Urlaubsreif^2 von flower_in_sunlight (auch ein Chef braucht mal Urlaub) ================================================================================ Kapitel 18: Donnerstag 26.3. ---------------------------- Wie üblich um diese Jahreszeit war es noch dunkel, als sein Wecker klingelte und er nach kurzem Zögern aufstand. Er brauchte sich kein Licht anzumachen. Den Weg zum Badezimmer fand er blind. Dort betätigte er zum ersten Mal an diesem Morgen den Lichtschalter und blinzelte, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Von der anderen Seite des Raumes tat es ihm sein Spiegelbild gleich und bestätigte sogleich den desolaten Zustand, den er nach dem vergangenen Abend befürchtet hatte. Er würde nie wieder alleine Essen gehen. Das führte nur dazu, dass er sich irgendwann selbst bemitleidete – auch wenn er es nicht nach außen hin zeigte – und Wein für zwei trank. Der Spinner hatte doch tatsächlich von den drei verschiedenen Weinen, die er für ihr Essen vorgesehen hatte, gleich immer eine ganze Flasche geordert. Mindestens zwei davon hatte er aber dann alleine vernichtet, während er sich durch die einzelnen Gänge aß, die nach Chefs Abgang an seinen Platz gebracht worden waren. Immerhin hatte er Wort gehalten und ihn tatsächlich eingeladen. Er hatte wirklich Stil, beinahe schon ein Gentleman. Doch er hatte es verbocken müssen, indem er sich einen kurzen Augenblick nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Was war da überhaupt in ihn gefahren? Natürlich hatte es ihn geärgert, dass Pegasus all die Jahre eine so enge Beziehung zu ihm hatte, in denen er auf sein Hündchen hatte verzichten müssen, doch hatte er seinen Frust nicht an ihm auslassen wollen. Lieber regelte er das mit Pegasus von Angesicht zu Angesicht bei ihrem nächsten Meeting. Er hielt im Anziehen inne. Das hieß also, dass er wohl oder übel in die Firma musste, denn den Termin am Freitag hatte er erfolgreich verdrängt und zur Vorbereitung brauchte er dringend die Unterlagen, die sich in seinem Firmenbüro befanden. Er hielt ein letztes Mal die Nase in den frischen Wind und beobachtete durch die Gläser seiner Sonnenbrille den Himmel, der unter Beweis stellen wollte, dass auch bereits der März so wundervoll launisch wie der April sein konnte. Wolkenfetzen jagten über den Himmel, dramatisch angestrahlt von der Frühlingssonne. Ein Wetter fast wie damals. Mit Hilfe seines Handys kontrollierte er die Uhrzeit. Seine Armbanduhr befand sich aktuell in Reparatur, weil sie ihm zwei Tage zuvor runter gefallen war. Er hatte noch genau zehn Minuten. Vielleicht sollte er sich doch ein wenig beeilen – man konnte ja nie wissen, wie lange man bei der Besucheranmeldung brauchte. So schlenderte er auf die Tür zu, die in das Innere des Hochhauses führte, dessen Fassade ein großes K und ein großes C zierten. Obwohl er bereits beim Frühstück noch satt vom Vorabend gewesen war, knurrte jetzt sein Magen. Seit über drei Stunden arbeitete er bereits und gönnte sich nun eine Pause mit Schokoriegel. Auf den Kaffee würde er noch kurz warten müssen, da er seiner Sekretärin zu spät Bescheid gegeben hatte. Er mochte eben das abgestandene Zeug aus Kaffeekannen nicht. Die Vorbereitung der Unterlagen für das Meeting am nächsten Tag hatten länger gedauert, als er ursprünglich angenommen hatte, wanderten seine Gedanken doch immer wieder zu jemand anderem, der auch den Namen Pegasus trug. Er würde noch