Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 18: Der erste Kontakt ----------------------------- „Entschuldige den etwas muffigen Geruch“, murmelte ich, während ich versuchte, Fleur so gut es ging, unter einem alten Stofftuch zu verstecken, welches ich ihr wie eine Haube über den Kopf warf und tief ins Gesicht zog. Doch hierbei stellte sich ein gewisses Problem heraus: Versuchte ich ihr langes Haar bis zur Spitze zu verdecken, rutschte das Tuch vom Kopf; zog ich den Stoff hingegen tief genug ins Gesicht, dass ihre Augen im Schatten lagen, reichte es hintenrum nicht mehr... Ich hätte ihr ja einfach den langen Schopf etwas gekürzt, aber auf den Vorschlag reagierte sie recht empfindlich und abgesehen davon fehlte uns dafür die Zeit. Nach dem Vorfall in der Nacht waren wir nur schwer aus den Federn gekommen. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie tief die Ringe unter meinen Augen waren, doch Fleur sah man ihre Müdigkeit nicht an. Stattdessen zierte ein verschmitztes Grinsen ihr Gesicht. „Heute gut gelaunt?“, fragte ich und ließ mich von ihrer Laune anstecken, was mich zumindest etwas vitaler werden ließ. Fleur schüttelte den Kopf. „Es ist nur... Master Salem hatte anfangs auch Anstalten gemacht, mich unter Tüchern und Kapuzen zu verstecken. In der Welt außerhalb von Magierstuben wird unsereins entweder gefürchtet, oder verachtet. Es ist nicht so, als habe er anfangs nicht auch zumindest eine gewisse Distanz zu mir gewahrt – verständlicherweise, immerhin war ich eine Schöpfung seiner Erzfeindin. Aber das hielt ihn nie davon ab, sich um mich zu sorgen. Und jetzt sehe ich dich in einer ähnlichen Position.“ „Was sollte ich denn sonst tun? Du bist in Whitechapel nicht zuhause, dich auf die Straße zu werfen, wäre nicht richtig. Das wäre auch wirklich nicht mein Stil.“ Und selbst wenn, wollte ich das nicht. Nicht nur um ihres Wissens wegen, sondern auch, weil ich nicht umhin kam, sie zu mögen, ab dem ersten Moment, an dem ich sie sah. Fleur war hübsch, ehrlich, liebenswert, vielleicht ein wenig anhänglich, aber daran gemessen, wie angenehm ihre Präsenz für ihr Umfeld war, gab es wirklich schlimmeres. Wie könnte einer sie bitte verachten? „Trotz aller Umstände, die ich dir mache?“, fragte sie mich noch einmal mit leichtem Nachdruck, nicht um sicherzugehen, vielmehr, als sehe sie wirklich sich selbst in der Mitverantwortung. „Es ist doch nicht deine Schuld, dass ich keine Erinnerungen mehr habe. Wenn es stimmt, was du sagtest, dann war die Entscheidung nach London zu gehen unvermeidlich. Außerdem wusste niemand von uns über die Konsequenzen Bescheid, oder etwa nicht?“ „Das stimmt schon, aber dennoch... Auch mein Verhalten letzte Nacht, es...“ Fleur hielt inne und schaute deprimiert zu Boden. Ich fragte nicht nach, was sie mir sagen wollte, hatte es nicht einmal genau mitbekommen. Aber wenn es um letzte Nacht ging, dann war ich nicht besser, denn letzten Endes habe ich sie auch zu keinem Punkt zurückgehalten. Fast so, als wollte ich das alles... „Fürchtest du dich, Alice?“, fragte sie, nachdem ich einige Minuten nur schweigend am Tuch herumgewerkelt hatte, mich dann aber kurzerhand für die Option entschied, es ihr tief ins Gesicht zu ziehen. Ihre blasse Haut würde wohl mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ihr graues Haar – auch wenn es in keiner Relation zu ihrer jugendlichen Statur stand. Hoffentlich war es nicht allzu weit, bis zu Thomas' Laden. Ob ich wirklich heute meine Erinnerungen wiederbekam? Ich wollte es nicht unbedingt glauben und gerade machten mir auch völlig andere Dinge Sorgen... „Furcht? Nein, vielleicht bin ich ein wenig aufgeregt, das ist dann aber auch alles“, verleugnete ich meine Nervosität. Wie es wohl war, wenn die beiden aufeinander trafen? Würde Fleur vielleicht sofort mit der Tür ins Haus fallen? Hoffentlich hatte mein vergangenes Ich sie genug über diese prekäre Lage in Kenntnis gesetzt... „Hör mal Fleur, du bist ja recht vornehm aufgewachsen, also sei über die Zustände da draußen bitte nicht allzu schockiert...