If looks could kill von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 2: Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden. ----------------------------------------------------- Wenn man ein einsames Kind war, blieben einem nicht viele Möglichkeiten, seine Zeit zu verbringen. Eine war sicherlich, den ganzen Tag auf einer Blumenwiese zu sitzen und Kränze zu flechten. Eine andere – und die bevorzugte Morte doch sehr – war es, bei ihrem Großvater zu sitzen und ihm zuzuhören, während er Geschichten erzählte. Seine Stimme schaffte es stets, all die Ereignisse lebendig werden zu lassen. Ungeheure Drachen, die Menschen fraßen und dann allein durch die Macht der Liebe bekehrt wurden, ein verzauberter Turm, dessen Fluch erst durch die Freundschaft zweier Menschen bezwungen werden konnte … Egal wie abwegig es auch erschien, durch seine Stimme wurde alles möglich und selbst die größte Gefahr, erst durch sie lebendig geworden, verblasste an ihrer Schönheit und musste schließlich dem Guten weichen, das immer wieder über die Dunkelheit zu siegen schien. Sie lauschte diesen Geschichten stets hingerissen, mit großen Augen, die vollkommen auf seinem ruhigen Gesichtsausdruck fixiert waren, er erwiderte ihren Blick mit einem solchen, der ihr sagte, dass alles gut und sie in Sicherheit war. Nichts könnte ihr an diesem Ort schaden, solange er hier war. Entsprechend am Boden zerstört war sie daher, als er plötzlich nicht mehr da war, sein Sessel verwaist. Er war einem dieser Monster, das nur in Märchen zu existieren schien, zum Opfer gefallen. Mit verzweifelter Kraft klammerte sie sich an die Taschenuhr, das einzige, was ihr von ihm geblieben schien, als ob noch immer etwas von ihm darin sein könnte. Vor- und zurückwippend blieb ihr Blick stets auf den Sessel gehaftet, mit einer leisen Hoffnung beseelt, dass er doch plötzlich zurückkäme, dass er, wie in seinen Geschichten auch, den Tod besiegt und in seine Schranken gewiesen hätte. Wenn ich wirklich der Tod wäre, so überlegte sie, könnte ich ihn einfach zurückholen. Ich würde in dieses Jenseits gehen, ihn schnappen und wieder auf diesen Sessel setzen. Ganz einfach. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich wirklich wünschte, ihrem Namen gerecht werden zu können, der Augenblick, in dem ein dunkler Samen in ihr Herz fiel und dort Wurzeln schlug, die erst viele Jahre später eine finstere Blume hervorbringen sollten. Ihre Mutter ahnte davon nichts, als sie sich an einem dieser Tage neben sie auf den Boden setzte. „Es ist schon eine Woche her, Morte“, sagte sie, statt so lange Schweigen walten zu lassen, wie ihr Vater es täte. „Willst du nicht endlich etwas anderes tun?“ „Nein.“ Eine knappe Antwort, in die sie ihren ganzen Weltschmerz legte. „Morte, du weißt doch, dass Menschen sterben.“ „Aber er war doch nicht nur irgendein Mensch.“ Wie konnte es sein, dass es eine Welt gab, in der man jemandem eine so wundervolle Person schenkte, wie ihr Großvater sie gewesen war, nur um sie dann wieder zu entreißen? Wessen Wille war dafür verantwortlich und was dachte er sich dabei? Ihre Mutter legte einen Arm um ihre Schulter. „Ich weiß, es ist nicht leicht, einen Verlust zu verarbeiten. Aber ich bin sicher, dass du das kannst. Weil du stark bist. Aber du musst auch deine Stärke beweisen, indem du aufstehst und weiterlebst.“ „Und wenn ich das gar nicht will?“ Das verschlug ihrer Mutter wohl einen Moment die Sprache, denn sie sagte nichts mehr und strich sich stattdessen nervös durch das grüne Haar. Es dauerte eine Weile, bis sie schließlich wieder Worte fand, um Morte nicht darin zu bestätigen, dass es besser wäre, nicht zu leben: „Solange du lebst, kannst du einen Unterschied machen. Wenn du tot bist, ist alles vorbei und du wirst nie wieder eine solche Gelegenheit bekommen.