bis mittags in der Stadt sein, hatte er gesagt. Aber konnte sich Seto trauen, bei ihm aufzukreuzen? Und was wollte er ihm eigentlich sagen? Selbst wenn in seinen Worten tatsächlich eine Liebeserklärung versteckt gewesen war, was fühlte er selbst? Natürlich sehnte er sich nach ihm. Auf der anderen Seite machte er ihn eindeutig wahnsinnig. Aber konnte man das wirklich schon Liebe nennen? Und da war ab und zu dieses fiese Stimmchen in seinem Kopf, dass ihm mitteilte, dass Chef doch jemand viel besseren als ihn verdient hätte. Jemand, der sich seine Aufmerksamkeit früher nicht durch eine Menge fieser Kommentare verdient hatte. Hatte er ihn damals etwa vertrieben? Die Tür ging leise auf und seine Sekretärin kam mit einer großen Tasse hinein. Statt wie sonst sie einfach wortlos abzustellen und dann wieder zu gehen, teilte sie ihm heute mit: „Draußen wartet bereits Ihr 11-Uhr-Termin. Kann ich ihn schon zu Ihnen rein schicken?“ Energisch schüttelte er den Kopf. „Nein, sagen Sie ihm ab. Ich bin nicht zu sprechen.“ „Ich werde ihn nicht wieder wegschicken. Hören Sie, der gute Mann hat ein Jahr lang auf diesen Termin gewartet und laut seiner eigenen Aussage, wird er nur fünf Minuten brauchen. Ich sage ihm, dass er zu Ihnen kann.“ Was waren denn das für Töne? Seit wann widersprach sie ihm so offen? Seine Erwiderung konnte er jedoch nicht anbringen, denn die Tür war bereits wieder geschlossen und als sie das nächste Mal auf ging, trat nicht seine Sekretärin, sondern ein Mann in seinem Alter ein. Zumindest vermutete er das, denn hinter der schwarzen Sonnenbrille, war seine Augenpartie nicht zu erkennen. Er trug keinen Bart, dafür waren seine brünetten Haare lang genug, dass er sie am Hinterkopf zusammenbinden konnte. Seine Lederjacke stand im Kontrast zu dem teuren Hemd und den dunklen Anzugschuhen. „Guten Tag, Mister Kaiba. Vielen Dank, dass Sie sich kurz für mich Zeit nehmen“, sprach der Fremde, während er sich seinem Schreibtisch bis auf einen Meter Entfernung näherte. Er sprach mit Akzent. Britisch, wenn Seto sich nicht irrte. „Meine Sekretärin konnte mir keine Angaben dazu machen, was Ihr Anliegen ist – also?“ Er lehnte sich betont lässig in seinem Schreibstichstuhl zurück. Es ärgerte ihn, dass er zu dem anderen aufsehen musste, doch wollte er ihm noch weniger einen Stuhl anbieten, solange er nicht dessen Intentionen kannte. „Eigentlich ist es ganz simpel“, antwortete sein Gegenüber. „Als ich mir den Termin heute vor einem Jahr geben ließ, hatte ich vorgehabt, Sie anzubrüllen und meine Wut an Ihnen auszulassen. Doch“, fuhr er einfach über Setos aufkeimenden Protest, „dann habe ich Sie mit Jo gesehen. Oder genauer gesagt, ihn bei Ihnen. In all den Jahren war er bei mir nie so lebendig, hat kein einziges Mal so gelacht, hat von innen heraus so gestrahlt.“ Er hielt kurz inne und schien mit den Worten zu kämpfen. „Mir wurde klar, dass es gut war, ihn freizugeben. Und wenn Sie es schaffen, dass er so ist, bin ich Ihnen auch nicht mehr böse. Daher bleibt mir nur noch eins zu tun.