen bei mir zu bleiben, das war keine halbe Stunde her, also brich es nicht jetzt schon.“ Keine Antwort. Noch hielt ich ihn fest, doch mittlerweile waren Gewissheit und bloße Einbildung nicht mehr zu unterscheiden. Aber vielleicht war es genau das: Einbildung. Das könnte erklären, warum mir nichts passierte. Nein, das hier war komplett anders, eine reale Bedrohung, das spürte ich. Tom würde verschwinden, wenn ich nichts unternahm, aber was konnte ich schon tun? Ich dachte scharf darüber nach, ob ich nicht schon einmal darüber gelesen hatte: Nebel, der Lebewesen... verschluckte? „Ich verstehe, dass du nicht mehr reden kannst, aber gib mir zu verstehen, wenn du mich noch hören kannst.“ Er nickte tatsächlich. Langsam und schwach, aber doch eindeutig. Doch noch war es nicht Zeit, sich zu beruhigen, denn wer wusste, wie lange der Zustand noch anhielt. Nach wie vor waren die Schwaden um uns so undurchdringlich, dass ich ihn nicht sehen konnte, aber ich merkte, wie schlaff seine Hand in meiner lag und wie leicht er schon geworden war. Lange würde es wohl nicht mehr dauern. „Komm schon, kämpf' dagegen an!“, befahl ich ihm, auch wenn ich nicht wusste, was er tun könnte. Aber wenn er mich noch verstand, vielleicht half es dann, meine Stimme zu hören. „Pass auf: wir sind uns einig, dass der Nebel nicht natürlichen Ursprungs ist, oder?“ Er nickte, aber schwächer als zuvor. „Gut. Keine Ahnung, ob du das auch spürst, aber ihn scheint eine starke Energie oder Aura zu umgeben. Sie hat etwas ääußerst Negatives, fast schon Unheilvolles. Ich glaube, es könnte eine Art... Anomalie sein und...“ Verdammt, was tat ich nur? Es war unnütz, mir den Mund fusselig zu reden, es brachte mich nur näher an die Wahrheit heran, die ich bereits kannte. Fest drückte ich mein Gesicht an Toms eiskalte, Brust. Nur ein Wunder könnte ihn retten. „Verzeih mir“, wimmerte ich. „ Das ist alles meine Schuld. Ich kann dir nicht helfen, ich weiß nicht einmal, wie...“ Fast wie eine Brise wirkten seine Hände, als sie anfingen, meinen Kopf zu streicheln. Nun verbrauchte er seine letzten Kräfte dafür, mich zu trösten. Zwei dicke Tränen kullerten aus meinen Augen. Ich wollte schreien, doch aus meinem Mund kam nur ein stockendes Flüstern. „Hilfe... Hilfe... Wenn irgendjemand hier draußen ist... Bitte hilf uns...“ Ich schloss die Augen. Hoffentlich würde ich auch gefressen werden... dann müsste Tom nicht allein sein.... Und ich auch nicht... „Alice... sieh doch nur....“ plötzlich drückte Tom mich von sich und als ich aufschaute, musste ich nicht nur voller Verwunderung feststellen, dass er wieder so normal war, wie zuvor, viel mehr überraschte es mich, dass ich ihn auf einmal so klar vor mir sehen konnte. Wir standen in einem hellen Lichtkegel von vielleicht fünf Fuß Durchmesser. Statt der bitteren Kälte des Nebels umgab uns wohlige Wärme, ausgestrahlt von einer kleinen, orange-rötlich leuchtenden Kugel über unseren Köpfen. Eine ruhige Wärme, die mir seltsam bekannt vorkam. Nicht in physischer Form war ich ihr schon einmal begegnet, unser Treffen war spiritueller Natur. „Mutter? Bist du das?“, fragte ich zögerlich und empfing als Antwort einige Akkorde einer vertrauten Melodie, ertönend aus einer Spieluhr – so klang es zumindest. Sie hatte meine Bitte erhört. Sie hatte Tom gerettet. Erleichtert sank ich zu Boden. „Vielen Dank, Mutter...“, murmelte ich überglücklich und drückte mich an Toms Beinen so fest, dass er ein wenig das Gleichgewicht verlor und sich sicherheitshalber selbst auf den Boden niederließ. „Was... was war denn gerade eben passiert?“, fragte er mich unsicher, als hätte er die letzten Augenblicke komplett verschlafen – was scheinbar nicht einmal so weit von der Wahrheit entfernt war. „Ich kann mich noch erinnern, dass wir aus dem Wagen gestiegen waren und... Cat war verschwunden... Danach verblasst alles ein wenig... Du weinst ja schon wieder, Alice. War denn etwas Schlimmes passiert?“ Ich nickte schweigsam, wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht und fiel ihm um den Hals, so plötzlich, dass ich ihn kurzerhand rücklings mit mir auf den erdigen Boden beförderte und ihm einen kurzen Kuss auf die Wange gab. Ich wusste, dass er mir nicht mehr so nah sein wollte, aber... beinahe hätte ich nicht nur Fleur, sondern auch Thomas für immer verloren, nur weil ich zu schwach war. „Du wärst beinahe verschwunden... So wie Lady Cat: Im Nebel aufgelöst.“ Eine Sekunde lang sah er mich etwas ungläubig an, doch ihm war klar, dass in dieser Welt andere Gesetze herrschten und er jene Dinge nicht mit seinem Verstand erklären konnte. Stattdessen wuschelte er mir ein wenig durch das Haar und murmelte, dass alles in Ordnung war, was mich auch beruhigte. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf das kleine Licht vor uns. Wieder erklangen einige kurze Akkorde, dann setzte sich der schwache Schein in Bewegung – langsam und geduldig, immer darauf bedacht, dass wir ihm folgten. In Reichweite des Lichtkegels verschwanden die Schwaden, wichen vor ihm zurück, als hätte er etwas fast Göttliches an sich. „Glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, dem Ding zu folgen? Es könnte auch ein Irrlicht sein, das uns nur ködern will“, gab Thomas zu denken, doch ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum, dass Mutter mir eine Falle stellen würde.“ „Dieses Licht stammt von deiner Mutter?“ „Das Licht IST meine Mutter. Oder zumindest ein Teil ihrer Seele“, antwortete ich und wie zur Bestätigung erklangen ein paar Akkorde aus dem Lichtlein. „Warte... deine Mutter ist...“ „Sie ist tot.“ „Oh... tut mir leid...“ „Schon okay... ich habe sie besucht, auf der anderen Seite.“ „Du warst im Jenseits?!“ „Ja.“ „Wow... Also gibt es wirklich ein Leben nach dem Tod?“ „Ja.“ „Und du denkst, dass dieses Licht von ihr stammt?“ „Ja.“ Wieso?“ „Weil es sich so anfühlt.“ „Kann es nicht auch... Keine Ahnung, eine Illusion oder so sein?“ „Blutsbande sind unter Magiern unfassbar stark, selbst nach dem Tod. Ich musste sie damals nur einmal sehen und wusste sofort, dass sie es war. Sie ist es, da bin ich mir sicher.“ Das musste als Antwort genügen, denn ich wusste wirklich nicht, wie ich ihm ein Gefühl näher erklären sollte und zum Glück schien sein Wissensdurst vorerst gestillt zu sein. Dennoch schien ihn etwas zu bedrücken, doch ich traute mich nicht ihn zu fragen. Nicht einmal in Ansätzen konnte ich mir vorstellen, wie er sich fühlte und es dauerte einige Zeit, bis er von sich aus das Wort erhob: „Also ist Lady Cat jetzt...“ „Es ist nicht absolut gewiss...“, unterbrach ich ihn. „Aber wir sollten uns keine Hoffnungen machen. Warum ist sie überhaupt mitgekommen, hat sich der Gefahr bereitwillig ausgesetzt? All diese Dinge hatten doch nichts mit ihr zu tun...“ „Weil sie gespürt hat, wie du und Fleur zueinander standet. Dass ein normaler Mensch für einen künstlich geschaffenen einstehen würde, hätte sie zuvor nicht für möglich gehalten. Deswegen wollte sie uns helfen, denn sie kannte einen Weg nach Taleswood.“ „Also ist das hier auch meine Verantwortung?“, fragte ich und wie auf Kommando verkrampfte sich mein Magen. „Mir zu helfen ist anscheinend mit dem Tode gleichbedeutend...“ „Sag doch so etwas nicht!“ Thomas wirkte etwas verärgert über das, was ich gesagt hatte, doch es entsprach genau dem, was ich dachte. Jack, Coleman, Cat, Tom, Fleur... Wann immer mir jemand half, war er in tödlicher Gefahr. Vielleicht war ich ein Unglücksbote... Ich verstand ja, dass jeder dies aus freien Stücken tat, aber ich hatte keine Lust mehr, meine Freunde zu Grabe zu tragen. Es sollte sich doch niemand mehr für mich opfern... Schweigend gingen wir weiter, folgten Mutters kleinem Licht die Straße entlang und merkten erst gar nicht, wie der Nebel sich langsam auflöste, denn mein Blick war die meiste Zeit zu Boden gerichtet. Trotz allem, was mich ablenken konnte, jetzt, wo es wieder ruhiger war, wanderten meine Gedanken wieder zu Fleur. Im saftigen Grün der Wiesen lag sie da, den grauen Schopf über ihre Schulter geworfen und an sich gedrückt, wie eine Stoffpuppe. Sie liebte nichts an sich, außer ihrem Haar. Warum dem so war, hatte sie nie erzählt und ich hatte sie auch nie gefragt, denn es war ein Teil ihrer sonderbaren Art gewesen und eben dies machte sie so anziehend. Sie erwachte, als ich mich zu ihr setzte und lächelte mich glücklich an. Die warme Frühlingssonne brannte auf unsere Gesichter, während sie sich aufsetzte und sich an mich lehnte. Sie küsste mich auf die Wange und legte ihre Hände auf meinen Schoß. Selbst in jener Erinnerung vor gut einem Monat, spürte ich ihre warme Nähe so deutlich, als wäre sie gerade jetzt bei mir. „Du sahst glücklich aus. Hast du etwas besonders Schönes geträumt?“, hatte ich ihr zugeflüstert, worauf sie die Hände vors Gesicht schlug und verlegen kicherte. „Das ist mir ein wenig peinlich. Du lachst bestimmt.“ „Unsinn, ich verspreche, nicht zu lachen.“ Sie zögerte etwas, schaute mich skeptisch an, so als traute sie mir nicht, doch nachdem ich ihr noch einmal versicherte, dass ich sie nicht auslachen würde, gab sie schlussendlich nach. „Ich habe von uns geträumt. Wir saßen auf dieser Wiese, dann hattest du mich zu dir gedreht und... du hast mich gefragt, ob ich dich heiraten wollte.“ „Wirklich?“ Ich wusste damals nicht, warum ich das hätte lustig finden sollen. Damals hatte ich mir keine Gedanken diesbezüglich gemacht, aber die Idee klang nicht vollkommen abstrus – sie schien nur sehr weit entfernt. Hätte ich nur gewusst, wie begrenzt unsere Zeit gewesen war... „Und du hast 'Ja' gesagt?“ „Natürlich! Du warst überglücklich und... naja, witzigerweise begann dann auch schon die Hochzeit.“ „Lass mich raten: Ich trug bestimmt einen Anzug, oder?“ „Nein, es war ein wunderschönes, schneeweißes Kleid mit langen Ärmeln.“ „Ich und Kleider?“, spottete ich. „Und was hattest du an?“ „Das weiß ich nicht mehr, ich hatte nur Augen für dich. Der Reverend hatte uns vermählt und halb Taleswood war dort. Und alle haben sich für uns gefreut, ganz besonders Master Salem.“ Ich wusste, dass die Sache nicht so einfach und dieser Traum reichlich naiv war, dennoch machte es Fleur glücklich, darüber zu reden und so unterbrach ich sie nicht. „Und was war dann passiert? Gab es auch eine Hochzeitsnacht?“ „Nein, bevor es dazu kam, hattest du mich geweckt“, gab sie schüchtern zu. „Kein Problem. Ich könnte dir ja zeigen, was ich getan hätte“... Tom klopfte mir auf die Schulter, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Ich sah auf und erkannte, dass sich Mutters Licht verzogen hatte. Auf dem Feld um uns herum stand ein schwacher Nebel und den kleinen Hügel hinab erkannten wir die magische Stadt, umringt von Wäldern und gesäumt von einem rückwärts fließenden Fluss. Wir hatten es geschafft. Pechschwarze Wolken verdunkelten die Welt, doch zeitgleich hob ein sonderbares Licht die Konturen der Gebäude in einem düsteren Orange hervor. Die Gebäude in der Nähe des Kirchplatzes waren schon von weitem nicht mehr als solche zu erkennen, wirkten mehr wie verdrehte Bauwerke eines exzentrischen Künstlers. Dazu kam dieses unangenehme Gefühl von Schutzlosigkeit, als hätte jemand die Tür eines einst sicheren Hauses aufgestoßen und allerlei zwielichtigen Personen Einlass gewährt. Der Geruch von Blut und Feuer stieg mir in die Nase und um uns herum war es seltsam still, außer dem Heulen des Windes, der die hohen Gräser zum Tanzen brachte. Selbst Tom spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. „Ist das Taleswood?“, fragte er unsicher und sichtlich nervös. Verständlich, denn auch ich war es. Nervös und ganz besonders besorgt, denn was auch immer in der Nacht meiner Flucht noch passiert war, es hatte Taleswood nachhaltig verändert – und zwar nicht zum Positiven. Hoffentlich ging es den anderen gut... Thomas' Taschenuhr zeigte an, dass es kurz vor sechs Uhr war, doch die unheimliche Dämmerung ließ keinen Schluss zu, ob es dabei nun um morgens oder abends handelte. Langsam setzten wir uns in Bewegung, folgten dem dünnen Pfad in die Stadt und kamen auch am Madcap River vorbei. Kein einziger Fisch war zu sehen und das Wasser wirkte abnormal trüb. Der Fluss war zwar eine Anomalie, doch ging schon seit Jahrhunderten eine Symbiose mit der Stadt ein, teilte Glück und Leid in seinen Wassern mit und zeigte auch an, wenn sich gefährliche Anomalien in der Nähe befanden. Wenn der Fluss krank war, dann konnte dies auch nichts Gutes für die Stadt bedeuten. Die Straßen waren leergefegt, die Fenster schwarz, die Geschäfte geschlossen. Die Stille ums uns fühlte sich auf unseren Gemütern an, wie ein schweres, eisernes Joch, kalt und erdrückend. Die wenigen Worte, welche Tom und ich zu wechseln wagten, hallten von den Wänden in einem kurzen Echo nach. Es wirkte fast, wie mein Besuch in der Albtraumwelt, nur viel realer. Immer wieder drehte ich mich zu meinem Begleiter um, fragte ihn, wie es ihm denn ginge, besorgt darüber, dass ihn eventuell schon wieder etwas auffressen könnte. Nervös kaute ich auf meiner Kette, ging im Kopf kleinere Schutzzauber durch, bereit, mich im Zweifel schützend vor Tom zu stellen, denn auch wenn er sich vielleicht zu einem gewissen Grad zu verteidigen wusste, gegen Magie halfen konventionelle Waffen nicht – wie Véronique an Sam bewiesen hatte. Lange Zeit wusste ich nicht, wohin ich ging und dachte, wir würden nur ziellos durch die Straßen schlendern, doch dann fiel mir auf, wie wir in Richtung der goldenen Uhr gezogen wurden. Von wem und warum, das wusste ich nicht, doch etwas in mir drang darauf, dorthin zu gehen. Ich antwortete nicht auf Thomas' Fragen nach dem Weg, lief nur weiter, immer weiter. Je näher wir ihr kamen, desto düsterer wurde die Stadt. Hier roch es am stärksten nach Blut und man erkannte Ausmaße einer Zerstörung, die nicht natürlichen Ursprungs sein konnte. Die Häuser waren allesamt schief und von zackenförmigen Rissen versetzt, als hätten Blitze sie durchbohrt. Die Luft war heiß und stickig, wie nach einem Brand, obwohl man weit und breit kein Feuer sah, oder hörte. Der Platz selbst war das Zentrum der Zerstörung. „Eine Explosion. Und was für eine“, schloss Thomas schnell und auch ich kam zu diesem Ergebnis. Ausgehend von der Stelle, an der die goldene Uhr sich befunden hatte, musste eine riesige Druckwelle selbst das Pflaster aus dem Boden gerissen und in alle Seiten verschossen haben. Die Häuser drum herum lehnten sich allesamt nach außen und ihre, dem Platz zugewandten, Fassaden waren verkohlt und von Trümmerteilen durchlöchert. Die alte Kirche selbst hatte die Explosion nicht überstanden und war unter den Schäden in sich zusammengefallen. Doch da waren nicht nur Steine in den Wänden zu finden. In manchen saßen auch goldene Zahnräder, zu abstrakten Gebilden verformt und an manchen Stellen geschmolzen. Kein Zweifel: Die Uhr war explodiert und musste dabei eine ganze Kette von Ereignissen in Gang gebracht haben, die selbst über die Taleswooder Grenzen hinaus für Chaos sorgten. War das etwa... unser Werk? Hatten Jack, Coleman und ich das hier ausgelöst, wenn auch nur unbeabsichtigt? Und so still, wie es war... Konnte es sein... Konnte es sein, dass es jeden anderen in dieser Stadt das Leben kostete? „Mein Gott“, murmelte Tom schockiert. „So eine Zerstörung... wie viel Schießpulver war wohl dafür vonnöten?“ „Kein Schießpulver kann so etwas bewerkstelligen, junger Mann... Es war etwas... viel Mächtigeres.“ Ich kannte diese Stimme hinter uns, auch wenn ich sie anders in Erinnerung hatte. Sie war vom Zigarettenrauch kratzig geworden, hatte aber dennoch ein sanftes, gleichmäßiges Brummen, ähnlich dem Schnurren einer Katze. Als ich die Stimme das erste Mal vernahm, war sie lässig und kühl, fast schon etwas arrogant, nun allerdings entsprang ihr eine gewisse Anspannung und Kraftlosigkeit, denn ihr Besitzer musste in den letzten Tagen nicht minder viel ertragen haben als wir. Sie gehörte jemandem, der – so dachte ich eigentlich – sein Leben für meines gegeben hatte. Und als ich mich umdrehte, sah ich, wie aus dem Nichts eine Gestalt mit dichtem Fell und einem Paar spitzer Ohren hervortrat. In seinen gelben Augen reflektierte sich das wenige Licht und so schien es, als würden sie leuchten. Er stützte sich auf einen verzierten Gehstock und hielt sich die Seite, an dessen Stelle ein riesiger Blutfleck seinen grauen Maßanzug ruinierte. „Ich wusste, dass du zurückkommst“, stöhnte Coleman und rang sich zu einem gequälten Grinsen durch. „Aber es ist besser, wenn du wieder verschwindest.“ Kapitel 22: Schatten über Taleswood ----------------------------------- Tatsächlich. Da stand er vor mir, der gestiefelte Kater von Taleswood, wie er leibt und lebt. Ich versuchte mich daran zurückzuerinnern, an jene Nacht, als eine Ladung Blei sein Fell zerriss und er zu Boden ging – zumindest war es das, was ich sah und wenn man seine Verletzung an der Seite betrachtete, dann hatte er wohl mehr Glück als Verstand gehabt. Dazu kam das zerzauste und verdreckte Fell und die klar zu erkennenden roten Äderchen um die Iris. Für eine noch vor wenigen Tagen so herausgeputzte Persönlichkeit, wirkte Coleman an diesem Tage fast wie gerupft. Aber immerhin war er noch am Leben und das war weitaus mehr, als ich erwartet hatte. Vielleicht war ich ja doch nicht verflucht. „I-Ist das eine Katze im Anzug?“, platzte es Tom heraus und er rieb sich ungläubig die Augen. „Ja glaubst du etwa, nur euch haarlosen Affen würden Anzüge stehen?“, antwortete Coleman verärgert. „Wer ist dieser Kerl überhaupt und wo ist dein Schneeweißchen?“ Für die kurze Zeit des Schocks über die Verwüstung hatte ich Fleur vergessen können. Nun da er mich fragte, kamen die Gefühle wieder hoch, doch ich biss mir auf die Zähne, denn es würden mich noch einige nach ihr fragen und ich konnte nicht jedes Mal bei der Antwort in Tränen ausbrechen. Das würde es auch nicht leichter machen. „Sie... Sie ist tot.“ „Was?“ „Véronique hat uns verfolgt. Sie wollte mich töten, Fleur hat sich für mich geopfert. Das ist die Kurzfassung.“ Ich gab mir die beste Mühe gefasst Auskunft zu geben, doch Coleman verstand, wie ich mich fühlte. Zögerlich nahm er seine Melone ab, presste sie als Zeichen des Respekts gegen seine linke Brust und fuhr sich mit dem Griff seines Stocks durch das dichte Fell. „Wow. M-mein aufrichtiges Beileid. Trotz aller Abneigung für ihresgleichen, war sie ohne wenn und aber vom besseren Schlag. Ich weiß, für dich ist das alles nicht leicht, darüber hinwegzukommen, aber bei der aktuellen Geschwindigkeit, mit der sich unsere Welt dreht, ist zu diesem Zeitpunkt kein Platz für Trauer-“ „Ich weiß! Darum bin ich hier! Ich will helfen!“ „Bist du taub?! Ich sagte, du sollst wieder verschwinden!“ Ich zögerte mit meiner Antwort, denn bei jener Eindringlichkeit, mit der er mir dies sagte, konnte ich nicht genau ausmachen, ob er es aus Sorge, oder Wut tat. Doch seine Augen verrieten, dass es ihm mit seinen Worten absolut ernst war. „Coleman, ich verstehe nicht...“ „Die halbe Stadt sucht nach dir, wollen dich befragen, was du über die Explosion weißt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht bei einem Verhör bleibt. Das alles hier, diese Explosion war ganz sicher nicht unsere Schuld. Und ich habe dir schon einmal gesagt, du darfst dem Polizeichef nicht vertrauen.“ „Also war es wirklich eine Explosion. Was ist mit Vater? Ist er ok?“ Der Kater schüttelte den Kopf. „Er hat die Explosion überstanden, aber... es hat ihn reichlich mitgenommen – gelinde ausgedrückt. Der Doc und der Reverend haben ihn versteckt und kümmern sich um ihn. Ich würde ja gern sagen, dass er in guten Händen sei und auf den Kirchenheini trifft das sicherlich auch zu, aber das Blondchen ist eine andere Geschichte. Alice... was glaubst du, warum ich hier bin? Salem hat mich darum gebeten, dich von hier wegzubringen.“ „Und ausgerechnet du tust, was er sagt?“ „In meiner Position kann man sich den Geschäftspartner nicht aussuchen. Er und La Belle sind die einzigen, die mir helfen können und an letztere wende ich mich sicher nicht nochmal.“ „Die ist sowieso tot.“ „S-S-Sie auch? … Du warst es, nicht wahr?“ Ich nickte nicht, senkte nicht mein Haupt, oder machte sonst eine Geste zur Bestätigung, sondern sah ihn nur schweigend an, Auge in Auge. Er wusste die Antwort sowieso. „Ist gut. Ich werde dich nicht fragen, du wirst deine Gründe haben.“ „Ich will Vater sehen“, verlangte ich laut und deutlich, denn mir war egal, wie egoistisch das klang. „Was zum... ignorierst du mich absichtlich, oder hat der kleine Ausflug durch den Spiegel das Teil zwischen deinen Ohren in Rührei verwandelt? Ich nuschel doch nicht, oder Kleiner?“ Die letzte Frage ging an Tom, doch dessen Gesichtsausdruck zeigte nur allzu deutlich, wie überfordert er in diesem Moment war. Er konnte scheinbar noch immer nicht glauben, dass ein sprechender Kater vor ihm stand. Jener seufzte schwer, bevor er noch einmal von vorn begann, mich über die Situation aufzuklären: „Hier herrscht der Ausnahmezustand. Comissioner Floyd hat eine allgemeine Ausgangssperre verhängt und lässt jeden Bewohner auf der Straße einsperren, verhören und beim kleinsten Anzeichen eines Fluchtversuchs sofort erschießen. Und du bist aktuell sein Hauptziel!“ „Und La Belle hat mir gezeigt, dass es überhaupt nichts bringt, aus Taleswood zu fliehen. Wenn mich jemand tot sehen will, dann wird er mich suchen, egal wo ich bin.“ „Aber... Véronique ist doch tot.“ „Und dennoch ist hier nichts Friede, Freude, Eierkuchen, oder würdest du etwa diese überhaupt nicht bedrohlich wirkende Rotfärbung so bezeichnen?“ Ich zeigte gen Himmel. Für einen Moment stocherte Coleman nur in den Trümmern herum, als würde er so seine nächste Antwort finden. Was war sein Problem? Wenn er Vaters Hilfe wollte, würde ich ihn sicher dabei unterstützen, dass er sie auch so bekam, das musste einem Schlitzohr seines Kalibers doch bewusst sein. Ich verstand nicht, warum er auf meine Flucht so erpicht war, doch offensichtlich verstand er genauso wenig, wieso ich hierbleiben wollte. Dann schaute er auf, wollte gerade etwas sagen, als seine Aufmerksamkeit sich auf eine Seitengasse weiter hinten konzentrierte. Ich drehte mich um und erkannte einige Männer in tiefblauen Uniformen, jeder von ihnen entweder mit einem Repetiergewehr oder einer Schrotflinte ausgestattet. Noch waren wir ihnen durch den Schatten eines Hauses verdeckt geblieben, doch daran gemessen, wie gründlich sie in alle Richtungen schauten, würde sich das sicherlich gleich ändern. „Verdammt, das ist nicht gut...“, murmelte der Kater und wischte mit der rechten Tatze einmal vertikal durch die Luft. Eine dünne, wabernde Scheibe baute sich auf, verzerrte die uniformierten Gestalten in der Ferne, als würde man auf eine unruhige Wasseroberfläche schauen. „Das dürfte unsere Präsenz verbergen - vorerst.“ „Und wie lange ist vorerst?“ „Lang genug, dass wir uns vom Acker machen. Ich bringe euch zurück zum Waldrand... So weit dürfte ich gehen können. Danach seid ihr auf euch allein gestellt.“ „Das hatten wir gerade, Coleman. Was ist dein verdammtes Problem?!“ „Ich diskutiere nicht mit dir darüber!“, fauchte er zurück. „Du bleibst nicht und wenn du ihn gesehen hättest, dann wüsstest du auch wieso!“ „Was meinst du mit ihn?“ Die Sekunde der Stille kam uns wie eine Ewigkeit vor. Wäre Coleman ein Mensch, dann hätten wahrscheinlich seine Lippen gezittert, doch aus seinem Maul ließ sich derlei Mimik nur schwer erkennen. „Hör zu, Alice. In dieser Nacht wäre ich beinahe draufgegangen, das ist kein Scherz! Wir... wir haben einen Fehler gemacht, als wir La Belles Befehlen Folge geleistet haben und etwas erweckt, von dem wir nicht einmal wussten, dass es überhaupt noch lebte.“ „Ich verstehe nicht...“ In jenem Moment, in dem wir uns noch unterhielten und dabei fast die Knappheit von Colemans magischer Energie übersahen, fiel Thomas durch den wässrigen Schimmer etwas auf und er tippte mich an der Schulter, zeigte in die Richtung der Polizisten. Trotz der Verzerrung war einer von ihnen gut zu erkennen, denn seine Anwesenheit war etwas, um das ich nur selten umhin kam: Polizeichef Floyd, einer von Jacks Freunden, obwohl bei ihm Freundschaft eher leidliche, aber irgendwie unumgängliche Bekanntschaft bedeutete. Ein unangenehmer Kerl. Doch dieser war es nicht, der Thomas verunsicherte und als Coleman in unsere Richtung schaute, da wurde mir schlagartig klar, was ihm Angst machte. Es war die Gestalt, zu der der Polizeichef aufsah, gut drei Köpfe größer und in ein dunkles Gewand gehüllt, aus dem dunkle, bläulich glühende Fetzen empor flogen, als würde es brennen. Stärker, immer stärker wurde das Wummern in meinem Hals, floss hinauf bis in meine Ohren, je länger ich das seltsame Wesen ansah und seine Aura, die bis zu uns reichte, hatte etwas Beängstigendes – und war der von Véronique erstaunlich ähnlich. Nur viel stärker, gefühlt schon meilenweit zu vernehmen und so einnehmend, dass ich trotz aller Furcht einfach meine Augen nicht von ihr lassen konnte. Drehte sie sich zu mir? Der Umhang legte alles in Schatten, doch ich erkannte die Umrisse eines Menschen, spindeldürr und doch, so schien es, abgrundtief gefährlich. Zwei rötlich leuchtende Punkte, flackernd wie Feuer im Wind... schaute sie mich an? Ich zuckte zusammen, als eine des Katers Pfoten sich auf meine Schultern legte, so gebannt war ich gewesen. „Ist das... etwa Véronique?“ „Du fühlst es auch, nicht wahr? Die grausame Kälte...“ „Aber... sie ist doch tot... Es sei denn...“ „Alice, können wir jetzt bitte gehen? Ich weiß nicht, wie lange ich die Barriere noch aufrecht halten kann.“ „Zu Jack?“ „Meinetwegen, Hauptsache weg von hier.“ Wollte er mir nicht sagen, wer es war, oder konnte er es nicht? Aber um ehrlich zu sein, war ich auch nicht sonderlich heiß darauf, das beim eigenen Leib zu erfahren. Vorsichtig schritten wir vom Platz weg in Richtung Stadtgrenze. Sie näherten sich uns nicht, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er... sie... was auch immer dieses Ding war, sein Paar glühender Flammen nach wie vor auf mich gerichtet hatte, als starrten sie direkt durch unsere kleine Barriere. Wir mussten hier weg. Drei Seitenstraßen weiter löste der Kater die Barriere auf, schnaufte ein paar Mal durch, bevor wir uns weiter fort bewegten. Ich fragte ihn noch, ob alles okay sei, doch er winkte nur mit einem genervten Fauchen ab. Es war ihm anzusehen, dass er wütend auf mich war, aber ich konnte nur bedingt sagen, dass es mir wirklich leid tat. Es gab kein Zurück. Wenn ich wegliefe, wäre dann Fleur nicht auch umsonst gestorben? Auch hier, wie im Rest der Stadt herrschte gähnende Leere und so hallte von den hohen Fassaden jeder unserer Schritte wieder. Langsam und vorsichtig gingen wir voran, lauschten zu allen Seiten, ob wir fremde Laute wahrnahmen, denn immerhin waren wir nicht allzu weit von den Polizisten entfernt. Doch da war nichts. Es schien so still zu sein, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. „Wie ausgestorben...“, murmelte Tom bedrückt. Es war erstaunlich, wie klar er bei der Sache war, wurde er doch gerade mit Informationen überhäuft und wer wusste schon, wie viel er von all dem verstand. Man konnte sich einfach auf ihn verlassen. „Nach der Explosion stand die Stadt für wenige Stunden im Chaos. Die Polizei hatte unnatürlich schnell reagieren können, fast so, als habe sie schon vorher Bescheid gewusst. Der Polizeichef übernahm die öffentliche Ordnung und die wichtigsten Personen wurden aus der Stadt evakuiert. Wie gesagt: Das alles innerhalb weniger Stunden.“ „Lass mich raten: Du findest das 'fischig'.“ Colemans Blick sprach Bände, er musste mir nicht sagen, was er von meinem Scherz hielt. Aber es stimmte schon: Die Sache klang fragwürdig, wenn ich auch nicht gänzlich seinen Worten glauben wollte, immerhin fragte man hier einen Dieb, was er von der Polizei hielt. „Und wie geht es jetzt weiter?“ „Wir müssen zum Doc.“ „Zum Doc?! Das ist doch bescheuert, wenn sie Jack suchen, dann werden sie doch als erstes seine engsten Kontakte fragen. Wollt ihr euch nicht direkt auf den Uhrenplatz stellen?!“ „Du wirst sehen was ich meine... Falls wir lebend ankommen.“ „Was soll denn das nun wieder heißen? Haben sie wirklich schon irgendjemanden umgebracht?“ „Ob sie jemanden umgebracht haben?!“ Auf diese Empörung hätte ich von Coleman eine Standpauke sondergleichen erwartet, wieder darauf anspielend, dass ich doch wieder alles gefährde und so weiter und so fort, doch tatsächlich hielt er inne und antwortete: „Um ehrlich zu sein, weiß ich das auch nicht. Aber so oder so will ich nicht auf der Liste stehen, weder als erster noch als nächster. Was bedeutet, dass ihr beide genau auf das hört, was ich sage. Ihr folgt mir auf Schritt und Tritt und bis wir dort sind, will ich keine Diskussionen mehr haben.“ Wir hatten Glück. Von unserer Position aus war es nicht mehr weit bis zum Doc und da wir trotzdem mehrere unnötige Abzweigungen und Umleitungen nahmen, die Hauptstraßen vermieden, trafen wir auch nicht mehr auf die blauen Uniformen. Und dennoch... Immer wieder musste ich mich umdrehen, starrte tief in die Gassen. Die Färbung des Himmels legte sich auch auf die Fassaden und in diesem rot-schwarzen Mix ließen sich Konturen nur schwer erkennen, dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass uns jemand verfolgte. „Ist alles okay?“ Besorgt legte mir Tom eine Hand auf die Schulter. Ich nickte kurz und lächelte. Sicherlich nur meine Einbildung... Hoffentlich... „Wir sind da“, bemerkte der Kater, als er vor einer kleinen Tür mit einem Löwenkopf als Klopfer halt machte. Es musste die Hintertür sein, denn wir befanden uns nicht auf der Hauptstraße, dennoch sah der Löwenkopf verdächtig bekannt aus. „Grüß dich, Tür“, begann ich sofort, in voller Erwartung eine passende Reaktion zu bekommen. Und diese ließ nicht auf sich warten. Deprimiert senkte der Löwe das Haupt und schnaubte laut, ließ dabei fast seinen Ring fallen. „...Die? Und ich dachte, die letzten Tage hätten bereits den Zenit ihres Ärgers überschritten. „D-Die Tür kann auch sprechen?“ „Gewöhn dich besser daran, Kleiner. Was ist los Tür, lässt du uns jetzt rein?“ „Coleman? Ich dachte, du solltest das Mädchen aus Taleswood bringen, wenn du sie finden solltest.“ „Planänderung. Jetzt ist sie hier, Pech gehabt.“ „Seh ich auch so, denn ihr kommt so hier nicht rein. Der Doc will das Mädchen nicht um sich haben, das weißt du.“ „Der Doc tut aber, was Jack sagt und ich glaube, dass Jack seine Tochter nicht abweisen wird.“ „Woher wusstest du überhaupt...“ „Nicht jetzt, Alice!“ Die Tür zögerte für einen Moment, dann stieß sie einen lauten Seufzer aus. „Nach unten?“ „Nach unten.“ Der Löwe nickte seufzend. Es ächzte und dröhnte, als die Tür sich zitternd von selbst aus den Angeln riss und rücklings zu Boden fiel. Dann schwang sie wieder auf und offenbarte eine Treppe in eine Art Kellergewölbe. Einen solch gerissenen Geheimgang hätte ich Doktor Engels nicht zugetraut. Die Treppe war eng, gerade einmal breit genug, dass eine Person nacheinander hinabsteigen konnte. Ich ging als erstes, dann folgte Tom. Coleman bildete das Schlusslicht. Das Licht hier unten war spärlich, aber gut genug, dass man alles erkennen konnte. Die Luft war trocken und salzig vom Kalk der Wände und es roch, als wäre dieser Ort seit Jahrhunderten nicht benutzt worden. Wie lange er wohl schon existierte? Unten angekommen gab es einen kleinen Gang mit mehreren Räumen, wobei aus dem hintersten Geräusche drangen und ehe wir uns versahen, kam uns auch bereits ein bekanntes Gesicht entgegen. „Alice? Was tust du denn hier?“ „Reverend Miller! Geht es Ihnen gut?“ Ich lief zu dem dunkelhäutigen Priester und drückte ihn einmal fest an mich, was er sanft zurückgab. Er war zu einem guten Freund in den letzten Monaten geworden und ich war froh, ihn gesund und munter zu sehen. Auch wenn munter ein dehnbarer Begriff war. Es war nicht an seiner Erscheinung zu erkennen, dafür war es zu finster, doch sein unsicherer, langsamer Gang verriet, dass auch er schon seit einiger Zeit nicht mehr richtig schlafen konnte. „Ich bin okay und es tut gut zu sehen, dass auch du wohlauf bist. Du möchtest zu Jacob, nicht wahr?“ Ich nickte langsam, überlegte ob ich ihn nach seinem Zustand fragen sollte, doch das würde ich wahrscheinlich gleich selbst erkennen. „Das...W-was macht sie denn hier?“ Ich erkannte die Stimme sofort an ihrer zittrigen Unsicherheit. Der Doc tauchte hinter Miller auf und warf mir einen wütenden Blick zu. Sie war mir nie wirklich freundlich gesinnt, aber dieses mal... Dieses Mal schien sie wirklich boshaft zu sein. „Gretchen, beruhige dich.“ „Sie soll gehen! Es dürfen hier nicht noch mehr Leute sein!“ „Sie ist Claires Tochter!“ „Was interessiert mich das Gör dieser Hure?! Jack hat gesagt, der Flohfänger soll sie wegbringen!“ „Was heißt denn hier Flohfänger?!“ „Gretchen, ich bitte dich...“ „Hör auf, mich so zu nennen! Jack will sie nicht hier haben und ich und Karl auch nicht!“ „Wo ist er?!“, unterbrach ich wütend das Stimmengewirr. Selbst in der schlimmsten Lage blieb dem Menschen noch Zeit zum Streiten. Und auf Feline traf das anscheinend auch zu. „D-Das geht dich nichts an!“, schimpfte Doktor Engels, jedoch deutlich unsicherer, als noch zuvor. „Und wie mich das was angeht.“ „A-ach wirklich, ja? Wieso denkt ihr Maelduns nur immer, dass ihr euch in anderer Leute Leben einmischen-“ „Er ist mein Vater!“ Es wurde stumm. Gretas fest zusammengepresste Lippen lösten sich voneinander und ihre – für ihre Verhältnisse einst klar ausgesprochenen Worte verwandelten sich in ein unzusammenhängendes Stammeln. „N-nein... du.... bist nicht... Jack... hat... mit C-C-Claire? Nicht wahr... Das ist nicht wahr... Das ist.. nicht... wahr... Karl... Karl? Wo bist du? Wo... bist du denn... auf einmal...“ Es schien, als würde sie vor meinen Augen immer jünger werden, während sie Haare raufend langsam zu Boden glitt. Am Ende sah ich in ihren Augen eine 12-Jährige, erdrückt von schrecklichem Liebeskummer und Schuldgefühlen. Der Reverend setzte sich zu ihr und legte einen Arm um die verwirrte Deutsche. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Nebenzimmer. Ich bestand darauf unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Wir waren eine Familie, wir hatten nur einander. Und ich musste auch allein mit dem Anblick klarkommen, der in jenem Raum auf mich wartete, ganz gleich, wie schlecht es um Jack stand. Das Zimmer war bis auf ein paar Matratzen leer und trostlos, maximal noch mit einigen persönlichen Habseligkeiten an den Kopfenden ausgestattet. Sie waren leer und zerwühlt, bis auf eines, in der ein in Bandagen eingewickelter Mann lag. Von seinem Kopf waren lediglich der Mund und die Nasenlöcher noch zu sehen, der Rest – selbst die Augen – lagen unter einer Schicht aus Mull, der vom Eiter eine unschöne gelbliche Farbe angenommen hatte. Noch hatte er mich nicht bemerkt, obwohl ich bei ihm kniete. So schien es zumindest. Ich schlug die Decke zurück um mir seinen restlichen Zustand anzusehen... und erschrak. Die Stellen, welche von den Bandagen nicht bedeckt waren, zeigten verbrannte und abgerissene Haut, an seiner rechten Hand fehlten ein paar Finger... und links sogar der ganze Arm. Diese Schäden – von den inneren ganz zu schweigen – konnte keine Magie so schnell beheben. Aber ohne sie, wäre er wahrscheinlich schon längst tot. „Du... bist hier... Wieso... bist du hier?“ Wasser schoss in meine Augen. Seine Stimme war schwach und trocken, mehr ein Hauchen, als alles andere, gurgelnd vom Blut im Hals, doch ich erkannte sie trotzdem wieder. Und ich verstand auch, dass er trotz seiner Worte und seiner Sorge um mich froh war, dass ich nun doch bei ihm war. Vielleicht, weil wir uns eventuell sonst niemals wiedergesehen hätten... Kapitel 23: Rosenrot -------------------- Meine Schuld. Das alles hier... war meine Schuld. Hatte ich diese Erkenntnis schon vorher gehabt, oder überkam sie mich in diesem Moment, in dem ich vor meinem Vater saß und nicht einmal sein Gesicht sehen konnte? Jack hob seinen Arm und führte seine verbleibenden Finger über mein Gesicht, strich so schwach, als wäre er nicht mehr als eine Brise im Wind. Seine Bewegungen waren steif und unsicher, als würde er an Strippen gezogen werden und gelegentliches Husten unterbrach den vibrierenden Atem. Wie konnte er nur lächeln? Warum mussten die Menschen, die ich liebte, immer in den schlimmsten Situationen anfangen zu lächeln? Wusste er etwa, dass er all das überleben würde? Magie war mächtig genug, die meisten Naturgesetze zu beugen und als Medizin heilte sie Verletzungen in wenigen Stunden, für die konventionelle Methoden Wochen brauchten, oder nicht einmal eine Lösung besaßen. So schrecklich es auch gerade um ihn stand, es gab eine faire Chance, dass Jack in nicht allzu ferner Zukunft wieder größtenteils gesund sein würde. Selbst für den Arm gab es sicherlich Lösungen, wenn man doch weit genug war, um künstliche Menschen zu kreieren. Und dennoch... wäre ich nicht an jenem Abend mit Coleman gegangen... hätte ich mich nicht in Fleur verliebt... nein, wäre ich in erster Linie niemals in Taleswood aufgetaucht, dann wäre all das niemals passiert. Es ging nicht nur um Jack, sein Zustand war nur die Spitze des Eisbergs. Wie viele Leben waren wohl zerstört worden? „... Ich habe Samuel Abbott getroffen...