Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 3: Wundersame Kleinstadt -------------------------------- Es war nur ein kurzer Schritt auf die andere Seite, der mich aber mehr Überwindung kostete, als erwartet. Eigentlich wollte ich die Augen offen halten, doch kurz vorm Übergang schlossen sie sich doch und ließen sich auch nicht mehr öffnen. So bekam ich nicht wirklich mit, was eigentlich passierte. Scheinbar waren wir in einer großen, leeren Halle, denn ich hörte einen starken Widerhall während mich Mr. Salem an der Hand nahm und durch den Raum führte. Es war nur ein kurzer Aufenthalt, bis wir uns in einer anderen Umgebung befanden und er mir sagte, dass ich die Augen wieder öffnen konnte. Ich fand mich in einem großen, aufgeräumtem Zimmer wieder. Es war recht dunkel, da das einzige Fenster neben dem Spiegel kaum Licht spendete und auch die große, offene Doppeltür, gegenüber des Kamins nicht viel mehr Helligkeit brachte. Doch nach kurzer Zeit gewöhnten sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse. Um den Kamin standen zwei bequeme Sessel. Über ihm hing, als eine Art Trophäe, der Schädel eines großen Tieres. Rechts und links davon befanden sich zwei riesige, vollgestopfte Bücherregale. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes sah ich einen Billardtisch. Der Spiegel, durch den wir gereist waren, stand in einer Ecke und hatte einen ähnlich aufwendig verzierten Rahmen, wie der in meinem Zimmer. Jedoch nicht mit Rosensträuchern, sondern zwei Schlangen – eine weiße mit schwarzem Muster und eine schwarze mit weißem Muster – die sich oben ineinander verknoteten und den Betrachter mit ihren gelben Augen anblitzten. „Willkommen in der Villa der Wunder“, sagte Mr. Salem mit einer überschwänglichen Geste. „Das hier ist der Salon, das größte Zimmer des Hauses.“ Noch ehe ich etwas antworten konnte, stürmte eine aufgebrachte junge Frau durch die Doppeltür. Sie war etwas größer als ich – in mehr als nur einem Zusammenhang – weswegen ich sie für ein paar Jahre älter hielt. Doch noch etwas anderes fiel einem selbst durch die schwachen Lichtverhältnisse sofort auf: Ihr aschgraues, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, die weiße, porzellanartige Haut und ihre großen violetten Augen. Irgendwie weckte dies Erinnerungen... „Master Salem, Sir! Sie sind wieder hier, so ein Glück! Hören Sie...“ „Was ist denn das für ein Benehmen?!“, herrschte er das Mädchen streng an. „Begrüße gefälligst unseren Gast!“ „Aber...“, wollte sie noch widersprechen, doch bekam als Antwort einen wütenden Blick. Bisher hielt ich den großen Mann für jemanden von der höflichen und zuvorkommenden Art. So wie es aussah, konnte er allerdings auch genauso einschüchternd sein, wie man es von einer Person seiner Statur erwarten würde. Aber sie wollte ihm doch anscheinend etwas Wichtiges sagen. War so eine Reaktion nicht etwas zu schroff? Für einen Moment dachte ich, sie würde vor Schreck anfangen zu weinen, doch stattdessen entschuldigte sie sich unterwürfig, kam auf mich zu und stellte sich lächelnd mit einem Knicks vor. „Guten Tag. Sie müssen Miss Alice sein. Bitte verzeihen Sie mein unhöfliches Auftreten. Ich bin Fleur, Master Salems Hausmädchen und einzige Bedienstete. Zu Ihren Diensten.“ Sie wirkte etwas schüchtern, doch sehr nett und gut erzogen. Und nun erinnerte ich mich , woher ich diesen Gesichtsausdruck kannte: Die kleine Katze vor vier Jahren! Ganz sicher war ich mir zwar nicht, doch an Zufälle glaubte ich nicht mehr. „Hallo, schön dich kennen zu lernen... Flör? Spreche ich das richtig aus?