“, versuchte ich das Thema zu wechseln, doch erst jetzt, als ich sie wieder direkt ansah, fiel es mir auf. Der freudige Glanz in den Augen, das lebhafte Lächeln, generell jeder Ausdruck von Optimismus war einer unheimlichen Anspannung gewichen. Fest presste sie ihre Lippen aufeinander und atmete unruhig. Dünne Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. „Ist irgendwas?“, fragte ich sie. „Ich... Ich bin mir nicht sicher...“ „Fühlst du dich unwohl?“ Ohne mir zu antworten, lief sie ans Fenster, presste sich gegen die Wand und lugte hinaus. Ich wollte ihr folgen, doch sie hielt mich zurück. Sie wagte es kaum zu atmen und je länger sie so stand, desto mehr übertrug sich auch auf mich ein mulmiges Gefühl. „Lass mich raten... Jetzt ist auch noch ein Killer hinter mir her?“, versuchte ich mit ein wenig Ironie die Situation wieder in gelenkte Bahnen zu bringen, aber zu einem gewissen Grad fürchtete ich mich vor ihrer Antwort. Glücklicherweise verließ Fleur endlich ihre Position, doch damit war ihre Anspannung nicht verloren. Während sie an mir vorbei lief, packte sie mich am Arm und zog mich mit sich. „H-hey was soll das denn?!“ Wie in Trance hastete sie, mich einfach nicht loslassend, aus dem Hotel, machte auf der Straße dann plötzlich halt und schaute sich panisch in der Gegend um. Auch ich überschaute meine Straße, ließ meinen Blick von Westen nach Osten schweifen, entlang an den Eingängen der Wohnhäuser, den schwarzen Fenstern der Steamed Rat und schaute mir besonders gut die Gesichter jedes einzelnen Passanten an, doch niemand stach heraus. Da waren einige Kinder an der Straßenecke, die um eine handvoll Pennys bettelten und dabei immer wieder die gleichen Phrasen wiederholten. Eine ältere Dame fegte die Treppe ihres Hauses und unterhielt sich mit einem Mann, der am Fuße stand und eine rauchte. Seinem deprimiertem Gesichtsausdruck nach und gemessen an der frühen Uhrzeit, wurde er wahrscheinlich gerade gekündigt. Einige Schläger kamen aus einer Gasse, sichtlich angetrunken und pöbelten ein paar Passanten an. In der Ferne hörte man das dampfende Werkeln von Maschinen und die Echos der Pferdekutschen, die über das Pflaster donnerten, vermengt unter das Bellen einiger Straßenköter und dem Gemisch verschiedenster Stimmen, mal hallend aus den Hinterhöfen, mal dumpf aus den nahen Gebäuden. Leicht legte ich eine Hand auf Fleurs Schulter und nickte ihr beruhigend zu. Dann gab ich ihr einen Stoß in die richtige Richtung. Sie beruhigte sich zwar etwas, doch es entging mir nicht, dass sie noch immer Augen und Ohren offen hielt. „Vielleicht hilft es, wenn du mir erklärst, was uns verfolgt.“ „Tut mir leid...“ Das waren ihre ersten Worte, nach einer gefühlt ewigen Wartezeit. „Ich hatte dieses komische Gefühl... Eine boshafte, bedrückende Präsenz, die ich nur von einer Person kenne... Meiner Schöpferin.