“ Er kam noch näher und streckte Seto, der das alles noch für einen Scherz hielt, über den Tisch hinweg die Hand hin. Während dieser sich erhob, nahm er die Sonnenbrille ab. „Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Guten mit Joseph." Überrascht blickte Seto in das Gesicht direkt vor ihm. Feine, aber doch männliche, kantige Züge und Augen so blau und tief wie das Meer. „Danke“, sagte er geistesabwesend und konnte den Blick nicht abwenden. Die Größe, das Gesicht. Hätte sich herausgestellt, dass er ein ihm unbekannter Cousin oder gar Bruder wäre, hätte es ihn nicht einmal überrascht. Es war beinahe als sähe er in einen Spiegel, nur um dort eine alternative Version seines Ichs zu erblicken. Verwirrt blinzelte er, als sich sein Gast abwandte und zur anderen Seite des Raumes ging. „Warten Sie!“, rief er ihm schnell hinterher. Der andere drehte sich um und blickte ihn auffordernd an. „Ja?“ „Wer sind Sie eigentlich?“ „Ryan. Jos ehemaliger Verlobter.“ Damit drehte er sich auch schon um und war aus der Tür, die er hinter sich zu zog, bevor Seto die Mitteilung verarbeitet hatte. Seine Stirn landete auf der Holzplatte des Schreibtischs, danach stand er auf und lief wie ein eingesperrtes Tier in seinem Zimmer auf und ab. Das war also einer von den Exfreunden seines Hündchens. Und er hatte die Beziehung beendet, obwohl er noch sichtbar an ihm hing. Nur weswegen? Ihm fiel das Gespräch von seinem vorletzten Urlaubstag wieder ein. Alle seine Beziehungen waren gescheitert, weil er immer noch Gefühle für jemanden hatte, den er nie erreichen könnte. Das erklärte aber nicht, weswegen er soeben sein Ebenbild im Büro gehabt hatte und es sauer auf ihn gewesen war. Wieso musste die Führung eines Großkonzerns leichter sein als aus seinen Mitmenschen schlau zu werden, sobald es ihn als Privatperson betraf? Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und starrte an die weiße Decke seines Büros. Gab es überhaupt einen Weg, wie das alles Sinn machen konnte? Ryan hatte ihm alles Gute für ihn und Chef gewünscht, dass hieß er ging davon aus, dass sie zusammen waren. Doch wieso sollte es bei ihm anders laufen als bei all den Beziehungen zuvor? Weil er … Nein, das war Blödsinn. Er hätte sich bestimmt nicht in das Ekel verliebt, dass er früher ihm gegenüber war. Unmöglich. Und was, wenn nicht? Wenn er ihm seinen Namen nur deswegen nicht genannt hatte, weil er Angst gehabt hatte, dass, wenn er es wüsste, ihn wieder so wie früher behandeln würde? So hatte er ihn völlig unvoreingenommen genauer kennen gelernt. Was, wenn... Seto sprang auf, nahm sich gerade genug Zeit seinen Computer zu sperren, und rannte dann aus seinem Büro. „Ich bin weg – sagen Sie alles ab, was heute noch anfällt“, rief er seiner Sekretärin zu und zückte gleichzeitig sein Smartphone. Über Kurzwahl teilte er Roland mit, dass er die Limousine vorfahren sollte. Im Aufzug, auf den er wenigstens nicht warten musste, weil er automatisch dort bereitstand, wo er sich aufhielt, sah er auf die Uhr. Es waren nur noch wenige Minuten bis zwölf. „Bist du dir sicher, dass du jetzt schon fahre willst?“, wollte Martine zum x-ten Mal an diesem Tag von ihm wissen. „Wir können auch noch kurz eine Kleinigkeit essen und dann erst los.“ Doch Chef schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Martine, ich bin mir sicher, dass ich jetzt los will“, sprach er und unterstrich seine Aussage, indem er in den Kombi stieg und sich anschnallte. Der Wagen war schon vor zwei Stunden abreisebereit gewesen, aber sie hatten gewartet, weil Ryo sich noch von ihm hatte verabschieden wollen. Sobald er aufgetaucht war, wussten sie auch wieso. Breit grinsend drückte er Martine ein Paket in die Hand. „Für deinen Bruder“, hatte er schlicht gesagt und sich dann seinem Freund gewidmet. „Und nun zu dir, Joey. Wehe, du brauchst wieder so lange, bis du hier auftauchst! Wenn wir dich nicht vor deinem Geburtstag noch mal hier sehen, werden Marik und ich bei dir ohne Vorwarnung vor der Tür stehen!