Secret Fire von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Schatten ------------------- Wenn er früher etwas Verbranntes gerochen hatte, war Lir Tse'tey aus dem Bett hochgeschossen, weil er befürchten musste, dass das Haus in Flammen stand. Heute nicht mehr... Heute bedeutete es nur, dass Moira kochte. Was bedeutete, dass er immer noch hochkommen musste, aber er musste weder seine Axt noch einen Eimer Wasser dabei schnappen, und auch das Rennen hielt sich in Grenzen. Sollte es auch, sonst zog er sich ihren Zorn zu, noch bevor er überhaupt den Mund geöffnet hatte. Es gab einfachere Frauen, mit denen man verheiratet sein konnte. Moira war definitiv die Braut eines Kriegers... und sie legte ihre Waffen nicht an der Türschwelle ab. Metafarisch gesagt, oder wie auch immer das jetzt hieß. Lir war nie der Poetische der Familie gewesen, das war die Aufgabe seines jüngeren Bruders, und Aeden hatte seinen Eltern prompt einigen Kummer damit bereitet. Es gab auch einfachere Existenzen, in denen man leben konnte. Ein Drache lebte niemals in Sicherheit. Es war mittlerweile viele Jahrhunderte her, seit es den Drachen gelungen war, in menschliche Gestalt zu schlüpfen, doch manche von ihnen lehnten es immer noch ab, und auch diese Tarnung war nicht perfekt. Selbst das Dorf, in dem Lir lebte, wäre einem menschlichen Reisenden, der sich hierher verirrte, aufgefallen: es gab zu wenige Felder, um die Dörfler zu versorgen (würden sie nur davon leben), keine Fischerboote für den nahen Fluss, die Feuerstellen brannten nicht durchgängig, und die Kinder spielten seltsame Spiele mit Funken der uralten Magie, die mal in ihnen erwachen würde. Es war schwierig, sich richtig zu tarnen. Das Schwierigste daran war, den eigenen Stolz zu besiegen und so zu tun, als hätte man all die Fähigkeiten nicht, die einem gegeben waren. Auch Lir ertappte sich dabei, sich dagegen zu wehren. Warum zum Beispiel wartete man, bis die Pflanzen im Garten von allein wuchsen, und riskierte Missernte, anstatt seine Erdmagie in sie fließen zu lassen? Warum rupfte man in stundenlanger Kleinarbeit auf Knien Unkraut aus, wenn man einfach den nicht erwünschten Pflanzen diese Kraft wieder entziehen konnte? Warum musste man einen Baum anschlagen und ewig quälen, um ihm etwas Harz abzugewinnen und manche Dinge herzustellen, wie man nicht brauchte, weil man Magie dafür hatte? Warum machte man sich die Mühe mit Salben, wenn es einen Heiler im Dorf gab? Man wurde so schnell nachlässig. Aber es gab Gründe, warum man es versuchte. Als Lir vom Schlafzimmer in den Wohnraum mit der Kochnische trat und versuchte, sein dickes blondes Haar einigermaßen ordentlich aus seinem Gesicht in den Nacken zu streichen (es reichte schon wieder bis ins Genick), warf sich so ein Grund auf sein Bein um umklammerte es mit allen verfügbaren Gliedern, biss sogar in den Stoff seiner Hose. "Grrrr!" Seine mittlere Tochter zerrte an dem Stoff (der schon gefährlich ächzte), und Lir hielt vorsichtshalber seinen Hosenbund fest, obwohl er grinste. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er vermutet, dass Ylva doch eher ein Wolfskind war und kein Drache. Auch ihr feuerroter Haarschopf wies weder auf Lirs strohblondes Erbe noch auf Moiras tiefes Schwarz hin, allerdings war Rot in Lirs Familie gängig gewesen. Er hoffte im Stillen, dass Ylva nicht auch Bardin und Schöngeist werden wollte, so wie ihr Onkel, aber die Gefahr war eher gering, wenn er sah, wie sie durch das Haus tobte. Er war zu spät aufgestanden, um Moira am Kochen zu hindern (es ihr abzunehmen, natürlich!)... Das erforderte Fingerspitzengefühl, bevor er überhaupt wach war. Moira war eine entsetzliche Köchin, aber sie tat es trotzdem. Zu Lirs Erleichterung röstete sie gerade nur Brotscheiben von gestern, doch auch dabei versengte sie einiges, und Hilfe nahm sie aus Prinzip nicht an. Auch jetzt warnten ihre goldenen Augen ihn deutlich, irgendeine Bemerkung zu machen. Ganz vorn dabei: Könntest du bitte... das Brot vom Feuer nehmen, bevor es zu Kohle wird? Ylva kletterte sein Bein so behände hinauf wie ein Eichhörnchen einen Baumstamm, und Lir pflückte sie sich ab, bevor sie das nächste Mal zubeißen konnte (diesmal war bestimmt etwas Fleisch dazwischen). Sie quietschte protestierend, als er sie auf seinen Arm setzte, und trampelte mit ihren nackten Füßchen gegen seinen muskulösen Unterbauch. "Du kannst nicht weiter!" Ylva sah ihn vorwurfsvoll an. "Habe dich gefangen, Papa!" Lirs Meinung war natürlich minimal vorgeprägt dadurch, dass seine Töchter nun mal von ihm abstammten... Aber es konnte niemand bestreiten, dass sie die absolut bezauberndsten Geschöpfe auf der ganzen Erde waren, oder? "Hört auf zu trödeln." Moira fegte die angeschwärzten Brotscheiben vom Rost auf einen Teller und drehte sich um, ungeduldig. In ihrer menschlichen Gestalt war sie eine düstere, einnehmende Schönheit, aber sie hatte Lir Jahre warten lassen, bis er diese überhaupt zu sehen bekam - bis dahin hatte er sich bereits in eine Wasserdrachin mit schleimigen Schuppen, monströsen Scheren und einer gespaltenen Zunge verliebt. Na gut, vielleicht eher in ihre Art, ihre Stärke, ihre verhaltene Wärme unter dem schroffen Getue. Denn die Scheren waren Lir nach wie vor eher unheimlich. Er lächelte nur, als seine Frau ihn anfunkelte, und sah zu Ylva. Sie war sechs Sommer alt, aber sie wuchs gut. "Kannst du mich freilassen, damit ich mich hinsetze?" "Jetzt." Das Mädchen hörte die deutliche Ungeduld in Moiras Stimme und klopfte Lir großzügig auf die Schulter. "Freigelassen." "Danke, Liebes." Wenn es nach Lir ginge, gäbe es in diesem Haus keine Verbote für Kinder. Was der Grund war, weshalb Moira die Regeln machte... Er war komplett unfähig, seinen Töchtern irgendetwas zu verbieten. Bereits am Tisch saß ihre älteste Tochter, Lenja: zehn Sommer alt und äußerlich Lir ähnlich mit ihrem hellblonden Haar und den blauen Augen, aber nachdenklicher und viel eher in sich gekehrt als er. Sie hatte bereits den wichtigen Zusammenhang zwischen der Kochkunst ihrer Mutter und deren Laune bei entsprechenden Bemerkungen erkannt und begann, ihre Brotscheibe mit Apfelmus aufzuweichen, damit es keine Stunden dauerte, sie zu kauen. Lir setzte sich und ließ Ylva herunter (für ihn wog sie nicht mehr als ein leerer Eimer), aber der Platz neben ihm war noch leer. Nachsicht mit ihrer jüngsten Tochter sah Moira nicht ähnlich: Frühstück war jetzt, später gab es nichts. Und wenn eins der Kinder krank war, bekam das das ganze Haus