“ „Genau. Das ist französisch und bedeutet übersetzt Blume.“ „Wer zur Hölle nennt denn sein armes Kind 'Blume'?“ „I-Ich... also...“ Fleur war sichtlich verunsichert und schien sich durch diesen Scherz in Bedrängnis gebracht zu fühlen. Dementsprechend erleichtert wirkte sie, als Mr. Salem fragte, was sie ihm denn so dringend erzählen wollte. „Als Sie gestern gegangen waren, ist sie aufgetaucht und hat nach Ihnen gefragt.“ Er wurde hellhörig und musterte ihr Gesicht: „Was? Sie hat dir doch nicht wieder wehgetan, oder?“ „N-nein, aber... ich hatte trotzdem Angst.“ „Mach dir keine Sorgen, hier kann dir nichts passieren. Das Hausmädchen nickte ruhig und fing an in ihrer Tasche zu kramen. „Jedenfalls hatte sie mir diesen Zettel gegeben und deutlich gemacht, dass Sie sich bei ihr melden sollen.“ Sie übergab ihm das Schriftstück, dass er nur kurz überflog, dann wütend zusammenknüllte und in den dunklen Kamin warf. Ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es gehen könnte und stand noch immer verloren in der Nähe des Spiegels. „Kooperation, sonst noch irgendwelche Wünsche?“, knurrte er. „Aber wenn es doch wichtig ist...“ „Und selbst wenn es um den Weltuntergang gehen würde. Ich arbeite mit dieser Frau nicht zusammen. Ist das angekommen?“ „Laut und deutlich, Sir. Ich dachte mir schon, dass Sie so etwas sagen würden.“, sagte Fleur mit einem erleichterten Unterton. Wer diese dubiose Frau wohl war? Mr. Salem lächelte mich entschuldigend an. „Tut mir leid, das ist sicherlich nicht der beste Empfang gewesen. Fleur wird dir dein Zimmer zeigen und ich schlage vor, wir sehen uns danach die Stadt ein wenig an.“ Das Hausmädchen bestand darauf, mir den Koffer abzunehmen, egal wie oft ich ihr sagte, dass er nicht schwer sei. „Bitte, Miss Alice, das ist doch meine Aufgabe“, schien sie mich schon fast anzuflehen. Auch wenn sie auf den ersten Blick etwas unbeholfen wirkte, musste man ihr zugute halten, dass sie ihre Arbeit sehr ernst nahm. Vielleicht etwas zu ernst. Amüsiert stellte ich mir vor, wie sie sich wahrscheinlich lieber zu Tode schleppen würde, als einen Gast auch nur eine Tasche selbst tragen zu lassen. Aus dem Salon heraus führte ein langer Korridor nach links zu einer Wendeltreppe, nach rechts hingegen zu Küche und Bad. Gerade von letzterem war ich überwältigt, denn es hatte tatsächlich angeschlossene Wasserleitungen. Im ersten Stock befanden sich dann drei Schlafzimmer, sowie zwei Gästezimmer. Ich bekam das Zimmer ganz am Ende des Ganges. Das Obergeschoss befand sich direkt unterm Dach, wie die Schräge erkennbar machte. Die Einrichtung war auf das nötigste beschränkt: Bett, Kleiderschrank, Schreibtisch und eine kleine Kommode mit eingebautem Spiegel. Doch mehr brauchte ich auch nicht und alle Möbel waren von sehr guter Qualität. Dass es sogar einen Balkon hatte, war für mich ein echter Luxus, auf den ich auch nach vier Jahren nicht mehr verzichten wollte. Die Tatsache, dass Mr. Salem nur für mich so einen Aufwand betrieb, schmeichelte mir, ließ mich aber auch fragen, ob ich denn wirklich je eine Wahl hatte, hierhin mitzukommen. Ich bezweifelte, dass er ein „Nein“ einfach so akzeptiert hätte, doch wollte auch keine boshaften Absichten unterstellen. Immerhin fühlte es sich gut an, einmal wirklich willkommen geheißen zu werden. "Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Miss Alice", sagte Fleur während sie meinen Koffer abstellte. Miss Alice... Ich bin ein Straßenkind, keine Gouvernante! Das musste doch auch ihr auffallen. Aber