Urlaubsreif von flower_in_sunlight (Seto x ?) ================================================================================ Kapitel 1: 7.2. Samstag ----------------------- Er sah aus dem Fenster seines Sportwagens. Noch könnte er zurück fahren nach Domino City, zu seiner Firma, zu seinem gar nicht mal mehr so kleinen Bruder. Das Licht draußen war für Februar typisch eher fahl und die umliegenden Bäume schluckten einen Großteil dessen, was tatsächlich die Wolkendeck passierte. Er hatte sich also wirklich dazu überreden lassen Urlaub zu nehmen und für zwei Wochen nur in absoluten Notfällen erreichbar zu sein. Zum Glück war Mokuba mittlerweile erwachsen genug, um genau zu wissen, was er als Notfall ansah und was nicht. Vielleicht hatte er sich diese Auszeit tatsächlich verdient. Vor einer Woche war Mokuba mit dieser Idee gekommen. Meinte, er habe von einer Fotografin von einem super tollen Hotel erzählt bekommen, das sehr viel Wert auf Diskretion und die Privatsphäre der Gäste lege, und er habe doch seit 2 Jahren keine echten Urlaub mehr gehabt. Er würde sich den Bekanntenkreis seines Bruders wohl einmal genauer ansehen müssen. Mit einem Ruck öffnete er die Autotür, stieg aus und ging die wenigen Meter zur Tür des kleinen Ferienhauses. In der E-Mail hatte gestanden, der Schlüssel sei hinter dem Schild der Hausnummer versteckt. Es ließ sich erstaunlich leicht zur Seite schieben und gab den Blick auf eine Einbuchtung frei, in der ein Schlüssel mit Anhänger drin lag. So schloss er auf, holte seinen Koffer aus dem Auto und machte den ersten Schritt in das Gebäude, das ihm in der nächsten Zeit als Rückzugsort dienen würde. Seine Augen zuckten zum Kontrollbildschirm. Der Schlüssel von Nummer 4 war aus seinem Versteck genommen worden. Mister Kaiba hatte also tatsächlich beschlossen, dass sein Hotel gut genug war, um es zu betreten. Am liebsten hätte er ihm bereits den Zutritt zum Gelände verweigert, als er sah, wer in dem dunklen Sportwagen saß. Doch leider hatte sie ihn gebeten, spontan für 2 Wochen den Bruder eines Freundes aufzunehmen. Da war er mehr oder minder machtlos gewesen. Er würde also 2 ganze Wochen lang Mister Eisschrank-hochnäsiger-Arsch beherbergen und mit ihm genauso umgehen, wie mit jedem anderen Gast auch. Seufzend lehnte er sich im Bürostuhl zurück und raufte sich die noch am Morgen ordentlich zurück frisierten Haare. Innerlich ärgerte es ihn, dass zu dem von ihm ausgearbeiteten Konzept das Abschaffen von Kameras um die Unterkünfte gehörte. Nur zu gern hätte er Kaibas Gesicht gesehen, wenn er zum ersten Mal sah, was er in den letzten Jahren geschaffen hatte. Vielleicht half ihm Ablenkung. Er könnte sich in der Küche nützlich machen und seine Angestellten etwas entlasten – auch wenn im Februar nicht sehr viel los war. Wobei, besser nicht. Am Ende war er noch versucht, das Essen seines neuesten Gastes zu vergiften. Lieber nahm er sich noch einmal die Buchungsplanung für März vor und las im Anschluss das Buch von Stephen Hawking weiter, das er am Vortag begonnen hatte. Seto Kaiba hatte erwartet, dass sich die triste Stimmung im inneren des Hauses fortsetzen würde. Jedoch wurde er eines Besseren belehrt. Nach dem kurzen Flurbereich, in dem er die Schuhe wechselte (eine Bitte, die auch in der E-Mail gestanden hatte), stand er in einem großzügigen, offenen Wohnzimmer, dass mit seiner bodentiefen Verglasung den Blick auf den nahen Strand und die silbergraue Brandung freigab. Die Einrichtung sah gemütlich aus, gleichzeitig war sie von hochwertiger Qualität, in vielem erkannte er Designerstücke. In seinem Rücken befanden sich Türen zu Badezimmer, ein offener Durchgang zu einer kleinen Küche und als Teil des Raumes das Schlafzimmer. Er