“ Ich blieb stehen und schaute Fleur perplex an? Diese La Belle, von der sie mir erzählt hatte? Hatte sie uns wirklich verfolgt? Schnell wirbelte ich herum und beobachtete jede feminin anmutende Person nochmal genaustens. Doch je länger ich mir die handvoll Passanten an diesem sonnigen und scheinbar sorglosen Morgen ansah, desto mehr fügten sie sich alle in das Bild ein. Nein, heraus stach niemand. Insbesondere niemand, der schon von weitem äußerst boshaft wirken musste. „Bist du dir sicher?“, flüsterte ich ihr zu und versuchte, mich weniger zu allen Seiten umzusehen, sonst machten wir uns nur unnötig verdächtig. „Ich... ich weiß nicht. Ihre Aura ist eigentlich unverwechselbar. Kalt, wüst und erbarmungslos wie ein Blizzard in den Bergen. Mal ist sie stärker, dann aber auch wieder sehr schwach, aber jetzt fühlt es sich eher an, als wäre sie von einem auf den anderen Moment verschwunden.“ „Ist so etwas denn möglich?“ „Ich weiß nicht...“ Sie war sichtlich beunruhigt und ich musste nicht fragen, wieso. Wer immer es auch war, der sich vielleicht in unserer Nähe umhertrieb, es war nicht in meinem Sinne, ihn zu treffen. Lieber glaubte ich ihr vorher als im Nachhinein eines Besseren belehrt zu werden. Forsch packte ich ihre Hand und führte sie die morgendliche Straße entlang, blieb nicht stehen und sah nicht zurück, bis ich Thomas – etwas zerzaust, aber ausgeschlafen – vor seiner Haustür sitzen sah. Über all den Ärger hatte ich schon beinahe vergessen, wie sehr ich mich vor seiner Begegnung heute eigentlich fürchtete. Ein leises, sanftes „Hey“ war das erste, was er sagte, als wir uns gegenüberstanden. So begrüßte er mich fast immer. Tom redete nie viel, wenn man ihn nicht dazu aufforderte. Stattdessen war er einfach für einen da und hörte zu. Ganz gleich, wie viel man ihm zu erzählen hatte. Eigentlich liebte ich das mitunter am meisten an ihm, doch wie sollte ich ihm sagen, dass es gerade seine Nähe selbst war, die mich bekümmerte? Kühl waren seine Hände, als er sie auf mein Gesicht legte und seine schmalen Finger in meinem Haar vergrub. Langsam kam er mir näher, doch ich wollte ihn eigentlich nicht küssen. Nicht jetzt, nicht hier. Nur widerwillig ließ ich ihn seine Lippen auf die meinen legen und als ich sah, wie Fleur darüber ihr Gesicht in ihren Händen vergrub, wurde er nur noch ungenießbarer. Tom spürte das und ließ wieder schnell von mir ab. „Verzeih... Ich sollte dich aktuell nicht so überrumpeln.“ Dieser Idiot, warum entschuldigte er sich nur dafür? Es war doch das Normalste auf der Welt, seinen Liebsten zu küssen und im Arm zu halten und ich hegte doch Gefühle für Tom. Warum nur konnte ich es dann nicht genießen? „Weil er dir gefallen hat, Fleurs Kuss in der Nacht“, redete mir meine innere Stimme ein. Ich versuchte entgegen zu halten, mir einzureden, dass dem nicht so war, doch sie ließ mich nicht in Ruhe. „Sie gefällt dir, sie gefiel dir von der ersten Sekunde an. Und schon bald wirst du dich an jede Liebkosung erinnern, die ihr ausgetauscht habt. Wie kannst du Tom so noch in die Augen sehen?“ Das ist nicht wahr... „Was hat er nur verbrochen, sich in dich zu verlieben? Eine Straßengöre, eine Mörderin, eine Hure...“ Das ist nicht wahr! Selbst wenn es der Wahrheit entsprach, was konnte ich denn für all das? Ich hatte nie darum gebeten, auf der Straße zu leben, ich hatte nie jemanden töten wollen und ganz sicher hatte ich nie darum gebeten, mich... mich in sie zu... „Alice?“ Kurz zuckte ich zusammen, als Thomas meinen Namen nannte und sah ihn an. Er hatte seine Hände von mir genommen und schaute mich erwartungsvoll an. „Entschuldige, hattest du was gesagt?