gut, lieber mit zu viel, als gar keinem Respekt behandelt werden... Ich öffnete die Balkontür und lehnte mich ans Geländer. Die Luft war sauber und frisch - kein Vergleich zu dem abstoßenden Geruchscocktail, namens London. "Sag mal, Fleur...", fing ich an, während ich wieder die Tür schloss. "Wie lange stehst du schon im Dienst von Mr. Salem?" "Lange genug, würde ich sagen. Etwa eine Dekade. Er ist ein toller Arbeitgeber." "Hat er mich schon einmal irgendwann erwähnt?" "Aber sicher. Zweimal im Monat ist er durch den Spiegel gereist, um sich nach Ihnen zu erkundigen. Er hatte mir immer mal wieder erzählt, dass es seine Pflicht sei, auf Euch aufzupassen. Aber um ehrlich zu sein, lag ihm meiner Ansicht nach viel mehr an Euch, als irgendeine Aufgabe. Nicht, dass er nicht pflichtbewusst wäre, aber sie schienen ihm viel mehr zu bedeuten..." Sie erschrak und schlug sich die Hände vor dem Mund. "T-Tut mir leid, vielleicht habe ich doch zuviel geredet! Wissen Sie, ich bin nicht gut darin, Geheimnisse zu bewahren!" Das war ein Geheimnis? Warum sollte Mr. Salem so ein Interesse für mich gehabt haben? Ein leichtes Misstrauen machte sich in mir breit. "Vertraust du ihm denn?" "Absolut!", rief sie entrüstet, "Master Salem ist der wohl ehrlichste, anständigste und vertrauenswürdigste Magier, für den ich je gearbeitet habe... Wobei... außer für ihn habe ich ja auch nur..." Etwas schien sie zu bedrücken, aber ich wollte sie nicht unterbrechen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und schaute mich mit einem milden Lächeln an. Es hatte etwas angenehm Anziehendes und ließ mich auch etwas zur Ruhe kommen. Abseits dessen, dass sie so ungewöhnlich aussah, war sie eine wirklich hübsch anzusehende, junge Frau. Bestimmt gab es für den Rest auch eine Erklärung. Und es konnte auch sein, dass Menschen wie sie hier vielleicht ganz normal waren. "Sie können diesem Mann vertrauen. Er würde keiner Fliege was zu leide tun. Dafür kenne ich ihn lang genug." Ich nickte stumm und setzte mich aufs Bett. Es war angenehm weich und frisch bezogen. Ich konnte nicht verleugnen, dass Mr. Salem sich wirklich Mühe gab, aber in mir mahnte mich eine Stimme zur Vorsicht. Gutbürgerliche, die arme Mädchen von der Straße aufnahmen... das ging oft genug nicht gut. Es war Mittag, als der Magier und ich uns auf den Weg in die Stadt machten. Das Haus lag an der Grenze zum Wald und damit etwas abgelegener. Taleswood war knapp eine Viertelstunde zu Fuß entfernt und der Weg führte auch am Madcap River vorbei, dem Fluss, der angeblich rückwärts fließe. Sprich, er entsprang in seinem Endsee und mündete in seiner Quelle. „Und woher will man das wissen?“, fragte ich ungläubig, als wir am Fluss ankamen. Denn bedeutete es nicht einfach, dass der Endsee eigentlich die Quelle war und umgekehrt? „Keine Ahnung. Aber wir sind uns ziemlich sicher, dass er nicht so herum fließt, wie er sollte. Schau mal.“ Er zeigte auf die Fische, die tatsächlich rückwärts schwammen. Stromabwärts, aber mit der Schwanzflosse voran. „Und deswegen denken Sie, dass er früher mal anders herum floss?“ „Natürlich. Die Fische gibt es hier schon seit Jahrtausenden. Sie müssen es doch am besten wissen.“ „Vielleicht sind sie auch einfach nur bescheuert?“ „Bitte Alice, was ist wohl wahrscheinlicher? Dass sich zehntausend Fische irren, oder ein Fluss?