mit. "Wo ist Cerrin?" Moira warf ihm einen durchdringenden Blick zu, den er nicht ganz deuten konnte. "Oben." Die Mädchen schliefen im Obergeschoss, es sei denn natürlich, irgendein Alptraum ließ sich einfach nicht verscheuchen. Mit fünf Sommern gab es diese Art Alpträume für Cerrin noch, und je weiter die Zeit voranschritt, desto eher hatte Lir Alpträume von Lenjas Pubertät, aber keins von beidem griff jetzt. "Sie war wach." Lenja zuckte leicht mit den Schultern. "Und du bist spät aufgestanden. Geh." Moira gab ihre Anweisungen immer derart charmant, und Lir grinste. "Sofort, Hoheit." Sie warf einen feuchten Lappen nach ihm, als er aufstand, aber er konnte sehen, wie ihre Mundwinkel sich hoben. Er überließ die anderen ihrem Frühstück (wenn er sich nicht beeilte, gab es heute Morgen nichts essbares mehr für ihn) und stieg die Treppe hoch ins Obergeschoss. Lir betrieb die Schenke des Dorfes, sodass Krach bis in die späte Nacht nun mal nicht ungewöhnlich war: seine Familie hatte einen festen Schlaf entwickelt, und wenn es zu wild zuging, konnte Lir das immer noch klären. Aber die letzte Nacht war nicht so belebt gewesen, dass es Cerrin wachhalten konnte. Als er das Zimmer betrat, das die Mädchen derzeit noch teilten (noch gab das keinen Protest), saß sie auf ihrem Bett am Fenster und starrte nach draußen. So wie Lenja äußerlich ihrem Vater ähnelte, aber innerlich ihrer Mutter, war es bei Cerrin umgekehrt. Das Oberhaupt des Dorfes war überzeugt, dass sie so schön werden würde wie Moira, wenn nicht noch schöner, und Lir war seinerseits überzeugt, dass Kinyras sich keine Meinung zu bilden hatte, weder über seine Frau noch über irgendeine seiner Töchter, wenn er keine Zähne vermissen wollte. Cerrin bemerkte ihn nicht, bis er sich neben sie auf das kleine Bett setzte, das daraufhin stöhnte. Ihr schmales Gesicht war blass und die Augenringe bezeugten, dass sie wirklich kaum geschlafen haben musste, und ihr schwarzes Haar stand ab, als hätte sie sich ständig herumgewälzt. Aber sie war nicht ängstlich, wie sie es gewesen wäre, wenn sie einen Alptraum gehabt hätte. Cerrin hatte Angst vor dem Keller, doch meist reichte es, wenn sie wusste, dass sie nicht allein im Zimmer war. "Hast du keinen Hunger?" Wie immer, wenn er nicht wusste, was seine Familie bedrückte, fühlte Lir sich, als würde er das Falsche sagen. Er war erleichtert, dass Cerrin nicht wegrutschte, als er sie an sich zog. Ihr Körper fühlte sich winzig und zerbrechlich neben seiner wuchtigen Statur an. "Doch. Aber ich muss gucken." Sie rieb sich ihre geröteten Augen und gähnte. "Letzte Nacht war da jemand am Fenster, und ich hab Len geweckt und er war weg, und dann ist sie wieder schlafen gegangen und irgendwann war er wieder da." Lirs Nackenhaare stellten sich auf. "Er?" Cerrin lächelte ihn an, anscheinend froh, dass er ihr glaubte - er konnte sich denken, dass Lenja etwas anders reagiert hatte, wenn man sie mitten in der Nacht ans Fenster zitierte. "Er hatte ganz rote Haare, aber er musste sie waschen, und ein Loch im Mund. Ich glaube, er wollte was sagen, aber da war ja das Loch." "Eine Zahnlücke?" Drachen hatten einen sehr schnellen Zahnwechsel, aber in menschlicher Gestalt dauerte das länger, weil es nicht mehr das Gebiss