“ Im Moment kümmerte sie eigentlich nicht, ob sie jemals wieder eine Chance für irgendetwas bekäme, aber sie überlegte dennoch, ob ihr Großvater zufrieden über diese Einstellung wäre. Allerdings kam sie zu der Erkenntnis, dass er wohl bedächtig mit dem Kopf schüttelte und ein tiefes Seufzen ausstieße, könnte er sie so sehen. „Und zuguterletzt sind es deine Erinnerungen, die deinen Großvater immer lebendig halten werden.“ Ihre Mutter legte einen Finger auf ihre Brust. „Solange du ihn nicht vergisst, wird er immer weiterleben – deswegen darfst du niemals zulassen, dass diese Erinnerung verlorengeht.“ Und als wolle er diese bestätigen, glaubte sie plötzlich wieder, seine Stimme zu hören und ihn in seinem Sessel sitzen zu sehen, während er eine Geschichte erzählte, in der Liebe den Tod überwand – und zum ersten Mal glaubte sie, dass dieses Überwinden dieses endgültigen Zustands eigentlich nur im rein übertragenen Sinn zu verstehen sei. Als Morte diesmal erwachte, fühlte sie sich wesentlich ausgeruhter als beim letzten Mal. Außerdem war sie auch nicht derart in ihrer Traumwelt gefangen, so dass sie sofort wusste, wo sie sich befand. Ohne auf Vane zu warten, stand sie aus dem Bett auf. Ihr war nicht schwindelig, also dürfte es ihr problemlos gelingen, endlich wieder in ihr Quartier zurückzukehren. Dort könnte sie die Mission noch einmal Revue passieren lassen und sich überlegen, woran genau sie gescheitert war. Noch einmal wollte sie keinesfalls von Rowan gerettet werden müssen. Doch sie hatte kaum ein paar Schritte in Richtung der Tür getan, als diese bereits geöffnet wurde und Vane hereintrat. Seine Anwesenheit füllte sofort den Raum, auf eine wohltuende Weise, die sie erst einmal tief Luft holen ließ. Er musterte sie einen kurzen Moment mit einem prüfenden Blick. „Es scheint dir wieder gut zu gehen.“ „Ja, sehr gut sogar“, sagte sie und lächelte zur Demonstration. „Ich wollte gerade-“ „Mit mir kommen, um gemeinsam mit Konia und den Kindern zu Abend zu essen.“ Eigentlich mochte sie es nicht, unterbrochen zu werden, aber bei diesem Vorschlag konnte sie nicht anders als ihr Lächeln noch ein wenig strahlender werden zu lassen. „Wirklich? Darf ich?“ „Natürlich, da musst du nicht erst fragen.“ Morte war gern bei Vane und seiner Familie. Nicht nur weil er sie an ihren Großvater erinnerte, sondern weil Konia, seine Frau, sie auch stets an ihre Mutter erinnerte – was kein Wunder war, bedachte man, dass ihre Mutter einfach die Konia einer anderen Welt – ihrer Welt – gewesen war. Aber gerade als sie wieder daran dachte, spürte sie, wie eine eiskalte Hand sich um ihr Herz schloss und sie tief durchatmen ließ. „Ich kann leider nicht. Außerdem habe ich auch gar keinen Hunger. Es ist besser, wenn ihr ohne mich esst, ich leiste euch dann ein andermal Gesellschaft.“ Vane bedachte sie mit einem tadelnden Blick, erkannte wohl aber, dass es sinnlos war, sie auf etwas hinweisen zu wollen. „In Ordnung. Aber wenn du es dir doch noch anders überlegst, weißt du, wo du uns findest. Okay?“ Sie nickte und bedankte sich, dann ging sie hastig an ihm vorbei, um erst das Zimmer und dann die Krankenstation zu verlassen. Sie musste dort weg, bevor es begann. Mit hastigen Schritten legte sie den Weg durch die Gänge Athamos' zu ihrem eigenen Zimmer zurück. Das Atmen fiel ihr dabei schwer, als müsste sie den Sauerstoff durch eine dünne Eisschicht filtern, was jeden doch geglückten Atemzug zu einer kalt brennenden Agonie ihrer Lungen werden ließ. Ihr Sichtfeld war dunkel, nur noch Konturen, die sich von der Schwärze abzuheben schienen. Neben dem in ihren Ohren rauschenden Blut hörte sie nur Dinge aus ihrer Vergangenheit, aber keine wohltuenden. Es waren Schreie, die sie verfolgten, ihre Klauen in sie schlugen, das anklagende wütende Heulen derer, die sie getötet hatte. Sie glaubte, das unangenehme Brennen des Machtgebrauchs auf ihrem Gesicht zu fühlen, stellte aber fest, dass es sich dabei nur um Tränen handelte. Die Flüssigkeit sah durch ihre verfinsterte Sicht aus wie Blut. Rowan hat