“ In meinem kurzen Konflikt mit mir selbst, hatte ich meine Umwelt komplett ausgeblendet. Es konnte sich eigentlich nur um wenige Augenblicke gehandelt haben, doch fühlte es sich an, als sei währenddessen eine beachtliche Zeitspanne vergangen. Unfassbar, wie schnell man sich in Gedanken selbst fertigmachen konnte. Tom lachte kurz und schüttelte den Kopf. „Normalerweise bin doch ich das immer, der in seinen Gedanken alles um sich herum vergisst. Ich wollte eigentlich nur, dass du uns einander vorstellst.“ Ich schaute zu dem Homunkulusmädchen herüber. War es ihm etwa noch nicht aufgefallen, die schneeweiße Haut, die seltsam violetten Augen, das aschgraue Haar? Fleur machte einen kurzen Knicks, wobei sie ihre dunkle Maid-Uniform am Rock ein Stück weit anhob und das Gesicht zu Boden richtete. Der Anblick hatte sie sicher verletzt und ich konnte es ihr nicht verdenken. Doch als sie ihren Kopf gehoben hatte und ihre Blicke einander trafen, wurde auch Thomas sich ihrer sonderbaren Gestalt bewusst, die sich noch zuvor unter dem Schatten des Tuches versteckt hatte. Sicher reagierte jeder grundsätzlich anders, wenn er Fleur zum ersten mal traf, doch es war wohl Toms allgemeiner Weltoffenheit geschuldet, dass er – alle sichtbare Neugier zum Trotze – erstaunlich ruhig blieb. Und hätte ich in jenem Moment der Begrüßung nicht auf seine leicht zittrige Hand geachtet, die für einen Moment sogar zurückzuckte sowie seinen schwereren Atem, der von dem starken Schlagen seines Herzens zeugte, dann wäre seine Entspannung schon fast gespenstisch gewesen. Aber vielleicht kam er mir nur so ruhig vor, weil ich selbst große Anspannung fühlte, als die beiden sich die Hand gaben. „Guten Morgen, Mister Nowak. Mein Name ist Fleur, ich bin eine Freundin von Alice. F-Freut mich sie kennenzulernen.“ Fleur war schüchtern wie eh und je und auch Thomas antwortete ihr nur sehr zurückhaltend. So hatte ich das Gefühl, dass sie voreinander eine gewisse Angst verspürten, auch wenn sie wirklich nicht einander abgeneigt schienen. „Vielen Dank, dass Sie so gut auf Alice aufgepasst haben, Miss Fleur.“ „B-bitte nennen Sie mich nicht 'Miss', ich bin doch nur eine einfache Bedienstete. Fleur reicht absolut.“ „Verstanden. Thomas reicht ebenfalls bei mir, niemand nennt in dieser Gegend einen beim Nachnamen.“ „Okay...“ Und dann gaben die beiden ein verschüchtertes Lachen von sich und es schien, als tauten sie ein wenig auf. „Wo liegt der Laden, den du erwähnt hattest?“, fragte ich Tom, denn hier wollte ich keine Wurzeln schlagen. Gerade nahm meine Furcht wieder ein wenig ab, jetzt wo sie die ersten Worte miteinander gewechselt hatten. Dennoch fühlte ich mich dabei im Herzen Elend und wusste, dass ich mich auf kurz oder lang nicht mehr verstecken konnte. Doch es gab wichtigeres... Zumindest redete ich mir das immer wieder ein. „Es ist eine Tür, eingebaut in den Deich, auf Seiten der City. Nur wenige Minuten vom Tower entfernt. Wir brauchen also nicht allzu lang.“ Ich überließ Thomas die Führung, fühlte mich selbst auf einmal etwas verloren in meiner eigenen Heimatstadt und außerdem merkte ich nun auch die Schwere auf meinen Lidern, zwecks des Schlafmangels und meine Gedanken kreisten sich im Hintergrund eigentlich nur darum, wie ich einen von beiden vor dem Kopf stieß, ohne ihn oder sie dabei unnötig zu verletzen und vor allen Dingen wen. Den liebenswerten, schüchternen Jungen zu meiner Linken, den ich lange genug kannte, um ihm mittlerweile in allen Belangen blind zu vertrauen, oder doch dieses mindestens genauso liebenswerte und genauso schüchterne Mädchen zu meiner Rechten, zu der ich mich so unfassbar hingezogen fühlte, ganz gleich, wie sehr ich nicht auf meine Gefühle hören wollte? Vielleicht hätte ich besser niemals ein Faible für derlei Menschen entwickeln sollen. Sie zu verletzten, wird einem immer auch selbst wehtun. „Du siehst erschöpft aus... zu wenig Schlaf?