“, druckste ich nach einigen Momenten hervor. Vater drehte stöhnend seinen Kopf zur Seite, als könnte er mich durch die Verbände sehen. „Er... er sagte, dass ihm alles schrecklich leid tut.“ Jack lachte kurz. „Dieser... alte Vollpfosten... Verkriecht... sich jahrelang... und schickt dann meine eigene Tochter vor?“ „Er kann es dir leider nicht mehr selbst sagen...“ Jack schwieg einen Moment, dann drehte er seinen Kopf zurück. „Nein... Sam... das... habe ich nicht gewollt...“ Wieder schwiegen wir einige Sekunden. Nun... musste ich ihm auch von Fleur erzählen. Immer wieder schaute ich ihn an und suchte nach den passenden Worten, doch es kam nichts. Ich atmete tief durch. „Warum... Warum wolltest du nicht, dass ich zurückkomme?“ Nein, verdammt! Was tat ich denn nur?! „Nicht sicher...“ „Du... bist dir nicht sicher?“ „Nein... hier... ist es nicht sicher... für dich...“ „Nicht nur für mich! Für uns alle, Vater! Sieh dich doch nur an!“ „Du verstehst... nicht...“ Seine Stimme wurde immer leiser und der zittrige Atem gleichmäßiger, ruhiger. „Was?! Was verstehe ich nicht?!“ Keine Antwort. Seine Hand ließ von meinem Gesicht ab, der Arm legte sich wieder auf die Matratze. Zögerlich packte ich ihn an den Schultern und versuchte ihn zu wecken, traute mich aber kaum, ihn wirklich zu rütteln. Nicht, dass ich ihm noch wehtat, denn er wirkte gerade unfassbar zerbrechlich. „Vater! Bitte rede doch mit -“ „Weg da!“ Etwas riss mich zur Seite, stieß mich zu Boden. Der Doc kniete sich zu Jack und platzierte einen kleinen Arztkoffer neben sich, schnitt den Verband ein wenig auf und fühlte nach seinem Puls. Ihre Pupillen zitterten, weiteten und verengten sich in rasanten Impulsen und es schien, als hätte sie eine schier unendliche Menge Speichel im Mund, die sie einfach nicht zu schlucken bekam. Dennoch wirkten ihre Bewegungsabläufe erstaunlich koordiniert, wie man es halt von einem Arzt erwartete. Vorsichtig begann sie den Verband aufzuwickeln, der sich mit einem schmatzenden Geräusch von der zerstörten Haut löste. Ein beißender Geruch trieb mir in die Nase, doch ich wollte meinen Blick nicht abwenden. Ich musste das ganze Ausmaß sehen und trat näher heran, auf das Schlimmste gefasst, doch als sein Gesicht gezeigt wurde, war es... Es sah furchtbar aus, keine Frage. Seine Augen waren mit gelben Brandblasen übersät, die Haut war an keiner Stelle unbeschädigt und an der Schädeldecke klaffte eine hässliche Platzwunde. Aber es schien, als hätte die Medizin des Docs bereits gute Arbeit geleistet. Zumindest war er nicht komplett entstellt und wenn ich ihn so ansah, dann bekam ich tatsächlich das Gefühl, dass er eines Tages wieder fast normal aussehen würde. Ein Stein fiel mir vom Herzen. „Er schläft nur. Der Körper regeneriert sich besser, wenn der Patient viel Ruhe findet. Ich werde ihn neu einkremen und den Verband erneuern, also geh mir aus dem Licht. Du kannst sowieso gerade nichts für ihn tun.“ Sie sah mich nicht an, doch die fest zusammengekniffenen Brauen und die verzogenen Mundwinkel, zeigten deutlich genug, was sie von mir hielt. Für sie war ich nach wie vor ein Störenfried, daran änderte auch die Erkenntnis nichts, dass ich Jacks Tochter war. Ich verurteilte sie nicht, immerhin wusste ich, warum sie so drauf war. Ja, ein Stück weit tat sie mir Leid, auch wenn ich sie nicht gut kannte. Schweigend stand ich auf und ging. Sie würde sich anständig um Vater kümmern, daran bestand kein Zweifel. Als ich mich umdrehte, sah ich den Reverend in der Tür stehen, mir einen entschuldigenden Blick zuwerfend, als fühlte er sich für den Doc verantwortlich, wie eine überforderte Mutter für ihr vorlautes Kind. Ich wollte ihm zulächeln, kurz die Hand heben, irgendein Zeichen geben, dass alles in Ordnung sei, doch eigentlich war mir nur noch schlechter zumute. Niemals würde ich Vaters Zustand bessern können und niemals könnte ich all das Chaos in Taleswood wieder gut machen, geschweige denn Fleur wieder ins Leben holen. Machtlos, nutzlos, wertlos... Ich fühlte mich wie eine kleine, unbedeutende Figur in einem Puppenspiel, das außer Kontrolle geraten war. Nur wann? Welcher Stein war es gewesen, der die Lawine ins Rollen gebracht hatte? „Tut mir leid, Alice... Ich wollte sie noch festhalten, aber als sie dich gehört hatte, war sie schon aufgesprungen und ins Zimmer gelaufen, so schnell hätte niemand reagieren können.“ Die Hand des Geistlichen drückte nur einmal kurz meine Schulter, als ich an ihm vorbeiging. Doch das allein, in Kombination mit seinem warmen Lächeln, reichte schon, um mir ein wenig meines verlorenen Mutes zurückzugeben. „Diese Frau ist obessiv“, bemerkte Coleman verächtlich und wollte sich schon eine Zigarette anstecken, doch Miller riss sie ihm wütend aus der Hand. „Wir kriegen hier so schon nicht viel Luft, da müssen Sie nicht auch noch die restliche mit Tabak verpesten. Außerdem wäre Jack wohl schon längst tot, wenn sie sich nicht so 'obsessiv' um ihn kümmern würde. Ihnen würde im Übrigen ein wenig Dankbarkeit auch nicht schaden, oder haben Sie schon vergessen, wer das Schrot aus ihrem Körper geholt hat?“ Der Kater schnaubte missmutig aus, überlegte einen Moment, ob er mit Miller einen Streit anfangen wollte, beließ es dann jedoch dabei. Ein kurzes Seufzen entwich ihm,dann schaute er zu mir. „Es ist ja eigentlich auch egal. Deine Anwesenheit wird unsere Situation auch nicht mehr verschlimmern. Taleswood geht vor die Hunde und wir können rein gar nichts dagegen unternehmen, als uns hier zu verkriechen. Vielleicht wäre es angenehmer für mich gewesen, in der Villa zu sterben.“ „Als ich mich umdrehte, sah ich, wie ein Schuss dich zerfetzte. Ich dachte wirklich, das wäre es für dich gewesen. Warum bist du überhaupt in erster Linie nicht mit uns gekommen?“ „Alice, wenn ich Taleswood einfach so verlassen könnte, dann hätte ich das wohl schon vor Jahren getan.“ Vom Gespräch - und augenscheinlich auch der Anwesenheit des Pastors - genervt, stapfte der Kater an mir vorbei in das andere Zimmer, murmelte etwas davon, dass er sich etwas ausruhen wollte. Der Reverend wollte ihn am Ärmel packen, doch reflexartig hielt ich ihn zurück. Coleman konnte schnell... kratzbürstig werden, das hatte ich bereits gemerkt und die erzwungene Tabak-Abstinenz tat seinem Gemüt auch nicht gerade gut. Aber noch etwas anderes schien ihn zu frustrieren. Ob dies mit dem Deal zwischen ihn und meinem Vater zusammenhing? Thomas hatte sich auf ein halb vermodertes Eichenfass gesetzt und sah reichlich mitgenommen aus, wobei ich mir nicht einmal sicher war, ob das nun eher an der sprechenden Katze, am schwarzen Pastor, oder der allgemeinen Situation lag. Seine Miene zeigte Unsicherheit, Müdigkeit, aber vor allem Sorge und ein Stück weit auch Furcht und die beklemmende Atmosphäre in diesem engen, halbdunklen Kellergang trug ihren Teil dazu bei. „Was... Was wollen diese Leute alle von Alice? Was hat sie ihnen denn getan?“ Das wüsste ich auch gern. Scheinbar war mein einziger Fehler, überhaupt geboren worden zu sein und kurz darauf nicht als Lamm auf dem Altar geopfert zu werden. Reverend Miller zögerte, kaute auf seiner Oberlippe, doch er hatte die Antworten parat, so viel war sicher. Sie versteckten sich hier unten nicht vor Luftschlössern. Wer war die Gestalt, die uns scheinbar selbst durch Colemans Barriere sehen konnte? „Ich bezweifle, dass Alice dieses Leid verdient hat... Aber wir wissen leider auch nur bruchstückhaft, was passiert ist. Jack ist der einzige Zeuge und aktuell nur wenig gesprächsbereit.“ „Wie haben Sie ihn gefunden?“ „Die Explosion setzte Unmengen an magischer Energie in der Umgebung frei; eigenartige Schwingungen, die seltsam ruhig waren, für das, was ihnen voraus ging. Ruhig und... trist... So als würde jemand einen Verlust betrauern. Mir wurde mulmig und in mir entfachte der Drang sich zu verkriechen, aber... mit der Zeit bekommt man einfach ein Gefühl dafür, wenn ein Freund Hilfe braucht.“ „Sie haben sich schon gedacht, dass Jack in Gefahr war?“ „Ich bin halt eine neugierige Nervensäge.“ Die Bemerkung entlockte ihm ein schwaches Lächeln, doch in seiner Mimik konnte er nicht verstecken, dass er sich gewünscht hätte, sich geirrt zu haben. „Habe ich mich schon bei der Suche gefragt, warum die Straßen so leer waren, oder fiel mir dies erst im Nachhinein auf? Man hätte denken können, dass so etwas die Leute aus den Häusern treiben würde, aber nichts dergleichen. Nicht einmal diejenigen, die direkt am Kirchplatz wohnen. Vielleicht war es eben dieses Gefühl der Beklommenheit, das auch mich übernommen hatte. Vielleicht waren sie aber auch schon tot...“ Er machte eine kurze Pause und rieb sich am Hinterkopf. Ich erwischte mich dabei, einmal zu Thomas zu schielen, doch konnte nicht erkennen, was er dachte. Doch es schien, als wäre er nur noch tiefer zusammengesackt, auf seinem Fass. Miller führte weiter aus: „Jack lag als einziger inmitten der Trümmer... Mit dem Gesicht zu Boden gerichtet, die Kleider zerfetzt und eingebrannt in die dampfende Haut... Wäre seine Aura nicht gewesen, ich hätte ihn wohl kaum wiedererkannt... oder für tot erklärt. Keine Ahnung was mich antrieb, ihn zu Gretchen zu bringen, es erschien mir einfach am vernünftigsten. Sie war schon, bevor sie Jack erkannte, seltsam anders als sonst. Geistesgegenwärtiger – für ihre Verhältnisse. Die Schwingungen müssen auch auf sie einen Effekt gehabt haben. Ein paar Stunden später klopfte auch Coleman an die Tür zur Praxis mit einer riesigen Schusswunde an der Seite. Aber die Geschichte kennst du ja.“ „Wann haben Sie erfahren, dass die Polizei uns sucht?“ „Am nächsten Morgen. Sie hatten das gesamte Gebäude auf den Kopf gestellt, aber zu dem Zeitpunkt waren Coleman und Jack bereits im Keller versteckt und der ist nur durch die Tür betretbar. Sie könnten das gesamte Haus abreißen und dennoch wäre der Keller unauffindbar.“ „S-so was geht?“, fragte Tom erstaunt und gesellte sich doch wieder zu uns. Von einem auf den anderen Moment war er hellauf, aber das lag wohl in erster Linie daran, dass Millers Worte seine Neugierde weckten. Es gab etwas Neues zu lernen. „Ja, so was geht. Türen sind immer Portale in andere Räumlichkeiten und auch wenn die meisten das auf rein physische Art tun, gibt es auch solche wie dieses Exemplar, die eine Stufe weitergehen.“ „Inwiefern weitergehen? Befinden wir uns überhaupt noch in Taleswood?“ „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es stellt sich die Frage, wo Taleswood beginnt und wo es aufhört. Wie die Frage, ob das Jenseits oder das Paradies eigenständige Orte sind. Tatsache ist, dass durch physische Gewalt dieser Keller unmöglich zu erreichen ist.“ „Das heißt aber nicht, dass wir hier für immer sicher sind, nicht wahr?“ Ich musste Tom's Befürchtung leider teilen. Wenn Magie im Spiel war, bedeutete dies, dass Magier sie spüren konnten. Und da die Tür einen beinahe freien Willen besaß, konnte sie uns auch hintergehen, ganz gleich ob aus Angst oder Gier – wahrscheinlich eher ersteres, denn womit konnte man eine Tür schon bestechen? Reverend Miller machte eine kurze Pause, zögerte mit der Antwort und wir wussten sowieso, dass wir Recht behielten. Wir konnten nicht hier bleiben, aber das bedeutete noch lange nicht, dass wir auch von hier wegkamen, oder es irgendwo sonst sicher war. Außerdem ging es nicht nur um uns. Taleswood war ein Wohnort tausender Personen und sie alle hatten ein friedliches Leben verdient. Ich steckte sowieso zu tief in der Sache, um nun zu fliehen. Mein Magen verkrampfte sich und meine Lippen zitterten, als wollten sie meine Worte so zurückhalten. „Was wäre... wenn ich mich stellen würde?“ Die beiden sahen mich ungläubig an und ich verübelte es ihnen nicht, denn es klang lachhaft und nicht zuletzt auch unfassbar gefährlich. „Die Explosion ist meine Verantwortung, ich habe die schwebende Uhr aktiviert, ohne die Konsequenzen zu beachten. Ich muss es in Ordnung bring – au!“ Jemand schlug mir mit einem festen Gegenstand auf den Kopf. Die Stelle pochte unangenehm nach und dröhnte in meinem Schädel. „Törichtes Mädchen. Ich dachte immer, in Kinderheimen würde man den Blagen noch Verstand einprügeln.“ „Wollten Sie sich nicht hinlegen, Coleman?“, bemerkte der Reverend missbilligend. „Sie können nicht einfach kommen und gehen, wie es Ihnen gefällt.“ „Und genau da liegen Sie falsch, mein Lieber. Sie würden die Kleine doch nicht von so einer Selbstmordmission abhalten, oder gar einen besseren Plan haben, nicht wahr?“ Der Reverend knirschte mit den Zähnen, ließ den Kater jedoch aussprechen. „Ich verstehe nicht, was daran so falsch ist.“ „Frag dich lieber, was daran nicht falsch ist, Mädchen.“ „Du hast selbst gesagt, dass du nicht weißt, was sie mir antun könnten!“ „Das heißt aber nicht, dass du vom Besten ausgehen solltest. Du willst wirklich helfen? Ich wüsste, was wir tun könnten.“ Coleman machte eine kurze Pause, um mit beleckter Pfote sein Gesicht zu putzen. „Wir... gehen zu La Belle.“ „Sie ist tot, schon vergessen?“ „Ich meine, wir gehen zu ihr nach Hause. Wenn irgendjemand noch Unterlagen von jenem Vorfall vor 17 Jahren besitzt, dann sie.“ „Woher weißt du das so genau?“ „Ich habe für sie gearbeitet, schon vergessen?“ „Und wie soll uns das weiterhelfen?“, mischte sich Miller wieder ein, sichtlich genervt von Colemans Gelassenheit. Es war kaum zu übersehen, wie wenig sie von einander hielten. Doch dieses Mal zögerte auch der Kater mit seiner Antwort. „...Weil sie Mycrafts Geliebte war und ich seit der Explosion wieder seine Aura spüre.“ „Du... meinst die unheimliche Gestalt in der Gasse, die mit Commisioner Floyd gesprochen hatte?“ Er nickte zögerlich. Ein verächtliches Prusten kam aus dem Mund des Pastors, der daraufhin nur den Kopf schüttelte. „Mycraft ist tot. Claire hat ihn getötet, das hat Jack selbst gesehen.“ „Dafür klingen Sie aber reichlich unsicher. Zugegeben, das bin ich auch, aber ich habe in den letzten paar Tagen genügend Scheiße miterlebt, um besser wirklich alles in Erwägung zu ziehen. Ich bin Mycraft einmal in meinem Leben über den Weg gelaufen und diese Aura hat sich auf ewig in mein Gedächtnis gebrannt.“ „... Eine Anomalie?“ „... Höchstwahrscheinlich.“ Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Ein Toter, der durch die Straße wandelte, durch Magie in Gestalt gepresst? Das klang in dieser Stadt leider viel zu möglich, um erfunden zu sein. Und wenn das stimmte... War es dann auch Mycraft der mich an meinem ersten Tag in der Stadt heimgesucht hatte? „Wann brechen wir auf?“, fragte ich so entschlossen es ging, doch mir wurde mulmig, wenn ich an jenes Hexenhaus zurückdachte. Aber gerade klang alles besser, als nichts zu tun. Thomas hatte darauf bestanden, mitzukommen. Wäre Coleman in einer besseren Verfassung gewesen, hätte ich abgelehnt, da der Kater mich wieder hätte tragen können, doch gerade war daran nicht zu denken. Es ging mir aber auch darum, ihn nicht unnötig in Gefahr zu bringen, aber ich verstand auch, dass es ihm wohl lieber war, als in einem Keller zu hocken. Immerhin ging es mir nicht anders. Und es war unfair ihn jetzt vor den Kopf zu stoßen. „Ich will nur nicht, dass du andauernd dein Leben für mich riskierst“, flüsterte ich ihm zu. „Ist schon okay...“ „Nicht nachdem, was ich dir angetan habe. Jeder hätte Verständnis dafür, wenn du nicht mitgehst.“ „Am Ende bleibt es aber meine Entscheidung. Außerdem... ach, ist nicht so wichtig.“ „Tom?“ Seine Augen hatten etwas Melancholisches an sich, während er mich ansah und langsam seine Hände zu meinem Gesicht hob, dann jedoch abrupt inne hielt und sie stattdessen auf meine Schultern legte. „Ich... Ich bleibe einfach bei dir, alles klar?“ „Okay...“ Meine Wangen glühten und es fühlte sich an, als zöge sich mein Herz zusammen. Obwohl seine Hände angenehm warm waren, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, als sie mich berührten. Ich sagte es bereits: Ich hätte besser damit umgehen können, wenn er mich abgrundtief gehasst hätte. Es waren einige Stunden vergangen, seitdem wir den Beschluss gefasst hatten, zu La Belles alter Wohnung aufzubrechen. Noch immer ließ Doktor Engels niemanden in Jacks Nähe, doch der Reverend versprach, gut auf sie aufzupassen und so verabschiedeten wir uns mit einem flauen Gefühl im Magen. Was wollten wir eigentlich bei La Belle finden? Bücher? Briefe? Notizen? Vielleicht aber auch andere Hinweise, zumindest irgendetwas, das uns weiterhalf. Doch nun galt es erst, die Stadt sicher zu verlassen. Wie lange hockten wir dort, die Tür einen Spalt weit geöffnet und in die Dunkelheit lauschend? Wahrscheinlich nur wenige Minuten, doch mir kam jede Sekunde wie eine Unendlichkeit vor. Angstschweiß machte meine Hände rutschig und in meinem Ohr hallte nur mein eigener Puls wider. „Hörst du etwas Coleman?“ Der Kater spitzte seine Ohren noch stärker, doch zuckte dann mit den Schultern. „Nichts. Ich sehe auch niemanden. Scheint so, als wäre zumindest im direkten Umfeld niemand von Floyds Männern.“ Schnell stemmten wir die Tür auf, huschten aus der Arztpraxis und gingen an einer Ecke kurz in die Hocke. Die Nacht schien ruhig und friedlich zu sein, doch auch der Mond trug einen leichten roten Schleier um sich, wie der gesamte Himmel am Tage. Und diese gespenstische Stille war auch alles andere als beruhigend. Eine Stadt schlief nie gänzlich und selbst, wenn man aus den Häusern nichts mehr hörte, so sollte man doch zumindest die Rufe von Eulen oder ähnlichem vernehmen können. „Wir sollten uns beeilen“, flüsterte Coleman, huschte um die Ecke und überquerte mit wenigen Sätzen die Hauptstraße – natürlich ohne einen Laut von sich zu geben, wie es sich für eine Katze gehörte. Wir beeilten uns hinterher zu kommen, doch als ich auf der Hälfte der Straße war, hörte ich ein kurzes Scheppern hinter mir. „Verd... tut mir leid!“ Thomas hatte eine Mülltonne angerempelt. Wahrscheinlich war der Knall deutlich leiser, aber in meinen Ohren klang es wie das lauteste Geräusch auf Erden. Ich rannte zu ihm, packte ihn an der Hand und zerrte ihn mit. Wir achteten nicht darauf, wie wir liefen, folgten einfach nur dem Kater, links, rechts, dann wieder links, rannten immer weiter bis wir beinahe am westlichen Stadtrand angekommen waren. In meinem Hals sammelte sich der Speichel, den ich nur krampfhaft hinunterschlucken konnte. Wieder lauschten wir in die Stille... Nichts. Wir konnten verschnaufen. Autsch! Ein weiteres Mal landete Colemans Stock auf meinem Kopf und auch Tom blieb nicht verschont. „Verdammt, warum denn auch ich?“, zeterte ich den Kater an, jedoch darauf bedacht, nicht laut zu werden. „Stimmt, er mag der größere Trottel gewesen sein, aber du bist auch nicht viel besser. Wie ist man wohl am besten unauffällig? Ganz sicher nicht, indem man beim kleinsten Fehler Panik bekommt und einen halben Marathon hinlegt.“ „Tut mir leid...“, gab Thomas kleinlaut zu Wort. „Ich... war zu sehr auf alles andere konzentriert, da hatte ich nicht auf das geachtet, was vor meinen Füßen war.“ „Kann passieren, Kleiner. Ich glaube nicht, dass uns jemand entdeckt hat und immerhin sind wir so schnell voran gekommen.“ „M-Mister Coleman? Ich habe mich gefragt, warum wir nicht ihren Barriere-Zaubertrick von vorhin benutzt haben.“ „Aus zwei Gründen. Erstens kostet er mich viel zu viel Kraft, um ihn dauerhaft für drei Personen aufrecht zu erhalten und zweitens hinterlässt er noch immer eine Spur von Magie. Und jede Spur kann man auch zurückverfolgen, wenn man die richtigen Leute fragt. Ich möchte sie besser nur im Notfall einsetzen. Und jetzt kommt, wir müssen weiter.“ Vorsichtig schlichen wir uns an der Fassade des Hauses entlang, achteten auf alles um uns und auch vor unseren Füßen. Ich konnte es spüren, wir waren nicht mehr weit weg vom Ausgang und zu unserem Glück grenzte Taleswood im Westen direkt an einen Wald. Doch plötzlich vernahmen wir eine Reihe gleichmäßiger Schritte von der nächsten Straße. Sie gehörten mindestens vier verschiedenen Personen. Fest pressten wir uns gegen die Wand, um komplett im Schatten zu liegen. Über Coleman hinweg spähte ich zum Ausgang der Gosse und wie aufs Stichwort kam gleich ein ganzer Trupp Wachmänner auf uns zu. Wie weit waren sie entfernt? Vielleicht 20 Yards, wenn es hochkam. Mein Puls ging schneller. „Coleman, vielleicht solltest du jetzt doch deine Barriere benutzen?“ „Warte noch.“ Die Männer blieben stehen und unterhielten sich über etwas, das ich nicht verstehen konnte. Im schwachen Schein der etwas weiter entfernten Laterne waren sie nur schwer zu zählen, doch sie waren zweifellos in der Überzahl und bewaffnet. Drehte sich einer zu uns? Die Silhouette gabnicht eindeutig zu erkennen, ob sein Gesicht zu uns hin- oder von uns abgewandt war. Doch er schien definitiv etwas genauer in Augenschein zu nehmen. „Coleman...“, flehte ich ihn an. „Noch sieht er uns nicht wirklich, beruhige dich.“ „Ja noch nicht, aber gleich. Tu doch was.“ „Wenn du mir weiterhin auf den Sack gehst, erwischt er uns auf jeden Fall. Halt die Klappe und beweg' dich nicht.“ Er kam auf uns zu. Sein Schatten wurde größer. „Hey Simon, hast du was entdeckt?“ „Sekunde... Ich bin mir noch nicht sicher.“ „Coleman!“ Ich rüttelte an seiner Schulter, aber achtete für eine Sekunde nicht auf meinen Halt. Wie in Zeitlupe rutschte ich nach vorne, wurde von Tom gerade noch aufgehalten, den ich beinahe mit umriss. Vor meinen Augen bildete sich binnen Sekunden wieder diese durchsichtige, verwaschene Fassade. Bitte... Du hast mich nicht bemerkt... „Also... ich hätte schwören können... nein, da ist nichts... Falscher Alarm, Jungs! Was auch sonst...“ Simon zögerte noch einen Moment, dann schritt er wieder zurück auf die Straße und der Trupp ging den Weg zurück, den er gekommen war. Mit angehaltenem Atem warteten wir, bis die Schritte verstummten. „Was soll der Scheiß, Alice?!“, zischte mich der Kater an. „Ich dachte, du hättest Erfahrung mit Diebstählen!“ „Und warum hast du so lang gewartet?! Das hier ist keine verdammte Mutprobe!“ „Was hab ich denn gerade zum Einsatz von Barrieren gesagt, du dumme Kuh?“ „Ach, und stattdessen versucht du irgendeinen Ich-versteck-mich-in-den-Schatten-Nonsens?“ „E-entschuldigt die Störung Leute, aber...“, mischte sich Thomas ein. „Wir sollten besser weiter, bevor der Trupp zurückkommt.“ Sofort beendeten wir unseren kleinen Disput, rafften uns auf und verließen die Stadt, lösten aber die Barriere erst nachdem wir den halben Weg zwischen Stadtgrenze und La Belles Haus zurückgelegt hatten. „Hey, Kleiner. Bist du Véronique La Belle schonmal begegnet?“ „Er war dabei, als sie uns angegriffen hatte“, antwortete ich für Thomas. Coleman musste nicht wissen, wie sehr er am eigenen Leib ihre Grausamkeit gespürt hatte. Oder wollte ich nur nicht, dass er von meiner Machtlosigkeit ihr gegenüber erfuhr? „Hatten Sie nicht erwähnt, dass Sie noch bis vor kurzem für sie 'gearbeitet' haben?“, wollte Thomas wissen. Coleman blieb stehen, setzte die Melone kurz ab und fuhr sich durch das Fell. „Das stimmt schon... Wahrscheinlich fragst du dich jetzt, wie jemand für so ein Monster arbeiten kann, hm? Die Sache ist... Ich bin verflucht. Als ich vor 17 Jahren versucht hatte, ein Buch aus Mycrafts Sammlung zu klauen, wurde ich erwischt und eingebuchtet. Der alte Mycraft hatte wohl gewusst,dass ich sicherlich nicht in der Zelle auf meine Hinrichtung warten würde und hatte mich mit einem Fluch belegt. Seitdem kann ich Taleswood nicht mehr verlassen. Meine handvoll magischer Fähigkeiten sind allerdings ein positiver Nebeneffekt aus der ganzen Sache, wie ich schnell herausfand. Letzten Endes... hatte ich einfach gehofft, dass sie mich nach all den Jahren davon befreien könnte. Und Jack wird mir in seinem jetzigen Zustand auch nicht helfen können.“ „Aber für einen Diebstahl wird man doch nicht gleich gehängt.“ „Kleiner, ich habe versucht den mächtigsten Magier Taleswoods zu beklauen. Glaub mir, an der Justiz zu drehen, wäre ein Leichtes für ihn gewesen. Warst du ihm ein Dorn im Auge, dann warst du auch schon so gut wie tot. Stimmt's, Alice?“ Ich antwortete nicht und wich dem besorgten Blick Toms aus. Coleman sollte ihm nicht zu viel Angst einjagen. Außerdem waren wir schon am Hexenhaus mit den Rosensträuchern angekommen, wie ich erkannte, als ich aufsah. Noch immer lag es ruhig und still da, als wäre nie etwas passiert. Doch obwohl ich wusste, dass die Hausherrin nicht da war, bekam ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich konnte es nicht erklären, doch etwas wirkte... falsch. Langsam gingen wir den kurzen Weg durch den Vorgarten, zögerten einen Moment, als wir vor der Haustür standen, doch nun gab es kein Zurück mehr. Coleman kniete sich davor, bereit sie aufzubrechen, hielt dann jedoch verdutzt inne, drehte den Knauf und die Tür schwang auf. Sie hatte nicht abgeschlossen? Oder war etwa schon vorher jemand hier gewesen? Uns kam ein seltsamer Geruch entgegen, eine Mischung aus Eisen, Schwefel und verschieden anderen Substanzen, die ich jedoch nicht entziffern konnte. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte im dunklen Korridor etwas zu erkennen, doch da war nichts, nur seltsam verworrene Schatten. „Wir bräuchten Licht“, schlug Thomas vor, wandte sich nach hinten und nahm sich einen stabilen Ast von einem kleinen Busch. „Magier können doch bestimmt auch Feuer zaubern, oder?“ Ich schnipste kurz mit den Fingern und kam mit der kleinen Flamme seinem Ast näher, doch gerade, als ich ihn entzündet hätte, drängte mich Colemans Pfote zurück. „Nein, tut das nicht“, sagte er mit hauchender Stimme. „Was? Warum denn nicht?“ „Weil... glaubt mir, das wollt ihr nicht sehen.“ „Uns bleibt leider keine andere Wahl, mein Lieber. Ohne Licht geht’s nicht.“ Ich schob ihn beiseite und entzündete den Ast. Er brannte erstaunlich gut und gab zumindest genug Licht, bis wir eine Kerze finden würden. Doch als ich mich umdrehte, verstand ich, warum Coleman uns aufhalten wollte. Ein unterdrückter Schrei entwich mir und Thomas ließ die Fackel sinken und fing an, Würgelaute von sich zu geben. Es war nur ein kurzer Blick, doch der hatte gereicht. Der Korridor war in purpur getränkt. Sie waren auf dem Boden, an den Wänden, ja selbst von der Decke hingen sie, zerquetscht, erhängt und durchbohrt von unzähligen Dornenranken, die sich aus ihnen schlängelten, als wären sie normale Erde. Ich hatte mich schon gefragt, was aus den Hommunkuli geworden war, die La Belle erschaffen hatte. Nun war klar: Sie hatten all ihren Zorn zu spüren bekommen. Kapitel 24: Showdown - Teil 1 ------------------------------ Blut... all das Blut, fließend über die schneeweiße Haut in schwungvollen Linien, wie Pinselstriche auf einer blanken Leinwand. Aber diese Leinwand war zerstört, von abgenutzten Klingen wutentbrannt auseinandergerissen. Die Linien verteilten sich über die aufgerissene Kleidung, folgten den Ranken bis zu ihrer Spitze und sammelten sich in Pfützen auf dem Boden. In deinen Armen fühle ich mich sicher... Wie dünne Finger fuhren die Ranken durch das lange, aschgraue Haar, welches zottelig und vom Blute verklebt hinab hing, verhakten sich mit ihren Dornen in der Kopfhaut und umschlungen den dünnen Hals, als würden sie gleich zudrücken wollen. Für dich lasse ich mich auf dieses Abenteuer ein... Der letzte Ton, ein erstickter Schrei – schmerzerfüllt nach Hilfe rufend – war ihren dünnen Lippen schon lange entwichen, so, wie die letzte Träne auch schon lange aus ihren einst warmen, violetten Augen geflossen war und die Amethyste schielten glasig leer nach oben, vor Schock weit aufgerissen. Fürchtest du dich, Alice? Ich fuhr hoch, schüttelte die Illusion von mir, bis aus Fleur wieder das junge Homunkulus-Mädchen wurde, welches dort aufgespießt an der Wand hing. Die Ranke hatte ihren Brustkorb durchbohrt und die Wunde wirkte fast wie eine eigene, gigantische, blutrote Blüte. Abseits der typischen Homunkulusmerkmale sahen sich die Frauen dabei nicht einmal annähernd ähnlich. Ich schlug mit beiden Händen auf mein Gesicht und unterdrückte das quälende Ziehen in meiner linken Brust. Sie war nicht Fleur... Sie war nicht Fleur... Sie war nicht Fleur... Sie. War. Nicht. Fleur. Doch das änderte nichts an der Grausamkeit des Bildes, an dem abstoßend beißenden Geruch nach Chemie, der von den Leichen ausging und ich konnte es auch nicht unterdrücken, daran zu denken, dass La Belle mit uns beinahe genauso verfahren wäre. Diese Zerstörungswut... Die hätten wir zusammen niemals aufhalten können... Fleur... Hattest du das etwa alles gewusst? Thomas hatte sich übergeben. Ich hatte das Plätschern vernommen, das auf seine Würgelaute folgte, genauso wie das leise nach Luft Ringen und Fluchen zum Schluss. Nun stand er neben mir, blass, erschöpft und brachte kaum den Mut auf, die Fackel noch einmal zu heben. „Gib sie mir.“ „Was?“ „Ist schon okay, Tom. Gib mir den Ast.“ Ich wollte schon danach greifen, doch er zuckte zurück, fuchtelte wohl etwas zu sehr damit und die Flamme erlosch. Finsternis umgab uns wieder und ich seufzte hörbar auf. „Tut mir leid... Ich weiß, ich wollte mit und ich sollte mich nicht so anstellen, aber... Ganz gleich, wie oft ich Menschen schon sterben sah, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.“ „Hast du Angst?“ Er antwortete nicht, aber das musste er auch nicht. Wer hätte schon keine Angst, in solch einer Situation? Vom Geruch und dem Anblick ganz abgesehen. „Es gibt nichts, wovor man Angst haben müsste, Kleiner. Sie sind tot und ihre Schlächterin auch. Alles was bleibt, ist ein grausiger Anblick, aber... es waren ja nicht einmal echte Menschen.“ Wieder wurde der Eingang erhellt, wieder zeigten die verzerrten Konturen ihre abstoßende Fratze. Coleman hatte eine Laterne gefunden – wahrscheinlich von den Rosenbögen – und drückte sie mir in die Hand. Wie seltsam ruhig er blieb... Hatte er so etwas bereits erwartet? Oder berührte es ihn einfach nicht? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Der Kater näherte sich langsam der Szene, drehte sich nicht noch einmal zu uns, fixierte stattdessen eine der Toten, die an der Wand hing. Ich kannte das Mädchen vom sehen: Sie hatte Véronique bedient, als ich dieses Haus zum ersten Mal betreten hatte. Eine junge Frau mit kurzem, aschgrauem Haar, zerzaust und mit hellroten Sprenkeln versehen. Aus ihrem Brustkorb hatte sich eine Ranke gebohrt, ihren Weg nach oben gesucht und an ihrer Spitze blühte eine pechschwarze Rose. „Ihre Augen... sie scheinen die Blüten zu fixieren. Irgendwie verrückt, wie gelangweilt sie dabei wirkt. Als wäre das Sterben an sich so eintönig gewesen, dass es sogar spannender war, dieser Rose beim Blühen zuzusehen.“ Coleman hob seinen Stock und tippte damit ihre Wange an. Sie war so starr, dass nicht einmal ihre Haut nachgab. „So etwas macht man nicht, Mister Coleman“, schritt Tom entrüstet ein, traute sich aber kaum, den Blick dem Tatort zuzuwenden. „Und warum nicht, Kleiner? Sie sind tot, sie wird es nicht stören.“ „Und was ist mit Respekt vor den Toten?“ „Vollkommen unnötig. Diese Wesen fürchteten den Tod nicht. Weder den anderer, noch den eigenen. Sie wussten wahrscheinlich nicht einmal, was es bedeutet, zu leben. Seht es euch an. All dem Chaos zum Trotze; sieht es für euch so aus, als habe hier ein Kampf stattgefunden?“ Ich nahm allen Mut zusammen und trat noch einen Schritt vor. Ich war keine Polizistin, hatte aber eine ungefähre Vorstellung, welche Spuren es hinterlassen hätte, wenn die Homunkuli sich gewehrt hätten. Zumindest würde es nicht so aussehen. „Sie... wirken, als wären sie aufgereiht und dann nacheinander hingerichtet worden...“ Sollte es mich nicht viel mehr schockieren, anwidern, traurig machen? In dem Moment, als ich es schaffte, die Diener nicht mehr direkt mit Fleur in Verbindung zu bringen, verlor ich für sie auch jegliche Empathie. Und die Szene an sich... stumpfte mit jeder Sekunde ab. „Aufgereiht? Vielleicht. Aber wenn ich in ihre Augen sehe, dann glaube ich noch mehr, dass sie... bewusst zu diesem Schlachtfest gekommen sind. 'Lasst euch umbringen.' Das war ihr letzter Befehl und sie führten ihn gewissenhaft aus.“ „Hätten sie überhaupt ohne ihre Herrin weiterleben können?“ „... Ich weiß es nicht. Und es ist mir eigentlich auch egal. Sie waren nur Hüllen, nichts weiter.“ „... Ja... Du hast vermutlich Recht...“ „Wie könnt ihr so etwas sagen?! Sie sind vielleicht nicht geboren wie wir, aber sie waren noch immer Menschen!“ Ich sah zurück. Thomas stand noch immer im Vorgarten, war in der Finsternis nicht mehr als eine Silhouette, dennoch konnte ich mir gut vorstellen, wie gekränkt und wütend er über das war, was wir gerade sagten. Immerhin waren Lady Cat und Fleur die einzigen Homunkuli, die er gekannt hatte. „Kleiner, abseits ihres Aussehens haben diese Dinger nicht einmal ansatzweise etwas mit euch Menschen zu tun. Die Tür des Docs hat mehr Charakter als diese armen Teufel zusammen.“ „...Er hat Recht, Tom.“ „Und was war mit Fleur?“ Als er ihren Namen erwähnte, keimte in mir ein Zorn auf, den ich ihm gegenüber noch nie gespürt hatte. Wie konnte er es nur wagen, sie alle in einen Topf zu werfen?! Er wusste doch gar nichts über diese Wesen! Ich stapfte zurück und funkelte ihn verächtlich an. „Fleur hat mit denen hier nichts gemeinsam! Sie ist... Sie war... ein Mensch, wie du und ich! Aber die hier sind nur seelenlose Haussklaven, die uns zufällig ähnlich sehen. Nicht mehr...“ „Das gibt euch trotzdem nicht das Recht, so über sie zu reden! Sie haben sich das nicht ausgesucht! Sie wurden nicht gefragt, ob sie lieber im Mutterleib, oder im Reagenzglas geboren werden wollen! Selbst wenn sie sich dem nicht bewusst waren... So zerstörerisch mit dem Leben anderer umzugehen ist... doch unfassbar grausam... Wie könnt ihr nur so herzlos sein?! Warum ist euch das egal?!“ So wütend hatte ich Tom noch nie erlebt, so außer sich und zeitgleich scheinbar so... enttäuscht von mir? Bildete ich es mir nur ein, oder sprach er in diesem Moment besonders mich an? Vielleicht hatte er Recht, vielleicht war ich wirklich herzlos gegenüber jenen Wesen, die ich nie wirklich gekannt hatte. Ich hatte sie ja auch nicht verstanden, die Städter, die hinter Fleurs Rücken gelästert hatten. Aber wie konnte ich ihm nur deutlich machen, dass diese Situation damit rein gar nichts zu tun hatte? Dass diese Menschen... und meine Fleur... rein gar nichts gemeinsam hatten... Warum verstand er das denn nicht? Coleman seufzte entnervt und steckte sich eine Zigarette an. Der scharfe Geruch des Tabaks verteilte sich im Korridor und überdeckte zumindest in Teilen den chemischen Gestank, den die Leichen ausstießen. „Ihr zwei bereitet mir echt Kopfschmerzen. Wie kann man sich nur in so einer Situation über derlei Banalitäten streiten? Es tut mir ja leid um jeden Toten, aber so wie es jetzt aussieht, sind Tode unvermeidlich. Und dann trifft es doch besser diejenigen, die das nicht stört. Wenn wir eines hieraus ziehen können, dann dass Véronique bei der Explosion viel mehr Glück gehabt hat als dein Vater. Das macht es nur noch verwunderlicher, dass ihr sie töten konntet.“ „... Es ist vielleicht besser, wenn man darüber nicht mehr redet...“, murmelte Tom und ging an mir vorbei, sah mich nicht einmal mehr an. Was meinte er nur damit? Vor jedem Homunkulus blieb er stehen, senkte traurig den Kopf und wenn ich seine Lippenbewegungen richtig interpretierte, dann schien er etwas in Richtung „Ruhe in Frieden“ zu sagen. In meinem Hals steckte ein gigantischer Kloß, schwer wie ein Stein, wenn ich mir diese Szene ansah und auf einmal verließ mich jeder Mut, wieder dieses Haus zu betreten. Nur langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, denn das Bild vor meinen Augen verschwamm zu einem milchigen Einerlei. Tränen? Warum weinte ich denn? Als die salzigen Tropfen zwischen meine Lippen flossen und auf meiner Zunge versiegten, spürte ich, wie mir davon übel wurde. Gesengten Hauptes schlich ich an den Leichen vorbei, folgte den beiden tiefer ins Haus, bis wir im großen Wohnraum standen. Bei meinem ersten Besuch war der Ort hell erleuchtet gewesen, dank des ausladenden, verzierten Kronleuchters. Nun lag alles in Finsternis, lediglich erleuchtet durch das Flackern unserer Laterne, die die Schatten zum Tanzen brachten und außer dem Knarzen des Bodens unter unseren Füßen, war es totenstill. Es war seltsam kalt; fast war mir, als könnte ich meinen Atem sehen. Im Kamin lagen noch einige unverbrauchte Holzscheite. Ich schnippte kurz und blies die Flamme auf meinen Fingern in den Kamin. Der zusätzliche Schein half dabei, etwas mehr zu erkennen und sorgte dafür, dass meine Gänsehaut zurückging, doch er verlängerte auch viele Schatten, verlieh ihnen lange Finger und Klauen, als säßen mit uns einige riesige, dürre Bestien im Raum, pflanzten sich auf die großen Sofas, welche noch die Spuren der Dornen von jenem Abend in sich trugen. Wenn ich nur daran dachte, dass sie mich reingelegt hatte... fest biss ich meine Zähne zusammen. Ich war blind gewesen. Mir hätte klar sein müssen, dass Fleur nicht in ernsthafter Gefahr gewesen war. Nein, ich musste aufhören, mir Vorwürfe deswegen zu machen. Immerhin konnte man die Vergangenheit nicht ändern. Und doch schmerzte es, hier zu sein. Hoffentlich fanden wir schnell, wonach auch immer wir suchten. Coleman hatte unterdessen angefangen, die unzähligen Buchrücken zu studieren und zog in regelmäßigen Abständen diverse Werke aus dem Regal und warf sie hinter sich. Tom sammelte sie auf, besah sich jeden Titel konzentriert und stapelte sie sortiert auf dem kleinen Beistelltisch. Das gelang ihm erstaunlich gut, auch wenn er nur wenig über die Thematik wusste. Ich gesellte mich zu ihm und las mit. Einige wissenschaftliche Arbeiten waren dabei, auch ein paar Enzyklopädien und Lexika, doch am häufigsten tauchten dicke Taschenbücher in rot-braunen Ledereinbänden auf. Auf jedem einzelnen prangerte eine Jahreszahl. Tagebücher? Ich hatte vieles erwartet, aber nicht, dass Véronique La Belle Tagebücher schreiben würde und das machte mich umso neugieriger. Ich nahm mir das Oberste – drei Jahre jung. Es schien ein wenig abgegriffen, aber in gutem Zustand. Was trieb einen überhaupt dazu an, Tagebücher so offensichtlich zu platzieren? Auf der anderen Seite war La Belle niemand gewesen, die oft Besuch empfangen hatte und wenn doch, dann war man... mit anderen Dingen... beschäftigt gewesen. Ich schlug das Taschenbuch etwa in der Mitte auf und seufzte: „Natürlich sind sie auf französisch.