sah Trennwände, die in Schienen an Decke und Boden liefen und wohl Privatsphäre geben sollten, falls man nicht quer durchs Wohnzimmer auf das Meer blicken wollte. Als er auf dem Esstisch, der bequem für 6 Leute ausreichte, ein Blatt Papier sah, stellte er den Koffer, den er wieder in die Hand genommen hatte auf den Boden. Herzlich willkommen Herr Yamazaki, Er hatte wohl weislich nicht unter seinem richtigen Namen gebucht – man konnte ja nie wissen, wer vielleicht mitlas. Wir freuen uns Sie in unserem Hotel begrüßen zu können. Da Sie bereits unsere Regeln bei der Buchung erhalten haben, wünschen wir Ihnen hiermit nur noch einen wunderschönen und erholsamen Aufenthalt. Die Küche ist voll ausgestattet, inklusive Lebensmittel. Falls Sie jedoch etwas zusätzlich möchten oder für Sie gekocht werden soll, lassen Sie es uns bitte wissen. Für weitere Fragen wählen sie bitte die Personal-Taste der Kontrolleinheit neben dem Wohnzimmereingang. Ihr Hotel Team Leicht zog er die Augenbrauen zusammen. Das Hotel schien wirklich keinen Namen zu haben. Anfangs hatte er sich gewundert, als er via E-Mail alle Formalitäten geklärt hatte. Die Adresse hatte Mokuba auch von dieser Fotografin – sie schien hier öfter herzukommen. Das Blatt zurücklegend öffnete er ein Seitenfach an seinem Koffer und holte seinen Laptop heraus. In einem der Sessel sitzend fuhr er das Gerät hoch und wartete auf die Herstellung der Internetverbindung. Und wartete. Bereits leicht genervt ging er ins Verbindungsmenü und suchte nach dem WLAN-Netz. Es wurde keines angezeigt. Also stellte er die Satelitenfunktion ein. Immer noch kein Netz. Langsam beschlich ihn ein gewisses Unbehagen und er fischte sein Smartphone aus der Hosentasche. Kein Netz. Wenn das ein Scherz sein sollte, war es auf jeden Fall kein guter. Binnen Sekunden stand er vor der Kontrolleinheit für das Haus und hämmerte auf die Personal-Taste. Im Angestellten-Raum flammte die Kontrollleuchte auf und im schnellen Rhythmus ertönte das Signal. Yuki blickte nur kurz drauf, um bestätigt zu sehen, dass es sich dabei um die Nummer 4 handelte und stürzte schon zur Tür hinaus. Anscheinend gab es bei dem neuen Gast bereits Probleme. Sie sprintete die 300m zum Ferienhaus und öffnete ungefragt die Tür. Die stabilen Schuhe, die es ihr ermöglicht hatten auf dem Waldweg zu rennen hatte sie schnell ausgezogen und stand nun in Socken im Eingang des Wohnzimmers und wartete auf die Reaktion des Gastes, dessen eisblaue Augen immer noch fest auf die Kontrolleinheit gerichtet waren. Es dauerte eine Weile, bis Seto die schmale Figur am Rande seines Gesichtsfeldes sah. Dunkle Hose, heller, aber gut geschnittener Pulli. „Sie wünschen?“, fragte die Person. Seto blinzelte leicht verwirrt. Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt, fasste sich dafür jedoch erstaunlich schnell. „Das. W-LAN. Funktioniert. Nicht!“, fuhr er sie an. „Wieso?“ Sie blickte ihn so unschuldig an, als hätte sie ihn nicht verstanden. „Und, wo liegt Ihr Problem?“ - „Ich habe auch keinen Empfang mit meinem Handy“, besann er sich gerade noch rechtzeitig, bevor er noch eine Stufe lauter geworden wäre. „Ich verstehe Ihr Problem noch immer noch nicht. Es gibt hier kein W-LAN und auf dem gesamten Gelände sind Störsender verteilt. Das gehört zu unserem Konzept der Diskretion und Wahrung der Privatsphäre unserer Gäste. Natürlich können Sie außerhalb der Anlage ganz normal ihr Mobiltelefon nutz...“ - „Ich will den Hotelmanager sprechen. SOFORT.“ „Natürlich.“ Yuki nahm sich gerade noch die Zeit, um sich ihre stabilen Schuhe wieder anzuziehen, bevor sie durch die Haustür verschwand. 50 Meter weiter zog sie ihr Walkie-Talkie und sprach hinein: „Chef, es gibt ein Problem. Der neue Gast versteht unser Konzept nicht und - ...