“ Natürlich hatte Tom es bemerkt. Ich sollte ihn nicht noch mehr Sorge bereiten. „Fabelhaft kombiniert. Zu schade, dass sie keine Vandalen bei Scotland Yard zulassen.“ „Das war nun wirklich nicht schwer. Das sieht jeder an deinen Augen.“ „Ach wirklich? Ist es doch so schlimm?“, antwortete ich mit einem kurzen Lachen und machte dann eine kurze Pause. Man konnte sie einfach nicht erzwingen, die Leichtigkeit, mit der wir uns sonst unterhielten. Vielleicht würde sie niemals wiederkehren. „Du... du weißt, dass ich mich diesbezüglich schon lange nicht mehr lustig mache, oder?“ „Hm? Was meinst du?“, fragte er verwundert. Wieder machte ich eine Pause, atmete langsam durch. „Na wann immer ich dich mit deiner Beobachtungsgabe aufziehe. Dass du zu Scotland Yard gehen solltest, das meine ich schon lange ernst.“ „Ich weiß... Aber da gehöre ich nicht hin.“ „Tust du wohl.“ „Was sollen die schon mit jemandem wie mir anfangen? Ein paar Groschenromane lesen, das kann doch wirklich jeder.“ „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Wütend stellte ich mich vor ihn und funkelte ihn an. Er wusste, warum ich wütend war. Thomas hatte manchmal die schlechte Angewohnheit, sich selbst nicht wertzuschätzen und dann auch nicht auf die zu hören, die es ihm ausreden wollten und das brachte mich zur Weißglut. „Hier geht es nicht um mangelnde Erfahrung, für die du all dein Leben weiß Gott nichts konntest. Wenn diese Spinner von der Polizei lieber einen wichtigen Neuzugang verlieren würden, als mal ihr stures Weltbild zu überdenken, dann sind sie... Spinner eben. Aber du hast es ja bisher nicht einmal versucht! Du vergeudest all dein Talent und deine Wissbegierde und ich weigere mich, das mir länger anzusehen!“ Was tat ich da? Natürlich lag mir etwas an ihm, aber versuchte ich nicht gerade eher die Aufmerksamkeit nur von mir zu lenken. „Alice, es geht doch jetzt gar nicht um...“ „Halt die Klappe! Fleur, sag auch mal was dazu.“ Das Homunkulusmädchen war sichtlich überfordert damit, dass ich sie so plötzlich eingebracht hatte. „A-also ich habe dazu wirklich keine richtige Meinung... Aber vielleicht...“ Auf einmal fingen ihre Augen an zu leuchten und zum ersten Mal, seit sie auf Tom getroffen war, huschte ein Lächeln über ihren Mund. „Vielleicht können Sie ja mitkommen. Nach Taleswood. Wir haben auch eine Polizei und die sucht immer gute Leute, egal welchen Standes.“ Was hatte sie vor? Sie wusste doch über unsere Situation Bescheid, warum sollte sie dann vorschlagen, dass wir nur enger zusammenleben? Aber zum Glück war ich nicht die einzige, die Zweifel daran hatte. Auch Tom wusste nicht so recht, wie er dazu stehen sollte. „Das ist... ein gutes Angebot, aber ich glaube nicht, dass ich in einer solchen Stadt gut aufgehoben bin. An mir ist doch nichts besonderes.“ „Keine Sorge, die meisten Menschen in Taleswood sind vollkommen normal. Ich bin sicher, Master Salem würde Ihnen auch ein Gästezimmer für die erste Zeit zur Verfügung stellen.