“ „Warum auch nicht? Welcher Idiot würde sich die Arbeit machen, private Gedanken in einer fremden Sprache niederzuschreiben?“ Coleman sortierte einen letzten kleinen Stapel in Thomas' Ordnung ein. Es waren um die dreißig Bücher, unmöglich die alle mitzunehmen, geschweige denn hier durchzuarbeiten. „Du hast sie so schnell rausgenommen. Hast du gewusst, was sie sind?“ „Wie gesagt, ich war schon dann und wann mal hier. Als Geschäftspartner.“ „Komplize.“ „Ach, nenn's doch wie du willst, es ändert sowieso nichts mehr. Ich wusste nicht, dass es Tagebücher sind, aber mir ist der lederne Buchrücken schon früher aufgefallen.“ „Sie hat es ziemlich unregelmäßig geführt, wenn man auf die Daten achtet. Es ist auch nur etwa die Hälfte gefüllt, die Schrift wurde immer krakeliger. Naja, so können wir herzlich wenig damit... Warte mal!“ Ich hatte unterdessen immer wieder das Buch von vorne nach hinten durchflogen, da fiel mir aus dem Augenwinkel etwas auf. Eine Zeichnung, oder Skizze? Ich suchte genauer und stieß auf eine Doppelseite voller Skizzen und Notizen. Sie zeigten menschliche Anatomie, Organe und Zeichen wie Pentagramme und alchemistische Symbole, die ich aus anderen Büchern bereits kannte. Und die Skizze selbst erinnerte mich nur allzu sehr an das aufgespießte Mädchen im Flur. Doch etwas anderes verwunderte mich noch viel mehr: Die Notizen waren komplett in englischer Sprache verfasst. „Das sieht mir nach einer Art Forschungsbericht aus? Was hat sowas in einem Tagebuch zu suchen?“ „Ruhe!“, befahl ich und begann, konzentriert dem Text zu folgen: Experiment 028: Bise Weiblich. Dünn. Jugendlich. Kaum Ähnlichkeit mit Zielobjekt. Keine erkennbaren Charakterzüge. Indifferent gegenüber Verletzung und Erniedrigung. Folgsam. Zeigt gewisses Interesse an meiner Nähe. Durchschnittliche Intelligenz. Versteht klare Anweisungen, ist jedoch mit abstrakteren Dingen überfordert. Vitalwerte normal. Durchschnittliche Lebenserwartung. Geschickt im Haushalt, ansonsten eher unbegabt. Geruchs- und Geschmacksnerven auf menschlichem Niveau. Ergebnis: Experiment gescheitert, jedoch noch von Nutzen. Werde Testsubjekt vorerst als neues Hausmädchen behalten und weitere Tests durchführen. „Das... Das ist eine Aufzeichnung über das Homunkulus-Mädchen da draußen...“ „Was? Zeig her!“ Der Kater riss mir das Tagebuch aus der Hand und überflog die Notizen. „...Experiment 028? Ach du... heißt das etwa, sie hat mindestens 28 dieser Viecher erschaffen?“ "Ich bezweifle, dass sie alle lebensfähig waren. Oder sie wurden irgendwann... 'entsorgt'." Auch Tom warf nun einen Blick auf die Doppelseite. „Bise... Was heißt das?“ „Das... könnte ihr Name sein... Ein französischer Ausdruck vielleicht?“ Kaum hatte ich den Gedanken ausgesprochen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ein französischer Ausdruck als Name? Ich drückte Tom das Buch in die Hand und machte mich daran, den Stapel zu durchforsten. Sechs, acht, zehn Jahre in der Vergangenheit. Das Leder war rau und trocken, die Seiten leicht angegilbt und rochen salzig. Meine Hände zitterten, befeuchteten das Papier mit Schweiß, während ich durch das Buch blätterte, hin und her, in der Hoffnung, die richtige Stelle zu finden. Dann hielt ich inne. Die Schrift wirkte unsicher, als hätte sie gezittert, während sie die Worte zu Papier brachte. Eperiment 013: Fleur Weiblich. Schlank. Erscheinung einer jungen Erwachsenen. Außer Haut-, Haar- und Augenfarbe nicht vom Zielobjekt zu unterscheiden. Wirkt schüchtern und verängstigt. Reagiert auf unterschiedliche Eindrücke mit passenden Emotionen. Überdurchschnittliche, gar menschliche Intelligenz. Erkennt sich selbst als eigenständiges Wesen und kann mit philosophischen Fragen genauso umgehen wie mit Logik. Scheint mir zu gehorchen, jedoch nicht aufgrund bedingungsloser Loyalität. Testsubjekt hinterfragt meine Anforderungen und kooperiert erst nach einer ausreichenden Erklärung des Vorgehens. ALS TESTSUBJEKT DAMIT NUTZLOS Vitalwerte sehr hoch. Hautzellen regenerieren sich bei kleineren Wunden spurlos in überdurchschnittlicher Geschwindigkeit. Testsubjekt kann nicht mit normalen Maßstäben untersucht werden. Größere Gewalteinwirkung nötig, um akzeptable Ergebnisse zu erhalten. Ergebnisse lassen folgende Hypothese zu: Testsubjekt könnte die normale Lebenserwartung eines Homunkulus um 10, vielleicht sogar 20 Jahre übersteigen. Alle Sinne auf normalen Niveau. Beherrscht mehrere Sprachen und scheint großes Interesse an Musik zu besitzen. Testsubjekt erkennt sich selbst nicht als Zielobjekt an, besitzt auch bei Bewusstsein keine Verbindung zu den Erinnerungen des Zielobjekts, obwohl es bekannte Charaktereigenschaften und Talente besitzt, beziehungsweise zu imitieren versucht. Je länger wir miteinander arbeiten, desto größer wächst ihr Vertrauen in meine Forschung. Im Unterbewusstsein scheint jedoch eine schwache Verbindung zu bestehen, basierend auf Aufzeichnungen während der Ruhephasen. Das Testsubjekt Experiment 013 Fleur hat in unregelmäßigen Abständen schwere Albträume, an die sie sich nach dem Erwachen jedoch nicht erinnert. Sie fängt während des Redens an zu stammeln, oftmals undefinierbar, doch ihre Reaktionen zeigen großes Leid an. Ich werde dies weiter beobachten und herausbekommen, ob ich ihr helfen kann und versuchen, die restlichen Stränge der Verbindung zu kappen. Ergebnis:Das Testsubjekt erreicht nicht die volle Erwartung und ist als Misserfolg zu definieren. Fleur ist ein Durchbruch in meiner Forschung. Sie ist dem Menschen ähnlicher, als jedes Testsubjekt vor ihr und dabei absolut lebensfähig. Auch wenn der erhoffte Erfolg noch immer ausbleibt, stellt sie einen Meilenstein dar, auf dem man aufbauen kann und ich hoffe, dass sie mich bei meiner Arbeit unterstützt. Experiment 013 entwickelte sich in die falsche Richtung und wird nicht zum erwünschten Ergebnis führen. Die Vertiefung der Forschungsarbeit ist unsinnig und das Testsubjekt sollte beseitigt werden. Ganz gleich, wie Experiment 013 definiert wird, Fleur ist zu menschlich und sie erinnert mich zu sehr an meine Schwester. Sie zu beseitigen ist mit Mord gleichzusetzen. Das Ergebnis darf nicht verfälscht werden. Menschliche Schwäche würde mich von meinem Ziel abbringen. Ich muss Ich darf nicht Ich muss sie Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich will nicht. Die letzten Worte verloren sich in einem Geäst aus verlaufener Tinte, überschrieben die Skizzen, sodass man sie darunter kaum erkennen konnte. Es klang, als hätte sie mit sich selbst darum kämpfen müssen, was mit Fleur passiert wäre. „Das erklärt, wie es zu diesem Massaker da draußen kommen konnte...“ Toms Stimme klang heiser, als wagte er kaum zu flüstern. Ich schüttelte den Kopf. „Nein... Das erklärt gar nichts. Zwischen diesem Eintrag und heute liegen zehn Jahre. Es klingt fast, als hätte in diesem Zeitraum die Véronique, welche Fleur beschützen wollte, irgendwann aufgehört zu existieren.“ „Sie redet von ihrer Schwester... Weißt du etwas darüber?“ „Mehr als ich will, Coleman. Magie ist mächtig, aber selbst für Magie ist etwas so Endgültiges wie der Tod unumkehrbar.“ „Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass sie in den Jahren etwas dazugelernt hat.“ „Vielleicht wollte sie aber auch nie eine zweite Fleur erschaffen...“ Als die Worte in meinem Kopf herumgeisterten, wurde ich nachdenklich. Sollte sie wirklich kein Interesse daran gehabt haben, wofür brauchte sie dann meine Hilfe? Schnell griff ich wieder das letzte Tagebuch und schlug es hinten auf, suchte nach Worten, Begriffen, die ich vielleicht auch so verstehen könnte. Tatsächlich machte sich ein Wort ganz besonders oft in den hinteren Einträgen bemerkbar: L'anomalie. Das konnte kein Zufall sein. Leider verstand ich sonst kein Wort, aber es musste etwas damit zu tun haben und es würde erklären, warum sie auf Jacks Hilfe pochte. Dachte sie vielleicht...? Ich schreckte hoch, sah mich um. Hatte ich etwas gehört? Das Fenster! ...Nichts. Es klang wie... Schritte? Nein, Coleman hätte sie schon längst gehört. Dennoch... ich hielt den Atem an und lauschte. Das Knistern des Feuers und das gelegentliche Umblättern der Seiten dominierten die Geräuschkulisse. Außer ihnen hörte ich lediglich meinen eigenen, zittrigen Atem. Mir wurde flau im Magen. Das konnte ich mir nicht eingebildet haben, aber... Die anderen beiden, waren weiterhin in die Lektüren vertieft, schlugen Bücher auf und wieder zu... wonach genau suchten wir eigentlich nochmal? Dieser verdammte Eintrag... Ich ließ mich auf dem Sofa nieder und legte meinen Kopf in meine Hände. „Hey!“, Thomas sah auf und schaute uns fragend an. „Habt ihr was gehört?“ „Was?“ „Ich... Ich meinte, ich hätte ein Geräusch gehört... Schritte... Vielleicht.“ „Ja! Ja, ich auch!“ Der Kater hingegen ignorierte unseren Aufruhr, blieb weiter in den Büchern vertieft. „Mister Coleman, Sie müssen doch auch was vernommen haben, oder nicht?“ „Etwas... vernommen? Nein, ich glaube nicht, Kleiner. Macht euch keine Sorgen, das sind die Bilder der letzten Stunde, die machen einen fertig...“ „Und dich nicht?“ „Doch, ob du's glaubst oder nicht, Alice, aber an mir geht der scheiß Flur auch nicht spurlos vorbei!“, antwortete er gereizt. Was war denn mit dem Kater auf einmal nur los? „Aber anders als ihr, habe ich schon ein paar Jahre länger in diesem Drecksloch verbracht... Irgendwann stumpft man ab...“ „Aber es können sich doch nicht zwei Menschen zeitgleich Schritte eingebildet haben. Jetzt lausch doch mal!“ Er atmete tief ein und aus, schloss seine leuchtenden, gelben Augen und spitzte die Ohren. Ich tat es ihm nach... doch es kam einfach kein neues Geräusch auf. „Ja... tut mir leid, ich hör noch immer nichts. Ist bestimmt nur eure Einbildung.“ „Willst du uns sagen, dass wir verrückt werden?!“ „Ich habe überhaupt nichts in dieser Richtung behauptet! Ganz ehrlich, Leute, sucht die passenden Bücher zusammen und wir sind schnell genug wieder aus diesem Spukschloss raus!“ „W-warum nehmen wir nicht einfach alle mit?“, schlug Thomas vor und ich merkte, dass auch ihm die Situation nicht geheuer war. „Kleiner, wie willst du diese Stapel unbemerkt durch die Stadt schleifen?! Haben wir Rucksäcke dabei? Nein! Also bleiben sowieso nur eine handvoll Bücher zur Auswahl.“ „W-Wir könnten doch im Haus nach Taschen suchen.“ „Oh ja, bitte, wenn dir sonst nichts besseres einfällt...“ Mit jeder Sekunde wurde unser samtpfotiger Begleiter aggressiver, wandte sich mehr von uns ab. Das gefiel mir nicht. „...Alice, was wird das, wenn es fertig ist?“ Unbeeindruckt sah mich Coleman an, blickte nicht einmal in die aufkommende tiefblaue Flamme, die mittlerweile meine ganze Hand umschloss und mit der ich wie eine Pistole auf ihn zielte. Diese Coolness... nur gespielt. In Wahrheit war er nervös. Ich sah es in seinen Augen. Das war nicht der gleiche Coleman, der mich durch den Spiegel gezwängt und mir etwas von Freundschaft eingeredet hatte. Tom schaute mich mit großen, angsterfüllten Augen an, wie damals, als Dean ermordet wurde. Nun war es an mir, ihm ein Alles-wird-gut-Lächeln zu schenken. „Vielleicht irre ich mich... Aber warum willst du uns so dringend davon abhalten, von hier zu verschwinden?“ „Ich... Das ist lächerlich, ich halte niemanden davon ab, wenn du gehen willst, dann geh. Ich dachte nur, du willst der Stadt helfen.“ „Und ich dachte für einen Moment, das würdest du auch wollen, aber dann ist mir was eingefallen, was ich über dein süßes, befelltes Gesicht schon ganz vergessen hatte: Du bist ein Gauner. Und du leidest mehr unter diesem Fluch, als du es andere wissen lassen möchtest, stimmt's?“ Coleman verzog keine Miene, doch er konnte nicht verbergen, wie er versuchte den Brocken in seinem Hals zu schlucken, oder wie seine Ohren sich langsam anlegten und die Augen schmaler wurden. Aber dann... formte sein Maul ein missmutiges Lächeln und er ließ das Buch in seiner Hand sinken. „... Hast du ernsthaft geglaubt, ich wäre von mir aus lebend aus der Salem-Villa gekommen? Mit der Schusswunde?“ „Sie haben dir ein Angebot gemacht?“ „Deinen Kopf gegen meinen. Nimm's mir nicht übel, ich mochte dich wirklich, aber mit einer Schrotflinte vor der Nase ist man erstaunlich kooperativ.“ „Du... hast uns verraten!?“ Meine Zähne mussten bald brechen, so fest, wie ich sie aneinander presste. Immer lauter wurde mein Atem und ich spürte, wie mein Medaillon zu glühen anfing. „Wir hatten von Anfang an keine Chance, Alice! Nicht gegen diese Leute! Bitte mach keine Dummheiten, dann kommt wenigstens Thomas lebend aus dieser verfluchten Stadt!“ „Jetzt tu doch nicht so, als würdest du dich ernsthaft für uns interessieren!“ „Ja, jeder ist sich selbst der Nächste, aber glaub mir, ich wollte nicht, dass es so weit kommt!“ „Lügner... Lügner, Lügner, Lügner! Alles Lügner, jeder einzelne von euch! Wann hört ihr endlich damit auf?!“ Da war es wieder... Dieses Gefühl... Dieser Blutdurst, der Wille, den Mistkerl bezahlen zu lassen, der mein Leben in eine Hölle verwandeln wollte. Brennen sollte diese kleine Ratte, sich winden in den Flammen... Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach mich und kaum eine Sekunde später traf mich etwas an der Schulter. Das Feuer in mir erlosch, es wurde schwarz und zurück blieb ein durchdringender, pulsierender Schmerz, der meinen Oberarm durchzog und mir den Atem raubte. Schreiend hielt ich mir die Quelle meines Schmerzes, spürte wie warmes Blut herausquoll. Ich wurde angeschossen. Und als ich wieder zu Coleman sah, erkannte ich eine kleinen Revolver in seiner Pfote. „Sorry, Alice... Aber wenn du mich jetzt umbringst, dann war mein Verrat völlig umsonst...“ Mehrere Männer stürmten den Raum, umringten uns. Tom wurde sofort bedroht und angeschrien, er sollte sich auf den Boden knien. Als ich mich aufrichtete, rammte mir jemand einen Kolben gegen meinen Hinterkopf, packte mich am Kragen und zerrte mich zu sich. Ich sah die Waffe nicht, aber mir war klar, dass auch auf mich eine gerichtet war. „Meine Herren, reizen Sie Alice nicht zu sehr. Sie ist jung, aber auch junge Magier sind unberechenbar. Und dieses Exemplar hat bereits mehr als genug Leute auf dem Gewissen.“ Floyd... Natürlich war es Floyd, dieser Drecksack. Mit seinen Lederhandschuhen fuhr er sich über seinen grauen Schnauzer und kaute auf seiner Pfeife herum. Verdammtes, siegessicheres Grinsen. Wie lange hatten diese beiden das schon geplant? Der Polizeichef kniete sich zu mir, hob grob mein Gesicht, sodass ich ihm in seine Augen sehen musste. „So ein hübsches Ding... fast so schön wie deine Mutter. Eigentlich wäre es eine Verschwendung, dich direkt dem Meister zu überlassen.“ Ich sammelte den verbleibenden Speichel in meinem Mund und spukte ihm ins Gesicht. Er sollte es nur wagen, mich anzufassen, aber meine Aktion entlockte ihm nur abfälliges Gelächter. Er stand wieder auf und wischte sich die Spucke aus seinem Gesicht. „Ich muss zugeben, ich hatte nicht erwartet, dass Sie Ihr Wort halten, Katze.“ „Tja... jetzt beweisen Sie, dass Sie Ihres halten können, Bulle.“ „Nicht so eilig. Ein Versprechen kann jeder Vollpfosten halten, aber Loyalität...“ „Interessiert mich einen Scheiß, die Geschäftsbedingungen waren eindeut -“ Ein Warnschuss aus dem Revolver des Comissioners unterbrach den Kater, der darauf wie angewurzelt stehen blieb. „Einem Kriminellen sollte man niemals vertrauen, solange er sich nicht bewiesen hat. Ich kann nicht garantieren, dass sie uns nicht hintergehen.“ „Oh bitte, was hätte ich denn davon?“ „Erzählen Sie es mir. Aber ich kenne eine Lösung. Wissen Sie, als Polizisten sind uns bei gewissen Dingen die Hände gebunden. Zum Beispiel, wie mit Zivilisten verfahren wird, die die Staatsgewalt behindern...“ „Kommen Sie zu Punkt.“ Ein zweiter Warnschuss. „Nicht... Unterbrechen! Aber gut, wenn Sie es schnell haben wollen...“ Der Comissioner ging zu Thomas, packte ihn an den Haaren und zerrte ihn vor Coleman. Nein... „Erschießen Sie ihn.“ „W-Wie bitte?“ „Nuschel ich etwa? Erschießen Sie den Bastard vor ihren Füßen. War das jetzt deutlich genug?“ „I-ich kann doch nicht...“ „Shirley!“ Floyd winkte den Wachmmann zu sich, der gerade noch hinter Thomas stand. „Wenn der Flofänger sich weigert, dann töten sie ihn und danach den Jungen.“ Thomas hatte die Augen fest geschlossen. Sein Atem bebte und seine Stirn war schweißnass. Nein... Nein, nein, nein... So wird diese Geschichte nicht enden... Mein Atem wurde ruhiger, kontrollierter. Ich konzentrierte mich auf diw Magieströme in mir und um mir herum. Langsamer, immer langsamer bewegten sie sich, wurden von einem strömenden Fluss zu einer zähen Masse. „Also... Ich soll das Arschloch vor mir erschießen? Mit dem größten Vergnügen...“ Ich riss die Augen auf. In Zeitlupe hob Coleman seine Pfote und zielte... nicht auf Tom, sondern auf den Comissioner. In Zeitlupe? Die Zeit... verging tatsächlich langsamer, doch nicht für mich. Diese Situation... hatte ich schon ein paar mal erlebt, doch zum ersten Mal hatte ich einen Zeitsprung bewusst ausgelöst. Niemals hätte der Wärter so schnell reagieren können, wie ich aufgesprungen war und ihm die Schrotflinte abgenommen hatte, selbst mit nur einem Arm. Mein Blut kochte wieder... War ich etwa doch ein Monster? Gefiel es mir gerade wirklich, diese Menschen zu töten? Und wenn schon. Sie hätten doch mit uns auch nicht besser verfahren. All das ging mir durch den Kopf, während ich die Waffe anhob und abdrückte. Blitzartig riss mich der Rückstoß zurück, presste alle Luft aus mir, zerriss die Wunde an meinem Oberarm. Hunderte Kugeln flogen mir um die Ohren, erfüllten die Luft mit dem Geruch von Schießpulver. Der Zeitsprung war bereits wieder vorbei. Ich wirbelte herum, legte die Schrotflinte an und drückte ein zweites Mal ab. In einer roten Wolke wurde auch der zweite Wachmann vom Schrot erfasst, bevor er die Situation verstehen konnte und stürzte mit einem erstickten Schrei nach hinten. Dieses Mal warf mich der Rückstoß zu Boden, ich prallte mit dem Kopf auf. Mein Schädel dröhnte und in meinen Ohren klingelten die unzähligen Schüsse. Mir war speiübel, doch das Adrenalin in meinem Körper hielt den Würgereiz zurück und den Schmerz in einem erträglichen Maße. Unsicher rappelte ich mich auf, wollte gerade zu Tom sehen, doch ein plötzlicher Stoß gegen meine Rippen warf mich wieder zu Boden. Stoßhaft flog alle Luft aus mir, als ich wieder auf das Parkett knallte. Ich hustete. Eine Hand packte mich am Schopf, drehte mich um. Die Fratze des Comissioners war zu einem gequälten Grinsen verzogen und schweißgebadet. Blut floss aus seiner rechten Schulter, während er mit einer Hand meinen Hals zudrückte und mit der anderen zittrig seinen Revolverlauf gegen meine Stirn presste. In seinen Augen spiegelte sich ein durchgedrehtes Leuchten. Ich ächzte, kämpfte, rang nach Luft, die nur in winzigen Zügen sich in meine Lungen füllte. „Nur ein jämmerlicher Schultertreffer! Dafür verschwendet er seine einzige Chance...“, murmelte Floyd und kicherte grimmig. „Du miese Schlampe hast meine Jungs gekillt. Scheiß auf Mycraft, soll er deine Seele aus der Hölle holen. Aber den Ärger wirst du in deinen letzten Sekunden mit Spaß wettmachen.“ Meine Lungen brannten wie Feuer. Wenn ich länger so wenig Luft bekam, würde ich in Ohnmacht fallen. Warum nur... Warum konnte ich keine Magie wirken? Panisch griff ich nach oben, schlug nach seinem Gesicht, konnte aber einfach keine Kraft aufwenden. Floyd zerrte an meiner Hose, versuchte sie runterzureißen. Windend und tretend kämpfte ich dagegen an, versuchte aus seinem Griff zu entkommen. Ich spürte seinen erregten, nach Tabak stinkenden Atem in meinem Gesicht, während mein Augenlicht immer schwächer wurde und mich meine Kraft in meinen Armen verließ. Langsam... wurde ich schwach... und müde... nein... so wollte ich nicht sterben... Eine ganze Reihe von Schüssen löste sich. Die Hand um meinen Hals zuckte, wurde schwächer, ließ los und der riesige Körper über mir fiel zur Seite. Meine Lungen füllten sich so rasant mit Luft, dass ich mich daran verschluckte. Mir war schlecht und schwindelig, aber ich lebte noch. „Alice!“ Tom lehnte sich über mich, half mir, aufzustehen. „Alice, bist du okay?!“ Ich konnte noch nicht reden, schaffte es aber zu nicken. Tom drückte mich an sich. Sein Körper bebte und ich hörte das Schluchzen in meinen Ohren. „So ein Glück, so ein Glück. Bitte... Bitte verzeih mir, dass ich nicht schneller reagiert hatte. Es ging alles so plötzlich und ich war einfach wie erstarrt und...“ „Tom... es... ist alles okay... dank dir... aber es war verdammt knapp...“ Langsam beruhigte sich meine Atmung wieder und ich realisierte, wie viel Glück wir gerade hatten. Aber wir lebten noch, alles andere war Nebensache. „Was... Was ist mit Coleman?“ Tom löste sich von mir und machte die Sicht zum Kater frei. Oder was von ihm noch übrig war. Vor mir lag ein durchlöcherter Haufen Fell, aus dessen leuchtendem Paar Augen langsam das Leben entwich. Aber nicht, solange ich noch nicht ihm das Fell über die Ohren gezogen habe. Langsam rappelte ich mich auf und taumelte auf den Kater zu. Ich zählte mindestens fünf Einschusslöcher und auch aus seinem Maul tropfte das Blut. „Freut mich, dass ihr überlebt habt“, ächzte er und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Wer's glaubt.“ „Ich zwing dich nicht dazu, aber es ist... wahr. Das hier... ist nur gerecht... Eigentlich... habe ich nie wirklich daran geglaubt, dass ich diesen Verrat überleben würde.“ „Beantworte mir nur eins: Warum hast du uns erst hierher geführt? Warum hast du uns nicht schon bei unserer Ankunft verpfiffen?“ Mit zittriger Pfote griff der Kater unter seine Weste und holte ein kleines, pechschwarzes Buch heraus, das er mir entgegenhielt. Vorsichtig nahm ich es an mich. Der Einband war verziert mit Säulen und Knoten und im Inneren fanden sich unzählige Zauber, Forschungsergebnisse, Rezepte und mehr. „Ist... das das Buch, das du Mycraft damals gestohlen hattest?“ „Sein Grimoire... Das hatte... La Belle... die ganze Zeit... Ich wollte es als... Druckmittel gegen Mycraft, aber... dafür... ist es zu spät... vielleicht... hilft es euch ja... weiter... Und noch etwas... Alice... Thomas... es tut mir... unendlich... leid...“ Mit diesen Worten entschlief der beschuhte Kater. Seine Glieder erschlafften und sein Kopf fiel zur Seite. Ich weiß, ich sollte ihn abgrundtief hassen, verachten, aber... es brachte ja doch nichts, Groll gegen die Toten zu hegen. Und wenn ich ehrlich darüber nachdachte, konnte ich ihn auch verstehen. In dieser Stadt trug jeder sein eigenes Päckchen und nur wenige konnten sich auf die Hilfe Fremder verlassen. Umso wertvoller war es, wenn man einen wahren Freund besaß. Kapitel 25: Aus dem Nichts -------------------------- „Kind... liebliches Kind mit uraltem Blut...“ „Kann sie es sein? Sie ist noch so schwach!“ „Schwach ja, doch das Gründerblut fließt von zwei Seiten. Die erste Begegnung hat sie gestählt...“ „Sie war nicht allein! Fremde Geister befreiten sie!“ „Mächtige Geister...“ „Mächtiger... als wir?“ „Nicht mächtiger... aber freier. Deswegen brauchen wir sie...“ „Wir brauchen keine Sterblichen! Sie haben den Kontrakt nie geschätzt!“ „Aber die Schatten sind auch für uns eine Bedrohung. Magie... Wilde, ungezügelte Magie...“ „Ist es nicht schon zu spät?“ „Vielleicht... aber deswegen bleiben wir nicht allein...“ Ein unerträglicher Schmerz schoss aus meinem verwundeten Oberarm und drang in jede Pore meines Körpers, als ich versuchte, den Sturz mit beiden Händen abzufangen. Ich schrie auf, rollte mich auf den Rücken und kämpfte mit meiner Atmung. Mein Brustkorb hob und senkte sich im Sekundentakt, Tränen liefen aus meinen Augen und aus Verzweiflung fing ich an, meinen Kopf auf den matschigen Waldboden zu schlagen, um mit einem neuen Schmerz von dem ersten abzulenken. Fest biss ich mir auf die Zähne und stöhnte auf, wann immer ein neuer dröhnender Impuls durch meinen Körper fuhr. Wie war ich überhaupt gefallen? Es ging so schnell, dass die Bilder kurz zuvor kaum zu erkennen waren. War ich gestolpert? Ja, aber ich hatte doch auf den Weg vor mir geachtet. Ich war... abgelenkt worden... Durch ein Geräusch... Waren es... Stimmen? „Alice!“ Tom war voraus gelaufen, hatte aber sofort kehrt gemacht und war zu mir geeilt, als er meinen Schrei vernommen hatte. Sanft legte er seinen Arm um meinen Rücken – achtete dabei darauf, die Schussverletzung nicht zu berühren – und wischte mir den Dreck aus dem Gesicht. „Ganz ruhig. Beruhig dich, atme nicht zu schnell. Gaaanz langsam... So ist's gut.“ Allmählich beruhigte sich mein Atem wieder und der Schmerz zog sich wieder bis zur Wunde zurück. Ich setzte mich aufrecht und versuchte, wieder aufzustehen. „Hey, warte doch noch! Es bringt nichts, wenn wir uns beeilen und du am Ende dann nicht mehr stehen kannst.“ „Es bringt auch nichts, wenn ich lebend ankomme, aber niemand mehr da ist, den wir warnen könnten... Ich hab das Gefühl, als würde etwas Schlimmes passieren, wenn wir uns nicht beeilen. Wir müssen weiter.“ „Alice, warte, ich...“ Ich drehte mich um, sah wie Tom noch immer auf dem Boden kniete und meinen Blick auswich. Seine Schultern bebten. „Ich... Ich muss dich einfach fragen. In dem Chaos hatte ich es erst nicht bemerkt, aber... als... als du auf dem Boden lagst... hat... hat dann der Comissioner...“ „Es ist alles okay, Thomas“, gab ich tonlos zurück. Ich konnte mir das Ende denken. „I-ich weiß, es ist nicht die richtige Zeit, aber...“ „Tom! Er wollte, ja. Aber er hat nicht. Mach dir bitte keine Sorgen.“ „...Okay.“ Es war kaum verwunderlich, dass Tom sich sehr wohl Sorgen machte, auch wenn er sich meiner Bitte fügte. Wie sollte er sich auch keine Sorgen machen, wenn wir gerade eben nur knapp mit dem Leben davongekommen und nun wahrscheinlich auf dem direkten Wege vom Regen in die Traufe waren? Noch dazu waren wir nicht einmal am Stadtrand angekommen und der Weg von dort bis zur Praxis war äußerst gefährlich. Aber ich konnte jetzt keine Rücksicht auf seine oder meine Sicherheit nehmen. Es gab zwar eine faire Chance, dass Coleman nicht das Versteck verraten hatte, denn bisher hatten sie uns noch nicht überfallen, aber das bedeutete nicht unbedingt etwas. Wenn Mycraft noch lebte und 17 Jahre lang – worauf auch immer – gewartet hatte, was bedeuteten dann schon ein paar Tage? Wir hatten nur einen kleinen Vorteil: Niemand außer uns wusste, was in Véroniques Haus passiert war. Zumindest hoffte ich das. Schneller schritt ich voran, ignorierte das Schwindelgefühl und den pulsierenden Schmerz, ignorierte, wie meine Sicht und mein Gehör immer dumpfer wurden und ich fast nur noch meinen Herzschlag vernehmen konnte. Ich hatte nicht so viel Blut verloren – auch wenn es noch immer als dünner Rinnsal aus dem Einschussloch floss – und bezweifelte dementsprechend, dass mein Schwindelgefühl damit zu tun hatte. Aber jetzt, da mein Adrenalinpegel abflachte, merkte ich, wie sehr mich der Zeitsprung geschwächt hatte. Ich fühlte mich wie gerädert und ausgehungert und noch dazu todmüde. Immerhin... Ich hatte nicht einmal erwartet, dass er funktionieren würde. Tom hielt mich an der Hand, achtete nach meinem Sturz darauf, wo ich hintrat, fuhr mir immer wieder mit der Hand über Stirn und Wangen, um zu prüfen, dass ich kein Wundfieber bekam, während er mich dazu ermahnte, langsamer zu machen. Ich konnte nicht. Ich wollte nicht. Ich durfte nicht. Ich musste zu Vater... und den anderen, sie warnen... und mich verarzten lassen. Weiter... immer weiter... Ganz gleich... wie lange es dauern sollte... Bitte... Mir wurde schwarz vor Augen. „Hey, Alice!“ Ein Ruck ging durch meinen Körper, stütze mich, damit ich auf den Beinen blieb. „Bleib wach, okay? Kannst du mich noch hören?!“ Ich presste einen schwachen Laut der Bestätigung aus und zwang meine Lider dazu, sich wieder zu öffnen. Es drehte sich alles. Vor mir erkannte ich verschwommene Konturen gerader Figuren, die so nicht natürlich gewachsen sein konnten. Wo waren wir? Taleswood? War das die Stadtgrenze? Wie viel Zeit war vergangen? Wieder wurde mir schwarz vor den Augen. „Alice? Alice! Du musst wach bleiben! Bitte... bitte bleib...“ „Seht ihr? Ausgebrannt, erschöpft, nutzlos. Sie wird uns nicht helfen können!“ „Ihr Geist hat physische Grenzen überschritten. Natürlich quält das ihren Körper. Was versteht unsereiner von den Gebrechen Sterblicher?“ „Doch wir brauchen auch eine Form. Sie braucht eine Form.“ „Nicht zwangsläufig... Es käme darauf an, was wir ihr anbieten.“ „Sollen wir ihr helfen?“ „Nur auf ihre Bitte...“ „Aber ist sie sich unserer überhaupt bewusst?“ „Wahrscheinlich... Sie ist sich nur noch nicht bewusst, dass sie sich dessen bewusst ist.“ „Wir warten noch ein wenig...“ Es war ein eiskalter Schlag ins Gesicht, der mich aus meinem Schlaf riss. Wasser lief in meine Augen und Nase; es fühlte sich an, als wäre ich in einen tiefen See gefallen, aus dem ich nun wieder auftauchte. Die bleierne, zerfressende Schwere auf meinem Körper wurde weggespült, machte ihn von einem auf den anderen Moment so leicht, als würde ich vom Boden abheben. Mein Kopf dröhnte ob des schnellen Aufrichtens, vor meinen Augen fingen die Konturen an zu flimmern und meine Wangen glühten, als hätte ich heiße Kohlen in ihnen. Stimmen... Da waren doch Stimmen gewesen, irgendwo tief in der Leere versteckt. Sie hatten über jemanden gesprochen... Vielleicht auch über etwas... Oder war das nur ein verzerrter Traum? „Verdammt... du bekommst Wundfieber!“ Thomas' kühle Hand presste sich gegen meine Stirn und Wangen. Seltsam... mir war warm, aber ich fühlte mich gar nicht fiebrig. Stattdessen spürte ich, wie meine Aura heranwuchs und in meinen Adern neue Kraft pulsierte. Es war kein kränkliches Glühen, sondern ein lebhaftes. Ich atmete tief ein und wartete, bis sich mein Puls beruhigte. Unsicher ließ Tom mein Gesicht los. „Es... es ist es weg? Bist du okay?“ „Ich glaube schon... Wo sind wir?“ „Am Stadtrand. Hier an diesem Fluss, den wir auf dem Hinweg überquert hatten.“ Der Madcap River? „Warte mal... Hast du Wasser aus dem Fluss benutzt, um mich zu wecken?“ „Hätte ich das... etwa nicht tun dürfen?“ Schnell schnipste ich meine Finger aneinander. Tatsächlich; eine kleine Flamme entzündete sich, tanzte lebhaft auf meinem Finger herum, wirkte kein bisschen müde oder erschöpft. Ich konzentrierte mich noch deutlicher auf das flackernde Licht, verfolgte jede Bewegung ruhig und geduldig... Nein, keine Chance, noch einmal die Zeit zu verlangsamen. Wenn ich versuchte die Schwingungen um mich zu manipulieren, gaben sie mir als Antwort nur ein tiefes, durchdringendes Wummern zurück, das einen unangenehmen Druck auf meine Ohren ausübte. Immerhin waren meine Kräfte nicht schon wieder komplett ausgebrannt, wie nach der Sache mit dem Portalspiegel... „Zu schwach...“ „Aber eindeutig der Verbindung fähig.“ „Das reicht aber nicht, um diese Welt zu retten.“ „Zumindest nicht die Gegenwärtige.“ „Wie sind die Erfolgschancen?“ „Klein, aber groß genug, es zu versuchen. Betrachte man die Stärke des alten Schattens bleibt uns kaum eine andere Wahl.“ „Oder wir überlassen die Sterblichen einfach ihrem Schicksal.“ „Negativ. Die Folgen sind nicht erfassbar.“ „Am Ende... Ist es auch unsere Verantwortung...“ „Dann bleibt noch immer die letzte Frage: Wie erreichen wir sie?“ „...Ich kann euch dabei helfen...“ Ich schrak hoch und sah mich wieder um. Da waren sie wieder gewesen, diese Stimmen... Sie sprachen in einem seltsamen Sing-Sang, mal höher, mal tiefer, zischten und grunzten, diskutierten angeregt, oder stritten sich gar. Ich konnte sie weder zählen, noch erkennen, aus welcher Richtung sie kamen. Sie schienen um mich herum zu schwimmen und zeitgleich direkt aus meinem Kopf zu kommen. Doch unter all denen, war es die letzte, die einen seltsam vertrauten Klang besaß, trotz dessen, wie schwach und verzerrt sie war. Melancholisch, gar sehnsüchtig, schwang sie in meinen Ohren nach und packte mich mit eisigen Fingern, dass es mir das Rückgrat hinunterlief. „Hast du was gehört?“, fragte Tom unsicher. „Nein... war wohl nur Einbildung.“ Versuchte ich etwa ihn zu beruhigen oder nur mich? Wurde ich etwa gerade verrückt? Oder war es etwa doch das Wasser des Madcap Rivers? Meine Knie zitterten und konnten kaum der Belastung standhalten, als ich aufstand. Tom stütze mich, nahm fast mein gesamtes Gewicht auf sich, obwohl ich an seiner schweren, ächzenden Atmung ganz genau hören konnte, dass auch seine Kräfte sich dem Ende neigten. Wunderte mich das? Wie oft war er in den letzten Stunden und Tagen in Lebensgefahr geraten, nur weil er sich auf mich eingelassen hatte? „Bitte achte auch auf dich...“, murmelte ich ihm zu. „Mach dir keine Sorgen... Ich bleibe bei dir.“ „...Du wärst vorhin gestorben, wenn Coleman den Befehl tatsächlich ausgeführt hätte... Niemals wäre ich schnell genug gewesen, ihn aufzuhalten...“ „Es ging alles so schnell, ich weiß nicht wirklich, was dort passiert ist... Aber es ist doch gut gegangen, oder etwa nicht?“ „Das ist nicht mein Verdienst. Wir hatten unverschämtes Glück. Und so sehr ich mir auch vorgenommen habe, dafür zu sorgen, dass dir nichts passieren wird, aber... Bitte versprich mir, dass du dich nicht für mich in Lebensgefahr bringst.“ Thomas hielt inne. Wir starrten auf die flackernden Gaslaternen, deren Lichtkegel in regelmäßigen Abständen die erdrückende Finsternis um uns zurückdrengten. Die Stadt war noch immer von ihrer gespenstischen Stille umgeben, mehr noch als auf unserem Hinweg. Auch von den gelegentlichen Patrouillen fehlte jede Spur. Hatte der Polizist mich in der Gasse vielleicht doch gesehen? Und nur deswegen nichts gesagt, weil er Bescheid wusste? Aber warum hätte Coleman uns dann verbergen müssen? Es war viel wahrscheinlicher, dass nur die Polizisten von Floyd eingeweiht wurden, denen er am meisten vertraute – eben jene, welche nun mit ihrem Boss in La Belles Haus verrotten würden. Aber das bedeutete nicht, dass wir uns nun zurücklehnen konnten. Und die Stimmen aus dem Off waren nicht minder beunruhigend. All das sagte jemand, der in dieser Welt zumindest halbwegs wehrhaft war. Wie es meinem Freund neben mir dabei erging, konnte ich nur erahnen. Mal wieder war er in Gefahr geraten, weil ich ihn nicht beschützen konnte. Ich wollte ihn einfach nicht auch noch verlieren. So egoistisch dieser Wunsch auch war. Tom spürte das, er wusste genau, was ich mit meiner Bitte sagen wollte und ich wusste, dass er sich nicht einsperren lassen würde. Nicht für seine Sicherheit und erst recht nicht für mein Seelenheil. „Du kannst nicht von mir verlangen, mich nicht um dich zu kümmern...“ „Nach all dem?“ „...Es ist nicht so einfach. Nenn' mich einen naiven, liebesblinden Idioten, aber... du verstehst, was ich sagen will...“ Aus meinem Hals drang nicht mehr als ein ersticktes Fiepen, als ich das hörte. Hitze stieg wie Feuer in mein Gesicht und zog das aufgeregte Pochen meines Herzens mit sich. Er war wirklich ein Idiot. Ein naiver, liebesblinder Idiot. Und doch war ich irgendwie froh, auch wenn es mich verwirrte. Und mir zugleich unfassbare Angst machte. Angst vor dieser schmerzenden Leere, die einen packt, mit sich reißt und ganz und gar vereinnahmt, wenn einen jene Gewissheit trifft, so hart, dass man es erst gar nicht begreifen kann. Ich schüttelte die Gedanken von mir und versuchte mein Herz zu beruhigen, bevor ich ihm antwortete: „Ich will dich nicht begraben müssen.“ „Wirst du nicht.“ „Versprich es mir. Ich... Ich halte es nicht aus, noch einen geliebten Menschen sterben zu sehen...