“ Ich dachte eine Sekunde darüber nach, doch konnte diesem Verständnis nichts entgegensetzen. Es war mir auch zu blöd, mich über Flüsse zu unterhalten. Taleswood war absolut nicht, was ich erwartet hatte. Zwar hatte ich auch nur eine sehr vage Vorstellung, wie eine Märchenstadt aussehen würde, doch wenn mir jemand erzählt hätte, dass es eine moderne Stadt mit viel Industrie sei, ich hätte wohl mit dem Kopf geschüttelt. Gepflasterte Straßen, mehrstöckige Häuser, die sich mit Fabriken, Lagerhallen und Sehenswürdigkeiten abwechselten... anfangs wirkte Taleswood nicht sonderlich anders als London, nur viel kleiner und sauberer. Doch dieser Eindruck verflog mit ihren Bewohnern: lebende Gartenzwerge, Tiere, die wie Menschen aufrecht gingen und Kleider trugen, Feen, die in der Luft herumschwirrten, sprechende Gegenstände wie Lampen, oder Türknäufe und noch einiges mehr, sodass es nun zu schwer war alles aufzuzählen. Mir fiel auch auf, wie viele von ihnen anscheinend Mr. Salem kannten, denn immer wieder wurde er gegrüßt und auch nicht selten in ein Gespräch verwickelt, in dem ich den Damen und Herren direkt einmal vorgestellt wurde. Innerhalb kürzester Zeit kannte mich gefühlt die halbe Stadt. „Sie scheinen hier wohl eine große Nummer zu sein“, bemerkte ich. „Sagen wir einfach, ich komme gut mit den Taleswoodern aus und sie sind mit meiner Arbeit zufrieden.“ „Nicht so bescheiden. Die Leute sprechen von Ihnen, als wären Sie der inoffizielle Bürgermeister.“ „Du klingst irgendwie leicht angewidert.“ „Ich vertraue einfach keinen Leuten mit Macht.“ „Und was wäre, wenn du auch solche Macht hättest?“ „Habe ich aber nicht.“ Er drehte sich zu mir um und schaute mich ernst an. „Gerade du solltest wissen, wie mächtig das Geschenk der Magie ist. Immerhin hat es bereits eine Person das Leben gekostet.“ Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Woher wusste er denn nun davon? „Dean Hart, 24 Jahre alt, Schwerkrimineller und - wenn es nach ihm ginge - Gangsterboss. Überfälle, Zuhälterei, Erpressung, Mord... Ich weiß, das macht es für dich nicht leichter, aber du hast mit seinem Tod Whitechapel wahrscheinlich einen echten Gefallen getan.“ Ich stieß einen leichten Seufzer aus. Als ob man diesen Ort einfach so retten könnte, indem man ein paar Kriminelle aus dem Weg räumt. Ich erwartete auch nicht, dass Mr. Salem das verstehen würde. Er mochte zwar sehr nett zu mir sein, aber am Ende des Tages war er auch nur einer dieser schicken Gutbürgerlichen, die auf die kleinen Leute hinabsahen. Wir schlenderten noch einige Zeit weiter, bis wir an einem großen Laden halt machten. Er war zweistöckig und von allerlei Rohren umschlungen. Foxtrott Tailors & Outfitters stand auf einem großen, schwarzen Schild mit goldenen, verzierten Buchstaben. Im Schaufenster waren hochwertige Herren- und Damenkleider ausgestellt. Wollten wir hier etwa einkaufen? Das könnte ich mir doch nie im Leben leisten! „Keine Sorge, die alte Mrs. Foxtrott trifft immer den richtigen Geschmack.“, sprach er mir beruhigend zu, als er meine Unsicherheit bemerkte. „Und mach dir wegen des Geldes keinen Kopf. Das musst du mir nicht zurückzahlen.“ „Finden Sie nicht, dass Sie viel zu viel Geld für mich ausgeben? Wir kennen uns doch gar nicht.“ „Wegen dir werde ich schon nicht am Hungertuch nagen. Als meine Schülerin bist du mir sicherlich auch später eine große Hilfe, das gleicht sich dann wieder aus. Du hältst mich vielleicht für einen dieser reichen Snobs, die arme Mädchen von der Straße aufsammeln, ihnen Essen und Obdach geben, um sie dann zu ihren persönlichen Comfort Girls zu machen...“ Es beschämte mich, dass ich ihm dies tatsächlich unterstellt hatte. Ob er wohl Gedanken lesen konnte? „...aber sei dir versichert, dass ich nichts mit solch kranken Lustmolchen zu tun haben möchte. Und jetzt lass uns endlich reingehen, hier draußen wird es auch nicht mehr wärmer.