eines Raubtiers war. Lir war natürlich im Bilde über die Zähne seiner Töchter, und er wusste von keinen neuen Lücken. "Noch größer. Er hat den Mund weit aufgemacht, und da war das Loch." Lirs Blut schien in seinen Adern zu gefrieren. Er hoffte, dass Cerrin nicht spürte, wie seine Muskeln sich anspannten. "Und er war zwei Mal da?" "Ich hab gewartet. Aber er war weg, als er gesehen hat, dass ich ihn nicht verstehe." Lir schluckte trocken. Sein Mund schmeckte nach Sand. "Komm zum Frühstück, mein Schatz." "Und wenn er noch mal kommt?" In Cerrins goldenen Augen spiegelte sich keine Angst, nur Neugier. Lir drückte einen Kuss auf ihr wirres Haar. "Dann rede ich mit ihm. Komm, deine Mutter wartet mit dem Frühstück." Cerrin verzog das Gesicht, rutschte aber gehorsam vom Bett und schlurfte nach unten, um dort vermutlich am Tisch einzunicken. Lir trat ans Fenster und packte den Rahmen fest. Keine Spuren von Eindringen, aber das hatte er auch nicht gedacht. Ein fremder, verwahrloster Mann mit herausgeschnittener Zunge hatte nachts versucht, mit seiner Tochter zu sprechen. Es war definitiv kein normaler Morgen mehr. Während des Frühstücks war Lir still: das zu Tode geröstete Brot gab ihm einen guten Grund, warum seine Kiefer zu beschäftigt waren, um viel zu reden. Wie erwartet schlief Cerrin auf ihrem Stuhl ein, und Moira kommentierte es nicht. Lir wusste, wie empfindlich sie gegen Fremde und auch manche Dorfbewohner war, deshalb wunderte es ihn, dass anscheinend keine ihrer Töchter ihr von dem Mann am Fenster erzählt hatte, aber er wollte es auch nicht erwähnen. Vielleicht hatte Lenja ihrer Schwester von vornherein nicht geglaubt und schrieb den Mann als ein Traumbild ab, und Ylva war viel zu sehr mit dem kommenden Tag beschäftigt, um sich um so etwas zu kümmern. Sobald er konnte, verließ Lir das Haus (Moira war erwartungsgemäß unbegeistert, dass er ihr das Geschirr der gestrigen Nacht und ein quirliges Mädchen überließ) und machte sich auf die Suche nach Spuren eines Fremden. Vorsichtige Nachfragen brachten nichts, abgesehen von Kinyras' spöttischer Bemerkung, dass sich irgendein Betrunkener einen Scherz erlaubt und das falsche Fenster erwischt hatte. Lir fand das sowieso nicht lustig, aber da er schon einige Jungen im Verdacht hatte, zu viel Interesse an seinen Töchtern hegen zu können, reizte ihn das doppelt. Vielleicht ließ die Wachsamkeit nach. Frieden war lang. Er beschäftigte sich mit Hausarbeit, bevor Moira ernsthaft ärgerlich wurde, und ging sicher, dass der Eintopf für den Abend von ihm gekocht und ausreichend war (die Kochkunst seiner Frau war nicht giftig, aber geschäftsschädigend konnte sie schon sein), aber er konnte nicht vergessen, was Cerrin ihm erzählt hatte. Als Ylva ihn beim Mittagessen fragte, ob sie wirklich nicht mehr die einzige Rothaarige im Dorf war, war Lir sich sicher, dass er das auch nicht vergessen sollte. "Dein Bruder?" Moira sah kaum von dem Kessel auf, in dem sie herumrührte. Sie kochte schrecklich, aber das Brauen hatte sie schnell gelernt. Lir wusste nicht, wie das möglich war. Das war wieder das Ding mit dem geschenkten Gaul. "Ich wusste nicht, dass du einen hast." Lirs Eltern waren an einem Fieber gestorben (ein Nachteil der menschlichen Gestalt war