“ Wieder schwieg Tom. Dann und wann setzte er zu einem Satz an, doch gab es bereits auf, bevor der erste Ton seinen Lippen entweichen konnte. Ich wünschte mir zu sehr, seine Gedanken zu verstehen. Zu erfahren, was in diesem Moment in seinem Kopf vorging. War es Furcht? Verwirrung? Oder war er vielleicht viel gefasster, als ich es je sein könnte? Langsam schlichen wir durch die düsteren Straßen, die Ohren gespitzt nach verdächtigen Fußschritten suchend. Doch uns empfing eine fast schon unnatürliche und zu einem gewissen Grad auch bedrückende Stille, die sich von unseren Füßen an uns hochzog und wie ein lästiger Alp auf unsere Schultern setzte. Aber selbst das war mir lieber, als diese Stimmen. Was wollten sie mir nur sagen? Wenn sie denn mit mir gesprochen hatten... Ich schloss die Augen, versuchte mich daran zu erinnern, ob ich aus den Wortfetzen nicht doch etwas vernünftiges vernommen hatte. Doch da war nichts. Es war, als habe jemand jedes klare Wort direkt wieder aus meinem Kopf gebannt, direkt nachdem ich es vernommen hatte. Ich wollte schon aufgeben, da pfiff der Wind um meine Ohren, sang mir ein Lied und säuselte mir etwas in einem vertrauten Klang zu. „...Alice... Alice...“ „...“ „Sie vernimmt auch nicht deine Stimme.“ „Sie wird. Ich spüre es genau.“ „Du weißt, welche Konsequenzen auf sie zukommen?“ „...Ich weiß...“ „Es hat keinen Zweck. Lasst den Flecken untergehen.“ „Gebt ihr eine Chance! Sie wird zustimmen!“ „Wir dürfen sie nicht belügen.“ „Sie wird zustimmen.“ „Bisher kann sie uns nicht einmal hören.“ Ich vernahm es. Ganz deutlich. Eine der Stimmen... sagte meinen Namen? Wenn ich auch sonst kaum etwas verstand und die Erinnerung an das Gehörte sofort wieder in einer milchigen Masse verschwand, die Erinnerung an meinen Namen, war so klar und deutlich, dass es keine Einbildung sein konnte! Und die Stimme, die ihn ausgesprochen hatte... „Sie hört mich! Seht ihr? Sie hört mich!“ „Erstaunlich...“ „Ich bin noch immer nicht überzeugt.“ „Was lässt dich glauben, dass sie uns helfen wird?“ „Sie wird!“ Woher kam sie nur? Ich drehte mich in jede Richtung, doch egal wohin ich hörte, die klare Stimme war zu gleichen Teilen nah und fern, unmöglich ihr näher zu kommen. Aber je häufiger sie sprach, desto größer wurde die Gewissheit, dass sie es wirklich war... „Alice... kannst du mich hören?“ „Ja! Ich höre dich! Wo bist du?!“ Die Straßen, wurden zu Tunneln, an deren Ende man kein Licht fand und wann immer ich mich umdrehte verzweigten sie sich in ein tiefes, undurchdringliches Netz, aus dem es kein Entrinnen gab. „Bist du es?! Bist du es wirklich?! Oder werde ich verrückt?! „Du bist nicht verrückt. Ich...“ „Wo bist du?!“ Ich fühlte mich verloren, in einem Meer aus alles verschlingender Finsternis. Mein Herz verengte sich zu einem winzigen Punkt, kaum größer als der Kopf einer Stecknadel und machte jeden Atemzug zu einem schmerzerfüllten Kraftakt. Tränen schossen mir in die Augen, flossen in Bächen über meine Wangen, den Hals hinunter und vereinten sich bei meinem Schlüsselbein, befeuchteten meine verdreckte Bluse. Ich hatte keine Kraft mehr zu laufen, verlor mich in diesem Niemandsland und sackte zusammen. Nichts, aber auch wirklich gar nichts spielte in diesem Moment noch eine Rolle. Selbst der zerrende Impuls in meinem Arm verstummte. Meine Worte kamen nur spärlich unter dem Schluchzen hervor. „Bitte... Bitte Fleur... Wo bist du nur...? Warum... warum musstest du dich umbringen? Warum hast du mir das angetan?“ „... Bitte weine nicht... Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber das werde ich. Versprochen. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe.“ „Meine... Hilfe?“ Mein Blick senkte sich deprimiert auf meine leeren Hände. Eine Mischung aus Schmutz und Blut hatte eine dünne Kruste auf ihnen hinterlassen, verwischt durch Tränen und Rotz. Die Finger zitterten vor Aufregung, aber auch vor Erschöpfung und meine Lippen verzogen sich zu einem schwachen, verächtlichen Lächeln. „Was kann ich denn schon tun? Wann immer ich helfe, mache ich es doch nur schlimmer...“ „Das ist nicht wahr. Fleur hat sich immer auf dich verlassen. Und du hast sie nicht einmal enttäuscht. Deswegen... Oh nein! Wir müssen abbrechen! Verschwindet von der Straße, so schnell es geht!“ „Was?! Nein, warte! Warum redest du von Fleur in der dritten Person?! Bist du denn gar nicht...“ „Dafür ist keine Zeit! Thomas und du müsst sofort wieder in Sicherheit! Ich melde mich wieder, sobald du sicher bist!“ Mit einem mal zerfiel das Netz aus Tunneln, zog sich zu mir zusammen, als würde ich sie aufsaugen. Vor meinen Augen verschwand die Finsternis und zunächst als schemenhafte Konturen, dann immer schärfer, kam Taleswood wieder zum Vorschein. Ich schreckte hoch, als wäre ich aus einem Tiefschlaf gerissen worden. „Ist alles okay?“ Thomas' Stimme klang aufgeregt. „Du hattest auf einmal so einen leeren Blick, glasig und abwesend. Und deine Lippen haben gezittert.“ „W-Wie lange war ich denn weg?“ „Nur ein paar Sekunden, glaube ich. Du wirktest, als würdest du träumen und zugleich hellwach sein.“ War es nur ein Traum? Nein, dafür war es zu real und ich kannte dieses Gefühl, diese Tunnel. Sie waren mir schon einmal begegnet, einige Monate zuvor. Auch damals war ich in eine Parallelwelt gezogen worden und auch damals war jene durch eine Berührung des Madcap Rivers entstanden. Und doch war es dieses Mal völlig anders. Mein Magen fühlte sich an, als hätte man ihn mit einer Ladung Steine gefüllt... wer war diese Stimme, wenn nicht Fleur? Sie konnte es nur sein, sie musste es sein. Aber sie war doch... war es ihr Geist, der zu mir sprach? Oder vielleicht doch ein Dämon, der mich mit ihrer Stimme ködern wollte? „Bitte... lauf... weg...“ Wie ein Funke schossen ihre schwachen Worte von meinem Ohr in mein Rückgrat. Ich sah mich um und verstand, dass es schon fast zu spät war. Dieser verdammte Nebel! Wie schon zuvor schlich er sich aus allen Ecken an und bevor wir uns versahen, umringte die dicke Suppe uns erneut. Schnell packte ich meinen Freund am Arm. „Thomas! Bist du noch da?!“ Keine Antwort. Verdammt! War er von dem letzten Mal noch zu geschwächt? Ich schnippte in die Luft und hielt die Flamme dorthin, wo ich sein Gesicht vermutete. Magische Flammen konnten auch magischen Nebel verdrängen. So logisch mir das in diesem Moment erschien, so sehr war mir auch bewusst, dass mir dies in meiner damaligen Panik niemals in den Sinn gekommen wäre. Toms Gesicht war blass, seine Augen konnte er kaum offenhalten. Ich sagte ihm wieder, dass er nicken sollte, wenn er mich noch verstehen konnte und zu meiner Erleichterung tat er das auch. Nur für wie lange? Warum konnten wir das nicht beenden, wie lange sollte dieses Katz-und-Maus-Spiel noch andauern? Nein... Es musste enden. Hier und jetzt. Entweder durch meine Hand oder mein Leben. „Mycraft! Ihre Schosshündchen sind alle tot und den Nebel konnten wir auch schon einmal überlisten, also wenn Sie mich unbedingt wollen, dann müssen Sie schon selbst kommen!“, brüllte ich ins Graue. Es war mir gleich, was er mit mir machte, aber nicht, dass er Thomas verletzte. Ich wollte nicht sterben. Aber ich konnte ihm auch nicht entkommen. Es war eine Herausforderung. Eine Drohung. Eine Demonstration seiner Macht. Aber was auch immer es war, ich würde nicht weinend vor ihm knien. „Was.. tust.. du? Bitte...“ Er konnte noch sprechen? Dieser Idiot sollte seine Kräfte sparen! Und außerdem: „Wage es nicht, mir zu sagen, dass ich weglaufen soll! Ich liebe dich auch, also erwarte nicht von mir, dich im Stich zu lassen!“, keifte ich ihn an, kaute auf meiner Kette herum und beobachtete unsere Umgebung, bereit zuzuschlagen. Im Nebel war die Uhrzeit Nebensache. Licht und Finsternis wurden gleichermaßen in den fahlen Schwaden verschluckt, zusammen mit jeder noch so klaren Kontur; ganz gleich in welche Richtung man auch sah. Doch wenn diese Schwaden sich von grau in schwarz wandelten und dann auch noch zu einer großen, menschenähnlichen Gestalt mit einem Paar funkelnd roter Augen wurden, war das nur schwer zu übersehen – insbesondere wenn diese Figur keine zehn Yards vor einem stand. Ich reagierte schnell. Aus meiner Hand schoss eine hellblaue Flamme, brannte sich seinen Weg durch den Nebel und riss ein klaffendes Loch in den Bauch des Schattens. Zwecklos – die Flamme war noch nicht einmal ganz erloschen, da stopfte der Nebel schon das Loch. Dann erschien ein finsteres Licht aus den Schatten, schoss pfeilschnell auf mich zu, durchbohrte mein Herz. Ehe ich mich versah, überkam mich ein Schmerz, gegenüber dem meine Schusswunde sich wie ein Kratzer anfühlte. Es war, als würde mich etwas zugleich von außen erdrücken und von innen zerreißen. Meine Innereien platzten, brannten, zersprangen und formten sich neu. Binnen einer Sekunde starb ich tausend Tode. Als ich wieder zu mir kam, war die Welt zur Seite gekippt. Mein linker Arm presste sich gegen die Straße und blieb reglos liegen. Mein Körper war leer, kraftlos. Es fühlte sich an, als steckte ich in einer leblosen Hülle. Mir war kalt. So unendlich kalt. Was war das nur? Nur unter größter Anstrengung konnte ich meinen Kopf recken. Im ewigen Grau fand ich nichts, außer den Schatten vor mir. Sein schwerer Atem blies mir als warme Brise entgegen, hallte von allen Seiten nach, als wäre er überall und wurde nur noch von meinem eigenen Herzschlag übertönt. Ich und meine große Klappe. Das Wesen war magisch, keine Frage. Nur warum... warum spürte ich keine Aura? „Alice... Bitte nicht...“ „Wie ungezogen.“ Aus den finsteren Dämpfen formten sich langsam Konturen, machten schneeweißer, ledriger Haut Platz. Er lehnte sich zu mir hinunter, sah mich an mit seinen glühenden Augen. Um die Iris kreisten dünne schwarze Streifen, drehten sich ineinander wie ein Strudel aus Blut. Und dennoch waren sie alles andere als... boshaft. Sein Lächeln war stolz aber nicht arrogant, ganz anders als das hochnäsige Grinsen Floyds. Wenn ich nicht wüsste, wer er war, hätte ich ihn nicht einmal für sonderlich böse gehalten. „Das war wohl etwas zu heftig, tut mir leid. Aber unartige Mädchen müssen bestraft werden. Man sollte sich vor einem Magierkampf immer zunächst begrüßen“ Kichernd legte er seinen Arm unter mich und richtete mich auf. „W-w-wo... ist... Thomas?“ Meine Stimme war zittrig, jedes Wort wurde zu einer Qual. Mit einer Handbewegung Mycrafts wich der Nebel zurück und gab den Blick auf eine blasse, fast schon durchsichtige Person frei. „Deine Konsequenz imponiert mir, süße kleine Alice. Bereit das Notwendige zu tun, egal wie hoch der Preis ist. Liegt wohl im Blut. Aber ich bin trotzdem neugierig. Warum stellst du dich?“ „Mir ist... egal... was aus... mir wird... aber... Tom...“ Ich holte noch einmal Luft, kämpfte gegen meine Schwäche an. „Lass ihn gehen!“ Mycrafts Augenbrauen zogen sich voller Skepsis nach oben. „Der Junge? Das ist deine Forderung? Wie mickrig...“ „Es ist mir ernst...“ „Nun gut. Der Kleine... soll gehen...“ Es war die Art, wie er es sagte, die seine wahre Intention enthüllte. Thomas Gestalt wurde von einem pechschwarzen Schleier umhüllt. Ich sah, wie er sich schüttelte, den Kopf hielt, nach Luft rang. Er schien vor Schmerz zu schreien, zu weinen, zu flehen, doch aus seinem Mund rang kein Laut. Dann... Wie eine Sanddüne im Wind zerbröselte er von unten, langsam nach oben. „Nein, nicht!“ Kapitel 26: Showdown - Teil 2 ----------------------------- Ich konnte nichts tun, als zuzusehen. Ich wollte schreien, aber meine Kehle war zugeschnürt. Ich wollte weinen, aber meine Augen waren ausgetrocknet. Ich wollte mich wehren, aber meine Glieder waren mit Blei gefüllt. „Entspann dich... Wo er hingeht, wird er kein Leid mehr erfahren. Das Jenseits ist für seinesgleichen der beste Platz.“ Wie dumm ich war. Dumm und naiv genug, zu glauben, dass ich Tom hier lebend rausbekommen könnte, wenn ich mich nur dafür selbst opferte. Ich hatte nichts in der Hand gehabt, zu keinem Zeitpunkt hatte es nur irgendetwas gegeben, was ich gegen Mycraft hätte einsetzen können. Da konnte die Magie in meinen Adern noch so stark sein, eine Novizin von nicht einmal sechs Monaten konnte es nicht mit einem Großmeister aufnehmen, der selbst den Tod überlistet hatte. „Nein... Thomas... verzeih mir...“ Die Worte drangen kaum aus meinem Mund, wurden in verbitterter Reue ertränkt, während in meinem Kopf nur ein Satz wummerte, wie ein Mantra, immer und immer wieder aufgesagt: „Das ist alles deine Schuld.“ Ich schloss die Augen. Ich konnte nicht seinen verzweifelten, um Hilfe rufenden Blick ertragen und ihm mit dem meinen antworten, dass ich nichts für ihn tun könne. Langsam ließ ich die Lider sinken, während ich vor mir verschwommen jede Erinnerung an ihn vorbeiziehen sah. Und beinahe hätte ich so das bläuliche Leuchten übersehen, das sich um die dürre, fast schon ausgeblichene Silhouette umhüllte, sich in einen Lichtblitz verwandelte und eine Sturmböe mit sich zog, so gewaltig, dass es mir den Atem raubte und selbst Mycraft seine Augen bedecken musste. Dann war alles still. Der Nebel war einer warmen, weichen Luft gewichen und selbst der blutrote Himmel verschwand für einen Moment und offenbarte das alte, gewohnte Sternenzelt, als wäre nie etwas Böses geschehen, bevor er wieder Rost ansetzte. Doch der Nebel blieb fort. „...lice... Alice...Alice! Du bist wieder bei mir! Aber... was ist... nein... ist das denn möglich?“ Diese Aura... Ein fegender Sturm über rauer See, erfüllt von zuckenden Blitzen und peitschendem Regen. Konnte er es wirklich sein? Nur langsam öffnete ich wieder die Augen, befürchtete, meine Hoffnung zerfallen zu sehen. Doch da stand er tatsächlich. Die gerissenen Bandagen offenbarten verbrannte, zernarbte Haut, mit tiefen Schnitten, die, im dunklen Mondlicht glänzend, fast schon aussahen, als würde schwarze Farbe aus ihnen quellen. Seine tiefbraunen Augen waren blutunterlaufen und von weiß glühenden Adern durchzogen, aber zugleich strahlten Sie eine unfassbare Ruhe und Kontrolle aus. Als sich unsere Blicke trafen, verzog sich seine Miene zu einem erleichterten Lächeln. Das Gesicht glänzte vom Schweiß und sein Körper hob und senkte sich langsam und zitterte wie die glühende Klinge in seiner Hand. Um den Stumpf der anderen schmiegte sich ein schimmernder Schemen in Form einer jungen Frau, dessen Anblick ein vertrautes Gefühl hervorrief. Neben ihm standen der Doc und der Reverend, Hand in Hand, starrten voller Furcht und Abscheu auf die sich ihnen bietende Szenerie. Und zu deren Füßen... lag Tom! Aber... er bewegte sich nicht?! Nein... bitte, lass es nicht zu spät sein... Der Reverend bemerkte ihn zuerst, hastete zu ihm, zerrte die Blondine mit sich. Er beugte sich über den Jungen vor ihm, tastete ihn ab. „Gretchen! Ich spüre keinen Puls!“ „Klappe, die Diagnose stelle ich! Lass mich sehen... Schwach, aber vorhanden... Ihm wurden viel Energie ausgesaugt, aber das kriegen wir wieder hin.“ Mit routinierter Entspannung holte Doktor Engels eine Spritze hervor und schoss das Mittel in Thomas' Arm. Wie klar sie wirkte, wie ruhig sie bei der Sache war. Kein bisschen zerstreut, kein bisschen boshaft. Sie machte einfach nur ihre Arbeit. Ich konnte es in der Finsternis kaum erkennen, doch langsam richtete sich mein verloren geglaubter Freund auf und schaute erschöpft in die Runde. Er war noch am Leben! „Unfassbar.. sie... ist es wirklich...“ „Sieh an, sieh an...“ Ruckartig verlor ich meinen Halt und fiel unsanft zu Boden, schlug mit dem Kopf gegen das Pflaster, doch der Schmerz war mit den vorher gegangenen nicht einmal annähernd zu vergleichen. Miller sprang auf, schlich sich mit gesengtem Kopf an Mycraft vorbei, als hoffte er, so übersehen zu werden. Seine warme Hand legte sich auf meine Stirn, während er mir half, mich aufrecht zu setzen. „Du siehst übel aus. Wie geht es dir?“ „Ich bin okay. Aber Tom...“ „Er hat viel Kraft verloren, aber das wird schon. Vertrau auf Gretas heilende Hand...“ Ich drückte seine ausgestreckte Hand und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Allein seine Anwesenheit sorgte dafür, dass es einem besser ging und auf einmal hatte ich wieder die Hoffnung, dass alles gut werden würde. Mehr humpelnd als gehend bewegte sich Jack auf seinen alten Meister zu, senkte jedoch nicht eine Sekunde die Klinge in seiner Hand. Die geisterhafte Gestalt umfasste den Stumpf noch fester, schmiegte sich an seine Schulter, versteckte sich hinter Jack. Und je näher sie kamen, desto eher erkannte ich das junge, bildhübsche Gesicht, die langen, rotblonden Haare, das blassgrüne Auge. „Mutter...?“ Der Schemen sah mich an und lächelte sanft. Sie war es, keine Frage. Ihre Gestalt hing an Jack wie ein neuer Arm, ging in ihn über. Es war ihre Kraft, die ihn auf den Beinen hielt. „Claire hat ein Gespür für Gefahr. Kaum wart ihr weg, kontaktierte sie mich und half Jack auf die Beine. Wobei er ihre geliehene Kraft bisher noch nicht wirklich benutzt hat.“ „Woran sehen Sie das?“ „Daran, wie besorgt Claire zu ihm schaut.“ Nun sah ich es auch. Mutter ließ Vater nicht eine Sekunde aus den Augen, blieb eng an ihm und... natürlich! Sie versteckte sich nicht hinter ihm... sie zog ihn zurück! „Du hast viel gelernt, seit wir uns zuletzt gesehen haben, Jacob.“ „Das stimmt wohl... und ich kann mich nur allzu gut an unsere letzte Begegnung erinnern.“ Mycraft lächelte mild, breitete seine Arme aus. Was spielte er nur? Jack umklammerte seinen Degen so fest, wie es ihm mit seinen verbleibenden drei Fingern möglich war. Er hustete, spuckte etwas dunkelrote Masse aus, doch ließ Mycraft nicht aus den Augen. „Sicher hast du einige Fragen...“ „Gerade interessiert mich nur, was du mit meiner Tochter vorhast! Wenn du ihr auch nur ein Haar gekrümmt hast, dann...“ „Aber, aber!“, unterbrach der blasse Magier seinen ehemaligen Schüler entrüstet. „Was unterstellst du mir denn?!“ „Was ich dir unterstelle?! Du hast sie schon einmal versucht zu töten, dafür musste Claire ihr Leben lassen. Ich lasse nicht zu, dass ihr Opfer umsonst war!“ „Und doch wärst du nicht hier, wenn sie in ihrer Geisterform dir nicht etwas ihrer Kraft geschenkt hätte. Sieh es ein, Jack: Du hättest meine Ururenkelin in hundert Jahren nicht beschützen können.“ Für einen Moment dachte ich, ich hätte mich verhört. Dieser Mann... dieses... Ding... sollte ein Vorfahr von Jack und mir sein? Mein Ururgroßvater... dann musste er doch schon gut und gerne hundert Jahre alt sein! War das wieder nur eine Lüge? Ein Versuch, uns zu manipulieren? Nur warum hatte ich dann das Gefühl, dass es der Wahrheit entsprach? Jacks Blick traf den meinen und ich erkannte, dass ihm die gleichen Fragen durch den Kopf gingen. Mutters Auge war vor Schreck aufgerissen, ihre schimmernde Gestalt erzitterte wie Espenlaub. Für einen Moment wich sie von Vater, doch huschte zurück, als sie seinen leichten Schwächeanfall bemerkte. „Ihr glaubt mir nicht? Gut, das überrascht mich wenig. Alice, du hast doch sicherlich mein Grimoire bei dir? Gib es mir.“ Mir wurde seltsam, als er das sagte. Seine Stimme schwang als tausendfaches Echo in meinen Ohren, bohrte sich in meinen Kopf, betäubte meine Sinne. Zuckend hob sich meine Hand und bewegte sich wie in Trance auf die Tasche zu, in der sich das Grimoire befand. „Hey, Alice!“ Miller griff nach meiner Hand, doch seine Wärme drang nicht mehr zu mir durch. Mein Blick wurde zu einem Tunnel und ließ niemanden mehr sonst außer mir und Mycraft zu, der mich zu sich rief. Ich... muss.. ihm... das... Grimoire... Das Grimoire? Nein, das... durfte ich ihm nicht geben! Wer weiß, was er damit anstellen könnte... In Gedanken zerrte ich an meinen Arm, wiederholte den Befehl, sich zurück zu ziehen, doch es war zwecklos. Gegen meinen Willen glitt meine Hand unter die Weste und griff nach dem schwarzen Büchlein und gehorchte mir erst, als ich den besagten Gegenstand übergeben hatte. Schlagartig wurde mir bewusst, was ich getan hatte. „Braves Kind. Keine Sorge, Großpapa wird dir schon nichts tun.“ Seine bleiche, kühle Hand strich mir sanft über den Kopf, als er das sagte. Ein Blizzard lief mir den Rücken hinunter und mein Magen drehte sich auf links. Es lag einfach an seiner Tonart... So sanft, so entspannt... So, als habe er nicht zig Menschen auf dem Gewissen. So harmlos seine Fassade auch erschien, dahinter schrie einfach alles nach Gefahr. Ich hatte Angst. Todesangst. Ich war ein Häschen, von einem Rudel Wölfe in die Enge getrieben. Sie atmeten mir den rostigen Gestank des Todes entgegen, bleckten die blutbefleckten Zähne, von denen der purpurne Speichel tropfte, kamen näher und näher, bis ihre feuchte Schnauze sich in mein Fell grub... und sie zubissen! Wie schnell er mich am Schopf gepackt und den Arm um meinen Hals geschlungen hatte. Jacks Klinge blitzte nur wenige Zoll vor meinen Augen. Ich sah in Vaters erschrockenes Gesicht, während er langsam die Klinge wieder wegsteckte. So nah wurde es nur noch deutlicher, wie stark geschwächt er noch war. „Alice!“, rief jemand von der anderen Seite, doch ich konnte nicht erkennen, wer es war. „Na na na...“, brummte die alte Stimme dicht an meinem Ohr, drückte mich in der Beuge noch fester, dass meine Luft knapp wurde. Meine Füße taumelten in der Leere, suchten krampfhaft nach festem Boden, während sich meine Finger in seinem Arm vergruben, doch es war eine absolute Verschwendung von Zeit und Kraft. „Ich will unserem Mädchen nicht wehtun, Jack... Also bleib mir fern und versuche nicht, deine geliehene Kraft so dumm zu vergeuden.“ „Was willst du von ihr? Sie hat dir nie etwas getan! Lass sie los, sonst...“ Es sollte eine Drohung sein, doch klang nicht stärker als ein Flehen. „Erstmal soll sie das hier vorlesen, damit wir ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Kriegst du das hin, Kleine?“ Seine Miene hatte sich kein einziges Mal verändert, seit wir aneinander geraten waren. Ganz gleich, wie man ihm drohte, es ließ sich ihm kein Fünkchen Wut entlocken. Selbst jetzt, wo ich fest in seinem Klammergriff lag und er mich in immer wiederkehrenden Abständen mit einem kurzen Anspannen daran erinnerte, wie leicht er mir das Genick brechen könnte, benahm er sich überaus höflich und hielt mir lächelnd das aufgeschlagene Notizbuch hin. Nur langsam konnte ich meinen Blick von ihm lösen und zum Notizbuch schielen. Es war die erste Seite. Die erste verfluchte Seite. „Nun? Was steht da, Alice?“ „D-da... da steht... Eigentum von... Alexander Victor Salem. Gezeichnet... 1828...“ Ich wollte es nicht glauben. Ich konnte es nicht. Das hätte doch sicher jeder manipulieren können... oder? „Nicht wahr... Das ist nicht wahr! Wir sind nicht dumm, Mycraft! Ein bisschen Tinte ist kein Beweis!“ Vater hatte recht, aber ich spürte den Zweifel in seinen Worten. Und konnte sie nur allzu gut verstehen. Unsere Blicke teilten die gleiche Furcht vor diesem Mann. „Man kann mir sicher vieles vorwerfen, aber niemals würde ich Inhalte meines eigenen Zauberbuchs verfälschen. Solch exzessive Macht, wie du sie besitzt, Jack... Du warst immer ein exzellenter Schüler, aber diese Kraft kann man nur vererben. In dir fließt Gründerblut. Und in dir...“ Mycraft lockerte seinen Griff und setzte mich sanft ab, starrte mich an, mit seinen durchbohrenden tiefroten Augen, während seine Hand über meine Wange strich. „In dir fließt es sogar von zwei Seiten. Das zwei so zerstrittene Clans einmal zusammentreffen würden, daran hätte wohl niemand geglaubt. Du bist einzigartig, Alice.“ Gründerblut? Zwei Seiten? Warum hatte ich das Gefühl, das schon einmal gehört zu haben? Wie ein Lehrer schritt der bleiche Magier durch die Reihen. Wenn er sich aufrichtete wirkte selbst Jack ihm gegenüber winzig. Niemand wagte es, sich zu bewegen. Wir waren seine Schüler, lauschten seinem Vortrag. Und während er uns seine Geschichte erzählte... Da verfinsterte sich zum ersten Mal seine Miene. „Offiziell wurde Taleswood von den Maelduns vor fast 1000 Jahren gegründet, der älteste Magierclan Europas. Doch der Älteste wird man auf zwei Arten: Man überlebt am längsten... oder vernichtet die anderen um einen herum. Maeldun und Salem koexistierten in dieser Stadt über Jahrhunderte, machten sie zu einer Zuflucht für Verfolgte aus aller Welt. Sie hielten Positionen im Stadtrat, in der Polizei, im täglichen Leben. Aber irgendwann stieg einem von beiden die Macht zu Kopf, sie hungerten nach mehr... und es entbrannte eine Fehde mit unzähligen Toten auf beiden Seiten. Am Ende... tja, am Ende unterlagen die Salems, wurden aus der Stadt gejagt. Aber das reichte deinen habgierigen Vorfahren nicht, Alice. Sie zwangen uns ins Exil, sorgten dafür, dass wir ein für alle mal in Vergessenheit gerieten. Während die Maelduns weiter in Saus und Braus lebten, wuchsen meine Geschwister und ich in den verschmutzten Hinterhöfen Londons auf. Meine Mutter – sie erzog uns allein – hatte den Namen Salem abgelegt und uns als Mycrafts großgezogen... aber das heißt nicht, dass sie uns unser Schicksal verschwiegen hat. Wie stolz sie war, als sie mein Talent erkannte... und noch stolzer, als ich ihr auf dem Sterbebett versprochen habe, unsere Familie zu alter Größe zu führen!“ „Und warum haben dann weder Vater noch Großvater je etwas in diese Richtung erwähnt?!“, knurrte Jack erbost. „Weil sie mir im Weg standen. Ich hatte besseres zu tun, als ein verfluchtes Blag großzuziehen und habe deinen Großvater deshalb in ein Heim gegeben. Verrückt, wie ähnlich wir uns sind, nicht wahr, mein Lieblingsschüler?“ „Vergleich mich nicht mit dir, du Monster!“ „Aber mit wem denn sonst? Mit wem sollte ich mich denn vergleichen, als mit dem ersten nach drei Generationen, der wirklich etwas bewirkt hat? Dein Körper wäre die perfekte Hülle für mein Projekt gewesen. Aber Alice tut es natürlich auch.“ „Auf keinen Fall! Was auch immer dieses Projekt ist, meine Tochter bekommst du nicht!“ Mycrafts Miene wurde immer finsterer und sein menschliches Gesicht verzog sich zu einer fast schon dämonischen Fratze. „Das hast du nicht zu bestimmen.“ Jack hatte seine Waffe nicht bewegt. Es war der bleiche Magier selbst, der wortwörtlich ins offene Messer gelaufen war. Die lange Klinge stieß sauber durch Kleidung und Fleisch, bahnte sich ihren Weg durch den großgewachsenen Mann, doch am Ende hing kein Tropfen Blut an ihr. Stattdessen entwichen aus der Wunde dunkelgraue Schwaden, tanzten auf der Schneide, verwuschen die glatten Kanten und... verschlangen sie! Und in diesem Moment wurde mir klar, warum ich in Mycrafts Nähe keine Aura spürte. Weil sie so mächtig war, dass sie als alles verschlingender Nebel für jeden sichtbar wurde. „Miss Claire!“ Mutter stieß einen stummen Schrei aus, als die blassen Finger Jacks Gesicht berührten. Sie zerrte an ihrem Geliebten, doch ihre Gestalt verzog sich mit jeder verstrichenen Sekunde, zu einem immer schwächer flackernden Licht. „Miller! Sie verbrennt!“ „Claire! Hör auf damit! Lass Jack los, er wird auch ohne dich klarkommen!“ Aber Vater reagierte nicht. Stumm und starr blieb er stehen, ließ die Arme sinken. Das Geräusch, als der Griff des Dolches aus seiner Hand glitt und auf den Boden traf, hallte von allen Seiten wieder. Und je länger ich es mit ansah, desto mehr spürte ich, wie sich der Sturm legte und die Wogen sich glätteten... und das Bild in meinem Kopf langsam verschwamm. Ein Schrei ertönte von der rechten Seite, kurz bevor der Doc zu Mycraft sprintete, eine Spritze fest umfasst. In ihren Augen loderte ein Feuer, jenseits jeglicher Vorstellungen. Niemals hätten wir sie aufhalten können. Oder die Ranke, die hinter Ihr aus dem Boden wuchs. „Nicht, Gretchen!“ Der Reverend stolperte zu ihr, doch es war zu spät. Das schwarze Geäst bohrte sich binnen weniger Augenblicke durch den Rücken der Deutschen und schoss aus ihrer Brust, riss Fetzen und Blut mit sich. Ihr Schrei wurde durch ein erschrecktes Gurgeln unterbrochen und das Feuer wich einer glasigen Leere. Ein letzter, zuckender Handgriff zur Ranke, doch vergeblich. Der Doc war tot. Und genau in dieser Sekunde schoss Mutters lichte Gestalt zu uns, brach vor uns zusammen, bebte ohne Unterlass. Mein Blick huschte zu Jack. „Vater... Nein...“ Gerade ließ Mycraft seinen ehemaligen Schüler los. Für einen Moment dachte ich, er würde sich noch auf den Beinen halten, dann fiel seine ausgelaugte Gestalt kraftlos nach vorn, auf die Knie und dann mit dem Gesicht voran in den Dreck. Seine Aura war komplett verschwunden. „Nein... steh auf... steh auf, steh auf, steh auf... bitte...“ Hoffnung, Kampfeswille, Trauer, Wut, Verzweiflung. All das wurde von einem Gefühl der Belanglosigkeit überschwemmt. Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. So einfach konnte er nicht sterben. Das musste ein böser Traum sein. Eine Illusion. Ein Trugbild, nur dafür geschaffen, mir meine Unfähigkeit vorzuhalten. „Greta? Jack...? Aber...?“ „Alice! Sir! Wir müssen hier weg!“ „Bitte Alice... Du musst zu dir kommen...“ Die Stimme des Reverends. Toms Hände, die an meiner Schulter rüttelten. Das Rufen der fremden Stimme in der Ferne. Nichts erreichte mich. Die Erlebnisse der letzten Sekunden lagen tonnenschwer auf meinen Schultern, zerquetschten das letzte bisschen Handlungswillen in mir. Wir hatten verloren... Bevor wir auch nur seine Motive verstehen konnten. „Es ist noch nicht verloren.“ Mycrafts finstere Gestalt erkannte ich nur an ihrer Größe vor dem flimmernden Bild meiner wässrigen Augen. Nur wenige Yard vor mir blieb er stehen. Würde er mich nun auch töten? Oder würde ich seine willenlose Sklavin werden, wie schon so viele zuvor? Es war mir beinahe gleich. „... Willst wirklich das hier akzeptieren?“ Akzeptieren? Wer redete denn davon? Ich... hatte einfach keine Wahl... Ich wollte doch niemals jemanden meinetwegen sterben sehen. Weder Mutter, noch Vater, noch den Doc und ganz sicher nicht Fleur! Nicht einmal Véroniques oder Colemans Tod konnte ich wirklich ertragen. Wenn ich etwas tun könnte, dann... „Miss Claire?! Was...?“ Ein heller Lichtschein, überflutete die Finsternis vor meinem Geiste. Erst dachte ich, es wäre tatsächlich die Ankündigung unseres letzten Stündleins. Doch diese wohlige Wärme... hatte ich schon einmal gespürt. Und mir wurde schlagartig bewusst, woher. „Verd... Du Miststück bist selbst im Jenseits noch eine Plage!“ Vor uns brannte eine Wand aus purer magischer Energie und hielt unseren Feind auf Distanz. Das Licht brannte in seinen bleichen Poren. Mutter... sie... nein... würde sie sich tatsächlich opfern, nur damit wir überleben könnten? „Claire... bist du dir sicher?“ Ich konnte sie nicht hören, doch Millers Reaktion machte klar, dass sie uns befahl wegzulaufen. Nein... das kann ich nicht... ich... muss... helf... „Du kannst nichts tun!“ Millers Hand griff mich an meiner Schulter, zerrte mich auf meine Beine. Seine Augen waren gerötet, gefüllt mit Trauer und Verzweiflung, dennoch klar und sicher. Selbst Tom, schwach und verwirrt, schien die Situation richtig einzuschätzen. Ich wusste es auch selbst... Es war unsere einzige Chance. Aber dennoch... „Alice... Bitte höre mich an. Diese Welt ist verloren. Es ist nicht deine Schuld. Ihr hättet selbst alle gemeinsam die Schatten nicht aufhalten können, ganz gleich, wie viele Opfer ihr noch gebracht hättet. Aber wir können das ungeschehen machen. Du kannst all das ungeschehen machen. Vertrau deiner Mutter. Sie weiß, was sie tut. Komme zum Madcap River... und spring hinein. Dann werden wir uns endlich sehen können.“ „Könnt ihr beiden laufen? Wir müssen uns beeilen.“ Miller half mir auf und ich stützte Tom. Er atmete schwer. Seine Haut war ausgemergelt, der Blick glasig. „Bist du okay?“ „...Es wird schon gehen.“ „Verzeih mir... All das...“ Miller zerrte uns von der hellen Schranke weg. Langsam erlosch das Licht und der Nebel dahinter streckte seine kalten Finger nach uns aus. Es gab einen Grund, warum Geister das Jenseits nicht verließen. Denn wenn sie hier noch einmal starben... dann war ihre Existenz ausgelöscht. Mutter... war das bewusst. „Wir haben keine Zeit dafür! Claires Kraft schwindet. Und ich weiß nicht einmal, ob wir überhaupt verschwinden kö-“ „Der Fluss! Wir müssen zum Fluss!“ „...Alice?“ „Bitte vertraut mir!“ Die beiden Männer tauschten nur einen kurzen Blick aus, dann drehten wir uns um und rannten los, ohne noch einmal zurückzusehen. Das Licht entschwand und wich dem Zwielicht der Laternen. Hell und dunkel tauschten gleichmäßig die Plätze, bis die Stadtgrenze erreicht war. Meine Lungen brannten, mein Herz zersprang, mein Kopf platzte ob der unzähligen Bilder, die ohne Unterlass auf mich einregneten. Wie viel Zeit hatten wir noch? Ich wusste es nicht. Ich konnte nur hoffen, dass die Stimme mich nicht belügte. Es war am Ufer, dass wir drei zusammenbrachen, nach Luft rangten. Nach den letzten Minuten des Chaos war jene friedvolle Stille, die uns nun umgab einladend und angsteinflößend zugleich. Und zum ersten Mal hatte unser Verstand die Zeit, die Situation zu begreifen. „Tot... So viele... tot... Für gar nichts...“, wimmerte Miller. Seine Finger fuhren in das kurze, krause Haar, verkrampften sich, zogen an ihnen, als würde ihr Opfer irgendwas ändern. Doch ich konnte ihn verstehen. Meine Knie wollten mich nicht mehr halten. Vom Rennen und Kämpfen erschöpft, knickte ich ein und landete mit den Händen voran im Rasen. Salzige Tropfen liefen aus meinen Augen, fielen von meiner Nasenspitze, benetzten das Gras wie spärlicher Regen. Tom lehnte sich tröstend an mich, schenkte mir den letzten Rest seiner Wärme. „Wie... wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich mit zittriger Stimme in die Nacht. „Du hast uns hier hin gebeten. Sag du es uns.“ Miller klang kalt, aber es war wohl keine Absicht. Er war einfach fertig mit den Nerven. Ich konnte ihm nicht sagen, dass die Frage an eine Stimme in meinem Kopf gerichtet war. Konnte ich ihr vertrauen? … Was blieb mir schon anderes übrig? „Ich weiß, die Trauer liegt schwer auf euren Schultern. Aber was ich dir gesagt habe, war keine Lüge. Wir können es rückgängig machen. Spring in den Fluss.“ In den Fluss, ja? Langsam kroch ich zum Ufer, lehnte mich vor, starrte auf die spiegelnde Oberfläche. In dieser Nacht blitzten die Schuppen der rückwärts schwimmenden Fische im Mondschein so stark, dass man glaubte, sie würden leuchten. Es war nach wie vor ein eigenartiges Schauspiel, aber zugleich hatte es immer etwas Beruhigendes an sich, wie ein zauberhafter Tanz zwischen zwei Welten. Zwei... Welten... „Alice? Was hast du vor?“ „... Springen.“ „Nein!“ Ich hatte schon meinen linken Fuß gen Abgrund bewegt, da griff Miller mich bei der Hand, zog mich zurück. „Weißt du nicht, was du da tust? Es ist noch nie jemand zurückgekommen, der in den River gesprungen ist. Der schwarze Grund verschluckt alles und gibt es nicht mehr her. Der Madcap River... ist eine Anomalie.“ Ich wich zurück. Die Stimme... Wusste ich es doch! Es wäre wohl auch zu schön gewesen. „Es ist wahr... Es besteht keine Garantie, dass du nach all dem ganz normal weiterleben kannst. Ich wünschte es gäbe einen anderen Weg und ich weiß, es ist viel verlangt aber... Bitte... Höre mich wenigstens an. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht angelogen habe.“ Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde mein Dilemma größer und die Zeit für eine Entscheidung kleiner. Millers Worte erfüllten mich mit Furcht, aber das traf auch auf das zu, was wir in den Straßen Taleswoods zurückgelassen hatten. Außerdem musste ich der so vertrauten Stimme in meinen Ohren mit diesem verschüchterten, leicht heiseren Klang einfach glauben – ganz gleich, wie wenig ich das wollte. „Wir sind nicht in der Position zu zögern. Wenn wir so die Sache lösen können, dann lasst uns es wenigstens versuchen.“ „Nein Alice!“ Der Griff des Reverend zog sich fester um mein Handgelenk. „Erst musst du mir sagen , woher dieser Glaube stammt. Wer hat dir gesagt, dass du auf dem Grund dieses verfluchten Gewässers die Lösung findest?“ „...Fleur. Oder... zumindest ihre Stimme.“ Miller schüttelte den Kopf. Der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben und ich konnte es ihm nicht verdenken. „Das ist eine Falle. Es muss so sein. Ich kann nicht akzeptieren, dass du wegen einer Stimme dein Leben wegwirfst! Dein Freund stimmt mir sicher zu, oder?“ Tom blieb stumm. Sein Blick war zu Boden gerichtet, die Schultern hingen. Man konnte nicht erahnen, was er dachte... Oder ob er uns überhaupt gehört hatte. Dann seufzte er laut und sah mich mit trist hängenden Augen an, ähnlich derer eines geprügelten Hundes. „Also werden wir uns nicht mehr sehen?“ „Nein...“ Sein ruhiges, gefasstes Nicken reichte völlig aus, um zu zeigen, was er dachte. Dann schniefte er kurz und wischte sich mit seinem Ärmel über das Gesicht. „Dann beantwortete diese letzte Frage bitte absolut ehrlich... Als... als dieser Nebel da war... da hattest du etwas gesagt... Meintest du das auch so?“ Ich hatte nicht mehr über meine Worte nachgedacht und doch wusste ich sofort, welche er meinte. Ich legte meine Arme in seinen Nacken und meine Lippen auf seine. Ich spürte das Zittern seines Atems, das schwere Schlucken, die salzigen Tränen, aber auch seine Zunge, welche lüstern die meine suchte und den verlangenden Griff in meinen Schopf. Angst, Trauer, Wut, Liebe und Sehnsucht teilten sich gerade das Herz dieses Jungen. „Reicht dir das als Antwort?