“ Kurz zögerte sie „... will mit Ihnen persönlich sprechen.“ Sie wusste nicht wie er es schaffte, doch ihr Chef stand bereits vor dem Hauptgebäude und erwartete sie. „Was genau ist vorgefallen?“, wollte er in ruhigem Tonfall von ihr wissen. Yuki atmete einmal tief ein, mehr um sich selbst zu beruhigen als um Luft nach dem kurzen Sprint zu bekommen, und erklärte dann kurz: „Er hat sich beschwert, dass es kein W-Lan gibt. Und anscheinend verwirrt ihn das so sehr, dass er Sie nun persönlich sprechen will.“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann werde ich mal nach ihm sehen. Geh in die Küche und lass dir von den Jungs eine heiße Schokolade machen.“ Yuki deutete eine Verbeugung an und flitzte davon. Was hatte der Idiot gemacht, dass sie solche Schwierigkeiten hatte, ihre gute Laune beizubehalten? Sie war normalerweise durch nichts klein zu kriegen und behielt auch in den schwierigsten Situationen ihr Lächeln, doch diesmal hatte sie es alle Mühe gekostet, sich ihm gegenüber nichts anmerken zu lassen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er sich persönlich der Sache annahm. Entspannt schlenderte er den Waldweg zu Nummer 4 entlang. Als er die Tür aufgehen hörte, blickte er in den Flur. Zunächst sah Seto nur eine dunkle Hose, ein schwarzes Hemd und ebenso schwarze, schicke Lederschuhe, die ihr Besitzer in Ruhe auszog und durch schwarze Pantoffeln ersetzte. Erst danach trat der Ankömmling ins Wohnzimmer, wo Seto ihn genauer betrachten konnte. Er war schlank, schien aber sportlich und trug das blonde Haar fein säuberlich nach hinten gekämmt. Einen Mantel oder Pulli hatte er trotz der kühlen Temperaturen draußen anscheinend nicht getragen. Doch was ihn am meisten überraschte, war, dass sein Gegenüber größer war als er selbst. Das war er definitiv nicht gewohnt. „Meine Mitarbeiterin sagte mir, Sie hätten Verständnisprobleme mit unserem Hotelkonzept“, wurden seine Betrachtungen unterbrochen. „Ja.“ Leicht musste Seto schlucken. Das erste Wort war ihm unsicherer entwichen als er gewollt hatte. „Ich bezahle nicht ein kleines Vermögen für den Aufenthalt hier, um dann kein W-LAN zu haben. Ich habe ein Firma zu leiten!“ Langsam gewann er seine Sicherheit zurück. „Außerdem habe ich meinem Bruder versprochen, im Notfall erreichbar zu sein.“ Der andere wirkte wenig beeindruckt. „Ich verlange umgehend, dass dieses Versäumnis behoben wird!“ Der andere zuckte noch immer nicht mit der Wimper, erwiderte aber nach einem Augenblick, in dem sich beide stumm ansahen: „Ich bedaure sehr, doch das werde ich nicht. Es macht den besonderen Reiz dieses Ortes aus, dass unsere Gäste für eine Weile nicht erreichbar sind. Viele kommen sogar extra deswegen hier her. In der heutigen Zeit reicht es nicht mehr sein Handy auszuschalten, um ungestört zu sein und dem hektischen Alltag zu entfliehen. Und um Ihren Bruder müssen Sie sich keine Sorgen machen. Er hat meine Telefonnummer, auf der er mich jederzeit erreichen kann, wenn etwas sein sollte.“ Seto setzte zu einer pampigen Antwort an, wurde allerdings zu schnell unterbrochen. „Ich rate Ihnen, die Zeit hier zum Entspannen zu nutzen. Die Anlage ist groß genug für ausgiebige Spaziergänge. Über die Kontrolleinheit haben Sie Zugang zu unserer umfassenden Musiksammlung. Allerdings würde ich Ihnen für den Beginn ein Buch empfehlen. Ich wünsche Ihnen hiermit nochmals einen wunderschönen Aufenthalt. Falls noch etwas sein sollte – Sie wissen ja, wie sie mich erreichen. Auch wenn ich Sie bitten würde, dafür nicht immer meine Mitarbeiter durch die Gegend zu scheuchen.