“ Der Laden war unfassbar groß und besaß eine riesige Auswahl an bereits fertig geschnittener Kleidung. Der Boden war mit einem grünen Läufer ausgelegt, der mich leicht an Rasen erinnerte.Im Hintergrund spielte ein Hase Piano, während einige Kunden sich von den Mitarbeitern beraten ließen. Dieser Laden musste verflucht viel Geld abwerfen, wenn man es sich leisten konnte, den Kunden nonstop mit Live-Musik zu verwöhnen. Beeindruckt wanderte mein Blick durch die ganzen bildschönen und sündhaft teuren Outfits, während uns eine Verkäuferin quer durch den Laden zu einem Aufzug führte. Sie wusste ohne nachzufragen, dass Mr. Salem zur Chefin wollte, die ihr Büro im ersten Obergeschoss hatte, in dem auch die Schneider arbeiteten. Schon die Verkaufsetage wirkte nicht wie die, eines gewöhnlichen Schneiders, doch der Arbeitsbereich machte das nur noch deutlicher. Im Akkord zeichneten, nähten und verzierten Menschen, Tiere und Feen Kleider, Hemden und Jacken. Es herrschte ein Gewusel, wie bei einem Wochenmarkt und dennoch wusste jeder genau, was seine Aufgabe war, wie in einem Bienenstamm oder einem Ameisenbau. Sie bemerkten meine Neugier und nickten mir freundlich zu, doch ohne sich davon großartig stören zu lassen. Ich selbst registrierte erst viel zu spät, wie ich vom Weg abgekommen war, um mir die Arbeitsschritte genauer anzusehen. Hätte man mir früher erzählt, dass Arbeiter so glücklich aussehen könnten, ich hätte es nicht geglaubt. Aber wieder: Das hier war nicht London. „Alice, wir möchten dann reingehen!“ Ich bemerkte wie Mr. Salem und die Verkäuferin bereits am Ende des Raumes vor einer Tür standen. Während ich mich ihnen näherte, funktelte mich die Verkäuferin wütend an. Wahrscheinlich, weil ich die Schneider bei der Arbeit gestört hatte. Doch sie sagte nichts, sondern öffnete uns nur schweigend die Tür und ging zum Aufzug. Das Büro war – im Gegensatz zum Rest des Ladens – sehr klein gehalten, dafür aber bis oben hin zugestopft mit Regalen, Aktenschränken und Kunstgegenständen. Am Schreibtisch, welcher der Tür direkt gegenüber stand, saß eine alte Füchsin, mit einem großen Tuch um den Hals und einem lächerlich kleinen Zwicker auf der Nase. Sie arbeitete gerade in den Geschäftsbüchern, als wir eintraten. Ihr Fell hatte bereits viel an Glanz verloren, doch besaß trotzdem noch immer eine schöne, rotbraune Farbe. „Nein, wenn das nicht Jack ist“, sagte sie mit einem Strahlen im Gesicht, als sie uns erblickte. Sie umarmte den großen Magier, was sehr amüsant wirkte, denn immerhin war sie gut und gern anderthalb Fuß kleiner als er. „Hast dich ja lange nicht mehr gezeigt. Das letzte mal sahen wir uns vor Weihnachten, oder?“ „Tut mir leid, ich hatte etwas viel Stress um die Ohren. Wie geht es Ihnen, Mary?“ „Ach die kleinen Beschwerden des Alters, aber solange ich noch diese Firma leiten kann, ist alles in bester Ordnung. Also was kann ich für dich tun?“ „Für mich nichts. Ich bin heute wegen meiner Begleitung hier.“ Die alte Dame schaute mich neugierig an und gab mir dann die Hand. Oder Pfote? Es erinnerte zwar auf den ersten Moment mehr an eine Tatze, doch konnte die einzelnen Zehen besser voneinander abspreizen und besaß auch einen Daumen. Sie zog mich mit einem kräftigen Ruck zu sich hinunter und musterte mein Gesicht. „Hmm, so ein wunderschönes blasses Grün... diese Augen würde ich überall wiedererkennen. Du bist Claires Tochter, nicht war?