die Anfälligkeit) und er hatte Aeden auch nicht erwähnt. Moira hatte keine Familie, und sie wollte das Thema auch nicht anschneiden. Lir vermutete, dass ihr oft strenges Verhalten ihren Kindern gegenüber Unsicherheit war, denn es gab gar keinen Zweifel, dass sie die Mädchen genauso liebte wie er. "Er ist das schwarze Schaf. Oder das rote Tuch. Ich bring das immer durcheinander." "Trottel." "Reicht noch, um Schenkenlieder anzustimmen, Weib." Er war ihr dankbar für die kleine Ablenkung, aber sein Lächeln verschwand wieder. "Ich dachte nicht, dass er noch lebt." Drachen waren langlebig, aber wer spurlos verschwand und nicht wiederkehrte, wurde für tot erklärt. Lir war es gewohnt, auch wenn ihm irgendwo klar war, dass es nicht so sein sollte. Der Gedanke, Cerrin könnte seinen Bruder gesehen haben, erfüllte ihn nicht mit Freude oder Erleichterung... Nur mit Ungläubigkeit. Selbst die Möglichkeit erschien unmöglich. Er war einfach nicht für diese Sachen gemacht. Diese... Wortsachen. Moira betrachtete ihn, ihre Gedanken waren ein einziges Rätsel. "Hast du ihn sterben sehen?" Ihre Feinfühligkeit passte manchmal nicht ganz in Worte. Doch Lir wusste, was sie meinte. "Nein. Er hat sich mit unserem Vater zerstritten, und irgendwann ist er weggelaufen mit einem Mädchen, das meine Familie nicht mochte. Sie kam nach ein paar Wochen wieder, nachdem die Liebe sich abgekühlt hatte. Aeden nicht." Sie hatten ihn gesucht. Irgendwann war Lir nur noch wütend gewesen, weil er sah, wie die Reue über das, was passiert war, seinen Großvater auffraß und wie seine Mutter nicht wirklich traurig schien, als der Heiler ihr behutsam verkündete, dass er ihr Fieber nur lindern, aber nicht heilen konnte, und dass sie daran sterben würde. Diese Welt war nicht mehr einfach für Drachen, und sicher war Aeden nicht an all der Resignation schuld, die sich in Lirs Familie ausgebreitet hatte. Doch es wäre für sie alle leichter gewesen, wenn alles nicht so gekommen wäre, wie es gekommen wäre. Moira legte die Hand auf seine Schulter. Ihre Finger waren kalt und rochen nach Wacholder, Lir bedeckte sie mit seinen. "Er ist jedenfalls nicht mehr derselbe." Lir war pragmatisch. "Wenn er wirklich so aussah, wie Cerrin ihn gesehen hat." "Sie hat eine lebhafte Fantasie." Moira zog ihre Hand wieder unter seiner weg und stemmte die Fäuste in die Hüften. "Vielleicht hat ihr jemand Geschichten erzählt." Lir rieb sich die Augen. "Wird wohl." "Du wirst nicht aufgeben." Es war keine Frage. "Nein. Vielleicht ist er es doch." Und es war immer noch sein kleiner Bruder. "Ich komme heute Abend allein zurecht." Moira hatte sich schon wieder ihrem Kessel zugewandt, und Lir hatte das Gefühl, dass es auf diese Weise wirklich einfacher war, für sie beide. Er stand auf und küsste sie auf die Wange. "Ich bin bei Morgengrauen zurück." Instinkt war eine wertvolle Sache. Lir wusste, dass Aeden hier war. Er wusste nur nicht, wie viel von ihm. Aber etwas stimmte nicht. Lir fühlte sich wie ein Verbrecher, als er sich aus dem Dorf schlich, die hellen Fenster der Schenke schienen ihn zurückzurufen. Und ihm war nicht entgangen, wie Moira ihr Schwert in das Regal unter dem Tresen legte. Es wäre ihm auch lieber gewesen, das Dorfoberhaupt und dessen Lehrmeister