“ Mit diesen Worten ging er zurück in den Flur, nutzte den kleinen Schemel dort, um sich die Schuhe wieder zu binden und war genauso schnell aus der Tür wie er hineingekommen war. Draußen vor der Tür atmete er erst einmal aus. Er hatte es tatsächlich geschafft! Er hatte ein (halbwegs) normales Gespräch mit Seto Kaiba geführt, ohne aufbrausend zu werden, die Beherrschung zu verlieren oder sich von ihm unterkriegen zu lassen. So gesehen war es ein Sieg auf der ganzen Linie. Doch eine Kleinigkeit schmälerte seine Freude darüber. Er hatte zumindest ein kleines Zeichen des Wiedererkennens erwartet. Nichts Großes. Kein „Wie geht es dir nach so langer Zeit?“, keine sonstige verbale Äußerung diesbezüglich. Aber zumindest ein kurzes Aufblitzen der blauen Augen hatte er für selbstverständlich gehalten. Dann eben nicht. Wahrscheinlich war es auch besser so. Schließlich hatte sich einiges seit ihrem letzten Zusammentreffen geändert und eigentlich sprach das für ihn, wenn er nicht mehr so leicht erkannt wurde, von jemandem, der nur sein früheres Ich kannte. Er fing an eine kleine Melodie zu pfeifen, während er zurück in sein Büro lief. Schließlich wartete dort noch eine Menge Arbeit auf ihn. Und er sollte nach Yuki sehen. Am besten teilte er auch gleich den anderen mit, wie mit dem neuesten Gast umzugehen war. Verdutzt blickte Seto noch für eine Weile auf die von außen geschlossene Tür. Zum ersten Mal wusste er ganz genau, wie sich seine Angestellten und Mitarbeiter in der Firma fühlen mussten, wenn er ihnen etwas mitteilte, das sie nicht verstanden und er für selbstverständlich hielt. Er mochte dieses Gefühl eindeutig nicht. Wie alt war dieser Hotelmanager? Höchstens so alt wie er selbst! Und er hatte sich von ihm darstellen lassen als wäre er ein ungelehriger Schuljunge! Glücklicherweise würde er erst wieder mit ihm zu tun haben, wenn er es selbst wollte. Was also anfangen mit all seiner freien Zeit? Für einen kurzen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, einfach seinen Koffer zu nehmen und zurück nach Domino zu fahren. Doch dann sah er auch schon Mokubas anklagenden Blick vor sich, der sich betonte, wie wichtig eine Auszeit für ihn sei, und der auch leicht böse war und ihm zum x-ten Mal erklärte, wie schwierig es war so spontan zu dieser Zeit ein Hotelzimmer zu bekommen – besonders hier. Also musste er wohl oder übel bleiben. Seine Sachen wollte er trotzdem noch nicht auspacken. Suchend sah er sich im Raum um. Was konnte er nur anstellen? Raus in das ungemütliche Wetter, von dem er froh war, ihm entflohen zu sein? Sich einfach hinlegen auf das einladende Sofa? Sein Blick blieb an einem raumhohen Bücherregal hängen, das die Wand kurz vor dem Schlafzimmer einnahm. Entschlossen trat er näher heran. Die obersten Reihen waren gefüllt mit Science-Fiction, gefolgt von Fantasy. Die Böden darunter enthielten Klassiker, denen sich gut 20 Bücher anschlossen, die er als Bestseller der letzten 12 Monate identifizierte. Mittlerweile musste er sich leicht vorbeugen, um die Titel lesen zu können. Denn bis jetzt hatte noch nichts sein Interesse geweckt. Liebesromane, darunter auch die mit diesen kitschigen Titelbildern. Jetzt kniete er sich hin. Die nächste Reihe waren auch noch Romane, die eher auf eine weibliche Leserschaft abzielten. Um die unterste Reihe zu begutachten, musste er sich auf alle Viere lassen. Verwundert blinzelte er. Er kannte keinen einzigen der Titel! Neugierig zog er ein beliebiges Buch heraus, richtete sich in Seiza auf und betrachtete es. Der Einband war schlicht, der Titel von Hand daraufgeschrieben, offensichtlich nachträglich, als habe der sein Besitzer nicht aller Welt mitteilen wollen, was er da las. Mit wachsendem Interesse schlug Seto die erste Seite auf und begann zu lesen. Schnell wurde ihm klar, weswegen