“ „Ja, Ma'am. Das sagte man mir zumindest. Ich habe meine Eltern nie getroffen.“ „Du hast Recht, tut mir leid. Verzeih einer alten Dame ihre Langsamkeit. Als Waise aufzuwachsen muss hart sein. Wie war noch gleich dein Name?“ „Alice.“ „Ja, das ist ein Name, den deine Mutter ausgesucht hätte. Es freut mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Mary Foxtrott, Leiterin dieses wunderbaren Kleidergeschäfts.“ Sie wirkte als hätte mein Antlitz sie mit Nostalgie erfüllt und strich mir mit ihrer weichen Pfote sanft über das Gesicht. „Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern als...“ „Bitte Mary, vielleicht ein andern mal, ja?“, unterbrach Mr. Salem sie und warf ihr einen flehenden Blick zu. Erst wollte sie etwas erwidern, doch dann nickte sie und ließ von mir ab. Wollte er etwa Rücksicht auf mich nehmen? Eigentlich konnte es mir ja egal sein, was man über meine Eltern sagte, aber dennoch fühlte es sich besser an, die Vergangenheit mir nicht aufzubinden. „Du hast Recht, reden wir lieber übers Geschäft. Immerhin seid ihr ja deswegen hier. Lass mich raten, sie muss aus diesen Lumpen raus, nicht wahr?“ „Ihre gesamten Klamotten sind in London geblieben. War alles ziemlich abgenutzt und ehrlich gesagt auch alles andere als schön. Sie braucht also - pauschal gesagt - zehn neue Outfits.“ Zehn?! War Mr. Salem völlig übergeschnappt? Bisher besaß ich gerade einmal halb so viele. Doch scheinbar war dies sein voller Ernst, denn während ich noch perplex im Raum stand, setzte Mrs. Foxtrott bereits das Maßband an. „Also eines oder zwei finden wir bestimmt unten in deiner Statur, den Rest fertigen wir innerhalb dieser Woche an. Ich sehe, du trägst gerne Hosen?“ „Naja...“ „Passt schon, sie stehen dir auch. Aber ich habe auch noch etwas anders für dich, dass du anprobieren solltest.“ Sie führte mich zurück in die Verkaufsetage, unter den neugierigen Augen der Mitarbeiter und anderen Kunden. Es war mir etwas unangenehm, so sehr im Mittelpunkt zu stehen, war ich doch mein ganzes Leben nur eine von vielen gewesen. Aber hier in Taleswood sollte man sich daran gewöhnen, Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man mit Jacob William Salem unterwegs ist. Die alte Füchsin nahm zielgerichtet verschiedene Kleider von den Ständern und schob mich in eine Umkleide. Eigentlich erwartete ich, dass sie wieder gehen würde, doch sie blieb beruhigt stehen und sah mich erwartungsvoll an. „I-Ich kann mich auch allein umziehen“, sagte ich und merkte, wie mir leicht die Schamröte ins Gesicht stieg. „Ich guck dir schon nichts weg, Mädchen. Aber ich will zuerst sehen, ob alles passt, bevor wir es jemand anderem zeigen. Außerdem haben wir so eine kurze Zeit uns näher kennen zu lernen.“ „Kennen zu lernen?“ Ich begann mein Hemd aufzuknöpfen und bemerkte wie verschwitzt ich war. Anscheinend war all das doch mehr Aufregung als ich zugeben wollte. Mrs. Foxtrott befahl mir mit einer Geste mich auf einen kleinen Stuhl zu setzten und ließ eine Wasserschüssel bringen, an der ich mich abwaschen konnte, während sie sich ihre Pfeife ansteckte. „Erzähl mir ein wenig über dich.“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Aufgewachsen bin ich in einem Kinderheim in London und danach habe ich in einem Zimmer einer Hotelruine gewohnt.“ „Nein wirklich? Der alte Schuppen wurde noch nicht dem Erdboden gleichgemacht? Das heißt die Barriere ist noch nach so vielen Jahren intakt, beeindruckend.“ „Sie kennen das Haus?