“, wisperte ich, als wir uns endlich voneinander lösten. Er wollte wohl „ja“ sagen, doch aus seinem Mund drang nur ein aufgestauter Schulchzer, Vorbote dicker Tränen. Ich weinte nicht. Ich wusste nicht wieso. Alles was ich heute erlebt hatte, hätte mir genug Grund gegeben, einfach zusammenzubrechen und Sturzbäche zu heilen, aber dem war nicht so. Etwas in mir sagte, dass noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Noch war es für Tränen zu früh. Ich drehte mich nicht mehr um, sah die beiden nicht mehr an. Es war alles gesagt und alles getan. Das Wasser des Flusses war unglaublich klar und dennoch konnte man nicht zum Boden sehen. Erster Atemzug. Die Fische spürten meine Anwesenheit, schwammen aufgeregt auf der Stelle. Sie zogen Kreise, erst wenige, dann immer mehr, bis ein Tunnel aus tausend einladenden Lichtern entstanden war, die zielgerichtet zum unerkennbaren Grund führten. Zweiter Atemzug. Eine innere Kraft gesellte sich zu mir, drückte mich sanft nach vorn. Meine Fersen hoben sich vom Boden, verlagerten alles Gewicht in meine Zehenspitzen. Als wäre es ein Flug breitete ich meine Arme aus, spürte den dünnen Luftzug zwischen meinen auseinander gespreizten Fingern. Dritter Atemzug. Als mein Körper auf die Oberfläche schlug, schwappten die Wassermassen zurück, drücken mich weiter nach unten. Mein Körper schwamm nicht oben, so wie der eines Menschen, sondern sank wie ein Stein kontinuierlich in die Tiefe. Die Lichter um mich tanzten immer aufgeregter, schossen mit und gegen den Uhrzeigersinn. Ich verspürte keine Panik. Stattdessen legte sich eine angenehme Schwere auf mich, bettete mich und versetzte mich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Kapitel 27: Das Rückgrat ------------------------ Nie zuvor hatte ich einen Ort wie jenen gesehen, an dem ich erwachte. Obwohl nichts um mich war als gähnende Leere, konnte ich alles genau erkennen, als sei es zugleich stockfinster und taghell. Mit dem Bauch lag ich auf einer großen Plattform aus schwarzem Marmor, durchzogen mit feuerroten Adern. In regelmäßigen Abständen floss ein heller Lichtimpuls durch sie, wie bei einem Herzschlag und wenn ich mein Ohr ganz fest auf den lauwarmen Boden presste, dann vernahm ich – tief verborgen im Gestein – ein schwaches Flüstern in einer unverständlichen Sprache, ein Raunen und Tuscheln von dutzenden Quellen, weit weg von meiner Position. Über die Kante hinaus sah ich in einen nie enden wollenden Raum, gespickt mit unzähligen dieser Plattformen – manche ganz nah, andere unerreichbar fern – und ihr abwechselndes Aufflackern erinnerte mich unwillkürlich an das Funkeln der Sterne am Himmelszelt. Die Luft hatte eine erdrückende Schwüle an sich, die meine Atmung flacher werden ließ und nur langsam konnte ich mich aufrichten. Zu meinem Erstaunen war meine Schusswunde vollkommen verschwunden, ohne eine Narbe zu hinterlassen. So, als hätte sie nie existiert. Und nicht nur sie. Jede Wunde – sei sie noch so klein – war ohne jede Spur verschwunden. Dafür schmerzte mein Kopf umso mehr, dröhnte, als würden Holzwürmer sich durch ihn fressen. Dieser Ort besaß eine Aura und zwar eine so gewaltige, dass es einen zugrunde richtete. Wo auch immer ich hier war, ein gewöhnlicher Sterblicher gehörte hier nicht hin. „Alice...“ Die Stimme tauchte hinter mir auf. Ein lieblicher Klang, hell und rein mit diesem leicht heiseren Unterton. Eine zarte Gesangsstimme, passend zu dem zerbrechlichen Porzellankörper, der sie gehörte. Allein sie zu hören – so nah bei mir – erfüllte mich mit Süße und Bitterkeit zu gleichen Teilen, weckte ein paar der schönsten und schlimmsten Erinnerungen, die ich jemals hatte. Aber in erster Linie weckte sie Sehnsucht, so stark, dass es mich zerreißen würde, wenn sie nicht bei mir war. Langsam drehte ich mich um. Obwohl sich kein einziges Lüftchen rührte, flatterte das dünne, weiße Kleid auf und ab, umspielte die zarten Kurven und der lange, dunkelbraune Pferdeschwanz reihte sich in diesen Tanz ein. Aufregung blitzte in den großen, verführerisch-azurblauen Augen auf und das Zittern ihrer blassen, dünnen Lippen unterstützte den Eindruck nur umso mehr. Sie hatte etwas Jugendlich-verspieltes an sich, doch verband es zugleich mit der Anmut und Eleganz einer Erwachsenen. Die Ähnlichkeit war unübersehbar und doch wurde es mir von Anfang an klar: „Du... bist nicht Fleur.“ Ich kannte diese Frau, obgleich wir uns nie persönlich getroffen hatten. „Das ist weder absolut richtig noch grundlegend falsch“, antwortete sie und hockte sich zu mir, berührte mein Gesicht. So nah bei mir verstand ich, was sie meinte. Ich sah Fleurs verliebten Blick in ihren Augen, ihre schüchternen Züge, ihr zögerliches Lächeln. Sie war nicht Fleur, aber auf eine unerklärliche Art und Weise war sie es doch. „Du bist ihr so ähnlich. Nicht nur äußerlich. Ich spüre Miss Claires Güte in deinen Augen. Und doch bist du ganz anders, Alice.“ „Das Gleiche könnte ich auch über dich sagen... Florence.“ Erschrocken zuckte ihre Hand zurück, die Pupillen weiteten sich einen Moment, bevor sie einmal kontrolliert durchatmete. „Verstehe. Du weißt also, wer ich bin?“ „Ja. Aus einer Erinnerung meiner Mutter. Du bist Véronique La Belles verblichene Schwester.“ Florence nickte langsam und schaute traurig zu Boden. „Lafayette. Unser... unser richtiger Name ist Lafayette.“ „Euer richtiger Name?“ „Ich erkläre es dir. Das habe ich dir doch versprochen. Aber zunächst möchte ich, dass du mitkommst.“ Die gleiche entspannte Wärme durchfloss sie, als sie mich bei der Hand nahm und nach oben zog. Es fiel mir schwer, sie nicht für ein und dieselbe Person zu halten. Während sie mich zum Ende des Plateaus führte, verblassten Haut und Haare, nahmen immer mehr die Farben von Schnee und Asche an; die Farben der Frau, die mir den Kopf verdreht hatte, die mit mir durch die Hölle gegangen war, die am Ende den Mut hatte, das zu tun, vor dem ich mich fürchtete. Aber jetzt... jetzt war ich bereit. Und wenn die Rettung Taleswoods meinen Tod bedeuten würde... Mein letzter Wunsch wäre eindeutig. Ich dachte, das Podest, auf dem wir uns befanden, wäre begrenzt, doch wann immer wir uns der Kante näherten, reichte sie weiter von uns weg. Erst merkte ich nicht, warum das so war, dann fielen mir die huschenden Lichter vor uns auf, so schnell, dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren. Von nah und fern kamen die anderen Ebenen, bauten an die unsrige, während sie hinter uns wieder verschwanden und sich an ihren alten Stammplatz setzten. Und da im Nichts kein einziger Punkt existierte, an dem ich mich hätte orientieren können, kam es mir so vor, als würden wir nicht voran kommen – auch wenn wir uns fortbewegten. „Was ist das für ein Ort?“ Wie viel Zeit war vergangen, bis ich diese Frage stellte? Es hätten bereits Jahre vergangen sein können... oder doch nur Minuten. Beides lag nur Sekunden voneinander entfernt. Ich kannte dieses Gefühl, hatte es seit meiner Ankunft in Taleswood schon häufiger gehabt, doch hier war es am deutlichsten. Hier spielte die vierte Dimension keine Rolle mehr. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; es herrschte zugleich alles und nichts. „Ich bin mir nicht sicher... Sie sagten mir, dass dieser Ort alles zusammenhält. Das Diesseits, das Jenseits und alles, was dazwischen liegt. Es ist die Quelle aller Magie in unserer Welt und zugleich kehrt auch alle Magie irgendwann hierhin wieder zurück. Sie nennen ihn Rhachis: das Rückgrat.“ „R-Rückgrat? Wessen Rückgrat?“ „Nicht wessen Rückgrat, Alice. Das Rückgrat. Die tragende Säule, wenn man so will. Und wir befinden uns gerade genau in ihr.“ „Wie ich sehe, sind wir damit relativ allein.“ „Weil eigentlich niemand an diesen Ort gelangen darf. Weder im Leben noch im Tod. Auch wir nicht. Das hier... ist eine Ausnahme. Sie trauen uns Sterblichen nicht.“ „Und wer sind sie?“ „...Die Anomalien.“ Florence hatte mich auch während unserer Unterredung weiter mit sich gezogen. Nun aber blieb sie stehen. Die Plattform bildete sich nicht weiter, unsere Zehenspitzen berührten die Kante. Aber davon abgesehen war alles gleich geblieben. Das dachte ich zumindest, doch dann blitzten die Plattformen in der Ferne auf, schossen auf uns zu, bildeten vor uns unzählige Formen und Figuren; Kugeln, Sterne, Prismen tauchten vor uns auf, zogen sich zusammen und formten sich neu. All dies unterwandert von einem unheilvoll flüsterndem Stimmenchor. Sie redeten wie wild durcheinander, unterhielten sich in unzähligen Sprachen und Stimmlagen, einige zaghaft und schüchtern, andere laut und energisch – obwohl keine von ihnen wirklich schrie, geschweige denn den Status des Flüsterns verließ... bis auf eine: „Du hast dein Wort gehalten. Wir haben dich unterschätzt, neue Schwester.“ Mit dem Hall dieser tiefen, verzerrten Stimme, bestehend aus unzähligen einzelnen, verhallten die Diskussionen auf der Stelle und es wurde wieder still um uns. „Das hat nichts mit mir zu tun. Alice ist aus freien Stücken hier, bereit uns zu helfen.“ „Wir spüren ihre Schwächung, aber das Blut in ihren Adern belügt uns nicht. Sie entstammt Vertrauten. Zweier Vertrauter, die uns mittlerweile beide verraten haben. Wie gedenkt sie, den Frevel ihres Blutes wieder gut zu machen?“ Frevel? Ich hatte doch nie etwas Böses getan! Sollte ich tatsächlich meinen Kopf hinhalten, für das, was meine Vorfahren getan hatten? Und warum überhaupt?! Es war eine Falle, ich hätte es wissen müssen! Ich spürte das Knirschen meiner Zähne, die ich mit aller Gewalt und vor Wut aufeinander presste, doch gerade als ich Luft holte, mich gegen dieses... Wesen zu verteidigen, fuhr mir Florence in die Parade: „Mit Verlaub, Alice hat nichts mit den Sünden ihrer Vorfahren zu schaffen! Sie ist hier, um zu helfen, nicht um Buße zu tun!“ „Ihre Motive sind nebensächlich. Blut ist Blut.“ „Das funktioniert nicht bei Sterblichen. Jeder Mensch ist anders. Selbst wenn Magie dafür sorgt, dass wir viel aus den vorherigen Generationen mitnehmen, sind wir immer noch eigenständige Wesen. Und jeder spricht für sich.“ „...Ist dem so? Gut, wir werden das so hinnehmen. Aber wenn sie nicht aus Buße hier ist, welche Motivation steckt dann dahinter? Wonach sehnt sich das Kind des geteilten Bluts?“ Niemand sah mich direkt an, doch die Blicke aller ruhten auf mir, dem konnte ich mich nicht entziehen. Vielleicht war es wirklich nur einer, vielleicht auch hunderte oder gar tausende; die genaue Zahl war unergründlich. Selbst bei Mycraft hatte ich mich nicht so klein gefühlt. Meine Knie wurden weich, meine Kehle glich einer Wüste, mein Augenlicht wurde schwächer, jedes Mal, wenn jene mächtige Stimme vor mir das Wort erhob. Wenn es denn einen Gott gab, war das vor mir wohl das, was seiner Definition am nächsten kam. Ich atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus, presste meine Zunge gegen den Gaumen. Normalerweise würde mich das beruhigen, aber heute funktionierte das nicht. Eher noch raste mein Herz nur noch schneller, während ich krampfhaft nach den passenden Worten in meinem Kopf suchte. „...M-man hat mir gesagt, dass ich alles rückgängig machen kann. Dass ich all das Chaos beseitigen kann. Auch wenn es mich umbringt.“ „Das ist, was wir vorhaben. Der Grund, warum wir dich nach Rhachis eingeladen haben.“ „Aber warum braucht etwas so Mächtiges wie ihr, etwas so Zerbrechliches wie einen Menschen?! Was habe ich, was ihr nicht habt?!“ „Einen Platz in der ersten Welt.“ Die erste Welt? Damit meinten sie wahrscheinlich das Diesseits. Aber das verstand ich nicht. Die Anomalien waren doch auch in Taleswood vertreten, oder etwa nicht? War der Madcap River denn keine?“ „Unser Wirken in eurer Welt ist begrenzt. Wir müssen wohl etwas weiter ausholen: Wir sind das Kollektiv. Eine Ansammlung unzähliger Entitäten, die den Grundstein des Universums gelegt haben und bis heute über seinen Zusammenhalt wachen.“ „Ihr... seid also Gott?“ „So könnte uns eine Sterbliche wohl nennen, aber... wir sind weder allmächtig noch allwissend. Die Welt wie du sie siehst, wurde nicht von uns geschaffen. Sie hat sich als solche entwickelt. Wir speisten sie fröhlich mit unseren Strömen, um ihr Wachsen voranzutreiben. Doch je länger wir dies taten, desto häufiger entwuchs sie uns.“ „So entstanden Anomalien?“ „Positiv. Es waren ungewollte, unkontrollierte Auswüchse des Kollektivs, doch auch wenn sie von uns kamen, waren wir in Rhachis machtlos dagegen. Wir hatten uns zu sehr abgekapselt und den Kontakt zur ersten Welt verloren. Eine Zeit lang konnten wir nichts tun, als den Wilden dabei zuzusehen, wie sie langsam aber sicher die Welt in Schatten legten. Bis eure Rasse auf den Plan trat. Der Mensch war klug und fähig genug, gegen die Abtrünnigen zu bestehen und so schlossen wir mit einigen Ausgewählten einen Kontrakt. Wir schenkten ihnen einen Teil unserer Macht und gaben ihr die Bewahrung der Stabilität zur Aufgabe.“ Magiebegabung war also ein göttliches Geschenk. Ein Teil eines Vertrages. Doch als Antwort war dies noch immer nicht zufriedenstellend. „Wenn ihr uns diese Macht gegeben habt, um für Stabilität zu sorgen, wieso ist dann aus Taleswood geworden, was daraus geworden ist?“ „Wir sind nicht allwissend. Wir konnten die Verkettung jener Folgen nicht abschätzen, wussten nicht, dass der Mensch – alle Intelligenz zum Trotze – noch immer den Makel der Gier trug und sich hinter seiner Fassade nur wenig von den Tieren abhob. Schnell wurde die Welt von Sterblichen überrannt, die ihre Macht missbrauchten. Sie wurden von denen verführt, die ihr Anomalien nennt. Jener schwarze Schatten, dessen Blut du teilst, erlitt das gleiche Schicksal.“ „Ihr... meint Mycraft?“ „Positiv. Du denkst sicherlich, er wäre unbesiegbar, nicht wahr?“ Unbesiegbar... Ein beängstigendes Wort. Und leider gerade nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt. Was wusste ich schon über dieses Monster? Er täuschte, verhexte, mordete fast zwanzig Jahre lang, ohne jegliche Konsequenzen. Seine Aura verschlang alles um ihn herum. Und der Tod selbst schien nicht mehr als eine gelegentliche Lästigkeit zu sein. Wem war es zu verdenken, wenn man ihn für unbesiegbar hielt? „Alice... Ich weiß wie du dich fühlst...“ Florence' heisere Stimme war mittlerweile nicht mehr als ein Flüstern. „Während Mycraft mich langsam zu Tode pflegte, konnte ich nichts anderes tun als dabei zuzusehen, wie er mit den Hoffnungen meiner Schwester spielte. Sie gab sich für ihn hin, ließ sich auf jede Perversion ein, schluckte die Abneigung seiner Schüler und der Stadt schweigend runter.“ „Aber ich dachte, du wärst schwer krank gewesen.“ „Wir Lafayettes haben von eigens her eine seltsame Affinität zur Magie. Sie ist sehr mächtig und zerstörerisch, aber frisst den Benutzer von innen auf. Lafayettsche Magier leben nicht sehr lange, in der Regel nur etwa ein Vierteljahrhundert. In dieser Zeit müssen wir die Gabe weitergeben. Véronique hat dies nie akzeptiert. Sie war mit mir von Zuhause geflohen, schleifte mich durch halb Europa, auf der Suche nach einem Heilmittel. Unsere letzte Station war Taleswood. Mycraft hatte nicht gelogen... Er hatte dafür gesorgt, dass die Magie aus meinem Körper verschwand... und hat sie sich stattdessen mitsamt seiner Seele einverleibt.“ „Einverleibt?“, fragte ich, doch in dem Moment, in dem mir diese Worte aus dem Mund gerutscht waren, bereute ich es zutiefst, denn ich verstand erst dann seine Tragweite. Das Azurblau ihrer Augen verblasste, das lebendige Glänzen entwickelte sich zu einer glasigen, traumatisierten Leere. „Als mein Herz zu schlagen aufhörte und mein Augenlicht verschwand, erwachte ich in einer undurchdringlichen Finsternis. Etwas... drückte mich zu Boden, ein Gewicht, ohne, dass es wirklich da war. Dann und wann stachen riesige Nadeln in mich, saugten jegliche Kraft aus mir. Es war, als würde man mich auffressen, von innen heraus aussaugen, immer und immer und immer wieder. Ich bin nicht nur einmal gestorben. Ich bin hundertmal gestorben und jedes einzelne Mal brannte sich unaufhörlich in mein Gedächtnis ein. So tief, dass ich mit der Zeit alles vergaß. Erst mein Wissen über Musik, dann meine Kenntnisse in Deutsch, Englisch, selbst in meiner Muttersprache... Zeit und Raum waren schon lange nur noch abstrakte Bezeichnungen ohne jeglichen Wert. Am Ende fiel es mir sogar schwer, mich an meinen Namen zu erinnern. Ich wurde... zu einem Niemand. Gefangen in pechschwarzer Folter.“ „Florence...“ „Das änderte sich vor etwa 10 Jahren. Da öffnete ich meine Augen aufs neue, sah auf schneeweiße Hände und in das Gesicht meiner geliebten Schwester... auch wenn sie anders war... Ich sah es in ihrem Blick. Sie war eine seiner Marionetten geworden, ganz gleich, wie sehr sie sich auch wehrte. Und wann immer ich die Augen schloss, wurde ich zurück zur Folterkammer gebracht. Hätte Fleur nicht den Abzug gedrückt... und hättest du Véronique nicht getötet...“ „Florence! Ich wollte nicht... Ich war nicht ich selbst und wenn Véronique uns nicht bedroht hätte dann...“ „Du verstehst das falsch, Alice." Florence hielt meine Wangen. Ein angenehm warmer Strom floss durch ihre Finger in mein Gesicht, beruhigte meine aufgewühlten Nerven und ehe ich mich versah, vergaß ich alles, was zuvor aus mir heraussprudeln wollte. „Wenn du sie in diesem Moment nicht getötet hättest, dann wäre sie seinem Griff nicht entkommen. Sie ist in das Jenseits entkommen, das spüre ich genau. Wenn jemand Mycraft aufhalten kann, dann du.“ „Aus diesem Grund haben wir dich gerufen. Einige Stimmen wollten den Ort namens Taleswood aufgeben, doch wir entschieden uns dagegen.“ „Ach wirklich? Die Götter haben sich also dazu bewegt, ihre leidigen Schöpfungen doch nicht aufzugeben?“ Ich konnte meinen Sarkasmus nicht zurückhalten. Was auch immer das Kollektiv war und ganz gleich wie mächtig es auch war, dieser ignorante Ton war mir zuwider. Am Ende waren sie genauso machtlos wie wir. „Wir verstehen deinen Unmut. Wir können für dein Überleben nicht garantieren.“ „Ich werde euch helfen. Aber für Taleswood, für alle, die dort leben, für meine persönliche Rache an Mycraft, für all das. Aber nicht für euch. Und nicht für das Rückgrat.“ „Wir verstehen. Wir wissen deine Bereitschaft zu schätzen.“ „Was soll ich tun?“ „Das wirst du erfahren, wenn du an der richtigen Stelle aufwachst. Wir kümmern uns darum. Neue Schwester.“ Florence legte ihren Arm um mich und drehte mich mit dem Rücken zum Abgrund. Sie wird mich stoßen, dessen war ich mir bewusst. Aber das war okay. Die Sekunde konnte ich auch noch warten. Sie gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn und schenkte mir ein letztes hübsches, warmes Lächeln. Ein Lächeln, dass mir unwillkürlich die Hoffnung gab, alles würde wieder gut werden. „Keine Angst. Ich lasse dich nicht im Stich. Fleur lässt dich nicht im Stich. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber... wenn du an der richtigen Stelle bist... wenn es dir irgend möglich erscheint... dann bitte ich dich; rette Véronique noch einmal.“ Dann stieß sie mich von der Kante und schaute mir nach, während ich in die endlose Tiefe fiel. Immer kleiner wurde ihr Antlitz, bis sie und die Plattform, auf der sie stand, mit dem pulsierenden Sternenhimmel verschmolzen. Dann wurde ich müde, schläfrig und die Welt um mich herum wurde schwarz. Als ich die Augen öffnete, blendete mich das warme, orangene Licht der untergehenden Sonne. Das Klima war mild, ein kühler Wind schwächte die heißen Strahlen in meinem Gesicht ab. Jemand lehnte sich an mir, rieb ihren Kopf an meinen und ein würzig-lieblicher Duft, wie der einer wilden Blumenwiese stieg mir in die Nase. Sie verschränkte ihre Finger in meinen, schüchtern, verstohlen, als wolle die Person, dass es niemand sah. Erst gedämpft, dann immer klarer vernahm ich das angeregte Gespräch dutzender Frauen und Männer – die meisten ihrer Stimmen kamen mir seltsam bekannt vor, doch ich konnte sie nicht richtig zuordnen. Bis die eine jenen Satz sagte, den ich als ersten deutlich vernahm: „Wie immer ein großartiger Gottesdienst, Reverend.“ Kapitel 28: Eine zweite Chance ------------------------------ Da waren sie. Standen zusammen, lachten, diskutierten fröhlich, als wäre nie etwas Grausames geschehen. Und es benötigte nur eine Sekunde und ich begriff, dass dies die Gegenwart war. Das war keine Erinnerung – in keinster Weise – dafür war alles zu... real. Und das bedeutete... die weichen, schneeweißen Finger, die sich sanft an mir hielten, der süßlich-herbe Duft in meiner Nase, das liebliche Seufzen in meinem Ohr gehörten... Mein Herz machte einen Aussetzer. Hatte man mir tatsächlich diese Chance gegeben? „Ich spüre ihre Ankunft.“ „Sie hat es geschafft?“ „Ihre Lebenszeichen sind schwach.“ „Sie wird es schaffen. Kind des geteilten Blutes. Du musst uns nicht antworten, wir wissen, dass du uns hörst.“ Das Kollektiv... Es sprach zu mir, aber... wo war ich? „Sie fragt, wo sie sei.“ „Es geht nicht darum, 'wo' sie ist. Es geht darum, 'wann' sie ist.“ Wann? Meinten sie etwa... war ich... in der Zeit zurückgereist? „Positiv.“ „Wir konnten dich ein paar Zeitintervalle zurückschicken. Zu einem Punkt ab dem die Entität Mycraft noch nicht erwacht war.“ „Wir befinden uns etwa drei Sonnenumläufe davor.“ „Ich glaube, die Sterblichen bevorzugen den Begriff 'Tage'.“ Also bewahrheitete sich meine Vermutung, auch wenn ich es nur bedingt realisierte: Wir befanden uns an jenem Sonntag, kurz bevor mir Coleman mein Medaillon gestohlen hatte und damit alles ins Rollen kam. Aber was war mit Florence? „Um die alte Zeit nicht zu sehr zu verfälschen, war es vonnöten, dass sie ihr Sein im Kollektiv aufgibt.“ „Zumindest temporär.“ „Es war ein notwendiges Puzzlestück.“ „Wir haben die Zeit schon genug gereizt.“ Sie... war also wieder in Mycrafts Schatten gefangen. Es tat mir weh, das zu hören. Das hatte sie nicht verdient. „Ein geringer Preis.“ „Bedenke, dass Ihre irdische Hülle unwissend ist.“ „Das künstliche Mädchen, das einen Teil Florences in sich trägt.“ „Wenn deine Aufgabe beendet ist, wird sie wieder zu uns stoßen.“ „So wie du.“ ...Was? Kaum hatte es die Worte ausgesprochen, merkte ich, wir mir schwummrig wurde. Meine Sicht verblasste, wurde klar, verblasste wieder und in meinem Kopf hämmerte ein grausam-schmerzhaftes Pochen. Dann ein Ziehen, ein langgezogenes Ziehen aus den Zehen und Fingern heraus, bis in meine Brust... fast so, als wäre mein Körper auf einmal zu eng geworden. „Die Nebenwirkungen zeigen sich bereits.“ „Es war zu viel Kraftaufwand.“ „Sie wird es wohl schaffen.“ Langsam kam ich wieder zu Sinnen, der Schmerz verschwand. Nebenwirkungen sagte es? Hing es damit zusammen, was das Kollektiv gerade erwähnt hatte? Dass ich wieder zum Rückgrat gehen sollte? „Die Zeit mag es nicht, umgekehrt zu werden.“ „Und noch weniger mag sie wissende Rückkehrer – wie eben dich.“ „Damit dich der Sturz nicht zerreißt, mussten wir dir einen Teil unserer Macht zukommen lassen.“ „Dies dürfte auch deiner magischen Kraft zugute gekommen sein.“ „Doch sei dir bewusst, dass du dadurch angreifbar wirst. Unsere Stränge in eurer Welt sind abtrünnig, vergiss das nicht.“ Die Anomalien... Wenn ich mich also nicht sputete, dann würde ich wie Mycraft enden... „Keine Sorge, soweit wird es nicht kommen.“ „Vorher frisst die wilde Magie dich von innen auf und kehrt nach außen.“ Von innen... aufgefressen? Unverzüglich zog sich mein Magen wieder zusammen, verkrampfte sich, doch diesmal war es die Vorstellung im meinem Kopf, die dies simulierte, keine echten Leiden. Die Bereitschaft zu Sterben war etwas ganz anderes, als dem Tod direkt gegenüber zu stehen. Aber gut. Ich würde also mein Leben lassen müssen... Nein, der Gedanke wurde nicht davon angenehmer, dass man ihn wiederholte. „Dir bleiben vielleicht 48 Stunden. Aber wir lassen dich nicht sterben. Wenn du die Sache beendet hast, wirst du dich in jene Ader stürzen, die ihr Madcap River nennt.“ „Und wir werden dich als Teil des Kollektivs begrüßen.“ Und wenn ich scheitere? „Die Option der Niederlage stand und steht nicht zur Debatte.“ „Die Wahrscheinlichkeit besagt, dass du im Falle des Versagens sowieso von Dritten getötet wirst.“ „Aber... und sei dir versichert, das sagen wir nicht zu jedem...“ „...wir vertrauen dir, Kind des geteilten Blutes.“ …Verstanden. Das Ziel war also klar. Mit der wenigen geschenkten Zeit musste ich sehr achtsam umgehen, das Beste daraus machen. Wenn man so wollte, hatte ich den Joker gezogen; und ob dieser das Spiel wenden könnte... das müsste sich erst noch zeigen. „Dein Hausmädchen sieht mir etwas schläfrig aus, Jack“, bemerkte Polizeichef Floyd mit einem verschmitzten Grinsen in unsere Richtung. Ich schreckte hoch. Seine Worte hatten mich aus meiner Trance gerissen. Meine Kiefer pressten sich zornerfüllt aufeinander, als ich das Gesicht dieses Bastards erblickte, doch ich wollte nicht zu viel preisgeben. Er sollte nicht merken, dass ich wusste, für wen er arbeitete. „Hast sie wohl in letzter Zeit nicht nur für den Haushalt beansprucht? Oder war es vielleicht dein Lehrling?“ Tief in meine Gedanken versunken nahm ich das Gekichere der anderen kaum wahr, so irrelevant erschien es mir in diesem Moment. Hausmädchen... Fleur! Mein Puls schlug bis in meinen Hals, Blut schoss in meine Wangen. Sie war es, die an meiner Seite lehnte. Natürlich. So wie an jenem Abend. Ein Pflock rammte sich in mein Herz. Fast schon hatte ich mich mit ihrem Tod abgefunden, da war sie wieder bei mir und dann... sollte ich statt ihrer gehen müssen? Nein, von derlei Dingen durfte ich mich nicht beeindrucken lassen! Das hier war meine Chance, dafür zu sorgen, dass Fleur und Jack und Thomas und all den anderen noch ein paar glückliche Jahre zustanden. Oder zumindest denen, die nicht auf der Gegenseite standen. Unwillkürlich zuckten meine Mundwinkel nach oben. Ich musste sterben, das war der Preis, aber... was war das schon für ein Preis, wenn ich sie nur noch einmal – ein letztes Mal – lächeln sehen durfte? „Hier...“ In meine Hand drückte sich ein schmaler, metallischer Gegenstand: ein Schlüssel. „Geht ihr schon mal vor. Ich komme dann nach.“ Vater zwinkerte mir zu, doch hielt inne als er in mein Gesicht sah, legte prüfend eine Hand auf meine Stirn. Seine warmen, rauen Finger... Ich konnte die vergangenen Bilder nicht ignorieren. Sein leerer, seelenloser Blick, während er zu Boden ging – fast kampflos... Das war kein böser Traum gewesen, das war alles passiert... und sollte wieder passieren, wenn ich nichts dagegen unternahm. Ich müsste sie alle noch einmal sterben sehen. Nach Luft schnappend zuckte ich ein wenig zurück. Mehr und mehr wurde mir bewusst, wie recht das Kollektiv mit seiner Aussage hatte: Scheitern war keine Option. „Alles okay, Alice?“ „U-und bei dir?“ „Was soll mit mir sein?“, fragte er verunsichert. „Ich frage dich das, weil du etwas blass erscheinst. Du wirst doch nicht krank?“ Wenn es nur das wäre... Für einen Moment überkam es mich, ihm alles zu erzählen, doch ich musste vorsichtig sein: Floyd hörte mit. „Ruh dich ein wenig aus, es war eine arbeitsreiche Woche. Fleur, du kümmerst dich doch sicherlich um sie, oder?“ Ich spürte eine kurze Regung von der Person an mir, eine Art Nicken. Dann sah ich noch einmal in die Runde, murmelte eine kurze Abschiedsfloskel, bevor mich ein Paar schneeweißer Hände in die andere Richtung heimwärts geleitete. Ihre Wärme wirkte fast unwirklich, ihre Nähe... war wie ein schöner, aber nur allzu zerbrechlicher Traum und ihn festzuhalten erschien mir in dem Moment wie eine unlösbare Aufgabe. Um uns verwischten die Bewohner zu einer zerflossenen Farbpalette, Haut und Fell sich abwechselnd. Ich wagte es kaum nach links zu sehen, konnte nicht begreifen, ihr hübsches Gesicht noch einmal in voller Pracht zu erblicken. Und umso mehr schmerzte es mich, wie traurig sie schaute... als hätte sie jemand verletzt... Nein, nicht irgendjemand... ich hatte sie verletzt! An diesem Tag hatten wir gestritten, aber... worüber eigentlich? Gemessen an allem, was passiert war – über all die letzten Tage hinweg – erschien es mir in jedem Falle ein unnötiger und unwichtiger Disput gewesen zu sein; vergeudete Zeit, verschwendete Liebe. Was wohl gewesen wäre, hätte ich doch nur nie die Frechheit besessen, sie zu rügen... dafür, dass sie mich liebte. „Verzeih mir...“ Meine Stimme brach, die letzte Silbe war nicht mehr als ein Quieken. Ich hielt an und zerrte Fleur grob zurück. „Was... Aber Alice... Warum weinst du denn?“ Ich weinte? Tatsächlich: Mein Ärmel war mit salzigem Wasser angefeuchtet, als ich mir damit über das Gesicht strich. Fleur beugte sich zu mir hinab und holte ein Taschentuch hinaus, tupfte sanft über meine Augen. Wie sie mich schon wieder bemutterte... Aber das war mir egal, denn ihre weichen Hände auf meinen Wangen spendeten mir ungeheuren Trost über alles, was ich erlebt hatte. „Alice, ich weiß, du willst nicht, dass wir unsere Gefühle füreinander öffentlich zeigen, es ist nur... es fällt mir so unheimlich schwer, zu lügen“, murmelte sie trist. Das wusste ich doch! Sie sollte aufhören, sich Vorwürfe zu machen! „Versteh nur bitte: Ich habe noch nie so gefühlt... noch nie geliebt... und wenn ich Pech habe, ist die Hälfte meines Lebens bereits vorbei. Ich möchte doch nur so gerne jede einzelne Sekunde...“ Weiter kam sie nicht, denn in jenem Moment schlang ich meine Arme um sie, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste sie, lang und innig. Wie kleine elektrische Impulse nahm ich das Zittern ihrer Lippen war, dazu das leicht schüchterne Zurückziehen gemischt mit dem verschämten und doch begierigen Verlangen nach mehr; ihre Hände, die unsicher an meiner Schulter und Brust drückten, sich dann aber fest an meine Bluse klammerten... wenn es auch nur den geringsten Zweifel gab, dass sie es wirklich war, so wurden diese in einer Welle ihres intensiven Duftes und des bittersüßen Geschmacks ihrer Zunge ertränkt. Von Glücksgefühlen überwältigt wurde mir beinah schwindelig, meine Knie weich, die Lider schwer – als würde mir ein besonders schwerer Wein eingeflößt. „Ich habe dich so vermisst...“, hauchte ich, als wir uns endlich lösten und ich stolperte beinahe nach hinten, als meine Fersen endlich wieder festen Boden berührten. „W-was meinst du? Wir waren doch gar nicht...“ „Halt die Klappe, küss mich nochmal!“, befahl ich, reckte mich jedoch dieses mal nicht zu ihr hinauf, sondern packte sie am Kragen und zerrte sie zu mir. Wieder legten sich unsere Lippen aufeinander, wieder setzte dieses unvergleichliche Hochgefühl ein. Hörte ich Getuschel auf der Straße, empörtes Aufschnappen, schmutziges Gelächter, böswillige Bemerkungen? Vielleicht, doch das war mir egal. Mir blieb zu wenig Zeit, um Fleurs Dasein auszukosten, als dass ich mich mit den Urteilen anderer auseinandersetzen konnte. Ich wollte es niemals mehr missen, dieses Gefühl des Schwindels, die wohlige Wärme in meiner Brust, der Kraftverlust in meinen Beinen... Dann löste ich mich von ihr und stürzte auf meine Knie, so plötzlich, als hätte mir jemand unsichtbaren Balast angehängt. Das Schwindelgefühl wurde stärker, zerriss das Bild vor meinen Augen in zwei halbdurchsichtige Illusionen, die wie wild umeinander kreisten und die Wärme entpuppte sich als ein ausgewachsener Großbrand, entzog mir alles Wasser und schmerzte unerträglich. Meine Kehle war so rau, dass ein einziger Atemzug in einem staubtrockenen Hustenanfall endete, der mir die Tränen in die Augen trieb. „Alice! Alice, was ist denn?!“ Fleur rüttelte an meinen Schultern, schien sich nach Hilfe umzusehen, doch so schnell dieser plötzliche Anfall auch gekommen war, so schnell war er auch wieder vorbei. Das mussten die Anomalien sein; eine schmerzhafte Erinnerung, dass meine Zeit knapp wurde. Als sich meine Sicht wieder normalisierte, war meiner erster Blick auf meine Hand gerichtet: Vereinzelte, hellrote Sprenkeln waren auf ihr zu erkennen und an meinem Gaumen hatte sich ein schwaches Metallaroma angesetzt. Hoffentlich würden sich diese Symptome nicht so kontinuierlich verschlimmern, sonst würde ich niemals die zwei Tage durchhalten. "Damit könnte sie recht haben.“ „Sie wird sich daran gewöhnen.“ Die schon wieder. Warum nur hatte ich das Gefühl, dass das Kollektiv seine Hände – oder was auch immer sie sonst besaßen – im Spiel hatte? „Dein mangelndes Vertrauen...“ „...enttäuscht uns...“ „...kränkt uns gar, könnte man sagen!“ „Sofern man unsere Entität überhaupt kränken kann.“ „Wenn wir diesen Einfluss auf eure Welt nehmen könnten, bräuchten wir die Hilfe von euch Sterblichen nicht.“ „Aber nimm den Schaden als Erinnerung an deine Aufgabe.“ Helft mir... was soll ich tun? „Wir sind nicht allwissend.“ „Solltest du das vergessen haben...“ „Hat sie.“ „Aber wir wissen, was zu einer anderen Zeit passiert ist und dass auch in dieser Zeit eben jenes geschehen wird.“ „Die Zeit ist in derlei Dingen ein wenig unflexibel.“ „Es sei denn... du schreitest ein.“ „Verfolge deine Schritte zurück...“ „... und verändere die Faktoren.“ „Vergiss nur nicht, dass du nur einen Versuch hast.“ Die Faktoren ändern? Achso... Ich glaube, ich verstehe was ihr meint... „Es geht mir gut... nur ein kleiner... Schwächeanfall“, murmelte ich, während ich mit Fleurs Hilfe aufstand. Tatsächlich stimmte dies auch: Diese Attacken kamen schnell und heftig, doch sobald sie zu Ende waren, fühlte ich mich vollkommen normal. „Bist du sicher? Wir sollten besser schnell nach Hause.“ „Dafür ist keine Zeit. Los komm!“ Schnell rannte ich los, zog Fleur hinter mir her in die nächste dunkle Gasse. Der erste Schritt war der Diebstahl meines Medaillons. Den Faktor sollte ich ändern? Na gut... ich hoffte nur, sie würde mir nicht allzu böse sein. „W-was ist denn los? Alice du machst mir Angst.“ Fest presste ich das Homunkulus-Mädchen an die Wand und meine Hand auf ihren Mund. „Still... hörst du etwas?“, flüsterte ich und küsste dann meinen Handrücken an der Stelle, wo sich ohne meine Finger ihr Mund befinden würde. Fleurs Augen wanderten wild und verängstigt umher, sie versuchte sich zu wehren, doch ich behielt strikt die Oberhand, presste die Finger nur fester zusammen, als sie einen Jammerlaut von sich geben wollte. So Leid es mir auch tat, gerade benötigte ich absolute Ruhe. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich... nicht auf Geräusche, denn mein Verfolger war von Natur aus auf leisen Pfoten unterwegs. Doch auch er konnte eine Sache nicht verbergen, die jeder magische sechste Sinn erfassen konnte. Ruhig versuchte ich, die Schwingungen in meiner Umgebung voneinander zu unterscheiden, achtete auf jede einzelne Ungereimtheit. Vor meinem geistigen Auge bildeten sich die Umrisse der Umgebung, Häuser, Straßen und Passanten, doch all das interessierte mich nicht. Ich suchte etwas, einen deplazierten Fleck, der sich – jetzt, da ich scheinbar in einem innigen Kuss mit meiner Partnerin verwickelt war – von hinten anschleichen würde. Aber warum war da nichts? Unter meinem strengen Griff ertönte aus Fleurs Mund ein kurzes Flehen, doch ich bestrafte dies nur, indem ich mich noch enger gegen sie presste. Verzeih mir, Liebste, aber es musste sein. Ich musste genauer hinsehen, mich fester konzentrieren... Da waren schon die Pfoten nach meinen Nacken ausgestreckt, drauf und dran, den kleinen Haken der Kette zu öffnen. Ich bließ sanft Luft aus und spürte, wie die zuvor noch flinken Fingerchen von einem auf den anderen Moment langsamer wurden, sich kaum mehr bewegten. Schnell wirbelte ich herum, schlug direkt nach vorne. Auch wenn ich ihn noch nicht sah, wusste ich doch, dass er dort war und nur wenige Sekunden darauf, traf meine Faust auf eine unsichtbare Schnauze. Und mit dem Treffer nahm die Zeit wieder Fahrt auf. Binnen Augenblicken riss der Illusionsvorhang auf und von meinem Treffer zurückgeschleudert wurde ein hellbrauner Kater in einem grauen Anzug mit passender Melone und aufwendig verziertem Gehstock. Coleman stolperte einige Schritte zurück, hielt sich das Gesicht. „Oh, verfluchte Scheiße!“, stieß er aus. Aus seinen Nasenlöchern floss ein dicker, tiefroter Bach. „Und dann auch noch auf das Näschen! Jede Wette, die ist eingedrückt wie bei dieser arroganten Perserbrut!“ „Das ist nur gerecht, du Arsch!“ Ich rannte auf ihn zu und rammte meine Knöchel direkt in seine Wange. Coleman fiel mit dem Bauch voran in den Staub, die Melone purzelte von seinem Haupt. „Ok... das wollte ich ja eigentlich nicht tun, aber du lässt mir keine Wahl!“ Der Kater sprang auf, schwang seinen Stock in meine Richtung. Zwecklos. Kaum sah ich den Stock kommen, verlangsamte ich die Zeit, lehnte mich in aller Ruhe nach hinten, sodass er einfach an mir vorbei flog, machte einen Schritt nach rechts, als er den Griff nach vorne rammte und trat dem beschuhten Kater galant in die Seite. Dieser rappelte sich wieder auf, fuhr seine Krallen aus, langte nach mir, doch ehe er sich versah, packte ich seine Pfote und ließ ihn über meinen Fuß stolpern. Ich sprang durch die Zeit, als hätte ich noch nie etwas anderes getan, verlangsamte und beschleunigte sie, wie es mir gefiel. Es war unmöglich für den samtpfötigen Illusionisten, mit mir Schritt zu halten. Wollte er sich unsichtbar machen, unterbrach ich ihn, bevor es funktionierte, schlug er zu, war ich schon lange aus dem Weg, bevor er mich erreichen konnte – und bestrafte jeden Angriff mit einem Konter. Was mich noch beim ersten Mal so angestrengt hatte, wurde jetzt – mithilfe der Macht des Kollektivs – zu einem Kinderspiel und inszenierte den Kampf wie ein Ballett. Ich verspürte ein endlos befriedigendes Gefühl der Überlegenheit, hätte noch ewig so weiter machen können, doch als sich mein Gegner kaum mehr auf den Beinen halten konnte, beendete ich unsere einseitige Schlägerei. „Was zur Hölle war das!?