der ursprüngliche Einband überdeckt worden war. Mit so einem Buch wollte man sich wahrlich nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen – er zumindest. Auch zu Hause hätte er so etwas nie lesen können. Zu vorwurfsvoll hätte Mokuba ihn angesehen, nachdem er dessen gesamte Pornosammlung aus erzieherischen Gründen aus der Villa hatte entfernen lassen. Schließlich wollte er nicht, dass sich sein kleiner Bruder ein verqueres und falsches Bild von Sexualität angewöhnte. Vor allem bei ihrer sozialen Stellung konnte er sich das nicht erlauben. Er hatte sein eigenes Leben so weit wie möglich skandalfrei gehalten und so hoffte er es auch für seinen kleinen Bruder – selbst wenn der mit 22 etwas andere Vorstellungen vom Leben hatte als er selbst. Aber dieses Buch hier war wie geschaffen für ihn und traf endlich einmal seine Bedürfnisse und es gab niemanden, der mitbekam, was er las, niemanden vor dem er sich rechtfertigen musste. Endlich konnte er in Ruhe einen Shonen-Ai-Roman lesen, ohne sich dabei seltsam zu fühlen. So merkte er anfangs auch nicht wie die Zeit verstrich. Erst nach einer Stunde wurde ihm bewusst, dass er es leider nicht mehr gewohnt war längere Zeit in Seiza zu sitzen. Leicht ächzend erhob er sich und ging, den Finger als Lesezeichen nutzend, hinüber zu dem Sessel, in dem er bereits zuvor gesessen hatte und machte es sich wieder bequem. Vielleicht würde dies doch ein schöner Urlaub werden. Er konnte in Ruhe lesen, würde nicht gestört werden von der Firma oder sonst wem und, was ihn ursprünglich hatte einwilligen lassen, er würde über den 14. Februar nicht in Domino sein. Nicht, dass er Schokolade nicht mochte – im Gegenteil, er mochte sie viel zu sehr, achtete aber gleichzeitig darauf, nicht zu viel von ihr zu essen. Theoretisch deckte das, was er an Schokolade an diesem einzigen Tag bekam, seinen Jahresbedarf vollständig ab (inklusive dem Teilen mit Mokuba). Doch sie kam immer von Frauen. Frauen, die der Meinung waren, dass er mit seinen 28 Jahren im perfekten Heiratsalter wäre und sich eine Frau suchen solle. Frauen, die der festen Überzeugung waren, sie seien diese eine für ihn. Frauen, die beratungsresistent waren, wenn er ihnen freundlich aber entschieden eine Abfuhr erteilte und ihre Schokolade nicht annahm. Frauen, die ein kleines Detail, das zugegebenermaßen niemand kannte, übersahen. Denn er, Seto Kaiba, war schwul. Es wurde bereits allmählich draußen dunkel, als er das nächste Mal seine Lektüre unterbrach. In seiner Nähe stand eine kleine Leselampe, doch bevor er sie anknipsen konnte, fiel ihm etwas anderes auf als das fahle Licht im Zimmer. Wann bitte schön war seine Hose so eng geworden? Verwunderlich war es zwar eigentlich nicht, wenn man bedachte was er die letzten Stunden gelesen hatte, doch normalerweise hatte er sich „unten rum“ deutlich besser im Griff. Auf jeden Fall würde er Taschentücher brauchen. Wenig begeistert über die selbstverschuldete Unterbrechung stand er auf. Er hatte Stofftaschentücher in seinem Koffer, doch würde er sie hier nicht wieder angemessen sauber bekommen. In der Küche befand sich Küchenrolle, die ihm jedoch zu rau erschien. Blieb also nur das Bad, das er sich noch nicht angesehen hatte. Mit dem Aufgehen der Tür schaltete sich automatisch das Deckenlicht ein und beleuchtete etwas, das für normale Menschen ein Traum in weiß gewesen wäre. Fast die Hälfte des quadratischen Raumes wurde von einer großen Badewanne eingenommen, neben der sich direkt eine geräumige Dusche befand. Eine große milchige Scheibe erlaubte tagsüber anscheinend Tageslicht, während verschiedenste Vorsprünge genug Platz für die Kosmetika des Gastes boten. Links neben der Tür befand sich ein Schrank, in