“ „Drohung oder Versprechen?“ „Vielleicht beides“, meinte Ryo trocken. „Und wenn dich irgendein Typ nerven sollte – sag uns einfach Bescheid und wir kümmern uns darum, soll ich dir von Marik ausrichten.“ Er umarmte ihn. „Momentan nerven mich zwar keine Typen, aber danke für das Angebot. Aber ihr werdet bitte nicht rückfällig, ja?“ „Wir doch nicht!“ Ryo verzog den Mund zu einer Flunsch und ließ sich von Martine zur Beruhigung und zum Abschied umarmen. Leise flüsterte sie ihm ins Ohr: „Woher weißt du das mit ihm und Kaiba?“ Genauso leise kam seine Antwort: „Intuition. Und ein ganz spezieller Spion, der ihn sich heute vorgeknöpft hat.“ Damit ihrem Neffen nichts auffiel, trennten sie sich und Ryo ging kurz danach seiner eigenen Wege. Ein unbestimmtes Bauchgefühl verriet ihr, auf wen er angespielt hatte, doch konnte sie es nicht so recht glauben. „Na dann. Meinetwegen“, stieg sie zu Chef ins Auto. Während sie sich ebenfalls anschnallte, fragte sie nach: „Hast du alles. Nichts vergessen?“ Entschieden schüttelte er den Kopf. „Nein, ich habe alles. Wir können los.“ Also startete sie den Motor und fuhr aus der Tiefgarage. Vier Straßen weiter winkte ihnen eine Nachbarin zu, die sie dank des innerstädtischen, langsamen Tempos gut hinter den Scheiben erkennen konnte. Sie grüßte zurück und hielt wegen der Ampel an. „Hast du auch noch mal alle Schränke kontrolliert?“ „Mein Gott, Martine, was ist mit dir los?“, schnaubte Chef. „Ja, ich habe mir alles noch einmal genau angesehen. Und jetzt hör auf dich aufzuführen, als wären wir in einem Hotel an einem schlecht erreichbaren Ort gewesen. Was wir vergessen haben, nimmst du einfach das nächste Mal mit. So schwer kann das doch nicht sein.“ Dann hüllte er sich in Schweigen. Er wollte einfach nur noch diese Stadt hinter sich lassen. Seto gab Roland kaum Zeit zu bremsen, da war er auch schon aus der Limousine gesprungen und auf dem Weg zur Haustür. Wie ein Verrückter hämmerte er auf die Klingel ein, die mit „Pegasus“ beschriftet war. Gedämpft hörte er jedes Mal, wie es klingelte, doch gab es keine Reaktion. Während er weiter klingelte, schaute er auf die Uhr. Es war erst kurz nach zwölf. Sein Hündchen müsste noch da sein. Er musste einfach! „Entschuldigen Sie, junger Mann?“ Wie von der Tarantel gestochen schnellte er herum und sah etwas verwirrt zu einer alten Frau hinab, die sich bereits mit dem Schlüssel in der Hand hinter ihm aufgebaut hatte. „Dürfte ich kurz aufschließen? Dann können Sie gerne drinnen an der entsprechenden Tür weiterklingeln.“ Sie hatte ein leicht verschmitztes Lächeln auf den Lippen und blickte ihn freundlich an. „Na... Natürlich“, erwiderte Seto und machte ihr Platz. Als die Tür offen stand, folgte er ihr in die kleine Eingangshalle. Sie drückte die Taste für den Aufzug und fragte ihn dann beiläufig: „Zu wem möchten Sie denn?“ Kurz zögerte er, antwortete dann jedoch wahrheitsgemäß: „Joseph Pegasus.“ „Mein Ärmster. Der ist vor zehn Minuten mit seiner Tante abgereist. War es denn dringend?“ Wie mit Eiswasser begossen starrte er sie an. „Nein, nein. Es war nicht dringend. Ich hatte ihn nur etwas fragen wollen. Vielen Dank für die Auskunft.