“, presste Coleman keuchend und hellroten Speichel spuckend hervor, während er sich auf seinen Stock stützte, um nicht aus den Latschen zu kippen. Sein sonst so gut gepflegtes Fell war überall zerzaust und die Melone saß mehr schlecht als recht auf seinem Kopf; hatte eine kleine Delle, da einer von uns wohl versehentlich draufgetreten sein musste. „Das war meine Revanche.“ Ich merkte, dass ich doch etwas aus der Puste war, doch bedeutend weniger als in den Momenten, als ich zum ersten Mal Zeitsprünge genutzt hatte. Fast schien es mir, als würde meine Magienutzung die zerstörerischen Kräfte in meinem Körper besser im Zaum halten, als wenn ich sie sparte. „Erstens: Die Blessuren kompensieren nicht den Diebstahl eines mickrigen Schmuckstücks – Gott weiß was sie ausgerechnet damit will – und zweitens: Das war nicht meine Frage. Ich meinte... das vorhin... das waren Zeitsprünge, oder? Sie hatte doch gesagt, du wärst nur ein winziger Lehrling.“ „Der Schein kann trügen, mein lieber Coleman.“ Einen kurzen Moment lang hüllte sich die Welt in Stille. Zumindest die Welt um uns drei. Als ich hinter mich blickte, sah ich in Fleurs verunsichertes Gesicht, doch zugleich war der Hauch von Bewunderung nicht zu verkennen und ihr Anblick zwang mir ein unwillkürliches Lächeln ab. Zum ersten Mal konnte ich sie wirklich beschützen. Ich griff nach ihrer Hand, zog sie hoch und küsste sie schnell auf die Wange. „Lauf zurück und hol Jack. Sag ihm... Sag ihm, er soll dich unverzüglich nach Hause begleiten. Und sich danach zu La Belles Haus aufmachen. Aber erst wenn du sicher zu Hause bist und nicht eine Sekunde früher.“ Für einen Moment starrte meine Freundin mich nur ausdruckslos an, blickte nach unten; dann nickte sie schnell und lief aus der Gasse. Ihr wurde bewusst, dass ich mit meiner Bitte nicht scherzte – auch wenn ich mir noch nicht sicher war, ob mein Plan nicht nach hinten losgehen würde. „So...“, begann Coleman, als wir allein waren und steckte sich eine Zigarette an. Er hatte unterdessen seinen Anzug gerichtet und gab sich beste Mühe, seine Würde zurückzugewinnen. „Du weißt also wer ich bin... Und scheinbar weißt du auch, wer mich geschickt hat. Was bist du? Eine Hellseherin?“ Ich lehnte mich an die Wand und legte den Kopf schief. Ein gelassenes Grinsen zierte mein Gesicht, doch in Wahrheit wurde mir vor Nervosität schlecht. Ich ließ mir Zeit mit meinen Worten, überlegte jedes ganz genau. „Was, wenn ich dir sage, dass du schon einmal versucht hast, mein Amulett zu stehlen? Und es dir sogar gelungen ist?“ „Bitte?“ Der Kater dachte wohl, ich verschaukelte ihn – wer sollte es ihm verdenken? „Nur damit ich das richtig verstehe: Ich soll dich schon einmal bestohlen haben? Und wann bitteschön soll das gewesen sein?“ „Vor etwa fünf Minuten.“ „Vor etwa fünf Minuten habe ich für eben jenen Versuch einen auf den Deckel bekommen.“ „Nicht unsere fünf Minuten. Aber es gibt eine Zeit, in der du dieses kleine Schmuckstück geklaut hast, womit eine Reihe von Ereignissen in Gang geriet, die Veronique, Jack, Fleur... und nicht zuletzt auch dir das Leben kosteten.“ „...Du kannst viel erzählen.“ „Ich kenne deinen Namen und den deines Auftraggebers und ich wusste, was du vorhattest. Ich kann dir auch sagen, dass Véronique dich darum bitten wird, damit die Barriere der Goldenen Uhr am Kirchplatz zu öffnen und dass du dafür meine Hilfe brauchen wirst. Und zuletzt weiß ich auch, warum du all das tust.“ Coleman schwieg für einen Moment, dann fing er an zu kichern und wischte sich mit einer Pfote über die Augen, bevor er aufseufzte. „Also gut... ich spiele mit. Was ist mein Preis?“ „Deine Freiheit. Du willst den Fluch von dir nehmen lassen, der dich in dieser Stadt einsperrt. Und dafür brauchst du ein gewisses kleines schwarzes Buch.“ Coleman fiel die Zigarette aus dem Maul. „Wer... bist du?“ „Eine Freundin. Eine zukünftige Freundin, die dir helfen will.“ „So bescheuert das auch klingt, aber bist du... aus der Zukunft?“ „Ich weiß es nicht genau. Was ich weiß, ist, dass ich Dinge miterlebt habe, die ich nicht noch einmal erleben will.“ Coleman haderte, das sah ich genau. Wer konnte es ihm verübeln, gab es doch immerhin keinen eindeutigen Beweis dafür, dass ich die Wahrheit sprach? Er drehte sich um, wanderte ein paar Sekunden auf und ab. „Kannst du das wirklich? Kannst du mir helfen, diese Stadt zu verlassen?“ Ich sah einen seltsamen Hoffnungsschimmer in seinen Augen, während er mir diese Frage stellte. „Dein Fluch ist wahrscheinlich an Mycraft geknüpft. Wenn er stirbt...“ „Mycraft ist schon lange tot.“ „Ist er nicht. Ich habe ihn gesehen. Wahrscheinlich ruht er aktuell, wartet auf seine Chance.“ Coleman lachte verächtllich. „Also... hätte ich all die Jahre ihn einfach nur finden und abmurksen müssen?“ „Das letzte Mal, als ich ihn sah, konnten ihm gewöhnliche Waffen nichts anhaben. Aber vielleicht gibt sein Grimoire mehr her. Und das liegt bei Véronique.“ „Du willst es von ihr stehlen? Schlechte Idee, das garantiere ich dir.“ „Seh ich auch so. Deswegen werde ich dafür sorgen, dass sie es mir freiwillig gibt.“ „Warum sollte sie das tun?“ „... Weil das ihre einzige Chance ist, Frieden zu finden.“ Ein letztes Mal zögerte der Kater, dann streckte er seine Pfote aus und ich schlug ein. Die Sonne tauchte das leicht schiefe Anwesen von La Belle in ein warmes und zugleich bedrohliches orange-rotes Licht, unterbrochen durch die unzähligen Baumkronen und so in ein unwirkliches Halbdunkel gesetzt, in dem die Schatten mit dem Wind tanzten. Es war entspannt ruhig, wir vernahmen nur die Geräusche des Waldes. Vater war also noch nicht da. Sehr gut. Das bedeutete, dass er Fleur sicher nach Hause begleiten würde, so wie ich es verlangt hatte. Doch noch mehr ging es mir darum, mit Véronique erst allein zu sprechen. Coleman setzte mich vor dem Weg ab. Es war erstaunlich leicht gewesen, ihn davon zu überzeugen mich zu tragen – und zugleich auch bitter nötig, denn noch während wir liefen überfiel mich ein kleiner Schwächeanfall, der sich jedoch schnell wieder legte. Der Kater hatte davon nichts mitbekommen und das war mir auch lieber. „So... und hier wohnt meine Auftragsgeberin.“ „Ich weiß. Ich war hier schon einmal.“ „Richtig, ganz vergessen... bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, direkt mit Véronique zu sprechen? Soweit ich weiß, lebst du doch mit Jacob Salem zusammen, das ist doch auch ein erstklassiger Magier.“ „Leider brauche ich sie beide. Jack mag mächtig sein, aber La Belle hat Mycrafts Unterlagen. Und wenn sie nicht für uns ist... im schlimmsten Fall ist sie gegen uns.“ Mit diesen Worten schlug ich schwungvoll gegen die Tür und lauschte nach den schnellen Schritten einer der Homunkuli. Langsam wurde meine Nervosität größer. Mit diesem Ort waren mehr als genug negative Erinnerungen verbunden und als ich in das Katzengesicht neben mir sah, überlappten sich die Bilder seines blutgetränkten und durchlöcherten Fells, während seine Zunge schlaff aus dem Maul hing. Ich schüttelte den Kopf und diese Klette namens Erinnerung somit von mir. Dieses Mal war alles anders. Niemand musste sterben. Naja, niemand bis auf einem... Die Tür ging auf und einer der Homunkuli, ein junger Mann mit akkuratem Kurzhaarschnitt und einem streng sitzendem Anzug stand in der Schwelle, sah uns mit seinen ausdruckslosen violetten Augen an. „Sie wünschen?“, kam es kurz und knapp. „Wir wollen mit La Belle sprechen.“ „Die werte Madame empfängt keine Bes-“ „Admetts-ils und zwar unverzüglich!“ Ich erschrak. Die Stimme La Belles hallte von allen Seiten wieder, so als stünde sie direkt neben mir – oder als käme die Stimme direkt aus unseren Köpfen. Der grauhaarige Diener zuckte kurz, blieb aber sonst unberührt. Dann machte er einen Schritt zur Seite, verbeugte sich schnell und sprach: „Meine Dame, mein Herr, bitte treten Sie ein.“ Ich ging voran, nachdem mich der Kater mit einem kleinlauten „Ladies first“ schon fast hineingeschoben hatte, vorbei an den stellenweise beeindruckend guten, aber auch so mancher peinlich schlechten Präparation, die in dem engen Korridor standen und geradeaus in den Salon. Véronique musste ebenfalls gerade erst heimgekommen sein, denn sie trug noch ein paar Handschuhe und ihre Stiefel, während sie, die Arme hinter den Rücken verschränkt, auf die Buchrücken in ihrem Regal starrte. Sie machte keinerlei Anstalten sich umzudrehen, uns zu begrüßen, oder gar etwas zu Trinken anzubieten – nicht, dass ich Letzteres ernsthaft erwartet hatte, aber irgendeine Reaktion wäre schon wünschenswert gewesen. „Coleman, als ich Sie anheuerte, dachte ich, ich hätte jemand Fähigen engagiert... Stattdessen haben Sie nicht nur beim Diebstahl versagt, Sie haben die Bestohlene sogar direkt zu mir geführt. Und verprügelt hat man Sie dabei anscheinend auch noch. Ein Straßenköter hätte das besser hingekriegt“, sagte die Magierin und schaute einmal kurz über die Schulter. Ihr eisblauer Blick durchbohrte mich, doch anders als zuvor verängstigte er mich nicht mehr. Stattdessen fiel mir in diesem Moment auf, wie ähnlich sie und ihre Schwester sich doch waren und so konnte ich nicht anders, als hinter ihrer Fassade Florence zu sehen. „Nun gut, jetzt bist du hier... Setz dich doch“, seufzte sie und wies auf den Sessel. Welch Ironie: Auf eben jenem hatte ich auch bei meinem ersten Besuch gesessen, war damals von ihr mit ihren liebenswerten Rosenranken gefoltert worden. Doch heute würde es nicht so laufen und so nahm ich entspannt Platz. Nicht zuletzt war sie noch immer die Herrin des Hauses und wenn man vom Gastgeber einen Platz anboten bekam, so setzte man sich – einfache Höflichkeit. „Nun sag an, petite Alice... du weißt dass ich deine Kette haben möchte, die Tatsache, dass du hier bist, sagt mir, dass du sie vielleicht tauschen möchtest. Aber was lässt dich glauben, dass ich verhandle?“ „Was lässt denn Sie glauben, dass ich wirklich mein Medaillon abgeben möchte?“ Die Magierin lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und blies hörbar Luft aus ihrer Nase. „Ist das ein Spiel? Denn ich hasse die Spiele, deren Regeln ich nicht kenne.“ „Kein Spiel, keine Drohung und auch kein Hinterhalt. Ich will Ihnen helfen.“ „Du glaubst, ich bräuchte deine Hilfe?“ „Ich weiß es. Ich habe es gesehen.“ Für einen Augenblick zögerte die schöne Französin, tauschte Blicke mit dem Kater aus, doch Coleman gab weder durch Mimik noch Gestik etwas preis – wie denn auch, er wusste sowieso kaum etwas. Dann nickte sie und fing an zu kichern. „Alles klar, ich verstehe schon. Es ging um meinen Besuch nicht wahr? Nun, zum einen habe ich damals nach Jack gefragt und nur mit dir als Notstopfen Vorlieb genommen. Zum anderen sind gestern und heute zwei verschiedene Zeiten. Alles, was ich heute von dir brauche, ist dein Medaillon.“ „Das wird Ihnen aber nicht weiterhelfen. Wenn Sie das Medaillon mit der Uhr verbinden, wird das Florence nicht wieder lebendig machen.“ Es war binnen einer Sekunde, dass die Magierin aufgesprungen und zu mir gestürmt war. Um sie und mich wickelten sich dunkle Ranken mit spitzen Dornen, schlängelten um mich, bereit auf Kommando zuzudrücken. Die Augen meines Gegenübers glühten in scharlachrot, die Iris verdrehte sich in unwirklichen Schwaden um die zitternde, immer kleiner werdende Pupille, als würde der rote Sud die schwarzen Punkte auffressen. Und als Véronique die Worte durch ihre Zähne zischte, da hörte ich seine Stimme ganz eindeutig mit hinter der ihren hervorschimmern: „Was weißt du Gör denn schon?! Du unterschätzt uns und unsere Fähigkeiten?!“ Eine Ranke schoss aus ihrem Schatten hervor und auf mich zu, bildete eine Schlinge, bereit sich um meinen Hals zu wickeln. Instinktiv riss ich die Hände hoch und drehte den Kopf weg, da entlud sich eine kurze Hitzewelle aus meinen Händen, begleitet von einem hellblauen Lichtblitz. Véronique zuckte zurück, starrte auf meine bläulich glühenden Fingerspitzen. Ich musste instinktiv die Glut in meinem Körper hervorgeholt haben und wie zuvor bedurfte es keiner großen Anstrengung, um solche Magie zu wirken – und ebenso wie zuvor war der Ausstoß um ein Vielfaches gewaltiger gegenüber meinen alten Fähigkeiten. Ein Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. An solche Momente konnte ich mich gewöhnen. „Nun Véronique... wie Sie sehen, bin ich mehr als nur ein Gör.“ Da schoss hinter mir eine ganze Reihe von Schlingen hervor, packte mich an den Armen und fesselte mich – die Adern fast schon abschnürend – an den Armlehnen fest. Ich pumpte alles Glut an die Stellen, brannte mich durch die Ranken Stück für Stück. Als sie durchschmorten, griff ich nach meiner Kette, riss sie von meinem Hals – wobei sie sich um ein Vielfaches verlängerte – und schwang sie auf Véronique, doch diese holte gleichzeitig mit einer Ranke zum Schlag aus und so knallten wir uns fast zeitgleich unsere Peitschen direkt ins Gesicht. Von meiner Augenbraue bis zu meiner Unterlippe pulsierte ein brennender Schmerz und ein Blick zu meinem Gegenüber zeigte, dass auch ihr hübsches Gesicht von einem langen, hellroten Striemen entstellt wurde. Mir wurde klar, dass ich stärker war als zuvor – dennoch, es war ein grundsätzlich anderes Gefühl, gegen einen echten Magier anzutreten, der genau wusste, wie er seine Fähigkeiten einzusetzen hatte. Es war so viel anders, als gegen jemanden zu kämpfen, dessen magische Fähigkeiten lediglich eine Nebenwirkung waren. „Zugegeben, du hast das ein oder andere auf dem Kasten“, knurrte La Belle und hielt sich das Gesicht, ließ sich wieder auf das Sofa fallen. „Und ich weiß sehr viel über Ihre Experimente. Insbesondere über Fleur.“ „F-Fleur?“ Auf einen Schlag entwich das glühende Rot und ein fast schon besorgtes, auf jeden Fall aber nur allzu menschliches Schimmern zeigte sich in ihren blauen Augen. „Sie wollten sie niemals verletzen, nicht wahr?“ „Fleur war ein Fehlschlag, ein misslungener Homunkulus.“ „Nein. Sie war Ihre beste Schöpfung und das wissen Sie. Es war ihre Geburt, die Ihnen klar machte, dass es unmöglich war, Florence wiederzubeleben. Deswegen wollten Sie sie zerstören. Oder besser... nicht Sie, sondern Mycraft wollte sie zerstören.“ „Ich habe es fast gelöst! Ich brauche deine Hilfe nicht!“ Ich schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Dann drehte ich mich zum Kater. „Coleman, in dem Regal da vorne findest du mehrere Bücher mit rotem Ledereinband. Das jüngste müsste etwa drei Jahre alt sein.“ Ein lautes Rumpeln unterbrach mich beinahe. Das Regal wurde in einem überdimensionalen Geflecht besetzt mit pechschwarzen Dornen eingeschlossen. Véronique schaute wütend zu mir, doch in ihren Augen spiegelte sich noch etwas, wenn auch nur ganz gering: Furcht. Und auch wenn dieser Schein nur kurz auftauchte, bedeutete er dennoch, dass die berechnende Fassade zu bröckeln anfing. „Woher weißt du davon?“, knurrte sie und blitzte mich hasserfüllt an. „Ich habe sie gesehen, Ihre Tagebücher. Sie sind auf französisch, daher verstehe ich sie nicht, aber zwischen den Seiten waren alchemistische Forschungsberichte. Sie stehen vor keinem Durchbruch Véronique. Denn Sie haben seit drei Jahren nicht mehr experimentiert.“ „Ich warne dich, kleine Göre, noch ein Wort und ich werde nicht nur dir, sondern auch deiner geliebten Fleur den Hals...“ „Das können Sie nicht. Sie sind an Ihr gebunden, Sie können Ihr gar nicht wehtun.“ „Und wer hat dir das nun wieder erzählt?“ „Das waren Sie selbst.“ Véroniques Zähneknirschen war so laut, dass ich es selbst unter ihrem schweren Schnaufen ohne weiteres hören konnte. In ihren Augen waberte das finstere Rot, ein Anzeichen dafür, dass sie nicht mehr Herrin ihrer Sinne war. Doch es übermannte sie nicht – noch nicht. „Du lügst...“ „Fleur ist Florences nahezu perfektes Ebenbild. Ich weiß es, denn ich habe Florence getroffen.“ „Du lügst...“ „Glauben Sie, was Sie wollen, aber eines ist sicher: Florence liebt Sie über alles, aber fürchtet um Ihre Seele. Und Fleurs Tod wird nur Ihr Ende besiegeln. Denken Sie doch nicht, dass Mycraft jemals etwas an Ihnen oder gar Ihrer Schwester lag.“ „Halt endlich deine Klappe!!“ Ich hatte Sie zu stark gereizt – oder vielleicht gerade stark genug. Unter Ihrem Schreien schoss eine Reihe von Dornen aus ihrem Körper, schlugen wie Splitter in Möbel, Schränke und brachten die Gläser auf den Tischen zum platzen. Und auch ich erwartete, mir einige einzufangen, riss Arme und Beine hoch, um Gesicht und Torso zu schützen. Klirren und Knarzen umgaben mich, bis es hinter mir lauthals krachte und ein donnernder Sturm durch die Tür brach. Doch der erwartete Schmerz blieb aus und das zittrige Stöhnen meines Gegenübers, welches schon fast mit Wimmern verwechselt werden konnte – aber bitte, wir sprachen hier von La Belle – verstummte kurz, bis es zu einem boshaften Kichern verzerrte. „So, so... und ich dachte, du traust dich nicht in dieses Haus.“ Im Raum verteilte sich der bekannte Geruch eines sanften, fast schon süßlichen Tabaks und als ich die Augen wieder zu öffnen wagte, erschien vor mir eine schwarz leuchtende Barriere aus komplexen Zeichen, in welcher die Dornen stecken geblieben waren. Und als ich über die Schulter blickte, sah ich in Jacks vom blaugrauen Dunst verwaschene Augen, vor Wut und Entschlossenheit knisternd und dennoch in einer leichten Traurigkeit verhangen. Um die eine Hand, welche nach vorne gestreckt auf die Barriere zeigte, und den Dolch in der anderen Faust waberte die gleiche schwärzlich leuchtende Aura, bis er den ausgestreckten Arm senkte und sie verblasste. Die Barriere verschwand und die feststeckenden Dornen purzelten dumpf zu Boden. Ich atmete erleichtert aus: Ganze Bücher hätten nicht beschreiben können, was für eine klischeehafte Dramatik in seinem Auftritt lag, aber ich wollte mich nicht beschweren. „Hatte ich es dir nicht gesagt? 'Wage es noch einmal jemanden zu verletzen und wir werden die Sache endgültig zu Ende bringen. Und zwar bis zum Tod.' Waren das nicht meine Worte, als wir uns zuletzt sahen?“, drohte Jack. Ich dachte, ich hätte dieses Aufeinandertreffen nie wieder sehen, geschweige denn spüren können. Dieser Zusammenstoß eines tobenden Gewitters auf einen zerstörerischen Schneesturm. So angsteinflößend diese Auren auch waren, so süchtig machte es, sie zu erfahren. Und dennoch... etwas wirkte seltsam in diesem Moment. „Nun zugegeben, mein Hübscher, das hattest du gesagt. Wie hätte ich deine Worte vergessen können, als du die arme kleine Fleur aus meinen blutüberströmten Händen gerissen und mich zum Sterben zurückgelassen hattest?“ „Glaub mir, wenn ich nicht fast genauso fertig gewesen wäre, hätte ich dir den Hals umgedreht.“ „Oh, versteh mich nicht falsch, deine Warnung war eindeutig. Und doch bist du hier und obwohl ich gerade so schwach und zerbrechlich bin, lebe ich noch.“ Véronique schwankte ein wenig, als hätte sie gerade nicht nur ein paar Dornen, sondern einen Großteil ihrer Kraft von sich gestoßen und obwohl ihr Satz so voller Sarkasmus steckte, sprach sie ihn zumindest mit Verwunderung, mehr aber noch mit Erleichterung aus. Doch Jack wirkte ähnlich seltsam erschöpft – nicht körperlich, eher seelisch – und während seiner nächsten Worte ließ er mich nicht eine Sekunde aus den Augen: „Weil... weil meine Tochter dies so wünschte.“ Während er das sagte, zückte er einen kleinen Zettel. Eben jenen, den ich Fleur kurz vor ihrer Flucht in die Hand gedrückt hatte. Ich nickte ruhig und lächelte mild. Der Inhalt war mir bekannt. Und auch die Tatsache, dass ich ihn darin mit 'Vater' angesprochen hatte. Jack schluchzte auf, fuhr sich kurz über die Augen, als wolle er eine imaginäre Träne wegwischen. „Du weißt es... du weißt es wirklich. Alice, ich...“ „Ist schon okay. Du hattest deine Gründe.“ „Aber ich verstehe nicht. Wer hat es dir gesagt?“ „Das ist eine lange Geschichte...“ Mein Schädel dröhnte, platzte geradezu, während ich ohne Unterlass den Anwesenden erzählte, was geschehen war – oder geschehen würde. Zum ersten Mal merkte ich richtig, wie schwierig es war, die Details richtig zusammenzufügen, denn die Erinnerungen an das Passierte waren Erinnerungen, die eigentlich nie geschehen waren – oder so ähnlich, ich wollte eigentlich nicht zu viel darüber nachdenken. Die Bilder in meinem Kopf schwankten, wurden undeutlich, meine Zunge fühlte sich an wie ein lebloser Lappen, den ich mir langsam fusselig redete. Schock, Unglauben und Faszination standen in den Gesichtern meiner Zuhörer, dem einen mehr, dem anderen weniger – wobei es mehr als eindeutig war, dass Coleman all dies am schlechtesten verdaute. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich endlich mit meinen Ausführungen fertig wurde. Und als ich endlich verstummte und mein Hals bis auf den letzten Tropfen ausgetrocknet war, versank alles für einen Moment in Totenstille. Dann fing Véronique lauthals an zu lachen, kringelte sich schon fast. Es war ein überhebliches Lachen, keine Frage, doch etwas in ihm klang beinah... wie ein verzweifelter Hilferuf. „Was für ein wunderschönes, kleines Märchen, das du uns da auftischst, ja! Aber glaubst du denn wirklich, dass wir dir das glauben sollen?! Eine überdimensionale magische Zwischenwelt, gefangen in der goldenen Uhr, Mycraft als unsterbliche Anomalie, der ganz Taleswood in seinen Fängen hat und nicht zuletzt... standest ausgerechnet du, von allen auf dieser Welt, vor Gott?! Aber touché, wie du es vorgetragen hast, habe ich es fast geglaubt.“ „Weil es wahr ist.“ Diese Worte kamen nicht von mir – es waren Jacks. Und erstaunten mich genauso wie alle anderen in diesem Raum, denn ich hatte nicht wirklich erwartet, dass mir auch nur einer anstandslos glaubte. „Es ist schwer, das alles zu verkraften, aber wenn Alice uns wirklich belügen wollte, hätte sie uns etwas Glaubwürdigeres erzählt. Nicht zuletzt kennen weder ich, noch du, La Belle, die Grenzen der Magie – geschweige denn Ihren Ursprung. Ich glaube ihr... insbesondere, weil sie mein Kind ist.“ „Aber all das ist lächerlich“, protestierte sie. „Ihr wollt mir also erzählen, dass all die Jahre... all... meine... Hoffnung... ich könnte sie retten... unnötig waren?“ Véronique wankte nicht mehr – ihre Knie sackten zusammen, sie krallte sich am Vorhang fest und fing an lauter zu schreien, zerrte am Stoff, biss sich daran fest und lachte gehässig – oder heulte sie vielleicht? Ihre Fäuste rammten in den Boden, erschufen tausende Lichtblitze und mit jedem brachen blutrote Ranken aus allen Wänden und Ecken, eroberten bald schon jeden Winkel des Hauses. Unsicher presste ich mich gegen Vaters Arm, um dem Schauspiel möglichst weit weg zu bleiben. Coleman hingegen trieb die Neugier näher an die seltsamen Pflanzen, die er vorsichtig mit seiner Pfote anrührte, bis eine Ranke ihm dafür auf die Finger schlug. Und unter all dem Chaos wanderte eine der Homunkuli – das Mädchen hieß Bise, wenn ich mich noch recht an die Unterlagen erinnerte – und tat so, als wäre nichts geschehen. Wahrscheinlich waren solche Dinge für sie nicht sonderlich spektakulär. „Vater... was geschieht hier?“ Jack zückte seinen Dolch, umfasste ihn mit aller Gewalt. „Erkennst du es nicht? Immerhin war es dir auch schon einmal passiert.“ Ich überlegte nur kurz, bevor es mir wie Schuppen von den Augen fiel. „Du darfst sie nicht verletzen“, murmelte ich. „Wir brauchen sie.“ „Welch Ironie... Dass ich sie ausgerechnet jetzt verschonen soll. Aber keine Sorge... ich kann es zwar kaum glauben, aber sie... kommt seltsam gut damit klar. Es wirkt so, als würde sie gerade alle negative Energie aus ihrem Körper pressen. Sie... muss die ganzen Jahre tatsächlich nicht nur zum Studium der Zerstörung genutzt haben.“ „Sie musste sich zwar Mycrafts Macht leihen um eine echte Magierin zu werden, aber das heißt nicht, dass kein echtes Magierblut in ihr fließt. Sie und ihre Schwester sind Lafayettes.“ „Lafayettes?! Aber dann... dann ergibt vieles Sinn, was ich in jungen Jahren nicht verstehen wollte. Mycraft ist also nie an Véronique interessiert gewesen. Nur an ihrer Schwester. Sie selbst war nur ein Spielzeug...“ Kaum hatte Jack dies ausgesprochen, stoppten die Dornenranken ihren Vormarsch, hielten einen Moment inne und verkrochen sich dann blitzschnell wieder in alle Ecken und Ritzen aus denen sie hervorgekommen waren. „Verflucht, was war das denn?!“, keuchte Coleman. Es war der erste Satz, den der Kater seit einer langen Zeit gesagt hatte. Und in seinem pelzigen Gesicht zeigte sich auch warum: Er war mit all dem absolut überfordert. Trotz Magie in seinem Körper, waren die Mächte eines echten Magiers für ihn eine fremde Welt – ebenso wie seine Probleme. „Das, meine liebe Katze, nennt man eine magische Überreaktion“, sprach die schöne Französin mit einem leichten Stöhnen. Als wäre sie ein neuer Mensch erhob sich Véronique von ihrem Platz. Schweiß perlte von ihrer Stirn und verklebte das mattschwarze, strähnige Haar. Ihre vollen Lippen hatten sich zu einem Grinsen verzogen und ein dünner Blutstreifen lief aus der unteren hinunter zum Kinn – sie hatte sie sich wahrscheinlich aufgebissen. „Ich konnte Florence nicht retten, sagst du?“, knurrte sie. Jack wollte sich schon schützend vor mich schieben, doch ich hielt ihn zurück. „Niemand konnte das. Sie hat es mir selbst gesagt. Aber ihre Seele bleibt in Mycrafts Fängen, solange wir nichts unternehmen. Und alles wird sich wiederholen. Ich bitte Sie – euch alle – um Hilfe.“ Vater legte seine warme Hand auf meinen Kopf und küsste sanft meine Stirn. Ein einzelner Tropfen hing in seinem Auge und das Lächeln war müde. Doch da war noch etwas anderes; ein Schleier, der ihn sanft umfasste, sich an ihn schmiegte. „Du wirst deiner Mutter wirklich immer ähnlicher. Äußerlich, aber vor allem im Wesen. Niemals hätte ich zu ihr 'nein' sagen können und so ist es auch bei dir. Ich bleibe. Nicht zuletzt, da deine Worte uns allen Angst machen sollten.“ Der Schleier glänzte noch stärker, schlug sich los und berührte mich leicht und bei dem sanften Schauer, den er in mir auslöste, konnte ich gar nicht anders, als zu lächeln. Ich kannte diese ruhige, ausgeglichene Aura nur zu gut, war sie doch immerhin ein Teil von mir. Wenn Mutter uns beistand, dann, so war ich mir sicher, würde alles gut werden. „Wenn Mycraft tot ist, sagtest du...“, mischte sich Coleman ein. „... dann wird auch mein Fluch versiegen und ich kann endlich diese vermaledeite Stadt verlassen?“ „Es besteht keine Garantie“, ermahnte ich ihn. „Aber es ist deine beste Chance.“ „Das sind nicht gerade die besten Verkaufsgespräche. Aber dann wiederum habe ich auch mit Véronique paktiert. Irgendwie bezweifle ich, dass es unter deiner Fuchtel schlimmer wird. Diese Klauen gehören dir, Alice.“ Erwartungsvoll schaute ich zu Véronique. In ihren Augen spiegelte sich die Zwietracht, die sie erlebte, doch etwas kristallisierte sich darunter resolut heraus: Unbändiger Rachedurst. Und es war dieser Schein, der mir versicherte, dass sie auf unserer Seite stand. „Ich will seinen Kopf. Es interessiert mich nicht, was danach passiert. Weder mit mir noch mit euch. Aber wenn es soweit ist... und Mycraft am Boden liegt... dann will ich es sein, die ihm den Todesstoß versetzt. Ich muss sein Gesicht direkt vor mir sehen, wenn endlich das Leben aus diesem altersschwachen Hundesohn entweicht.“ Mit festem Blick und noch fester geballter Faust trat sie zu mir, schaute mich direkt an. Sie würde nicht mein Einverständnis einfordern. Und das musste sie auch nicht. Aber tatsächlich war ich erleichtert. Von allen benötigte ich Véroniques Hilfe am meisten, denn niemand – nicht einmal Jack – war meinem Ururgroßvater so nah gewesen. Nicht zuletzt besaß sie sein Grimoire und wenn es etwas gab, das uns nicht nur seine Motive, sondern vielleicht auch seine Schwäche verriet, dann dieses Buch. Die erste Etappe war geschafft. Welche Chancen wir uns zu viert ausmalen konnten, war fraglich, doch bisher war Mycraft uns nur begegnet, als wir geschwächt und er auf dem Gipfel seiner Macht war. Mein Plan war einfach, wenn auch nur auf dem Papier: Wir mussten den Spieß umdrehen. Doch etwas verschaffte mir die Ahnung, dass alles gut ausgehen würde. Wir waren einfach zum ersten Mal wirklich vorbereitet. Doch dann ermahnte mich mein Körper an unseren größten Konkurrenten: Die Zeit. Ich wollte schon zu einem kampfeslustigen Grinsen ansetzen, da füllte sich mein Mund blitzschnell mit metallischem Speichel und ich erbrach auf das helle Holzparkett einen Schwall tiefroter Flüssigkeit. „Alice! Alice, was ist mit dir?!“ Ich bemerkte Vater kaum. Seine Stimme klang dumpf und weit entfernt, als wäre ich unter Wasser, meine Sicht wurde vom kleinsten Licht überstrahlt wie von einem Stern und in meinem Torso zerriss mein Gewebe. Es fühlte sich an, als würde etwas rasant Wachsendes aus mir platzen wollen, ohne Rücksicht auf Verluste – ein Geschwür oder gar ein Tumor. In meinen Beinen brannte alle Kraft aus, hielt meinen Körper nicht mehr, ich stürzte zu Boden. Und während ich noch krampfhaft versuchte dagegen anzukämpfen, wurde mir schwarz vor Augen und ich fiel in eine endlose Finsternis. Kapitel 29: Showdown - Finale ----------------------------- „Siehst du sie noch?“, hörte ich Colemans angespannte Stimme gleich rechts von mir. Ich bemerkte sein ununterbrochenes Tippeln der Füße, das mich langsam aber sicher mit seiner Nervosität ansteckte. Von dem Dach, auf das wir uns geschlichen hatten, hatte man das Polizeipräsidium, die Kirche, das Rathaus und nicht zuletzt die goldene Uhr perfekt im Blick. Es war erstaunlich, wenn man darüber nachdachte – als hätte jemand absichtlich diese Dinge so nah aneinander gebaut. Ich schloss meine Augen noch fester, konzentrierte mich noch stärker, doch je mehr ich das Umfeld meines sechsten Sinnes ausweitete, desto verschwommener wurden die beiden Auren, die ich seit gut zehn Minuten verfolgte. Sie waren bisher ununterbrochen in Bewegung gewesen, doch nun standen sie still – wenn auch dies nur schwer zu erkennen war. „Sie sollten da sein“, murmelte ich und öffnete die Augen. Die Morgendämmerung hatte noch gar nicht eingesetzt, dennoch war es bereits hell genug, dass sich meine Augen einen Moment lang an das Licht gewöhnen mussten. Wie spät es jetzt wohl war? Dem Sonnenstand nach zu urteilen – sie zeigte sich gerade erst am Horizont – konnte es maximal vier Uhr morgens sein. „Sie sollten da sein?! Sind sie angekommen oder nicht?!“ „Ich denke schon...“ „ Verdammt, Alice! 'Hätte, könnte, sollte' sind nicht gerade beruhigende Aussagen!“ „Halt deine Schnauze, ich weiß es halt nicht definitiv! Bewusste Aurenortung – insbesondere über eine große Distanz – ist noch einmal etwas ganz anderes als die passive, dauerhafte Wahrnehmung ihrer Existenz... nicht, dass du das wirklich verstehen könntest. Wir müssen darauf vertrauen, dass sie sich an den Plan halten.“ Der Kater presste ein Geräusch aus seinen Zähnen, das zwischen Seufzen und Fauchen so ziemlich alles hätte sein können. Dann begutachtete er seine Krallen und sprach weiter: „Bei deinem Alten hege ich auch keinen Zweifel, so vernarrt wie er in dich ist. Aber La Belle ist nicht gerade das, was man vertrauensseelig nennt.“ „Warum wolltest du dann in erster Linie überhaupt mit ihr zusammenarbeiten?“, warf ich ein. „In der Not frisst der Teufel Fliegen. Wen hätte ich denn sonst fragen können? Deinen Alten ganz sicher nicht. Außerdem war mir klar, dass ich Mycrafts Grimoire benötigen würde und das befand sich nunmal wiederum in Véroniques Händen... ansonsten hätte ich mich nicht mit ihr abgegeben... Ich wollte einfach raus. Irgendwann konnte ich mich einfach nicht mehr mit dem Umstand arrangieren, für immer in Taleswood festzuhä-“ „Still! Es beginnt“, flüsterte ich und nahm mein Medaillon ab. Von links und recht flackerten kurze Lichtblitze auf. Schnell hielt ich Coleman meine Hand hin und nickte ihm zu. Er reagierte sofort und kratzte meinen Daumen auf. Ich atmete ruhig, doch konnte nicht verleugnen, dass die Aufregung in mir wuchs. Langsam wurde es ernst; jeder Fehltritt konnte fatal sein. Doch das durfte mich jetzt nicht ablenken. Ich warf mein Medium in die Luft. Knapp einen Meter stieg es nach oben, dann blieb es stehen und wurde kaum einen Augenblick später von zwei hellen weißen Lichtstrahlen aufgefangen, die sich genau darin trafen. Das Licht darum sprühte kleine elektrische Funken und brachte das Medaillon regelrecht zum Leuchten. Ich schaute nach links und nach rechts; zu beiden Seiten zogen sich die weißen Linien in die Nacht, bis sie auf einen ähnlich strahlend hellen Punkt trafen und ich wusste, dass auch diese beiden Punkte durch einen Strahl verbunden waren – auch wenn ich diesen nicht sehen konnte. Es wirkte, als hätten wir ein eigenes kleines Sternbild geschaffen. „Und das soll Mycraft aufhalten?“ „Solange wir leben, auf jeden Fall. Vater hat die Formel des Bannzaubers ausgearbeitet und er kennt sich mit solchen Sachen aus. Immerhin konnte er mein Zuhause damals in Whitechapel über Jahre hinweg vor jedem Einwohner schützen. Und Véronique den Zutritt in das seine verweigern. Diese Barriere wird niemanden raus- oder reinlassen – außer uns natürlich.“ „Und wenn wir sterben?“ Ich zögerte mit meiner Antwort, schaute an dem leuchtenden Balken vorbei in die Nacht. Vor uns erhob sich die Silhouette des einzigen Gebäudes, das von diesem Dreieck vereinnahmt wurde: Das Polizeipräsidium. „... Dann sind wir sowieso alle verloren. So eingebildet das auch klingen mag, Coleman, aber wir sind die einzige Hoffnung Taleswoods.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und stieg schnellen Schrittes die Feuerleiter hinab. Coleman folgte mir und steckte sich im Gehen eine Zigarette an – die wahrscheinlich letzte für eine lange Zeit. „Dann hoffe ich mal...“, bemerkte er missmutig, „...dass uns deine Anfälle nicht die Suppe versalzen.“ Ich hielt einen Moment inne und fasste an meine Brust. In ihr wummerte mein Herz deutlich spürbar, angetrieben von Aufregung, aber auch von all der Anstrengung die ihm widerfahren war. „Ja... das hoffe ich tatsächlich auch...“ Das erste, was ich verschwommen erkannte, als ich wieder erwachte, war ein Glas Wasser, das senkrecht zu mir stand. Der Grund auf meiner linken Seite war weich und besaß den schwachen, obgleich noch immer äußerst verführerischen Duft eines teuren Parfums. In meinem Gaumen hing noch immer ein dünnes Metallaroma fest und als ich meinen Speichel sammelte, um es im ganzen herunterzuschlucken, fuhr ein unangenehmes Kribbeln durch den ganzen Körper, als würden kleine Tierchen auf meiner Haut herumkrabbeln. Mein Schädel dröhnte noch etwas, doch das kam wohl eher von der plötzlichen Helligkeit, die meinem Blickfeld widerfuhr und verschwand auch in wenigen Sekunden. Eigentlich ging es mir ganz gut – so, wie auch nach den letzten Anfällen. Ich verspürte den Drang sofort aufzuspringen, doch als ich mich aufrichtete, hielt mich eine große, raue Hand an der Schulter und drückte mich sanft in die Kissen, fühlte darauf kurz meine Stirn und strich mir sanft über die Wange. „Wie... wie lange war ich weg?“ „Nur ein paar Minuten...“ Vaters Stimme klang heiser und seine Handbewegung – das bemerkte ich erst jetzt richtig – war zittrig. Meine Sicht wurde klar und gab die ernste Miene in seinem Antlitz frei. Ich sah nach links und erkannte Coleman und Véronique in einiger Entfernung. Der Kater wirkte verunsichert, vielleicht besorgt, doch die schöne Magierin neben ihm... sie als misstrauisch zu bezeichnen, war untertrieben. „Sie verheimlicht uns etwas“, zischte sie und verzog den Mund zu einem grimmigen, langgezogenen Strich. Ich wendete mich zu Jack, als hätte ich einen Protest von seiner Seite erwartet – doch der schaute mich nur umso fester an. „Alice... Du hast Blut gespuckt. Was ist los?“, fragte er mich mit fester Stimme. Es war nicht so, als würde er sich keine Sorgen machen, aber dennoch spürte ich, dass auch er von mir eine klare Antwort verlangte. Ich wollte es eigentlich verschweigen, um nicht schwach zu wirken, doch vielleicht war es ziemlich naiv gewesen, zu glauben, dass es nicht auffallen würde. Und außerdem sollten die anderen wissen, woran sie waren. Ich richtete mich auf, griff nach dem Glas und spülte die letzten verbleibenden Blutspuren aus meinem Mund. Es schmeckte scheußlich und drehte mir den Magen auf links, aber erst jetzt merkte ich, wie durstig ich eigentlich war und nahm noch einen tiefen Schluck. So hatte ich auch ein wenig Bedenkzeit. „Wenn das, was mir das Kollektiv sagte, wahr ist, dann bleiben mir nicht einmal mehr zwei Tage.“ „Wenn was wahr ist?!“ Jack packte mich am Kragen und zerrte mich zu sich. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass er sich meine Worte bereits ausmalte. „Als... als sie mich zurückgeschickt haben, mussten sie mich mit einigem an magischer Energie füttern. Das führte zum einen dazu, dass ich mit euren Fähigkeiten mithalten konnte. Aber diese Kräfte macht mein Körper nicht lange mit.“ Die sonst so kräftigen Hände ließen mich augenblicklich los und sanken matt in meinen Schoß. „Dann müssen wir dich zuerst heilen! Wir... wir können schließlich nicht riskieren, dass du mitten im Kampf umkippst.“ „Dafür fehlt uns die Zeit!