recht, durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag. Ich bin eine Gefahr. Und irgendwann werde ich jeden hier töten, so wie auch in allen anderen Welten. Sie wollte auch direkt anfangen, zu zerstören, am besten mit ihr selbst. Ja, wenn sie sich selbst zerstörte, bevor sie jemand anderem etwas antat, wäre alles gut, dann wäre zumindest eine Welt vor ihr gerettet worden. Mit einem heiseren Kreischen begann sie ihre Hände gegen die Wand zu schlagen, sich die Arme aufzukratzen, nur um die Wunden gleich wieder verheilen zu sehen. Die stetig fließenden Tränen brannten auf ihren Wangen, bis sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können. Sie griff in ihre Tasche, zog die Uhr hervor und starrte sie an. Wenn sie ihr Herz zerstörte, wäre die Welt von ihr befreit. Keine Selbstheilung dieser Welt wäre in der Lage, sie dann noch vor dem sicheren Tod zu retten. Aber als sie vor ihrem inneren Auge sah, wie die Uhr zerschmettert auf dem Boden lag, verließ sie der Entschluss. Sie erinnerte sich wieder an ihren Großvater, seine Stimme und seine schwere Hand auf ihrem Haar, als Gute-Nacht-Geste. Wenn sie diese Uhr zerstörte, verschwand die letzte Erinnerung an ihn – nicht nur in Form dieses Gegenstands, sondern auch durch ihren Tod. Dieser Gedanke half ihr, sich endlich wieder zu beruhigen, der eiskalte Griff um ihr Herz lockerte sich. Leise schniefend wischte sie sich die Tränen ab, dann steckte sie die Taschenuhr wieder ein, stellte dabei sicher, dass sie gut verwahrt war und atmete einmal tief durch. Noch immer spürte sie die Nachwirkungen des Anfalls, aber es besserte sich. Das hoffte sie jedenfalls. Sie wollte glauben, dass die ruhigen Phasen länger andauerten, fürchtete sich aber davor, das mittels eines Kalenders zu überprüfen. Wenn sie feststellte, dass sie sich irrte, könnte sie das nicht ertragen, also lebte sie lieber in dieser Illusion. „Ah, hallo, Morte~.“ Die plötzliche Stimme ließ sie erschrocken zusammenzucken und herumfahren. Vor ihr stand eine Frau, die sie, wieder einmal, nur anstarren konnte im ersten Moment. Runa, die Freundin des Direktors Jii Tharom, war in ganz Athamos inzwischen bekannt. Aber nicht etwa wegen ihres rosa Haar, auch nicht wegen ihrer warmen türkis-farbenen Augen oder ihrer glockenklaren Stimme, alles Attribute, die es in Athamos zuhauf gab. Nein, der Grund war die Mütterlichkeit, die sie allen Schülern entgegenbrachte und womit sie Bernadette darin unterstützte, die Ersatz-Mutter für viele zu sein. Glücklicherweise betrachtete keine der Frauen das als Konkurrenzkampf. „Hallo, Runa“, sagte Morte, nachdem sie sich sicher war, dass ihre Stimme nicht mehr sofort ihre Gefühle verriet. Das Lächeln ihres Gegenübers schwand kein bisschen. „Bist du heute nicht bei Vane und Konia?“ Morte schüttelte mit dem Kopf und erklärte, dass sie die beiden nicht immer in ihrem Familienleben stören wollte, dabei hoffte sie, dass Runa nichts von ihrem Anfall gerade eben gesehen hatte. Das Glück schien ihr hold, denn Runa sagte nichts dazu und kam lieber auf ein anderes Thema: „Willst du nicht wenigstens etwas Kuchen essen? Nur ein Stück? Das wäre doch besser, als mit leerem Magen ins Bett zu gehen.“ Im Gegensatz zu Vane war der Widerstand bei Runa zwecklos. Am Ende schickte sie dann nur Bernadette vorbei, um ihr doch noch etwas Kuchen aufzuzwingen. Außerdem klang die Aussicht sehr verlockend und nach diesem Anfall meldete sich ihr Magen tatsächlich. Also stimmte sie zu und begleitete Runa in den Speisesaal Athamos'. Neben ihr befanden sich auch einige andere Schüler und bereits ausgelernte Traumbrecher hier, vermutlich allesamt von Bernadette und Runa eingesammelt und allesamt erpicht auf Kuchen, dessen Geruch Mortes Magen zum Knurren brachte. Zwischen den Anwesenden konnte sie Bernadette herumwuseln sehen. Die Lehrerin der Schöpfer-Traumbrecher war eine blonde, untersetzte Frau, die der Inbegriff einer Mutter-Figur zu sein schien. Wann immer Morte sie sah, wuselte sie umher, sie kannte jeden mit Namen und hatte auch für jeden ein nettes Wort übrig. Selbst für Morte. Als Bernadette diese erblickte, kam sie sofort herüber und umarmte Morte erst einmal. „Ach, Liebes, es ist schön, dass du auch vorbeigekommen bist.