“ Betäubt verließ er das Gebäude wieder und nahm seinen gewohnten Platz auf der Rückbank ein. Hätte er nicht so lange gebraucht, um zu kapieren, was wirklich Sache war, hätte er ihn vielleicht noch erwischt. Er wollte gerade Roland Bescheid geben, dass er ihnen hinterher fahren sollte, entschied sich aber um. Er wusste noch nicht einmal wie das Auto aussah. Und was, wenn sie einen anderen Weg zum Hotel fuhren als er? Chefs Handynummer besaß er nicht, um nachzufragen, und er würde sich hüten Martine anzurufen, die ihn vermutlich einen Kopf kürzer machen würde und keineswegs weiterreichen. Seinen Bruder wollte er auch gerade nicht sprechen. Der würde ihm nur klar machen, dass er es selbst verbockt hatte und sich deswegen gerne bei ihm würde ausheulen dürfen, aber er würde bestimmt Martine alles mitteilte. Was konnte er eigentlich überhaupt machen? Er wollte eine letzte Chance, mit Chef zu sprechen. Aber über wen käme er an ihn ran, ohne gleich mit sämtlichen Vorwürfen konfrontiert zu werden? Yuki, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Sie könnte ihm zumindest sagen, wie ihr Boss drauf war. Über den kleinen Bordcomputer loggte er sich in das Go-Forum, das sie ihm genannt hatte, ein und schrieb ihr. Hallo Yuki, ich hab Mist gebaut. Kannst du mir helfen, es wieder auszubügeln? „Du hättest jetzt gerade abbiegen müssen“, wies Chef Martine auf ihr Versäumnis hin. „Nein, hätte ich nicht“, erklärte sie und erhöhte ihr Tempo leicht, als sie einen LKW überholte. „Doch hättest du! Die nächste Möglichkeit Richtung Hotel abzubiegen kommt sonst nämlich erst wieder in einer Stunde. Wende bitte bei der nächsten Gelegenheit und fahr zurück!“ Sie warf ihm einen kurzen belustigten Blick zu. „Du solltest ein Navigationsgerät besprechen. 'Hier hätten Sie links abbiegen müssen. Schade eigentlich.' Aber wie kommst du bitte darauf, dass wir zum Hotel fahren?“ „Tun wir nicht?“ „Nein, ich hab gestern mit Lion gesprochen und er hat mich gebeten, dass ich dich übers Wochenende mit nach Hause bringe.“ Das war eine glatte Lüge. Zwar hatte ihr Bruder seinen Sohn seit Silvester nicht mehr gesehen, doch hatte er sie eigentlich nur darum gebeten, Donnerstagabend wieder da zu sein, da er freitags eine Reihe wichtiger geschäftlicher Termine hatte. Aber sie wollte Chef noch ein bisschen mehr Ruhe und Geborgenheit zu gedeihen lassen, bevor er zu seiner Arbeit zurückkehrte. Sie hatte gehofft, der Trip nach Domino würde ihn etwas aufheitern, doch mittlerweile stand es um ihn fast schlimmer als noch vor einer Woche. Die Entscheidung war zwar eigenmächtig getroffen, doch sie hoffte, dass sich beide Männer darüber freuen würden. Und nichts brachte besser auf andere Gedanken als den ganzen Tag hinter ihren Zwillingen her zu rennen und aufzupassen, dass sie nicht zu viel Blödsinn anstellten. „Na dann“, meinte Chef schlicht nach einer Weile. „Ist es okay für dich, wenn ich mir ein wenig Musik anmache?“ Er wartete gar nicht erst ihre Antwort ab, sondern scrollte sich mittels Adapter durch die große Auswahl an Playlists. „Was verbirgt sich hinter 'Smile'?“ „Wirst du dann sehen.