“ „Aber warum denn? Mycraft hat 17 Jahre gewartet, da kann er sicherlich noch ein wenig länger-“ „Les Anomalies“, kam es von der Seite. La Belle verschränkte die Arme vor der Brust und blies merklich Luft aus ihrer Nase. „Ich habe zig Jahre daran geforscht, hoffte darin den Schlüssel zu finden. Wenn Sie auch nicht mächtiger sind als der Tod, aber ihre wahren Kräfte übersteigen die von uns Magiern bei weitem.“ „Lächerlich“, entgegnete Jack und richtete sich so ruhig auf, als wäre er von seiner Idee wirklich überzeugt.. „Mit Anomalien töten verdiene ich meinen Lebensunterhalt.“ „Kleine, schwache Hüllen die zum Großteil aus heißer Luft bestehen? Sicherlich. Aber in einem Menschen gefangen sind die Anomalien eine ganz andere Gefahr. Wie ein Geschwür breiten sie sich im Körper aus und machen den Wirt von ihnen abhängig.“ „Woher willst du das wissen, La Belle?“ „Weil ich lange genug mit dem Gedanken gespielt habe, mich von ihnen komplett auffressen zu lassen... um vielleicht so dann doch Florence wiederzusehen...“ Vater sah mich verzweifelt an, flehte mit seinem Blick, dass ich ihm sagen sollte, dass es vielleicht doch noch Hoffnung gab – aber ich schüttelte den Kopf. „Nein... das ist nicht wahr... ich... ich kann dich doch nicht auch noch verlieren, Alice! Erst deine Mutter... und dann du? W-Warum nur?“ Jacks Schultern bebten und als ich meine Hände in seine legte, tropften dicke Tränen auf meine Haut. „Ist schon okay...“, murmelte ich. Es war seltsam, aber ich hatte es bedeutend leichter, hiermit abzuschließen als er, konnte aber dennoch nicht die richtigen Worte finden, um ihn zu trösten. Daher legte ich nur schweigend meine Arme um ihn und streichelte seinen Rücken. „Wie oft kommen diese Anfälle vor?“, fragte Coleman nach einiger Zeit, gesellte sich wieder zu uns. „Das kann ich nicht sagen. Ich bin erst seit wenigen Stunden in dieser Zeit, währenddessen kamen sie allesamt zufällig zum Vorschein.“ „Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass du im entscheidenden Moment nicht umkippst?“ „Das werde ich nicht.“ „Meine Sorge ist eher, dass sie vorher aufgefressen wird“, kommentierte Véronique und gab ein Geräusch von sich, das an einen zynischen Lacher erinnerte, bevor sie fortfuhr: „Wir können nicht noch einen Mycraft gebrauchen.“ „Das werde ich nicht!“, wiederholte ich noch eindringlicher. „Aber die Garantie bleibt aus“, entgegnete La Belle in ähnlich festem Ton und Coleman stimmte ihr stumm zu. „Wir werden ihr vertrauen. Immerhin muss ich das auch bei dir, La Belle“, gab Jack ruhig von sich. Von ein auf dem anderen Moment beendete er seine Trauer und richtete sich schweigend auf. „Vater...“ „Sag uns, Alice: Weißt du ungefähr wie viel Zeit dir bleibt?“ „Laut Kollektiv 48 Stunden. Davon sind mittlerweile vielleicht 4 verstrichen.“ Er nickte entschlossen und fuhr sich durchs Haar. „Nun gut. Das ist weit mehr, als ich erwartet habe. La Belle, hol das Grimoire.“ Die Französin grinste den jüngeren Magier kampfeslustig an. „Aber aber, woher denn der plötzliche Befehlston?“, fragte sie neckisch. Er stellte sich zu ihr schaute ihr tief in die Augen. Es war wie so oft, wenn die beiden aufeinandertrafen, doch wo sich sonst die Auren abstießen, vermischten sie sich nun zu einer gewaltigen Masse. „Rache, Véronique. Auch wenn Alice sich freiwillig hierfür entschieden hat; diese Entscheidung musste sie einzig und allein wegen eines Mannes treffen. Gerade eben fühlte ich mich ähnlich machtlos wie einst, als sich mein Dolch in Claires Rücken bohrte. Und aus diesem Grund wirst du dir Mycrafts Kopf mit mir teilen müssen. Seine Reise zur Hölle ist schon lange überfällig.“ Wir trafen uns beim Haupteingang mit den anderen beiden. Über uns hatte sich eine schimmernde, doch zugleich beinahe unsichtbare dreieckige Fläche zugezogen, welche die Kanten des Präsidiums unwirklich hervorhob. Vor uns erstreckten sich die hohen, altweißen Säulen im Stile antiker Baukunst, welche dem etwas in die Jahre gekommenem, aber durchaus erwürdigen Bau den Eindruck eines Gerichtgebäudes gaben. „Natürlich verschlossen...“, murmelte Véronique, die sich bereits an der Eingangstür zu schaffen machte. „Das ist dann was für unsere Promenadenmischung.“ „Wie geht es dir?“, fragte mich Jack und berührte kurz meine Wange, doch ich zog mein Gesicht zurück. „Ich bin kein kleines Kind, ich kann auf mich aufpassen.“ „Ich meinte, wie fühlst du dich, jetzt nachdem du doch ein wenig mehr Energie aufgewendet hast.“ Ich überlegte kurz und hielt mein Herz. Es schlug ruhig und ich verspürte auch keinen Schmerz. Tatsächlich fühlte ich mich gerade wieder fitter als zuvor. Die Anomalien konnten anscheinend wirklich dem Körper weniger schaden, wenn man einen Teil der Magie regelmäßig abstieß – auch wenn dies den Verfall an sich wohl nicht aufhalten konnte. „Immerhin ist sie so tatsächlich nützlich. Ihre Aura ist klar und fest, viel stärker als noch bei unserer ersten Begegnung“, kommentierte Véronique und schlug die Ärmel ihrer Bluse zurück. Seit wir begonnen hatten, Pläne zu schmieden, waren die roten Augen nicht mehr wiedergekommen. „Alice wird unser Schlüssel sein. Immerhin war sie es, die vom Kollektiv ausgewählt wurde“, entgegnete Jack und tat es der Schwarzhaarigen gleich. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken eine 'Auserwählte' zu sein. Ob mein geteiltes Blut wirklich den Unterschied machen könnte? Ich wollte noch nicht daran glauben und so lenkte ich meine Gedanken eher in Richtung meines Blickes und damit die wenigen Stufen hinauf ins Präsidium. „Es ist ruhig... fast schon zu ruhig“, bemerkte ich. „Ich habe eigentlich Wachen in- und außerhalb des Gebäudes erwartet.“ „Floyd hatte schon vor Jahren die Nachtwache des Präsidiums zum Zwecke der Erholung abgeschafft. Die Truppen in Bereitschaft sollten lieber durch die Stadt patrouillieren und nach dem Dienst direkt nach Hause gehen“, erklärte Vater. Coleman grinste sarkastisch. „Und so hatte er den ganzen Bau des Nachts für sich allein... Und konnte in aller Ruhe seinem 'Herrn und Meister' dienen“, bemerkte der Kater und machte eine beschwörende Geste. „Als er uns festnahm, hatte er ein kleines Grüppchen treuer Vasallen bei sich. Wir sollten uns vielleicht auf kleinere Wachposten einstellen.“ „Dann werden wir sie halt auch töten.“ Alle schauten zu Véronique, in der Hoffnung, sie hätte dies gerade nicht wirklich ernst gemeint – unnötig zu erwähnen, dass sie es selbstverständlich ernst gemeint hatte. „La Belle, wir werden niemanden töten, außer Mycraft“, sagte Jack mit aller Eindringlichkeit, die er aufbringen konnte. „Schlappschwanz. Es wird getan, was getan werden muss. Außerdem willst du doch nicht wirklich Floyd mit dem Leben davonkommen lassen, oder?“ „Es besteht die Chance, dass wir das nicht müssen. Wir werden niemand Unschuldiges töten“, mischte ich mich ein. „Wir sind keine Mörder.“ „Von denen ist niemand wirklich unschuldig, das liegt schon an ihrem Beruf“, fauchte Coleman, doch fügte nach kurzer Überlegung hinzu: „Aber wenn ihr euch dann besser fühlt, kann ich die Wachen lautlos bewusstlos schlagen, sollten wir auf welche stoßen.“ „Meinen Sie wirklich, dass Sie das können, Katze?“, fragte Jack. „Hey, zu etwas muss ich doch gut sein. Bei dem Hokuspokus bleibe ich dafür außen vor. Und wenn ihr mich nun entschuldigt, ich habe eine Tür zu knacken.“ Der Kater huschte flink zur Tür und nahm seinen Gehstock zur Hand. Ich hatte es ja ein Stück weit erwartet, dennoch war ich ein wenig beeindruckt, als er mit einem schnellen Handgriff den Adlerkopf abschraubte und wie bei einem Taschenmesser einige Werkzeuge herausklappte. „Du hast es gehört, La Belle? Wir werden niemanden töten. Wirst du uns Ärger machen?“ Vater ließ nicht locker, doch das überraschte mich nicht - bedeutete es doch schon viel, dass die beiden einfach nur zusammenarbeiteten. „Zum einen, Jacob: Ich habe das Versteckspiel leid, also nenn' mich endlich Lafayette. Und zum anderen: Ich habe kein Interesse an dem Leben kleiner Fische. Wenn ihr das ganze pazifistisch angehen wollt, dann bitte. Aber sollte auch nur einer nicht einschlafen wollen, dann wird Blut fließen. Auch und insbesondere Floyds. Ihr wollt den Plan doch nicht wegen dummer Gewissensbisse gefährden, oder?“ Wortlos knallte Véronique Mycrafts Grimoire auf den Tisch, um den wir vier uns versammelt hatten. Es war das zweite Mal, dass ich es zu Gesicht bekam und wo es mir beim ersten Mal – vielleicht auch angetrieben durch die damaligen Umstände – noch wie ein gewöhnliches Büchlein vorgekommen war, konnte ich in diesem Moment die dunkle, fast schon bedrohliche Ausstrahlung nicht verleugnen. Je länger ich den pechschwarzen Ledereinband beobachtete, desto näher schien er mir zu kommen, desto genauer wurde die feine Textur des Materials und mit der Zeit begannen die unscheinbaren Muster sich auzudehnen und zusammenzuziehen, fast so als... ja, als würde das Buch atmen. Es pulsierte und wummerte, gar dachte man, einen Herzschlag zu vernehmen. Das Buch gierte danach geöffnet zu werden und in meiner Fantasie hörte ich es flüstern: „Lies mich... verschlinge das Wissen und Vermächtnis meines alten Meisters... lass dich von mir in den Wahnsinn treiben...“ Ich schreckte hoch und schüttelte den Kopf, schaute benommen in die Runde. Es war schwer zu erkennen, ob die anderen auch dieses Gefühl hatten, doch in Véroniques Gesicht zeichnete sich nur allzu gut ab, dass sie die Macht des Buches kannte. Langsam wanderte mein Blick wieder auf das Grimoire, da griff gerade Jacks Hand danach. Neugierig und doch in aller Ruhe besah er sich das Buch, schlug die erste Seite auf und legte die Finger an die Stelle, an der sich wohl die Widmung befand. „In jungen Jahren waren wir alle so besessen darauf, einen Blick hierein zu werfen, aber jetzt... 'Eigentum von Alexander Victor Salem'...“ Seine Finger verkrampften sich und zerrten an dem trockenen Papier, als könnte er mit bloßer Kraft die Tinte daraus ziehen – als würde ihm das irgendetwas wiedergeben. Dann blätterte er durch. Seine Augen überflogen jede Seite scheinbar unwillkürlich, doch wir merkten schnell, dass er sie ganz genau studierte, während er die Oberthemen jedes Kapitels vor sich hin murmelte: „Elementarinjektion... Antimaterieforschung... Homunkulusanatomie... Aurenmaterialisation... Anomaliensymbiose... Schattensubstanzen... Was zur Hölle soll das sein?“ Die letzte Frage ging in Richtung Véroniques, die darauf jedoch nicht reagierte, sondern ihrem Gegenüber nur stumm und starr in die Augen blickte. Jack senkte den Blick wieder aufs Buch, schlug Seite um Seite um, doch konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Das ist... ich meine... Was ist das überhaupt? Ich habe so etwas noch nie gesehen. Hört euch das an: '… so ergibt sich der Grundsatz, dass eine Anomalie, um seinem Dasein als Schatten zu entkommen, eine potente Hülle benötigt. Es löscht dabei die Seele bis zu dem absolut notwendigen Minimum, gibt dem Wirt dafür extreme regenerative Fähigkeiten, die an Unsterblichkeit grenzen...'“ „Er ist also einen Pakt mit den Anomalien eingegangen?“, fragte ich. „Zumindest hat er es in Betracht gezogen. Hier geht es noch weiter: 'Versuche mit nichtmenschlichen Kreaturen führen zur Zerstörung des Körpers binnen Sekunden. Tiere halten dem Platz nicht stand, den die Anomalie für sich beanspruchte. Die Erfolge hielten sich auch bei normalen Menschen in Grenzen. Trotz anfänglicher Erfolge stellte sich nach kurzer Zeit ein recht blutiges Ergebnis ein, oftmals platzte die fleischliche Hülle aus dem inneren Druck heraus einfach auseinander...'“ Jack stoppte. Seine Augen weiteten sich und seine Zunge fuhr zuckend über die trockenen Lippen, bevor er zu Véronique aufsah. Diese reagierte schnell und riss ihm das Buch aus der Hand. Immer und immer wieder wanderten ihre Augen von oben nach unten, während die Pupille immer kleiner wurde. „W-was steht denn da?“, fragte Coleman zögerlich und ich war mir nicht so ganz sicher, ob ich das wirklich hören sollte. „Soerette...“, hauchte sie, bevor eine dicke, kristallklare Träne aus ihrem Auge wich und blitzschnell seine Bahn Richtung Dekolleté zog. Es fehlte wohl nicht viel, bis ihre Finger den Einband durchbohrt hätten und das Knirschen ihrer Zähne musste meilenweit zu vernehmen sein. „'Einen Durchbruch bildet in diesem Zusammenhang die Lafayette-Tochter. Erkenntnisse aus der Analyse ihres Blutes ergaben, dass die Lafayettes anormale Gene besitzen, was bedeutet, dass sich der Clan vor einigen Jahrhunderten bereits mit den Anomalien eingelassen hat – das Motiv der erstrebten Unsterblichkeit gilt als sehr wahrscheinlich. Fakt ist, dass diese Familie einige besonders große Mächte besitzt, diese jedoch den Körper binnen eines Vierteljahrhunderts komplett zerstören. In meinen Untersuchungen ergab sich, dass die Symbiose zwischen Anomalie und Mensch bei den Lafayettes besser funktioniert als irgendwo sonst. Ich habe dementsprechend...“ In einem spitzen Schrei warf Véronique das Buch gegen die erstbeste Wand und nagelte es – kaum dass es den Putz berührte – mit einer Ranke fest, die blitzschnell aus dem Boden gekrochen kam. In einem lauten Krachen blieb das Grimoire an der Wand hängen – wir hatten nicht einmal registriert, was geschehen war, da war es schon passiert. Für einen Moment war es totenstill um uns herum... dann fing sie an zu kichern. „Verdammt, La Belle, bist du vollkommen wahnsinnig?! Wir brauchen es!“, brüllte Jack. „Es heißt Lafayette! Und außerdem...“ Die Ranke zog sich wieder zurück und ließ das Buch zu Boden fallen. Und bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es nicht einen nicht ein klitzekleiner Kratzer entstanden war. Hatte Véronique den Angriff vorzeitig gestoppt? Nein, viel wahrscheinlicher war, dass das Buch nicht so einfach zerstört werden konnte. „Haben Sie es nie komplett gelesen?“, fragte Coleman skeptisch. „Natürlich habe ich es komplett gelesen! Aber... dieser Absatz? Den hat es niemals gegeben, da bin ich mir sicher!“ Ich konnte mir schon vorstellen, warum sie ihn nicht kannte: Sie war Mycrafts Marionette gewesen. Für ihn war es wahrscheinlich ein leichtes, die Menschen auch aus der Distanz zu manipulieren – sodass sie sogar ganze Absätze ignorierten. Langsam ging ich auf das Buch zu und blätterte zum Absatz, den Véronique wahrscheinlich gelesen hatte, las ihn still für mich selbst: 'Ich habe dementsprechend das Subjekt unter dem Einfluss unterschiedlicher Stränge untersucht. Das Ergebnis war eine fortwährende Beschädigung des Körpers, doch zugleich zeigte sich, dass ihre magischen Fähigkeiten exponentiell anwuchsen. Blutabnahmen wurden für unterschiedliche Tests natürlich regelmäßig genommen. Den ersten Durchbruch erlebte die Homunkulus-Forschung' Diese Sätze waren als eine Randnotiz quer in einer unfassbar kleinen Schrift geschrieben, darüber befand sich eine Art Formel, die mich ins Stocken geraten lies. Es waren dabei nicht einmal die Schriften über die Qualen, die Florence erleiden musste, die mich am meisten schockierten. Was ich hier vor mir sah, war eine kleinlich präzise Aufbauanleitung für Fleur – inklusive detaillierter Materialliste. Und Mycrafts 'Durchbruch' war niemand geringeres als der Homunkulus Cat aus der Londoner Bücherei. Ich fragte mich, wie sie wohl seinen Fängen entkam und wer auf die Idee kam, sie in diesem Untergrund-Laden zu verstecken. Ich blätterte weiter, überflog Kapitel, Bannkreis-Skizzen, Zauberformeln – das Buch war nicht einmal besonders dick, dennoch reichte sein Inhalt aus, um drei Leben lang zu lernen. Das allermeiste verstand ich nicht, außer so viel: Mycraft hatte sein Leben der Suche nach der Unsterblichkeit gewidmet – Eigenkonservierung, Homunkulusregenerationen und Anomalienheilung ließen keinen anderen Schluss zu, auch wenn noch viele andere, äußerst mächtige Zauber beschrieben wurden. Er hatte an Florence experimentiert, nicht um eine Symbiose mit den Anomalien einzugehen, sondern um ihr Herr zu werden. Doch über seine Fehde gegen die Maelduns fiel kein Wort. „Nicht verwunderlich...“, murmelte ich etwas enttäuscht: „Immerhin ist das kein Tagebu-.“ Ich stockte, blickte verwundert auf eine Seite, die mir beim Durchblättern in die Hände fiel. Es zeigte einen überdimensionalen Kreis, über einer Kartenskizze, dessen Grundriss mir nur allzu vertraut vorkam. In der Mitte des Kreises befand sich ein kleiner freier Platz, mit einem großen, fünfeckigen Gebäude an dessen Nordseite. „Haben Sie eine Karte von Taleswood hier, Véronique?“, fragte ich schnell. Die schöne Französin nickte und zerrte aus Ihrem Regal ein gut gefaltetes Papier, das sie auf dem Tisch ausbreitete. Ich legte das Grimoire offen daneben und es dauerte nicht lang, bis den anderen die Ähnlichkeiten auffielen und Jack auf den Ort auf der Karte tippte, der im Grimoire eingekreist war: Der Kirchplatz. „Aber mehr noch geht es um das, was sich in dessen Zentrum befindet“ „Die goldene Uhr...“, wisperte Coleman. „Aber was hat es mit dem roten Kreis auf sich? Ein Magiekreis oder etwas in der Art?“ „Das...“, ich zögerte. „das zeigt wahrscheinlich den Explosionsradius an.“ „Den Explosionsradius?!“ Wieder ruhten alle Augen auf mir. Ich legte mein Medaillon ab und hielt es hoch. „Als ich damit die Schwebende Uhr öffnete, wurde eine gigantische Menge an Energie freigesetzt, die zu einer magischen Explosion führte. Ich kann es nicht beschwören, aber...“ Meine Finger fuhren über die roten Linien. „Das hier passt verdächtig gut zu den Schäden, welche die Explosion hinterlassen hat.“ „Mycraft hatte das gewusst?“, fragte Jack. „Geplant“, korrigierte Véronique und lehnte sich vor. „Wer war nebst mir Mycrafts größter Verbündeter?“ „Commissioner Floyd...“ Tatsächlich. Ich klopfte auf ein großes Gebäude, das sich nur ein paar Meter außerhalb des Radius befand: Das Polizeirevier. Coleman öffnete die Tür und schlich in das Gebäude. Noch während seine Gestalt die Pforte überschritt, verschwand sie in der Finsternis. „Das ist eine grauenhafte Idee, den Flofänger vorzuschicken“, grummelte Véronique. „Wir sollten es nicht riskieren, gesehen zu werden“, warf Jack ein. „Colemans Magie funktioniert anders als die unsere. Seine Aura ist zwar existent, aber deutlich schwächer.“ „Ihr seid Feiglinge.“ Die Magierin spuckte aus und stieß uns weg. Ich wollte ihr gerade folgen, da griff mich Vater am Arm. „Sie ist gefährlich“, knurrte er. „Sie ist bloß gereizt, weil es ihr nicht schnell genug geht.“ „Was bedeutet, dass sie etwas Unüberlegtes tun wird...“ „Hab bitte ein wenig Vertrauen. Sie ist motiviert genug, uns zu unterstützen. Und wir brauchen ihre Stärke.“ Jack strich mir sanft durchs Haar. „Also gut... Wenn du so überzeugt bist.“ Die glänzenden Hallen lagen still da, während sich unsere Silhouetten verzerrt auf dem polierten Marmorboden im Mondlicht spiegelten. Ich spitzte die Ohren und schielte in die Nacht. Nirgendwo rührte sich etwas. Hatten wir uns doch geirrt und hier war nichts? Doch da tauchte ein seltsamer Schimmer vor uns auf und nahm langsam Form an. „Also, in den oberen Etagen ist niemand“, erklärte Coleman, während er sich langsam wieder materialisierte. „Aber im Keller gibt es einige Wachen. Vielleicht fünf, oder sechs Stück.“ „Hast du Floyd gesehen?“, fragte Véronique sofort, aber der Kater schüttelte nur mit dem Kopf. Commissioner Floyd... Ich hatte es bisher ganz gut zurückdrängen können, doch nun lief mir beim Gedanken an diesen Mann ein kalter Schauer über den Rücken. Die Erinnerung an die Nacht in La Belles Haus, war in diesem Moment so stark, dass sich mein Hals zuschnürte und imaginäre Finger meinen Körper bis hinunter zu meinem Gürtel begrapschten. „Wir werden es versuchen.“ Jacks Worte befreiten mich von dem beklemmenden Gefühl. „Sie bewachen wohl kaum den geheimen Weinvorrat der Polizei. Coleman?“ „Schon unterwegs. Bleibt am besten so lange hier im Erdgesch-“ „Auf keinen Fall“, unterbrach Véronique ihn und schritt entschieden an uns vorbei in Richtung Keller. „Nach der Schlappe mit Alices Medaillon, lass ich Sie ganz sicher nichts allein machen, Katze. Wenn Sie entdeckt werden und jemand Alarm schlägt, war die Planung für umsonst.“ „Der verpatzte Diebstahl zählt nicht, Alice wusste ja Bescheid“, wehrte sich der Kater entschieden. Man hörte geradezu, wie ihn die Sache in seinem Stolz verletzt hatte. „Es reicht trotzdem aus, damit ich Ihnen nicht mehr vertraue.“ „Und warum sollte ich dir vertrauen, Véronique?“, mischte sich Jack ein und packte die Schwarzhaarige am Arm, da sie gerade schon ohne uns weitergehen wollte. Ich seufzte. Mir war schon klar, dass es schwierig sein würde, die drei zur Zusammenarbeit zu bewegen – gleiche Ziele hin oder her – doch aktuell machte ich mir Sorgen, ob sie nicht gleich einander an die Gurgel gehen würden. Wir konnten nicht gemeinsam nach unten, das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. „Coleman und ich werden gehen“, warf ich in die Runde und unterbrach auf der Stelle ihren Disput. „Sobald es sicher ist, werdet ihr uns folgen.“ Die drei tauschten kurze Blicke aus und stimmten stumm zu. Jeder verstand meine Intention und wusste, dass ich keine Widerworte akzeptieren würde. Vorsichtig schlichen wir uns die schmale Treppe am Hinterausgang hinunter, pressten uns an die Wand und horchten nach etwaigen Geräuschen unserer Feinde in dem unteren Gewölbe. Coleman wollte seine Sichtbarriere nicht verwenden, denn um uns beide einzuhüllen, fehlte in diesen Gemäuern einfach der Platz. Der Schein des Kellers, welcher als einziger Ort des Präsidiums hell erleuchtet war, verriet, dass wir dort unten es schwieriger haben würden, uns in Schatten zu verstecken. Langsam näherten wir uns der alten Tür mit den eingebauten hüfthohen Fenstern am Fuße der Stufen. Coleman, der voran ging, bedeutete mir, mich zu bücken, sodass unsere Silhouetten nicht von außen zu erkennen waren. Ich merkte, wie meine Anspannung stieg, während wir der Lichtquelle immer näher kamen und sich langsam ein dumpfes Raunen dahinter offenbarte. Mit angehaltenem Atem gingen wir vorwärts, bis wir an der Tür ankamen und uns langsam, in die Ecken links und rechts gepresst, wieder erhoben. Ich kannte genau einen Zauber zum Einschläfern eines Gegners, aber für den brauchte man eigentlich etwas Sand oder Puder, wenn man noch nicht so bewandert war. Ich hoffte, dass meine neuen Kräfte das schon kompensieren würden. „Hast du schon den Comissioner heute abend gesehen?“, fragte ein Schatten vor der Tür, der gerade vorbeiging. „Ich glaube nicht, aber ich kam auch ein paar Minuten zu spät.“ „Vorsicht dabei! Lass dich bloß nicht von Floyd erwischen, der dreht dir den Hals um!“ „Es war nur ganz knapp, ehrlich.“ „Du bist neu in diesem Trupp, oder? Lass dir gesagt sein: Den letzten, den er beim Zuspätkommen erwischt hat, hatte er sofort unehrenhaft entlassen und zuvor noch vor versammelter Mannschaft grün und blau geschlagen.“ „...Wie viel später war er denn da?“ „Nicht einmal eine Minute.“ „Verdammt... der Comissioner macht keine halben Sachen, oder?“ „Dafür stimmt die Kasse und in der Vertrauten-Einheit zu arbeiten ist relativ entspannt.“ „Ich seh' schon... keine Patrouille durch die Straßen, stattdessen hängen wir im Keller rum.“ „Wir sind der Bereitschaftsdienst, wenn Not am Mann ist. Und solange wir nicht schlafen, lässt man uns tun und lassen, was wir wollen.“ „Aber warum dann im Keller?“ „Du stellst mir langsam wirklich zu viele Fragen, Junge!“ Die Stimmen verblassten. Mein Blick wanderte zum Kater, der mir ruhig zunickte und ich nickte zurück. Zitternd fuhr meine Hand zum Knauf und drehte ihn um. Das Klacken konnte nicht besonders laut gewesen sein, doch in meinen Ohren hallte es endlos nach. Langsam schwang die Tür auf und offenbarte den scheinbar bogenförmigen Gang dahinter. Die Wachen waren weitergegangen und drehten uns den Rücken zu. War der Spalt groß genug, huschte Coleman als erstes hindurch und winkte mich dann zu sich, als die Luft rein war. „Ich schlage vor, dass ich verdeckt die meisten ausschalte und du dich ein wenig im Hintergrund aufhälst. Geht das okay, Großmeisterin?“ „Ich vertraue dir“ war meine knappe Antwort. Der Kater lächelte dankbar, bevor er sich wie oft zuvor unsichtbar machte und die wabernde Gestalt in Richtung der Wachen ging. Es hatte schon etwas Komödiantisches, wie die beiden fast zeitgleich und scheinbar ohne Grund zusammensackten. Ich lief schnell zu ihnen und prüfte ihren Puls. Sie waren bewusstlos durch einen guten Schlag auf den Hinterkopf. „Idiotin, geh zurück!“, zischte eine Stimme neben mir, doch es war schon zu spät. Ich sah, wie die nächsten Wachen bereits um die Kurve liefen und ihre liegenden Kameraden – inklusive mir – bemerkten. Geistesgegenwärtig pustete ich Luft aus und setzte mich in Bewegung, während ich merkte, wie die Zeit um mich immer langsamer verging und die Männer vor mir nur noch in Zeitlupe zu Ihren Waffen griffen. Sie waren nicht einmal halb angehoben, da war ich bereits bei Ihnen. Jetzt ging es aufs Ganze: Wenn man kein Puder bei sich hatte, sollte auch das bloße Pusten von Luft ausreichen, doch dafür brauchte man mehr Energie. Und während man es tat, brauchte es nur schläfrige Gedanken, den Herzenswunsch nach süßen Träumen. Eigentlich war es ein Zauber gegen Schlaflosigkeit, nicht für den Kampf gedacht. Ich musste es einfach versuchen. Sanft blies ich beiden Männern ins Gesicht und wartete einen unendlich langen Augenblick. Dann endlich senkten sich bei beiden Lider und Waffen und sie fielen erst langsam und dann, sobald ich die Zeit wieder beschleunigte, ganz plötzlich. Die Wachen lagen reichlich unbequem übereinander, und gerade in diesem Moment merkte ich, wie meine Beine etwas zitterten, doch ich hatte es geschafft. Ein Lächeln zuckte über meinen Mund. Dann schnitt mir etwas die Luft ab. Von hinten drückte kaltes Eisen gegen meine Kehle und zerrte mich nach hinten gegen einen Körper. Eine weitere Wache! Ich packte das Gewehr an meinem Hals, versuchte mich zu befreien, doch kaum, dass meine Hand das Rohr packte, entwich alle Kraft meinen Fingern und das Bild wurde schwarz. In meinen Adern zerrte es und mein Kopf wurde immer leerer, während meine Lungen vor Luftmangel brannten. Ein Schwächeanfall! Ausgerechnet jetzt! „Colem...“, hauchte ich „Hilf m-“ Noch bevor ich den Kater in dem immer schmaler werdenden Fenster meines Blickfelds erkennen konnte, schoss aus der Mauer mir gegenüber etwas Dunkles knapp an mir vorbei. Mit einem kurzen Zucken lockerte der Wachmann seinen Griff und ich fiel – vor Luft verschluckend – zu Boden. Der Schwächeanfall legte sich schnell und gerade wollte mir Coleman wieder aufhelfen als ich aus meinem Augenwinkeln erkannte, was zu mir geschossen war, seinen Weg durch die Stirn der Wache gesucht und ihn so an die Wand genagelt hatte. Aus dem Loch floss ein dunkelroter Bach, teilte sich über dem Nasenbein und tropfte von den leblosen Augen wie Tränen. Auch der Kater hatte es bemerkt und hielt inne, geschockt über den langen, fast schon schwarzen Streifen, der sich quer durch den Gang spannte: Es war eine besonders dünne Dornenranke. „Was hast du dir dabei gedacht?!“ Jack rammte Véronique gegen die Wand und hielt die blitzende Klinge seines Schwertes an ihren Hals. „Was haben wir gesagt bezüglich des Ermordens Unbeteiligter?!“ „Ziemlich undankbar“, sprach sie mit einem Grinsen. „Hab ich nicht gerade deiner süßen kleinen Tochter den Kopf gerettet? Die Wahrheit ist, dass ihr alle nicht einsehen wollt, was das beste wäre.“ Ich stellte mich auf und sah den Mann an. Ich sollte vielleicht erschrocken oder betroffen sein, aber vielleicht hatte ich in den letzten Stunden zu oft Leute sterben sehen, die mir am Herzen lagen, um nun an einem fremden Toten wirklich interessiert zu sein. Jack ließ die Französin los, doch bevor er sich zu mir begab, schlug er ihr mit dem Knauf ins Gesicht. Ein violetter Abdruck blieb auf ihrer Wange, doch ihrem Schmunzeln tat dies keinen Abbruch. „Bist du okay?“,fragte er mich. „Es geht schon... Das war meine Schuld. Wäre ich nicht so unvorsichtig gewesen...“ „Bitte mach dir jetzt keine Gedanken darum. Wir haben noch etwas anderes vor uns.“ Ich nickte. Es war nicht gelogen, dass mir der Polizist leid tat, doch wir alle wussten, dass es jetzt nicht die Zeit war, um sich darüber Gedanken zu machen. Wir waren nah, sehr nah... „Hey Leute! Denkt ihr, das ist unser Ziel“, fragte Coleman und zeigte nach vorn auf eine Tür. Auf den ersten Blick war an ihr nichts Besonderes festzustellen, doch dann fiel mir auf, was den Kater stutzig machte. Was zunächst wie Risse im Gemäuer wirkte, war in Wahrheit ein eingeritzter Kreis, gespickt mit magischen Formeln. Das war unser Ziel. Coleman ging als erstes voran, holte sein Werkzeug heraus, schob es in das Schlüsselloch, bereit diese Tür mit seiner gelassenen Leichtigkeit zu öffnen. Doch daraus wurde nichts, denn kaum berührte sein Metall das halbrostige Schloss, schoss ein Funke durch den befellten Körper und katapultierte ihn gegen die nächste Wand. „Coleman!“, rief ich und rannte zu ihm. Seine gelbgrünen Augen flimmerten und er schlug sich ein paar Mal selbst mit der flachen Pfote, um wieder zu Bewusstsein zu kommen. „Ein Bannkreis... für ungebetene Gäste“, bemerkte Jack schnell. „Ohne passenden Schlüssel kommen wir da nicht rein.“ „Und den Schlüssel hat wer?“, wollte ich noch fragen, doch wie zur Antwort hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall von der Seite und sah, wie Vater zu Boden ging, während aus ihm eine rote Blutwolke schoss. Ich sah nach links und bemerkte einen Mann neben Véronique stehen. Ein Mann mit gestutzem Schnauzer, einem süffisantem Lächeln und einer rauchenden Schrotflinte in der Hand. „Floyd...“, hauchte ich. Jack lag auf dem Boden und schrie, während aus seiner Wunde an der Seite rote Schwaden tropften. „Du... du mieses Miststück!“, brüllte er und funkelte die Frau neben dem Comissioner an. „Ich wusste es doch! Dir konnte man nie vertrauen!“ Véronique schwieg. Ihr Gesicht war in Schatten gehüllt. „Tja... Madame La Belle weiß zumindest noch, was Loyalität heißt“, bemerkte Floyd grinsend und bewegte sich zu mir, dann jedoch besah er sich das Werk seiner Partnerin – die lange Ranke in der Stirn des Wachmannes. „Du hast einen meiner Männer getötet, La Belle“, bemerkte er mit gleichgültiger Stimme. Véronique lachte auf. „Ein kleineres Übel... Dafür haben wir die letzte Maeldun und den letzten Salem, bereit um dem Herrn geopfert zu werden.“ „So war das aber nicht gedacht. Teil des Plans war es, die Schwebende Uhr zu aktivieren, um so Mycraft die notwendige Macht zu geben. Er wartet schon viel zu lange.“ „Es wäre aber Teil des Plans geworden. Vertrauen Sie mir, großer Comissioner... die Reihenfolge spielt keine Rolle. Und Alice weiß zu viel. Wir sollten sie sofort entsorgen, bevor sie mehr Ärger macht.“ „Ist dem so? Nun gut, ich werde nicht nachtragend sein“, sagte er schließlich und schlug Véronique auf den Hintern. Ein Schwall der Erinnerungen überkam mich, während ich in seine gierigen Augen sah. Doch wo ich hn damals noch bespuckte, bekam ich es im hier und jetzt mit einer vollständig lähmenden Angst zu tun: Die Angst, dass die Zeit mit aller Gewalt versuchte, sich wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. „Bastard... Fass sie an und du bist tot“, knurrte Jack und wollte sich gerade aufrichten, da verpasste Floyd ihm einen gewaltigen Kinnhaken, der ihn zusammensacken ließ. „Ich konnte dich noch nie leiden, Jacob. Und hör auf, dich so aufzuspielen. Im Moment bist du nur ein zahnloser Wolf.“ Der Mann mit dem Schnauzer packte mich am Haar und zerrte mich auf die Beine, ließ seine kalte Hand über mein Gesicht und meinen Körper wandern. „Du kommst zwar nicht einmal annähernd an deine Mutter heran, aber zugegeben... unansehnlich bist du nicht... Vielleicht kann mir La Belle eine Puppe nach deinem Abbild zaubern?“ „... Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Ich fühlte mich wie gelähmt. Wie konnte es sich nur so schnell gedreht haben? Wo lag unser Fehler? Floyd zerrte mich zu der Tür und holte einen verzierten, goldenen Schlüssel hervor, schloss die Tür auf und betrat einen riesigen Saal dahinter, in dessen Mitte sich ein gläsener Container befand, gefüllt mit einer glühenden Flüssigkeit, in der eine dürre Gestalt ruhte. „La Belle, Sie nehmen Jack und sehen zu dass er keine Anstalten macht. Und töten Sie die Katze. Wir brauchen ihn nicht.“ „...Wie Ihr befiehlt...“ Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Ich hörte, das stumpfen Klatschen, als Vater in den Saal geworfen wurde und daraufhin nur noch Colemans Stimme flehen: „Nein... bitte mach das nicht, ich bitte dich!“ Dann krachte es laut in Einklang mit einem katzischen Geschrei. Sie hatte ihn aufgespießt. Dann schlug die Türe zu. „...Ist erledigt.“ Meine Augen füllten sich mit Wasser bis zur Erstickung und mein Hals war voller Steine, die sich nicht runterschlucken ließen. „Dann legen wir mal los. Als erstes muss der werte Herr aus seinem angestammten Platz geholt werden“, begann Floyd und warf mich zu Boden, gut 20 Yard von dem Mann entfernt. „Dieser Zylinder... ist darin wirklich Mycraft?“, fragte Véronique. „Warst du denn noch nie hier drin? Naja, mit dir hatte er zwar mehr Spaß gehabt, aber das Vertrauen hatte er dennoch mir geschenkt.“ „Und diese Flüssigkeit...“ „Ich bin nicht so bewandert in diesem Zauberkram, aber er sagte mir, dass die Flüssigkeit seinen Körper konserviert und mit Nährstoffen versorgt.“ „Das macht ihn aber reichlich angreifbar...“ „Nein, solange die Flüssigkeit nicht abgepumpt ist, wird sich das Glas nicht öffnen und ist unzerstörbar. Ich erledige die technische Seite. Kümmer du dich derweil um die Gefangenen.“ „Was auch immer verlangt wird...“ seufzte die Französin und neben mir kam Jack zum Liegen. Seine Atmung war flach, sein Blick apathisch und sein Körper wie gelähmt. „Vater!“ Ich wollte noch zu ihm, da schlugen aus dem Boden links und rechts tausende Ranken und fesselten uns am Boden. Wir konnten uns nicht mehr bewegen. Die Dornen drückten auf Jacks offene Wunde und mussten ihm unfassbare Schmerzen verursachen, denn er biss fest die Zähne zusammen. „Sieh es ein, petite Alice...“, fing sie an und seufzte schwer. „Es ist vorbei...“ „Warum?“ „Weil manchmal Opfer gebracht werden müssen, wenn man gewinnen will. Und ich will gewinnen.“ Ich konzentrierte mich auf meine Energie im Körper, versuchte, wie schon zuvor, die Ranken einfach durchzubrennen, doch es wollte nicht klappen. Wann immer ich dachte, dass eine Ranke gekappt war, tauchte eine neue auf. „Spar dir die Energie. Du wirst sie noch brauchen...“ Ich konnte nicht mehr. Ich war am Ende. Mir fiel nichts mehr ein. Bitte... Kollektiv, hilf mir... „Wir können dir nicht helfen, das wusstest du bereits.“ „Sie war töricht! Sie hat viel zu viel riskiert!“ „Schreibt sie nicht ab! Und schreibe dich auch nicht ab, Kind des geteilten Blutes! Die Zeit versucht sich krampfhaft in die alten Bahnen zu lenken. Doch dafür ist es jetzt zu spät.“ Was meint ihr damit? Coleman war tot, Vater schwer verletzt und ich absolut handlungsunfähig. Das klang schwer nach dem alten Verlauf. Doch als ich gerade anfing, aufzugeben, bekam ich das Gefühl, dass die Ranken ihren Druck lockerten... „Sagt mir, Floyd...“, begann die Magierin und kehrte uns den Rücken, ging zum Comissioner, der gerade den Schlüssel in der Konsole vor ihm umgedreht hatte und so die Flüssigkeit langsam ablaufen ließ. „Ich bin neugierig. Warum tun sie das alles für Mycraft? Was haben Sie davon?“ „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte der Mann und begab sich zu Véronique. Sie war ein kleines Stück größer als er, doch das war ihm egal, denn sein Griff um ihre Hüfte sollten ihr klar machen, dass sie sich ihm unterordnen wollte. „Ich bin hungrig. Nach allem möglichem. Aber vor allem nach Macht. Und Mycraft hat sie. Hatte er schon immer. Und was ist mit Ihnen? Was verlangt eine Frau, die mit dem richtigen Mann sowieso schon alles haben könnte?“ Véronique legte eine Hand auf seine Brust und lächelte verführerisch. Es war wohl dieser Moment, an dem ich begriff, was mir das Kollektiv sagen wollte. „Wissen Sie, das hat sich geändert. Früher hatte ich unvorstellbar hohe Ziele, aber heute sieht das schon anders aus.“ „Wirklich? Und wonach gelüstet es Sie?“ Die schöne Frau beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund, lang und innig, dann beugte sie sich vor und flüsterte etwas in sein Ohr. Ein einziges Wort, so deutlich artikuliert, dass man es von ihren Lippen ablesen konnte: „Rache...“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, stieß sie den Comissioner von sich und noch während er taumelte, schossen tausende Ranken aus allen Richtungen und durchbohrten den alten Mann. „Glaubst du wirklich, ich spiele noch mit, du kleines Würstchen?! Häh?! Los, rede mit mir! Als wäre ich noch euer Spielzeug, du mickriges, arrogantes Arschloch! Wie gefällt dir dieser Dolchstoß?! Sag schon, ich höre nichts!“ Es war ein Schlachtfest sondergleichen. Floyds Leiche hatte nicht einmal die Zeit zu Boden zu gehen, so oft wurde sie gepfählt. Als sie ihn endlich fallen ließ, trat sie noch einmal gegen ihn, bis sie sich uns zuwendete. Unsere Fesseln waren unterdessen gelöst. „... Du hast uns... also doch nicht verraten... aber unseren Plan hat es trotzdem gestört“, keuchte Jack und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Die kleine Scharade tut mir fast leid. Aber anders wären wir nicht hier herein gekommen. Und keine Sorge, Coleman geht es gut, ich habe daneben gezielt und ihm gesagt er soll verschw...