“ Wurde sie... wurde Fleur etwa rot? Was war nur in sie gefahren? Doch um ehrlich zu sein, konnte ich ihr nicht widersprechen. Ich wollte ja, dass Thomas endlich in seinem Leben etwas tat, das ihm gerecht wurde, aber welchen Zweck verfolgte Fleur mit diesem Vorschlag? „Wir haben jetzt wichtigeres zu tun“, warf ich ein und machte mich wieder auf, dem Weg zu folgen, den wir gerade gegangen waren und die anderen stimmten mir zu. Denn egal, was die Zukunft für uns drei brachte, zuerst mussten wir uns um die Gegenwart kümmern. Aber abgesehen davon, hatte mich Fleur so dermaßen eiskalt erwischt, dass ich möglichst schnell von dem selbst angestoßenen Thema wieder abkommen wollte. Trocken und schwer hing der Kohlenstaub in der Luft, ausgestoßen von den unzähligen Schiffen, welche Tag für Tag die Themse entlang fuhren und Güter wie Personen über den Fluss bis hinunter zur Nordsee transportierten. Wenn es nebelig war, vermischte es sich zu einem so undurchsichtigen Grau, dass man beinahe die Hand nicht vor Augen sah. Doch nicht an diesem sommerlichen Tag und das war auch gut so, denn Tom konnte sich zwar das ungefähre Umfeld gut merken, jedoch nicht die genaue Tür, welche in die steinernen Hänge eingelassen waren und hinter denen sich diverse Lager befanden, prallgefüllt mit Waren, die nur auf ihren Abtransport warteten. Und davon gab es eine Menge. Zudem sah jene, vor der wir halt machten nicht sonderlich anders aus, als alle anderen. Hier sollte sich also ein Buchhandel befinden? Nichtmal als Buchlager würden sich diese Orte anbieten, waren sie doch immer ein wenig hochwassergefährdet. Abgesehen davon waren die Räume nicht sonderlich groß, da die Waren oft nur kurz zwischengelagert wurden. Da bemerkte ich die Inschrift am Rahmen, so dermaßen durch die Witterung verwachsen, dass man sie kaum als Buchstaben entziffern konnte. „L-Lost T-Tales Booktrade“, entzifferte Fleur mit halb zugekniffenen Augen. „Wie hast du denn diese Bude gefunden?“, wollte ich nun doch wissen, doch Thomas gab nur eine schwammige Antwort, um ein offenes Geheimnis, weitergeleitet über einen, der einen kannte, der einen kannte und so weiter. Kurzum: Er konnte den genauen Informationsweg auch nicht mehr zurückverfolgen und das wurmte ihn deutlich mehr als mich. Zweimal klopfte er an die schmucklose Tür mit einigen Sekunden Abstand, dann schwang sie von selbst auf und offenbarte auf den ersten Blick nur gähnende Leere. Dann entzündete sich in der Finsternis eine Kerze... und daraufhin noch eine und noch eine, bis ein großer Saal hell erleuchtet war, viel riesiger und edler, als es die Tür andeutete. Die Wände waren bis zur Decke mit Regalen aus dunklem, gleichmäßigen Holz verdeckt über und über gefüllt mit Büchern, stellenweise überhangen mit Karten und Schemata, deren Inhalt ich von meiner Position aus nicht entziffern konnte. In dem runden Raum, welcher von der Größe aber auch von der Ausstattung her gut und gerne als edler Ballsaal durchgehen konnte, stand in dessen Mitte ein relativ breiter, ovaler Glastisch, verziert mit bunten Malereien aus unterschiedlichen Epochen und auch von unterschiedlichen Künstlern, sodass es etwas durcheinander wirkte. Und an diesem Tisch, eingezwängt zwischen Büchern saß eine große, etwas ältere Frau mit kurzem aschgrauem Haar, schneeweißer Haut und violetten Augen, die uns fixierten. Sie stand auf und lächelte uns freundlich zu, winkte uns mit einem Arm heran. „Bitte... Nicht so schüchtern, die Damen und der Herr. Ich sehe hier immer gern Gäste.“ Dann hielt sie inne und ihre Augen wurden größer. Gerichtet waren sie...auf Fleur. Und als ich sie ansah, erkannte ich, dass meine Begleiterin genauso reagierte. „Was ist los? Was ist mit ihr?“, fragte ich sie. Nur langsam fingen ihre Lippen an, zittrig Worte zu formen, gestört von dünnen Tränen, die ihre Wangen herunterliefen. „Unmöglich... Sie... Sie ist wie ich...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)