“ Er las sich nicht die einzelnen Titel durch, sondern startete sie einfach und lehnte sich dann wieder gemütlich in den Sitz zurück. Der Blick rüber durchs Lenkrad hindurch verriet ihm, dass Martine eindeutig nach Hause wollte. Vielleicht schafften sie die Strecke ja in unter sechs Stunden, auch wenn Lion sie dafür beide rügen würde. Er machte sich immer Sorgen, sobald sie das Tempolimit etwas überschritten. Das erste Lied endete und das zweite begann. Anscheinend hatte er Martines Gute-Laune-Liste erwischt. Bald summte er mit, nur um schlagartig inne zu halten. Did you know that true love asks for nothing. Er hob die Hand um das Lied zu überspringen, doch Martine hielt sie fest, den Blick weiterhin auf die Straße gerichtet. „Lass es einfach durchlaufen, ja?“ Stumm gehorchte er und ließ einfach nur noch die Musik auf sich wirken. Zum Schluss merkte er wie langsam seine Mundwinkel nach oben wanderten und er selbstvergessen lächeln musste. Das Leben war einfach viel zu schön, um sich von seinen Gefühlen nach unten ziehen zu lassen. Sein Herz würde sich irgendwann abfinden, nicht sein romantisches Glück zu finden. Die Wunden würden heilen und nur noch Narben zurück lassen. Er blickte zu seiner Tante. Sie war so glücklich und lebensfroh, obwohl auch sie ziemlich hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet war, als man mehr als einmal auf ihren Gefühlen herumgetrampelt war. Man konnte es überleben. Nach vorne sehen und weitergehen. Nach einer Weile würden die Schritte wohl leichter werden, bis er ihn endlich los lassen konnte. Sein Herz keinen Hüpfer mehr machte, wenn er ihn sah oder nur seinen Namen hörte. Nach all den Jahren hatte er den Beweis bekommen, dass er ihn nie verstehen würde, und seltsamerweise machte es das für ihn leichter. Melancholisch lächelte er vor sich hin, während draußen die Landschaft vorbeizog. Er fuhr diese Strecke nicht so oft, weswegen sie immer wieder Neues für ihn bereit hielt. Er konnte nicht der Einzige für ihn gewesen sein. Kurz dachte er daran, sich bei Ryan zu melden, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Er wollte ihm auch die Chance geben, damit abzuschließen, und es würde nur alte Wunden aufreißen, wenn er es täte. Erst als der Wagen von Asphalt zu Kies wechselte, wandte er sich wieder anderen Dingen zu. Dingen, die dringlicher waren. Denn aus der großen Haustür stürmten ein blonder und ein weißhaariger Wirbelwind und rissen von außen die Tür auf, sobald der Motor stoppte. „Chef! Chef! Chef!“, riefen seine Cousine und sein Cousin aufgeregt durcheinander, um seine Aufmerksamkeit ringend. Ein wenig traurig stieg Martine aus und wurde von ihrem Bruder, der hinter den beiden ebenfalls nach draußen geeilt war, mit einem Kuss auf die Wange begrüßt. „Was ist, Kleine?“, fragte er, bekam aber nur einen kurzen Blick rüber zu ihren Kindern als Antwort. Sie waren bereits den ganzen Tag schon ziemlich unruhig, seit ihre Mutter morgens angerufen und angekündigt hatte, dass sie jemand ganz bestimmten mitbringen würde. „Es sind eben noch Kinder und Chef sehen sie noch seltener als dich.“ Maximillion wich einem Rippenstoß aus und legte ihr dann den Arm um die Schultern. Sanft schob er sie Richtung Kofferraum, wo er das Gepäck vermutete. Er schnappte sich den Koffer seines Sohnes, der alle Hände damit zu tun hatte, Ethan und Clara zu beruhigen, und sagte laut: „Was haltet ihr von etwas zu essen?“ „Gute Idee! Ich bin am verhungern!“ Chef erleichterte seinen Vater um die Last und verschwand ins Innere der Villa, dicht gefolgt von den beiden jüngsten in der Runde, die wieder um ihn herum sprangen. Martine nahm ihre Handtasche aus dem Auto und schloss ab. „Willst du nicht vielleicht heute auch hier schlafen?