“ „Vorsicht, hinter dir!“, brüllte ich noch, doch genau in diesem Moment schoss ein pechschwarzer Strahl hinter ihr hervor und riss ihren Torso fast entzwei. Mit schockierten, starren Gesicht fiel Véronique zu Boden und hinter ihr stand ein halbnackter, dürrer alter Mann mit glühend roten Augen und finsteren Funken um seine Hand: Es war Mycraft. Er hustete und schwankte, doch seine finstere, nebelartige Aura, versprühte sich sofort im Raum und machte klar, dass er – wenn auch noch geschwächt – unfassbar mächtig war. In seiner Brust waren mehrere Narben zu erkennen: Mutters Messerstiche von damals. Véronique lag am Boden und keuchte schwer. Sie konnte kaum atmen, geschweige denn sprechen und sie würde diese Wunde definitiv nicht überleben. „Wie tragisch, Véronique... damit hast du wohl nicht gerechnet. Aber ich auch nicht... Du musst wissen, ich habe dich immer geliebt. Und dann musste ich noch aus deinem Mund Vergeltung hören.“ Er schritt langsam auf sie zu und legte einen Fuß auf ihren Rücken. Ein lautes Quieken entwich aus ihr. „Dann wirst du jetzt also...“ Weiter kam er nicht, denn ein blitzender Funke, gefolgt von einem glänzendem Hieb ließen ihn zurückweichen. Jack scheuchte seinen alten Meister von seiner einstigen Feindin weg und verpasste ihm einige Treffer. Er konnte sich regenerieren, doch dies erfolgte viel zu langsam. Kaum war eine Wunde verheilt, wurde eine zweite hinzugefügt. Er schleuderte schwarze Kristalle auf seinen Schüler, der ihnen mit Zeitsprüngen galant auswich oder sie mit seinem Schwert zerschlug. „Verdammt! Dieser Spinner Floyd hat mich zu früh erweckt!“, knurrte er. „Aber was wollt Ihr tun? Meine Aura gehorcht trotzdem mir!“ In diesem Moment sprangen aus dem Nebel mehrere puppenartige Wesen, die Jack in die Mangel nahmen. „Vater, runter!“ Ich entzündete eine hellblaue Flamme aus meinen Fingern und ließ sie in seine Richtung in Form einer gigantischen Welle schießen. Jack duckte sich unter dem Feuer hinweg und über ihm entzündeten sich nicht nur die Puppen, sondern auch der komplette Nebel mit ihnen. Für einen kurzen Moment war es um uns taghell, bevor alles von einer Schwärze umgeben wurde, an die ich mich erst einmal gewöhnen musste. „Vater, bist du okay?“ „Ich danke dir, Alice...“, stöhnte Jack und richtete sich auf. „Wo ist Mycraft?“ Ich schaute mich um. Die Tür! Sie war offen! Er musste den Moment genutzt haben, um zur Schwebenden Uhr zu kommen. „Lauf du ihm hinterher...“, presste eine wohlbekannte Stimme heraus. Es war Véronqiue. „Wir werden dich... nur aufhalten... mit unseren Wunden...“ „Hör auf zu sprechen, spar dir deine Kraft“, sagte ich und setzte mich zu ihr, hielt ihre Hand, doch sie drückte sie nur weg. „Sparen? Wozu? Ich bin am Ende. Scheiß Rachedurst.... Wenn... wenn ich noch eines tun kann...“ Sie griff in ihr Dekolleté und holte eine kleine Ampulle hervor, in der eine Art winzige Schriftrolle steckte. Sie zerdrückte das Glas und hielt in ihrer blutigen Hand das kleine Pergament. „Was ist das?“, fragte Jack, der sich zu uns gesellt hatte. „Fleurs Band... Der Kontrakt, der sie an mich bindet... Ich hatte ihn erstellt, um mich vor Jack zu schützen... Er besagte, dass wenn meine Magie stirbt, dass auch Fleur stirbt... und umgekehrt...“ Ihre Hände fingen an zu glühen, dann ging das kleine Schriftstück in Flammen auf und brannte zu einem kleinen Stück Kohle. „Jetzt ist sie frei... Im Gegenzug... holst du dir Mycrafts Kopf.“ Ich schaute zu Vater auf, er nickte mir zu. „Ich bleibe bei ihr, wenn das okay ist. Sterbende soll man nicht alleine lassen. Außerdem bin ich dir so wahrscheinlich auch keine große Hilfe.“ Dann drückte er mir seinen Dolch in die Hand. „Was soll ich tun?“, fragte ich unsicher. Die beiden luden gerade eine ganze Menge Verantwortung auf meinen Schultern ab, auch wenn ich ihr Anliegen verstand. Und weil ich mir seltsam sicher war, dass ich bestehen konnte. Nur wie? Jack überlegte kurz und lachte dann. „Er hat doch Hunger, nicht wahr? Warum gibst du ihm nicht, was er will?“ Einen Moment lang verstand ich nicht, was er mir sagen wollte, war geradezu fassungslos über seinen Vorschlag, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich nickte und raffte mich auf, wollte gerade zur Tür, da hielt mich Vater noch einmal auf. „Alice! Kümmere dich nicht um uns, wir kommen klar. Ich weiß, wonach es dich nach dem Sieg ziehen wird.“ Schnell lief ich durch die Tür zurück in den Keller. Coleman war nirgends zu sehen, Véronique hatte ihn wohl tatsächlich nicht getötet. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich hoffte, dass der Kater weit genug weg war, um nicht mehr in der Schusslinie zu stehen. Nur leider fehlte auch von Mycraft jede Spur. Ich huschte die Treppe hoch und sah einige rostrote Fußabdrücke auf dem Mamorboden und vereinzelte Nebelschwaden. Meine Mundwinkel zuckten unwillkürlich nach oben. Er war wirklich schwach. Aber ich durfte ihn nicht unterschätzen. Schnell folgte ich seinen Spuren durch die Straßen, um das Präsidium herum, Richtung Norden. Er wollte zur Uhr, kein Zweifel. Und je näher ich ihm kam, desto dichter wurde der Nebel, so dicht, dass ich kaum mehr was sehen konnte. Ich verlor mich einen Moment lang in den Schwaden, und wusste nicht mehr, wohin ich sollte. Die kalten, nassen Finger hielten mich fest, wollten mich nicht mehr näher an Mycraft kommen lassen. Damals hatte ich Furcht vor diesem Nebel... nun funktionierte es nicht. „Mycraft! Glaubst du wirklich, das hier kann dich ewig von mir weghalten?! Komm endlich raus und lass es uns beenden!“ Doch ich musste zugeben, dass ich mir in diesem Moment nicht sicher war, wohin ich gehen sollte. Ich bewegte mich nur langsam vorwärts, suchte mit meinen Händen nach einem Anhaltspunkt, aber da war nichts. Da – kaum, dass sich langsam meine Stimmung wendete – erschien vor mir ein bläuliches, warmes Licht, das den Nebel zurückweichen ließ. „Mutter?“, hauchte ich erleichtert. Das Licht pulsierte zweimal wie zur Bestätigung. Der Nebel verzog sich vor ihrem Schein und gab den Weg frei. „Ich danke dir, Mutter. Aber bitte halte dich zurück. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Wenn es vorbei ist... dann sag Vater Bescheid.“ Dann schaute ich in Richtung der riesigen hellen Mauer im Norden: Die Barriere. An dessen Fuße musste er stehen. Es wurde höchste Zeit. Sein Blick war starr nach oben gerichtet, eine Hand auf der Barriere liegend, als ich ihn traf. Mit einem Blick über die Schulter erfasste er mich und grinste, dann schaute er wieder zur Barriere. „Hat Jack das gemacht?“, fragte er. „Hat er.“ Mycraft lachte auf: „Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt. Ich habe schon versucht, sie zu durchbrechen, aber daraus wird wohl nichts. Wo ist er?“ „Bei Véronique. Es geht hier nur um dich und mich.“ Wie Jack es schon abermals tat, fuhr ich mit den Fingern über die Klinge des Dolches und zog sie so in die Länge, bis sie einem Degen ähnelte. Es war die Waffe, mit der Mutter ihn schon einmal tötete und die Waffe, mit der er mich töten wollte. Welche bessere Wahl gab es schon? Mycraft drehte sich um. Hinter ihm beschworen sich Nebelschwaden, aus denen zwei dunkle, wolfsartige Wesen hervortraten, dich mich knurrend und zähnefletschend anfunkelten. „Darf ich dir eine Frage stellen?“, rief ich hinüber: „Eifersucht, Verzweiflung, Machthunger, Liebeskummer... Ich kenne die Gründe, warum die Menschen dir und damit den Anomalien verfallen sind. Aber was ist mit dir? Was waren deine Motive? War es wirklich nur die Suche nach der Unsterblichkeit? Oder war sie nur ein Zwischenschritt für deine Fehde gegen die Maelduns?“ Mycraft lachte laut aus. „Du bist so ein kluges Mädchen und dann begreifst du nicht die Signifikanz der Unsterblichkeit? Wir Magier können den Menschen ein neues Zeitalter bringen. Doch was tun wir? Wir streiten uns um ein kleines bisschen Macht hier und da. Du hast recht, es ging mir lange nur um Rache, das war meine Motivation. Aber das spielt schon lange keine Rolle mehr. Ich stehe kurz vor der perfekten Unsterblichkeit und alles, was ich dafür brauche, ist die endlose Macht der Schwebenden Uhr!“ „Dann musst du aber erst an mir vorbei!“, rief ich und richtete die Klinge auf ihn. Sein Grinsen wurde immer breiter und die Zunge fuhr über die ausgetrockneten Lippen. „Dann bist du die Vorspeise.“ Schlagartig schossen die Wölfe auf mich zu. Ich blies Luft aus und ließ die Bestien in Ruhe auf mich zu kommen. Schnell rannte ich auf den ersten los, doch dann passierte etwas. Ein schwerer Schlag traf mich in meinem Magen und ließ mich zurückstolpern. Es war eine pechschwarze Ranke aus dem Boden! Sofort war ich aus dem Zeitsprung gerissen worden, die zuvor sich kaum fortbewegenden Wölfe nahmen sofort an Fahrt auf. Der erste rannte auf mich zu, doch verschwand im nichts, als die Klinge ihn traf, der zweite holte mit der Pranke aus und traf mich am Kopf. Ein plötzlicher brennender Schmerz pulsierte in meinem Gesicht, und als ich mit der Hand darüber fuhr, merkte ich die warme Flüssigkeit aus der Wunde austreten. Als er wieder auf mich zusprang, hielt ich wieder die Zeit an und schlug geradeaus zu. Kaum wurde das Tier aufgespießt, wurde es zu Nebel, doch als ich mich umsah, schossen zwei dunkle Kristalle auf mich zu. Schnell reagierte ich, verringerte die Zeit und sprang zu Seite. Doch kaum war diese vorbei, da tauchte eine zweite Ranke auf und verpasste mir einen Schlag ins Gesicht. Die Welt überschlug sich einmal, bis ich mit einem schmerzhaften Knall auf den Boden schlug. Mir war schwindelig und mein Kopf dröhnte. Dann schossen Ranken hervor und fesselten mich am Boden fest. „Genug gespielt.“ Mycraft tauchte über mir auf und lehnte sich vor. „Du...du hast mich im Zeitsprung ausgetrickst?“, fragte ich benommen. „Glaubst du, du bist die einzige, die das kann? Nun denn... ich habe wirklich nicht viel Zeit, daher werde ich mir jetzt deine kostbare Magie nehmen.“ Mit diesen Worten presste er seine dürre Hand auf meine Stirn. In einem Körper spürte ich einen brennenden Fluss, ein krampfhaftes Ziehen, als würde etwas direkt an meiner Seele zerren. Meine Atmung wurde flach und meine Muskeln schwach. „Und? Spürst du es, wie langsam all deine Energie aus deinem Körper schwindet?“ Meine Finger bohrten sich in den Boden und ich kämpfte um jeden Luftzug, doch statt zu flehen, fing ich an zu kichern: „Was ist mit dir? Spürst du es auch?“ Er jaulte laut auf und riss die Hand weg. Klar und dick traten die Adern in seinem Körper hervor, während er sich die Seele aus dem Leib schrie. Sie glühten, brannten geradezu. Schlagartig ließen die Ranken von mir ab. Mir war etwas schwummrig, doch sonst ging es mir gut – er hatte mir gerade einmal einen Bruchteil meiner Energie genommen. „Was ist los, Mycraft? Schmeckt's dir etwa nicht?“ „ Du!? Was hast du mir angetan?!“, brüllte er, bevor ein weiterer Schmerzkrampf ihn übermannte. Er schoss einen Feuerball zu mir, doch dieser flog ein gutes Stück an meinem Gesicht vorbei. Ich zuckte nicht einmal. „Können Sie sich daran nicht erinnern? Die Symbiose der Anomalien: Wenn die Menge zu groß wird, zerreißt es die Hülle. War das nicht aus ihrem Werk? War es nicht genau das, was Florence widerfahren ist?“ „Aber... warum?! Wie?!“ „Weil ich nicht aus dieser Zeit bin, Mycraft! Ich habe mit dem Kollektiv gesprochen und die haben mir ein hübsches Sümmchen ihrer Macht mitgegeben. War wohl etwas zu viel für diesen alten, gebrechlichen Körper.“ „Du mieses Miststück! Ich... ich bring dich u-“ In diesem Moment kam ein Schwall kochend heißen Blutes aus seinem Mund. Er beugte sich vor, schrie, weinte, krümmte sich gequält. Müde schleppte ich mich zum Schwert und nahm es auf, krauchte dann in aller Ruhe wieder zu ihn. Ich genoss es. Ich genoss jeden Augenblick davon, ihn so leiden zu sehen. Auch wenn mir klar sein musste, das mit mir in nicht allzu ferner Zukunft das gleiche passieren könnte. Langsam erhob ich die Klinge und rammte diese mit aller Gewalt in seine Brust. Explosionsartig trat heißer, schwarzer Rauch aus der Wunde, versuchte das Loch in der Brust wieder zu schließen, zerdrückte mit kleinen Fingern meinen Hals, schlug mein Gesicht mit Splittern und Dornen, kreischte laut und schrill in mein Ohr. Die Anomalien - darum kämpfend, ihren Wirt nicht zu verlieren - packten die Klinge, versuchten sie aus seinem Fleisch zu pressen, während in meinem Körper die Gefäße zu Platzen drohten und aus meinem Mund dünner, hellroter Speichel lief. Die Ränder meines Blickfelds wurden immer enger und das Bild um mich langsam schwarz. Ich drehte noch einmal den Knauf und stütze mich mit allem Gewicht darauf. Mit einem Mal rammte sich die Klinge ein ganzes Stück tiefer und riss mich wie bei einem Sturz mit. Meine Arme gaben beim Aufprall nach, ich rutschte ab und landete neben dem Magier - das Schwert aufrecht in der Brust steckend. Ein letztes, erschrockenes Röcheln entzog sich seinem blutroten Mund. Dann ließ er seine Arme sinken und schloss die Augen. Das Pulsieren seiner Adern verstummte. War er... war er wirklich tot? „Alle Achtung. Das war beeindruckend.“ „Wir haben dich unterschätzt.“ „Dein Verpflichtung ist damit abgeschlossen. Dir verbleiben noch einige Stunden in deiner Welt.“ Was soll ich jetzt tun? „Für die letzten Momente darfst du tun und lassen, was du willst.“ "Wir danken dir sehr, Kind des geteilten Blutes." "Und ich danke dir ganz besonders" Florence? Ein Stein fiel mir vom Herzen. Sie konnte also wieder zum Rückgrat zurückkehren. „Für mich wird noch einige Zeit vergehen, bis wir uns beim Kollektiv wiedersehen, aber dir verbleiben nur wenige Stunden des Abschieds. Was wirst du jetzt machen?“ Das stand für mich außer Frage. Jack wusste um meine knappe Zeit, er hatte nicht ohne Grund gesagt, dass ich nicht zurückkommen sollte. Müde und erschöpft, aber auch erleichtert, schleppte ich mich durch die Straßen. Ich sah zum Himmel: Die Barriere blieb intakt. Selbst mit seiner Verletzung ließ er sie nicht fallen. Hoffentlich sagte Mutter ihm zeitnah Bescheid. Immer schneller fing ich an zu laufen, rannte schon fast, obwohl mir alles weh tat. Die Strecke nach Hause wurde zu einem langen Tunnel, nichts weiter als das Ziel vor meinen Augen spielte noch eine Rolle. Über die ewig langen Felder tauchte langsam aber sicher das Observatorium und dann der Rest unseres Anwesens auf. Meine Seiten stachen, meine Lungen brannten, doch ich rannte immer weiter. Das Haus wurde immer größer. Ich rannte zur Haustür, stieß sie auf. „Fleur?! Fleur, bist du da?!“ Keine Antwort. Ich schaute in die Küche, im Bad... niemand dort. „Fleur, wo bist du?!“ Hastig stolperte ich die Treppe hinauf, da sah ich bereits den aschgrauen Schopf, reglos auf dem Boden liegend. Ihre Hände waren seltsam abgespreizt, die Beine angewinkelt, so als wäre sie einfach umgefallen und nicht mehr aufgestanden. „Fleur! Nein bitte, was ist denn los?! Bitte! Bitte, bitte, wach doch auf!“ Epilog: Des Wunders Ende ------------------------ In warmen, goldenen Mustern, gebrochen durch das dichte Laub, schien das Sonnenlicht auf das alte, aber gepflegte Holzkreuz. Darum erblühte eine Vielzahl von Blumen: Stiefmütterchen, Wildrosen, Narzissen, Mohn... Viele wuchsen so wild durcheinander, dass man kaum unterscheiden konnte, welche Blüte zu welchem Stiel gehörte und so entstand ein Meer aus unzähligen Farben und Formen – mit dem Kreuz als resolute Insel in deren Mitte. Durch die eingebrannten Buchstaben zog sich ein Riss, der sie verworren miteinander verband und zu einer einzigen langen Rune machte, dennoch konnte man ganz genau erkennen, was auf ihnen stand: Claire Maeldun. Sonst nichts, keine Jahreszahlen, kein Abschiedsgruß, denn so war es in Taleswood Gang und Gebe. In einer Stadt, in der der Pastor mit den Geistern kommunizierte, gab es keinen Abschied für immer. Und ich hoffte, dass dies auch auf mich zutraf. Jemand gesellte sich zu mir. Ich schaute nach rechts und sah eine dunkelbraune Hand, die mir die kleine, goldene Spieluhr mit meinen darauf bestickten Initialen übergab. „Jack wollte sie selbst ans Grab bringen, aber er ist aktuell wohl noch ein wenig beschäftigt“, meinte der Reverend und schaute nach hinten. Vater hatte sein Hemd bis zum Anschlag hochgekrempelt, dennoch war es mit einem Haufen Schmutz versehen. Immer und immer wieder stach er mit dem Spaten in den riesigen Erdhaufen und trug den Dreck in das Loch vor ihm. Zwischenzeitlich machte er eine kurze Pause und hielt sich die Seite. „Er sollte aufpassen. Nicht, dass die Wunde wieder aufreißt. Gretchen gab sich beim Flicken die beste Mühe.“ „Er will es so. Lassen Sie ihn ruhig machen, Miller.“ Mit diesen Worten nahm ich die Spieluhr und legte sie direkt inmitten der Blumen ab. Ein letztes Mal zog ich sie auf und lauschte ihren dunklen, aber zugleich beruhigend klaren Tönen. Ein Lächeln lag auf meinen Lippen, während ich die Hände faltete. Ich betete nicht wirklich. Ich dachte auch an nichts. Aber es reichte aus, dass sich ein schwacher Schimmer vor meinen Augen zeigte und eine warme Brise mir lieblich ins Gesicht hauchte. Heute würde ich mich auch von ihr verabschieden müssen... und obwohl ich nie die Gelegenheit bekommen hatte, sie richtig kennenzulernen, so fühlte ich eine Spur von Wehmut und bemerkte, wie schwer mir dieser Abschied fiel. Ein Reiz in meinem Hals überkam mich und als ich hustete, sah ich einige Blutspuren. Wir hatten den gesamten gestrigen Tag damit verbracht, die Spuren des Abends zu beseitigen. Nun blieb mir nicht einmal ein Tag und mein Körper lies mich diesen Umstand nur allzu deutlich spüren. Offiziell wurden Floyd und der Wachmann von Véronique bei einem Kampf getötet und Jack hatte sie erledigt. Über Mycraft fiel kein Wort. Warum sollte es auch? Seine Leiche war – nachdem die Anomalien ihn aufgegeben hatten – binnen Sekunden zu Staub zerfallen... am Ende war er vielleicht doch nicht viel mehr gewesen, als eine leere Hülle. Die Tür zum Raum im Keller, so fand Jack heraus, war in Wahrheit ein Portal, der Raum selbst befand sich direkt unter der goldenen Uhr; es war fast das gleiche Prinzip wie mit dem Unterschlupf in Doktor Engels' Haus. Als der Magiekreis um die Tür vernichtet wurde, war auch das Portal gelöscht. Nun führte diese Tür nur noch zu einer leeren Abstellkammer. Coleman war nicht mehr aufgetaucht. Er musste gespürt haben, dass Mycraft tot und sein Fluch damit gebrochen war. Es hatte sicherlich nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Er war wohl einfach nicht der Typ für lange und persönliche Abschiede. Doch ich fand auf meinem Nachttisch am morgen eine eingetretene Melone mit einer angehefteten Notiz, auf der nicht mehr stand als „Danke“. Trotz aller Eifersucht auf mich und Mutter war der Doc bei unserer letzten Begegnung ein anderer Mensch. Die Zeichen des Wahnsinns waren wie weggeblasen und der alte, zerbrochene Charakter war einem neuen, reinen gewichen, der sich nur wenig von dem kleinen Mädchen unterscheiden konnte, dass sie einst gewesen war. Jacks Wunde hatte sie mit akribischer Sorgfalt genäht und desinfiziert und auch um meine Verletzungen kümmerte sie sich anstandslos. Von dem bösen Geist befreit, lies sie sich dennoch nicht von ihren Gefühlen zu Jack ablenken. Sie liebte ihn wirklich. Doch sie würde nun fähig sein, auch ohne ihn leben zu können. Es war ein Leichtes, alles auf Véronique zu schieben – sie war in dieser Stadt nie sonderlich beliebt gewesen – und die Entscheidung dazu hatten wir im Einklang getroffen, war es doch die am leichtesten zu verdauende Mitteilung. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einen solch einflussreichen Magier in Frage zu stellen – insbesondere wenn er verletzt war – doch ich hatte es Vater angesehen, wie unwohl er sich dabei gefühlt hatte. Nebst all den schrecklichen Dingen, die sie getan hatte, war sie am Ende ein weiteres von Mycrafts Opfern und nicht zuletzt eine Verbündete gewesen. Eine anständige Beerdigung – weit weg von Taleswood und dazu noch in Mutters Nähe – war ein klares Zeichen der Anerkennung von Jacks Seite. Er hatte mir nicht verraten, was sie in ihren letzten Minuten gesagt hatte, doch was es auch immer war... es hatte wohl seine Haltung ihr gegenüber nachhaltig geändert. „Ich glaube, du wirst mir nicht verraten, was passiert ist, oder?“ Reverend Miller schaute etwas unsicher, er kannte die Antwort wohl bereits. Ich wusste, er und der Doc würden niemandem etwas sagen, aber vielleicht war es besser, sie nicht unnötig zu belasten. „Entschuldigen Sie, Reverend. Jetzt ist nicht die Zeit. Vater wird es bestimmt einmal erzählen.“ Der Pastor lachte: „Naja... Vielleicht, wenn ich es ihm lang genug aus der Nase ziehe.“ Dann wurde er still und nachdenklich. „Er sagte mir, dass du uns verlassen wirst? Ist das denn wirklich nötig?“ „Es ist unumgänglich. Ich gehöre nicht hierhin.“ „Das ist nicht wahr. Du bist eine von uns, ohne wenn und aber. Und möchtest du Fleur wirklich so traurig machen?“ Ich schwieg und schlug die Augen nieder. Er konnte nicht wissen, was ich mit meinen Worten meinte. Und Fleur... meine Zähne pressten sich aufeinander. „Ich habe es sofort gesehen, als ihr beide das erste Mal zusammen vor mir standet. Naja, du wirktest damals noch etwas unwissend, aber Fleur... sie konnte sowieso nie irgendwas verstecken.“ Ein kurzer, trockener Lacher entwich meinen Lippen. Ich war wohl wirklich blind gewesen. Blind für vieles, aber für Fleurs Gefühle ganz besonders. Ich hatte die Zeit zurückgedreht, vieles zum Besseren gewendet, aber uns konnte ich am Ende nicht retten. Der Reverend klopfte mir auf die Schulter und seufzte. „Also gut, ich hoffe dann mal, das wird kein Abschied für immer. Du bist allseits bei mir willkommen. Ich würde mich freuen, wenn wir mal wieder einen Kaffee zusammen trinken.“ Dann machte er kehrt, betete kurz vor Véroniques Grab, steckte ein hölzernes Kreuz vor Kopf und ging davon. Ein Abschied für immer... Ich konnte ihm nicht sagen, dass es genau das war. Und richtig verabschieden konnte ich mich auch nicht. Er schien es aber auch nicht zu wollen. Vielleicht war es am besten, wenn er nicht wusste, dass ich nicht mehr wiederkam. Still wurde es um uns herum. Außer dem Gesang des Vogelchores in den Wipfeln und dem Rauschen des Windes, der durch die Blätter wehte, war lediglich das dumpfe, metallische Schaben des Spatens zu hören, den Jack immer wieder in die Erde stach. Er selbst sagte nichts. Wir verbrachten einige Zeit in dieser Postion – schweigend, unseren eigenen Gedanken nachhängend. Ich strich mir durch das Haar. Es fühlte sich etwas strohig an und meine Haut war trocken und durch Striemen und Narben zerfurcht. Seit dem Ende des Kampfes habe ich es nicht mehr geschafft, in einen Spiegel zu sehen, aber es sollte mich nicht wundern, wenn ich eine doch recht bemitleidenswerte Figur aktuell abgab. In meinem Kopf hingen nach wie vor die Bilder jener Nacht fest, doch sie waren mittlerweile mehr aufflackernde kurze Schrecksekunden. Auch wenn mir mein Sieg nach wie vor wie ein Traum vorkam. Jack hatte aufgehört zu graben. Der Hügel Erde neben ihm war abgetragen und zu einem leichten Haufen vor seinen Füßen aufgetürmt. Erschöpft warf er die Schaufel zur Seite, zückte aus seiner Tasche sein Zigarettenetui und zündete sich eine an. Langsam gesellte ich mich zu ihm und umfasste seine Hand. Er drückte sie fest und lächelte müde. „Hätte nie gedacht, dass ich ausgerechnet ihr mal ein Grab schaufeln würde...“, murmelte er. Dann zog er noch einmal, schaute die nicht einmal zur Hälfte gerauchte Zigarette an, seufzte schwer und trat sie auf dem Boden aus. „Was ist?“, fragte ich, doch Vater schüttelte nur den Kopf. „Mir... ist einfach nicht danach.“ Wieder schwiegen wir eine Zeit lang, doch es war kein betroffenes, unangenehmes Schweigen, sondern ein entspanntes, ruhiges. „Du hast sie für Mutters Tod verantwortlich gemacht, nicht wahr?“, fragte ich schließlich. Vater sah mich an und kratzte sich am Kopf. „Ich habe fast jeden dafür verantwortlich gemacht. Insbesondere mich selbst. Aber nichtsdestotrotz hast du schon recht, lange Zeit sah ich sie – obwohl Mycraft derjenige war, der dich töten wollte und obwohl es Sam war, der in dieser Nacht an seiner Seite stand – als die Wurzel all dessen.“ „Hast du ihre Schwester gekannt?“ „Nein... niemand kannte Florence... Außer Claire selbst, aber anscheinend war auch ihr Treffen nur zufällig. Aber ich glaube, es hätte nichts geändert, wenn ich ihre Motive gekannt hätte. Am Ende waren wir verfeindet. Und das zu Recht. Aber jetzt... jetzt tut sie mir beinahe leid... Aber bestimmte Wunden heilen nicht.“ „Hatte das etwas mit Fleur zu tun?“ Aus seiner Tasche zog Vater ein kleines Päckchen mit einer minimalistisch aufgezeichneten Blüte auf dessen Vorderseite. Ihr Inhalt sah erst aus wie Sand, den er mit ausladenden Bewegungen auf dem Grab verteilte, doch während sich die feinen Körner auf der aufgewühlten Erde verteilten, erkannte ich, was sie in Wirklichkeit darstellten: Samen. Rasch zogen sie ein und noch ehe man sich versah, sprießten aus den Löchern die ersten Knospen, so schnell, dass man ihnen beim Wachsen zusehen konnte. „Fleur war... man könnte sagen, sie war mein letzter Strohhalm, mein Lichtblick. Der Weckruf, dass sich die Welt noch weiterdrehte, auch nachdem deine Mutter und du aus meinem Leben verschwunden wart. In ihrer Nähe... ich glaube wir alle kennen das Gefühl, aber in ihrer Nähe war ich einfach glücklich. Und genau das wollte mir Véronique nehmen. Immer und immer wieder. Sie manifestierte ihr Eigentumsrecht sogar mit diesem liederlichen Band, dass Fleur umgebracht hätte, sobald Véroniques Magie versiegen würde. Aber das hatte mich nicht aufgehalten. Ich habe alles notwendige getan, um Fleur zu beschützen... Das hatte aber nichts damit zu tun, Véronique eins auszuwischen. Viel eher wäre ich wohl zerbrochen, wenn sie mir auch genommen worden wäre.“ Ein glänzender Schimmer legte sich auf seine tiefbraunen Augen und ein verlegenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Vater... kann es sein, dass du...?“ Weiter kam ich nicht. Er schaute gen Himmel, verschränkte die Arme vor der Brust und blies ein wenig Luft aus. Dann legte Jack einen Arm um mich, zog mich zu sich und drückte mich fest. Ich bettete meinen Kopf auf seine Schulter und atmete tief durch, während er mir sanft durchs Haar strich. Er würde mir keine Antwort geben. Vielleicht war es auch besser so. „Wie geht es dir?“, fragte er und legte prüfend seine Hand auf mein Gesicht. „Es geht... Ich fühle mich ein wenig schwach. Es bleibt wohl nicht mehr allzu viel Zeit.“ Vater nickte müde und drückte mich noch einmal mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen. Seine Wärme legte sich wie ein Schal um mich, streichelte mich mit seinen feinen Texturen. Dann benetzte kaltes Wasser meine Bluse und ein schwaches Zittern ging durch seinen Körper. Ich legte meine Arme selbst um ihn und vergrub meine Finger im feinen Stoff seines Hemds. So verharrten wir eine ganze Zeit lang. Weder ihm noch mir kam auch nur ein Wort über die Lippen. Allmählich löste er sich von mir und sah mich mit nassen Augen an, während eine Hand noch einmal meine Wange streichelte, mich zu sich zog und einen sanften Kuss auf meine Stirn gab. Dann richtete er sich auf. „Nun denn! Ich glaube, du hast es dir mehr als nur verdient jede noch verbleibende Minute so zu verbringen, wie du möchtest. Und mit wem du möchtest“, sagte er und winkte schmunzelnd jemandem hinter uns zu. Ich drehte mich um und auch meine Mundwinkel gingen nach oben. Die Hände schlicht vor dem Schoß gefaltet, wartete sie in ihrem Dienstkleid am Rande der Lichtung. Das Sonnenlicht wurden von ihrer hellen Haut so stark gestreut, dass von ihr ein fast engelsgleiches Strahlen ausging und die violetten Augen funkelten darin wie purpurne Amethyste. Anders als unsereiner, an denen die Spuren der letzten Tage hingen wie lästige Kletten, wirkte sie geradezu taufrisch. Jack wuschelte mir kurz durchs Haar. „Geh zu ihr. Sie wartet doch schon sehnsüchtig.“ „Bist du sicher?“ „Bin ich. Der tränenfeuchte Abschied steht uns beiden nicht und außerdem...“ Sein Blick wanderte zu Mutters Grab. „...brauche ich noch einen kurzen Moment allein.“ Ich ging zunächst langsamen, dann immer schnelleren Schrittes in Richtung des Mädchens, doch auf halben Wege drehte ich mich nochmal um. „Tust du mir bitte einen Gefallen? In den nächsten Wochen wird ein junger Mann nach Taleswood kommen – ein guter Freund von mir. Er wird sicherlich Essen und Obdach benötigen.“ Er nickte ruhig und drehte sich zu Mutter. Kaum dass ich nur noch seinen Rücken sah, kniete er vor dem Blumenmeer nieder und vergrub bebend seine Hände in der Erde. Für einen Moment hatte ich schon vor, umzukehren, da erschien, aus den Partikeln der Sonne geformt, eine glänzende weibliche Silhouette, die sich sanft an ihn schmiegte und ihn tröstend streichelte. „Ist mit Master Salem alles in Ordnung?“, fragte Fleur, unsicher nach hinten blickend, als ich sie an der Hand nahm und mit mir zog. „Dem geht’s gut, er ist nur... ein wenig erschöpft.“ „Und... wohin gehen wir? Eigentlich sollte ich gleich die Wäsche...“ „Vergiss es, du hast heute frei. Lass uns rausgehen und die Sonne genießen. Du schuldest mir noch etwas für den Schrecken aus letzter Nacht.“ Verlegen lachend legte Fleur ihren langen Schopf über die Schulter und strich sich durch die Strähnen. „Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, was passiert war. Ich war nur aufgewacht und wollte nachschauen, ob ihr wieder da seid, da wurde es plötzlich komplett schwarz um mich herum. Ziemlich peinlich, nicht wahr?“ Ich schwieg. Niemand hatte ihr etwas von dem Band erzählt, dessen Trennung diese vorübergehende Ohnmacht wahrscheinlich ausgelöst hatte. Im Nachhinein eine sicherlich nachvollziehbare Reaktion, bedenke man doch, wie lange sie so gelebt hatte. Aber dennoch... als sie dort regungslos am Treppenabsatz gelegen hatte, war ich schon von dem Schlimmsten ausgegangen. Der Stein fiel mir erst vom Herzen, als sie heute morgen endlich wieder die Augen geöffnet und sich erhoben hatte, als wäre nie etwas passiert gewesen. Seufzend streckte ich mich, während wir weiter voranschritten. Durch meine Adern zog sich mal wieder ein dünner, schwacher Schmerz, wie er die letzten Tage regelmäßig vorkam. Ich merkte, wie etwas aus meiner Haut auszubrechen versuchte und langsam konnte ich dies nicht mehr ignorieren. Das Kollektiv ermahnte mich regelmäßig dazu, dass die Zeit langsam knapp wurde. „Hey... wollen wir uns nicht ein wenig an den Madcap River setzen?“, schlug Fleur vor und schaute zu dem Fluss einige Yard entfernt. Ich nickte. Es war sicherlich nicht falsch, nahe an dem Ort zu sein, zu dem ich letzten Endes ohnehin musste. Langsam schlenderten wir zum Ufer und schauten auf die glitzernde Oberfläche, welche unzählige tanzende, leuchtende Formen hervorbrachte. Dahinter huschten die Fische in ihrem altgewohntem Takt vorbei und selbst jetzt, wo die Sonne direkt auf das Wasser schien, war der Grund nicht zu erkennen – ein mulmiges Gefühl machte sich breit, als ich in die gähnende Tiefe starrte und als ich mich genau konzentrierte, da dachte ich für einen Moment, ich könnte die rot pulsierenden Tafeln des Rückgrats erkennen. „Weißt du, es ist seltsam, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass in diesem Gewässer – irgendwo ganz tief verborgen – ein Teil meiner Selbst nach mir ruft.“ „Macht dir das keine Angst?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich doch so gerne hier. Bevor du hierher kamst, war ich oft allein. Also habe ich mich immer hierhin gesetzt und den Fischen beim Schwimmen zugesehen. Es ist einfach so herrlich friedlich.“ Schuldbewusst senkte ich den Kopf. Ich würde sie wieder allein lassen müssen. Fest presste ich meine Zähne aufeinander und drückte meine Finger in meine Arme um den langsam aufkommenden Heulkrampf zu unterdrücken, doch da legte sich ihr Kopf auf meine Seite und aus ihrem Mund entglitt ein zufriedener Seufzer, dann begann sie leise eine Melodie vor sich her zu summen. Ihre warmen Hände umklammerten mich fest, während Fleur sich noch enger an mich schmiegte. Ihr sanfter Duft umspielte meine Nase und ich kam nicht umhin, in ihren hauchenden Gesang einzustimmen, der wie eine zarte Windböe in meinen Ohren klang und mir eine angenehme Gänsehaut verpasste. Auch wenn es weh tat; lieber sah ich sie jetzt gerade noch wenige Minuten und lies sie dann allein, als noch einmal in ihr sterbendes Gesicht zu schauen. Dieser Moment, dieser Augenblick bewies mir, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nun musste ich jede verbleibende Sekunde auskosten. Noch ehe sie sich versah, packte ich Fleur bei den Schultern und drückte sie ins saftige Grün, setzte mich auf ihren Schoß und unterdrückte ihren überraschten Aufschrei mit einem innigen Kuss. Ihre Hände versuchten noch, mich wegzudrücken, doch ich griff sie mit den meinen und drückte sie zu Boden, während ich mich langsam von ihr löste. In ihren Augen kochte eine Mischung aus Nervosität – oder gar Furcht – Neugier und Lust und ihre Lippen wussten noch nicht so recht, ob sie mich zum Aufhören oder Weitermachen auffordern sollten. Ich hatte sie vollkommen überrumpelt. „Alice... was...“ Sanft legte ich meine Lippen an ihren Hals und küsste jede noch so kitzelige Stelle ab, bis sie davon eine Gänsehaut bekam und ihre Finger sich unwillkürlich in meiner Hand verkrampften. Ich lies sie los, fuhr mit meinen Händen bis zu ihrer Brust und vergrub meine Finger darin, knetete sie fast schon, während meine Lippen die ihren suchten. Ihre Hände, welche noch wenige Momente zuvor nicht wussten, was sie tun sollten, packten meinen Nacken und drückten mich fester zu ihr. Unsere Zungen liebkosten sich unerlässlich, während meine Hände ihre dünne Bluse aufrissen, unter ihr Unterhemd fuhren und ihre nackten Brüste eingehend massierten. Doch dann stockte ich. Für einen Moment fühlte sich mein Herz an, als würde es aussetzen, verkrampfte sich darauf und pumpte mein Blut, bis meine Venen zu platzen drohten. Ich sah in das Gesicht meiner Angebeteten. Fleurs Wangen glühten vor Lust und ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie die meinen aussahen. Ich wollte noch mehr, ich wollte sie in diesem Moment besitzen, mit Haut und Haar, eins mit ihr werden. Doch es ging nicht. So schnell und plötzlich wie ich sie überwältigt hatte, so schnell löste ich mich von ihr und sah ihr tief in die Augen. „Es tut mir leid...“, wisperte ich. „Das muss es doch nicht. Ich liebe dich über alles... Und ich bin glücklich, wenn du mich auch liebst.“ „Mehr als alles andere. Deswegen... muss ich das hier tun.“ Noch bevor sie darauf reagieren konnte, blies ich ihr sanft ein wenig Luft entgegen. Einen kurzen Moment sah sie mich noch verwundert an, dann schlossen sich ihre violetten Augen und sie schlief ruhig ein. Ich sah auf meine Hände und schüttelte den Kopf, dann knöpfte ich ihr Kleid wieder zu. Ich hätte es mir wirklich gewünscht, wenigstens einmal mit ihr zu schlafen, doch es sollte nicht sein, nicht jetzt und – schon aus allgemeinen Anstand – nicht hier. Einen letzten sanften Kuss gab ich ihr auf ihre dünnen Lippen, strich noch einmal ihre grauen Strähnen aus dem Gesicht, dann richtete ich mich auf und bewegte mich zum Fluss. „Du möchtest schon gehen?“ „Dir bleiben noch wenige Stunden, dessen bist du dir bewusst?“ Ist schon okay. Je länger ich hier bleibe, desto öfter und schmerzhafter werden die Krämpfe, oder nicht? Ich will nicht, dass sie mich leidend in Erinnerung behält. Ich möchte jetzt schon gehen, wenn das gestattet ist. Jetzt ist es noch meine Entscheidung. „Wie du wünschst.“ „Wir werden dich mit offenen Armen begrüßen, neue Schwester.“ Ich nickte und und schaute noch ein letztes Mal nach hinten. Sie lag ganz ruhig da und rekelte sich ein wenig. Noch einen letzten Abschiedskuss hauchte ich in ihre Richtung, dann ließ ich mich nach vorne fallen. Wie beim ersten Mal verschlang mich das Wasser auf der Stelle und zerrte mich in Richtung Abgrund und wie beim ersten Mal, war dies begleitet von einem tanzenden Ring unzähliger Fische. Meine Augen wurden allmählich schwerer und schwerer und mit eindringlichen Gesängen im Ohr und einem zufriedenem Lächeln auf den Lippen, erwartete ich sehnsüchtig das Ende meiner Reise. Ich hatte ja als Kind nie an Wunder geglaubt. Wunder, wie sie mir Taleswood gab, auch wenn einige sich als echte Schrecken herausstellten und auch wenn sie mir am Ende zum Verhängnis wurden. Nichtsdestotrotz möchte ich nicht eine Sekunde davon missen... oder auch nur einen Menschen, den ich dort getroffen habe. Und wenn es nun zu Ende war, dann bereute ich nur, sie nicht schon früher getroffen zu haben. Aber niemals würde ich dieses Opfer bereuen. Denn allein für ihr Lächeln war es mir dies zu jeder Sekunde wert. Ich hatte als Kind nie an Wunder geglaubt. Und niemals hätte ich geglaubt, einmal selbst ein Teil davon zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)