“ „Es war mal ein Hotel für Magier und Fabelwesen, aber das ist schon über 30 Jahre her. Bei einer Explosion ist damals leider ziemlich viel zerstört worden, aber wenigstens gab es keine Toten. Der Schaden war zu groß, als dass man es wieder aufbauen wollte und die Ideen für ein neues Hotel sind leider nie umgesetzt worden.“ Daher stammte also die Barriere. Wahrscheinlich war dies der sicherste Ort in ganz London. Zumindest für einen Magier. „Und wie hast du dann Jack kennen gelernt?“ „Er stand gestern einfach in meinem Zimmer und hatte kurzerhand meine Welt auf den Kopf gestellt“, witzelte ich trocken. Mrs. Foxtrott schien das sehr zu amüsieren. „Ja, er kann einen gerne einmal überrumpeln. Du wohnst auch bei ihm?“ „Zumindest fürs erste. Ich... ich bin mir einfach noch nicht sicher, was ich von ihm halten soll. Er ist sehr nett und alles, aber...“ „Aber Nettigkeit macht gerade einen so großen und kräftigen Kerl, wie ihn, ein Stück weit verdächtig, nicht war? Mach dir keine Sorgen, ich kenne Jack schon seit fast 20 Jahren und er war immer ein wahrer Gentleman. Fleur ist das beste Beispiel dafür.“ „Sein Hausmädchen?“ „Genau. Wenn er es wirklich wollte, könnte er sie ins Bett mitnehmen wie es ihm beliebte. Sie würde keine Einwände haben.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Weißt du denn nicht, was sie ist?“ Was sie sein sollte? Abseits ihres sonderbaren Aussehens hielt ich Fleur für einen normalen Menschen. Es fiel mir auch nichts ein, was sie sonst sein könnte. „Naja, ein Mensch ist sie gewissermaßen, aber sie wurde nicht geboren, sondern künstlich erschaffen. Man nennt solch ein Wesen auch Homunkulus. Es gibt nur eine handvoll Magier, die das können. Jack kann dir diesbezüglich sicherlich mehr erklären.“ Homunkulus... Künstlicher Mensch... So etwas konnte Magie also erschaffen? Ich war mir nicht sicher, ob mich das beeindrucken oder anwidern sollte. Doch was wusste ich schon über die Möglichkeiten und die Moral hinter Magie? Mittlerweile hatte ich das Kleid angezogen, von dem Mrs. Foxtrott sprach. An und für sich war es weniger ein Kleid, als viel mehr ein langes Gewand, das in einem recht kurzen Rock etwa auf der Mitte meiner Oberschenkel endete. Es besaß eine Kapuze und lange, weite Ärmel. Sein dunkelgrüner Grundton wurde durch weiße Spitze an Ärmeln und Saum und einen breiten hellbraunen Gürtel akzentuiert. Obwohl es recht leicht war, hielt der Stoff warm. „Wie für dich gemacht. Dieses Gewand entsprang meiner Vorstellung, wie junge Magierinnen des Mittelalters wohl ausgesehen haben könnten, zusammen mit einer Prise Moderne. Schön, dass ich dafür tatsächlich einmal Verwendung finde“, sagte die Füchsin zufrieden. Sie gab mir ein paar lange hellgrüne Strümpfe dazu, die scheinbar aus dem gleichen Stoff gemacht waren und ein paar feste Stiefel aus Wildleder. Es passte wie angegossen und gefiel mir sofort, obwohl es nicht meinem eigentlichen Stil entsprach. Auch Mr. Salem teilte unsere Meinung und setzte es ohne Weiteres auf die Rechnung. Hinzu kamen zwei einfache Hosen und dazu passende Blusen und Unterwäsche. Der Rest sollte in den nächsten Tagen folgen, doch bezahlt wurde mit Vorkasse. Und bei der wurde mir schwindelig. „Gut, das macht dann zusammen 200 Pfund“, verlangte Mrs. Foxtrott als wäre so ein Betrag alltäglich. 200 Pfund! So viel Geld hätte ich mir nicht einmal vorstellen können und hier wechselten sie ohne großes Tamtam den Besitzer. Für die Welt der Reichen war ich vielleicht doch noch nicht bereit. Doch Mr.Salem versicherte mir, dass das in Ordnung gehe und so akzeptierte ich demütig dieses unvergleichliche Geschenk. Obwohl es draußen noch immer eisig kalt war, hielt das Gewand, zusammen mit einem neuen Wollmantel angenehm warm. Während wir uns auf den Rückweg machten, ließ mich dennoch eine Sache nicht los. „Mr. Salem?