“, fragte Maximillion leise, während sie dem Lärm in Richtung Esszimmer folgten. „Du siehst ziemlich kaputt aus. Als würdest du die viele Fahrerei nicht mehr so gut wegstecken.“ Sie schüttelte nur den Kopf. „Keine Angst, die sechs Stunden Fahrt waren in Ordnung. Ich hab einfach nur nicht so viel geschlafen, die letzten Tage. Das ist alles. Brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“ Er bedachte sie mit einem Blick, der ihr stumm mitteilte, dass er sich auch so noch genug Sorgen machte. „Aber dein Angebot werde ich, glaub ich, annehmen. Denn bis ich mit den Kindern zu Hause bin, ist es für sie viel zu spät. Ich hoffe nur, dass ich sie vor acht Uhr in die Falle kriege, so aufgedreht, wie die beiden sind.“ Zusammen betraten sie das Esszimmer, an dessen großen Tisch bereits die anderen saßen. Martine nahm vor dem zweiten Gedeck Platz und ließ sich von der Haushälterin ihres Bruders Fleisch und Kartoffeln geben. Ihr Neffe aß still vor sich hin, so blieb es an ihr hängen, ab und zu Fragen ihrer Kinder oder ihres Bruders zu beantworten. Über Kaiba sprach sie kaum, tat auch ihr Duell, dass sie zwangsläufig erwähnen musste, weil Lion regelmäßig ihre Statistik durchsah, als eine Idee von Mokuba ab. „Er hat im Übrigen jetzt eine Freundin“, erzählte sie zwischen zwei Schlucken Wasser. „Wir sind beide total aufgeregt und nervös deswegen, weil es dieses Mal etwas Ernsteres zu seien scheint. Sie haben sich wohl durch einen gemeinsamen Kurs an der Uni kennengelernt, aber mehr hat Mokuba mir leider nicht verraten. Aber nach dem, was er erzählt, scheint sie nett zu sein – ich durfte sie leider noch nicht treffen, daher muss ich mich auf seine Aussage stützen.“ „Ist vielleicht auch besser so. Sonst verschreckst du sie ihm noch!“, witzelte Lion und bekam dafür eine bösen Blick von seiner Schwester zugeworfen. „Wieso sollte Mum sie verschrecken?“, fragte Ethan, der mit wippenden Beinen auf einem Stuhl neben seiner Schwester saß, die verträumt ein Bild an der gegenüberliegenden Wand anstarrte und scheinbar nicht zuhörte. Doch jetzt antwortete sie ihm: „Weil Maman die meisten Leute einschüchtert, selbst wenn sie zu ihnen nett ist.“ Chef verschluckte sich an einem Stück Kartoffel und konnte erst wieder richtig atmen, nachdem Maximillion ihm mehrmals kräftig auf den Rücken geschlagen hatte. Martine lächelte einfach nur traurig. Die beiden wurden viel zu schnell erwachsen. Dabei würden sie im Sommer doch erst sieben werden und sie bemühte sich, ihnen eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Ethan schien mit der Antwort nicht ganz einverstanden und erwiderte: „Aber sie ist doch lieb! Die anderen sind einfach nur zu doof!“ Statt sich auf die Diskussion einzulassen streckte Clara ihm die Zunge raus und rutschte dann von ihrem Stuhl, bis sie mit den Füßen auf den Boden kam. „Maman, darf ich spielen gehen?“ „Sicher, meine Süße.“ Sie gab ihr einen kleinen Kuss. „Du darfst auch spielen, wenn du magst, Ethan.“ Doch der schmollte und blieb auf seinem Stuhl sitzen. So zog das Mädchen allein von dannen, fröhlich ein Lied vor sich hin singend. Still aßen ihre Mutter und ihr Cousin, der noch einen Nachschlag erhalten hatte, auf. „Kommst du mit ins Wohnzimmer? Du darfst noch eine halbe Stunde spielen, bis du ins Bett musst“, versuchte Martine es noch einmal bei ihrem Sohn und streckte die Hand nach ihm aus, die er ergriff und erst wieder los ließ, als er in Mitten der Bausteine Clara entdeckte, die verzweifelt versuchte, daraus einen Turm zu errichten. „So klappt das nicht! Schau mal.