in der Schenke zu sehen, damit er wusste, wo die beiden waren. Kinyras neigte dazu, Dinge immer dann mitzubekommen, wenn sie nicht für ihn gedacht waren. Was zum Teufel verbarg er eigentlich?! Dass sein Bruder vielleicht zurück war, warum sollte man das geheim halten? Warum hatte Aeden nicht einfach an die Tür geklopft?! Lir hatte ein paar Ideen, und er mochte keine einzige. Der Wald, der das Dorf umgab, war düster, der Mond war hinter dicken Wolken verschwunden. Lir trug eine Laterne, doch so nah in Sichtweite entzündete er sie nicht. Es roch angenehm nach feuchter Erde und Gras, aber alle seine Sinne waren angespannt. Neben ihm flatterte etwas auf, und Lir zuckte zusammen, hob seine Axt, die er in diesen Tagen nur noch zum Brennholzspalten benutzte. Es blieb still, und er zündete die Laterne an. Hoffentlich war er weit genug vom Dorf entfernt... Was tat er hier?! "Aeden?" Niemand antwortete. Niemand war hier. Selbst wenn, wie gut müsste er hören können... Lir ging weiter, tiefer in den Wald. Wohin, machte ihm nichts. Irgendwohin. "Ich weiß nicht, wie lange du da warst, Bruder." Seine Stimme war ruhig, so wie immer, nicht besonders laut, als würde er mit jemandem reden, der neben ihm her schlenderte. "Ich glaube nicht, dass du Moira gestern Nacht gesehen hast, sie hat einen leichten Schlaf und schreckt schnell auf. Du kannst dir Bemerkungen darüber sparen, warum jemand wie ich jemanden wie sie verdient. Du würdest es nicht verstehen, ja?" Er machte keine Pause. "Du bist nicht mehr der einzige Rothaarige der Familie, so viel ist klar. Denn dass Mutter und Vater tot sind, hast du wahrscheinlich gesehen... Die Gräber sind immerhin nicht weit." Er trat über eine Wurzel. "Ylva ist dir nicht ähnlich, bevor du auf solche Ideen kommst. Und Lenja wird in ihrer wahren Gestalt Flügel haben - nicht, dass Moira oder ich ihr das Fliegen beibringen können, aber das wird sich finden. Vielleicht lernt sie es selbst. Und Cerrin hatte keine Angst vor dir. Aber dass du sie wach gehalten hast, hat Moira wütend gemacht. Und man macht dieses Weib nicht wütend, wenn man weiß, was gut für einen ist. Die Ehre wirst du noch haben." Lir hielt kurz inne, aber er sah sich nicht um. "Du verdienst es eigentlich nicht, sie kennen zu lernen, Aeden. Aber ich glaube, was du an Fehlern gemacht hast, wurde schon bestraft. Und wenn nicht... Ich bin dein Bruder." Ein paar Insekten zirpten im Unterholz. "Ah... Hast du wieder Ärger am Hals? Wie in den guten alten Zeiten, jemand muss dich raushauen. Also reden wir drüber." Stille. Oder Schweigen? "Aeden. Sprich mit mir, du Schwachkopf. Warum denkst du, ich könnte dich hassen?" Es schien, als würde irgendwo eine Astgabel knarren... Aber es konnte auch ein unendlich gequälter Laut sein. Lir hob seine Laterne und schwenkte sie herum. "Ich bin nicht mehr so jung wie vor achtzig Jahren, also könntest du mal..." Die Laterne erlosch, als hätte sie jemand mit den Fingern ausgedrückt. Gleichzeitig schien jeder Wind einzuschlafen. "Aeden." Es war still. Lir spürte die Worte in sich nachhallen wie eine Vibration, nicht wie etwas, das seine Ohren auffingen. Du kannst nicht mit mir sprechen. Sprich. Nicht. Mit. Mir! Hilf mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)