“ „Ich würde es vorziehen, wenn du mich 'Jack' nennen würdest. Mich sprechen nicht mal Geschäftspartner beim Nachnamen an. Nur aus Fleurs Kopf kriege ich das nicht raus. Es klingt einfach ungewohnt.“ „Wenn es Sie glücklich macht... ich verstehe ehrlich gesagt noch immer nicht, warum sie all das hier für mich tun. Es ergibt keinen Sinn. Was erwarten Sie von mir?“ „Nicht mehr und nicht weniger, als dass du dein magisches Potential anerkennst und eine fleißige Schülerin bist.“ „Und mehr soll nicht dahinterstehen? Keine schlüpfrigen Gedanken?“ „Ich habe dir doch schon gesagt...“ „Oder brauchen Sie mich für irgendwelche Homunkuliexperimente?“ Für diese Frage wurde ich mit einer schallenden Ohrfeige belohnt. Meine Wange brannte wie Feuer und aus den Augenwinkeln sah ich seinen wütenden Gesichtsausdruck. „Ich habe dich nicht darum gebeten, mir dankbar zu sein, Alice. Aber wage es, dir noch einmal so eine Frechheit mir gegenüber zu erlauben...“ „Und was ist mit Fleur?“ „Davon hat dir Mary erzählt, nicht wahr? Sie hätte ja wenigstens erwähnen können, dass ich's nicht war...“ „Das sie was nicht waren?“ „Ich bin nicht Fleurs Schöpfer. Hör mir gut zu...“ Jack sah mich mit einem Blick an, der mir nur allzu deutlich machte, dass er es todernst meinte. „Es gibt Disziplinen in der Magie, deren bloße Existenz eine Schande ist. Homunkuluserschaffung ist eine davon. Denn das, was die praktizierenden Magier dort erschaffen, sind keine Menschen, sondern willenlose Arbeitssklaven und Versuchskaninchen. Fleur war ein Experiment, um einen höheren Homunkulus zu erschaffen. Mit einer größeren Intelligenz und einem freieren Willen. Und obwohl es gelungen ist, wurde sie trotzdem als Fehlschlag bezeichnet und genauso als Versuchsobjekt behandelt, wie ihre Artgenossen. Aber sie war fähig Gefühle zu entwickeln und hat alle Qualen gespürt. Und als man mit ihr fertig war, sollte sie getötet werden.“ Mir stockte der Atem. Wenn jemand fähig war, so etwas zu tun, dann war es schon fast lächerlich, dass ich mich wegen eines Unfalls für ein Monster hielt. Konnte Magie überhaupt für etwas gutes eingesetzt werden? „Sie ist in den Wald geflohen, hatte sie mir erzählt und irrte zwei Tage und zwei Nächte umher, bis sie an meine Haustür klopfte und um etwas zu essen bat. Und seitdem wohnt sie bei mir. Ihr Anblick von damals hat mich nie losgelassen und ich schwor mir, niemals diese Disziplin auch nur anzurühren. Das ist nun gut 10 Jahre her. Tut mir leid, das mit der Ohrfeige, da war ich etwas harsch. Ich kann nicht um mehr bitten, als dein blindes Vertrauen und zugegeben, vielleicht versuche ich, es mir gerade zu erkaufen. Du musst für dich selbst entscheiden, was du denkst.“ Es war manchmal schon merkwürdig, wie überzeugt man von etwas sein konnte, nur um im nächsten Moment wieder alles ganz anders zu sehen. Und so fiel es mir schwer, die Frage zu beantworten, ob ich Jack vertraute, oder nicht. In meinem Herzen spürte ich, dass er mir nicht alles sagte, was er über mich wusste und auch über seine Motive fand ich keinen Anhaltspunkt. Aber war er deswegen ein schlechter Mensch? Definitiv nicht. Immerhin war ich überzeugt genug davon gewesen, dass ich ihm folgte. Eventuell sollte ich ihm jenes blinde Vertrauen entgegenbringen, um das er so bat. Immerhin bemühte er sich auch darum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)