“ Er nahm sich ein paar der noch nicht verbauten Steine und schichtete sie auf. Eine Weile wurde er überlegend gemustert, dann stieß Clara ihr Fundament um und baute das nach, was er angefangen hatte. Als ihr Turm immer höher wurde, umarmte sie ihn und bat ihn stumm ihr bei dem Rest zu helfen. Gemeinsam gelang es ihnen gerade noch bis zum Schlagen der großen Standuhr alle Steine zu verbauen. Stolz blickten sie Hand in Hand auf ihr Meisterwerk, bevor sie sich zu ihrer Mutter umdrehten, die sie die ganze Zeit gedankenversunken beobachtet hatte. „Darf Chef uns ins Bett bringen? Wir sind auch ganz brav“, bettelten sie unisono. Brav gaben sie ihr und ihrem Onkel einen Gute-Nacht-Kuss und zogen ihren Cousin dann in Richtung ihres Schlafzimmers, sobald sie die Erlaubnis erhalten hatten. Müde ließ sich Martine in das weiche Himmelbett fallen. Sie hatte Lion einfach nicht davon überzeugen können, dass so ein Prinzessinnenbett nicht mehr ganz altersgemäß war, doch an Tagen wie diesen war sie froh darüber. Chef hatte doch ihre Hilfe gebraucht, als ihr Nachwuchs im Badezimmer anfing eine Wasserschlacht zu veranstalten, statt sich kurz das Gesicht zu waschen und anschließend die Zähne zu putzen. So war es nach acht Uhr gewesen, als die beiden endlich in ihren Betten lagen und ihre Gute-Nacht-Geschichte gehört hatten. Sie hatten sich Rapunzel gewünscht und so war es dann doch wieder an ihr gewesen, sie zu erzählen, während Chef hinter ihrem Rücken Pantomime machte, wodurch die Kleinen ab und zu an seltsamen Stellen zu kichern begannen. Aber jetzt schliefen sie endlich tief und fest – sie hatte sich selbst noch einmal davon überzeugt, bevor sie sich umzog. Doch über alle dem hatte sie nicht vergessen, dass sie sich noch Gedanken machen musste, was sie nun mit Kaiba machen sollte. Er hatte ihre Warnung ignoriert und das konnte sie nicht einfach so übergehen, als ob nichts gewesen wäre. Sie hatte auch schon eine Idee, doch wäre dafür ein wenig Recherche notwendig. Schon leicht schlaftrunken griff sie nach ihrem Smartphone auf dem Nachtisch und blickte wie hypnotisiert auf das Display. Kurz überlegte sie, wie der Sperrpin lautete und vertippte sich fluchend beim ersten Versuch. Doch der zweite Anlauf funktionierte. Die Anzeige, dass sie zehn neue E-Mails hätte, übersah sie geflissentlich. Dafür zog eine SMS ihre Aufmerksamkeit auf sich. Was wollte denn Yuki von ihr? Wärst du bereit im Sommer Haus 3 für deinen besten Freund und dessen Bruder zu räumen? Sag Chef nichts. Danke. LG Yuki Wie bitte? Was wollte Mokuba ihm Hotel? Und dann auch noch mit seinem Bruder? Irgendetwas kam ihr daran seltsam vor. Mokuba hätte sie doch selbst gefragt, wenn er vor hätte zu kommen. Also musste die Anfrage von Seto Kaiba gekommen sein. War der wirklich so bescheuert? Der konnte doch seinen Urlaub sonst wo machen, da musste er doch nicht bei Jo absteigen. Genervt legte sie das Gerät an seinen Platz zurück und kuschelte sich weiter in ihre Decke ein. Oder er wachte endlich auf und wollte aktiv werden. Na dann. Vielleicht hatte sie gerade einen Weg gefunden, ihm eine Lektion zu erteilen und ihren Neffen am Ende zu seinem Glück zu verhelfen. Siegesgewiss verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Aber da war sie auch schon eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)