“ Bernadette löste sich wieder von ihr und zwinkerte ihr zu. „Runa hat extra nach dir gesucht, weil wir dachten, dass gerade du auch Kuchen gebrauchen könntest.“ Wie auf Bestellung reichte Runa ihr plötzlich einen Teller mit einem Kuchenstück darauf und eine dazu passende Gabel. Sie musste während Bernadettes Begrüßung losgezogen sein, um ihn zu holen. Morte nahm ihr den Kuchen ab und bedankte sich, dann wurde sie bereits von Bernadette mit sanfter Gewalt zu einem Tisch geführt, um sich zu setzen. Dort befanden sich schon einige andere Schüler, die Morte lediglich vom Sehen her kannte, aber dennoch grüßten sie sich alle gegenseitig mit einem Lächeln. Der Kuchen musste gute Laune verbreiten. Morte blickte endlich hinunter und betrachtete den Kuchen, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Auf dem hellen, locker aussehenden Kuchenboden, befand sich ein gelb-goldener Pudding, der Neugier in ihr weckte. Vorsichtig probierte sie ein Stück, ließ es auf ihrer Zunge zergehen und überlegte einen Moment, bis ihr endlich die passende Frucht einfiel: „Ist das Melonenkuchen?“ Runa und Bernadette, die beide neben ihr stehengeblieben waren, als machten sie sich besondere Sorgen um sie, nickten lächelnd. „Ich wollte einmal etwas Neues probieren“, erklärte Bernadette, sichtlich stolz auf ihre Backkunst. „Ich habe den Vorschlag für Melonen gemacht, als Detty nach einer Frucht suchte“, ergänzte Runa, „und dann die Melonen gekauft.“ Bernadette machte eine ausholende Handbewegung. „Das reicht für all meine Lieblinge hier~.“ Morte spürte bereits einen Knoten in ihrer Kehle, der neue Tränen bringen wollte, wenngleich diesmal vor Rührung. Um dem zu entgehen, nahm sie schnell noch einen Bissen und versicherte den beiden Frauen dann, dass es wirklich köstlich war, worauf die anderen am Tisch sitzenden Schüler zustimmten. „Dann hat es sich wirklich gelohnt“, sagte Bernadette lächelnd. „Lasst es euch noch schmecken.“ Runa entfernte sich damit bereits vom Tisch, um bei den anderen nach dem rechten zu sehen. Bernadette blieb dagegen noch ein wenig bei ihr stehen. „Ich habe gehört, dass Ro dir vorhin wieder das Leben schwer gemacht hat.“ Sie nannte Rowan immer so – und er hasste es. Morte spielte deswegen mit dem Gedanken, ihn auch so zu nennen, bevorzugte es aber doch, ihn gar nicht erst anzusprechen. „Ich komme schon klar“, versicherte Morte. „Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden.“ Und eigentlich verdiente sie es doch auch, so behandelt zu werden. Sie hatte unzählige Welten zerstört, zahllose Leben vernichtet, das war nicht wiedergutzumachen. Hastig nahm sie noch einen Bissen, um die eiskalte Hand wieder von ihrem Herzen zu vertreiben, ehe ein neuer Anfall kommen konnte. Die natürliche Süße der Melone besänftigte ihre Nerven und schaffte einen angenehm warmen Schutzschirm um ihr Herz. Bernadette tätschelte ihre Hand. „Nur Mut, Liebes. Irgendwann hört er damit bestimmt wieder auf.“ Nachdem Morte sich lächelnd dafür bedankt hatte, wuselte Bernadette wieder davon, um auch anderen Schülern ihre Mütterlichkeit zuteil werden zu lassen. Morte sah ihr hinterher, bis sie aus ihrer unmittelbaren Sicht verschwunden war, dann konzentrierte sie sich auf das lockere, lebhafte Gespräch ihrer Tischgenossen, um ein Teil von ihnen zu werden. Runa und Bernadette verstanden es wirklich, Menschen zu vereinen. Egal, womit sie es verdient hatte, hier zu landen und diese Zuneigung zu erhalten, sie würde sich des Vertrauens würdig erweisen, indem sie ein gutes Mädchen war. Ein Mädchen, auf das ihr Großvater stolz sein könnte. 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