dem offensichtlich Handtücher und ähnliches verstaut waren. Doch das, was er suchte, fand er direkt am Rand der Badewanne. Schnell griff er nach dem rechteckigen Karton, während er sich mit der anderen Hand den Knopf und den Reißverschluss seiner Hose öffnete. Augenblicklich verspürte er an gewissen Stellen weniger Druck. Seto war bewusst, dass er, wenn er wie beabsichtigt weiter las, wieder dieses Problem haben würde, doch im Moment brauchte er nur Erleichterung. Hastig zog er Slip und Hose gleichzeitig nach unten. Ein kleiner Stich vorne wies ihn darauf hin, dass er dies etwas zu hastig und unbedacht tat. Darauf achtete er aber jetzt nicht mehr. Er legte die Tücher um seine Eichel und fixierte sie mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, während er sich gegen die Wand aus kalten, weißen Fliesen lehnte. Anfangs bewegte er die Hand langsam, fügte immer wieder Finger hinzu, die ihn umfassten, steigerte das Tempo, variierte den Griff. Als er merkte wie kurz er davor war abzuspritzen, drehte er sich zur Wand um. Ihre Kühle fühlte sich angenehm auf dem erhitzten Gesicht an. Ein Stöhnen entschlüpfte seinen Lippen, während spürte wie seine Knie langsam schwach wurden. Allerdings presste er sie fest aufeinander, als die Wogen der Erleichterung tatsächlich über ihn kamen. Schlimm genug, dass er immer noch an ihn dachte, wenn er sich in Ermangelung einer besseren Lösung selbst befriedigte, da musste er sich nicht auch noch der Schmach ergeben seinen Namen laut auszusprechen, wenn er kam. Da seine Beine endgültig keine Lust mehr verspürten ihn zu tragen, setzte er sich auf den leicht warmen Boden und reinigte sich. Wieder vollständig bekleidet wollte Seto erneut Platz im Sessel nehmen, als ihm eine bessere Idee kam. Er schnappte sich das Buch und begab sich ins Schlafzimmer. Dort legte er es auf dem Nachtisch ab der links vom Bett stand und begann sich bis auf die Unterhose auszuziehen. Schnell huschte er unter die Bettdecke und versank erst einmal in Kissen und der angenehm weichen Matratze. Er knipste das Licht an des unscheinbar wirkenden Lämpchens an. Blinzelnd stellte er fest, dass bei seiner Auswahl offensichtlich an nächtliche Leser gedacht worden war. Selbst seine Bürotischlampe in der Kaiba Coorp. war nicht so hell! Und vor allem war ihr Licht nicht gleichzeitig so angenehm. Zufrieden kuschelte er sich weiter unter die Bettdecke, nur die rechte Hand blieb draußen und hielt das Buch. Würde er vor dem gleichen Problem wie vorhin stehen, würde er wohl leider noch einmal aufstehen müssen, da sein Sauberkeitsgefühl gewissen Aktionen in seinem Bett widersprach. Doch zunächst würde er wohl eine entspannende Zeit vor sich haben. Kapitel 2: 8.2. Sonntag ----------------------- Im ersten Moment blickte er verwirrt zur Decke hinauf. Nach mehrmaligem Blinzeln dämmerte ihm jedoch wo er war und was für ein Tag war. Es war Sonntag. Üblicherweise stand er um 6 Uhr auf und begab sich in sein Arbeitszimmer, um darauf zu warten, dass Mokuba endlich aufstand, und mit seinem Bruder zu frühstücken. Dieser Zeitpunkt war im vergangenen Jahr immer weiter Richtung Mittag gerutscht, da ein gewisser Herr seine Volljährigkeit offensichtlich in vollen Zügen genoss. Doch ebendieser Bruder hatte für ihn einen Urlaub gebucht an einem der wenigen Plätze auf der ganzen Welt, wo es ihm nicht adäquat möglich war, etwas für seine Firma zu tun, sobald er aufstand. Die dezente Projektion an der Decke wies ihn außerdem darauf hin, dass es bereits 9.30 Uhr war. Seto Kaiba schnellte hoch, hatte bereits ein Bein unter der Bettdecke hervorgestreckt, als ihm bewusst wurde, dass er keinerlei Verpflichtung unterlag aufzustehen. Lieber kuschelte er sich für weitere 5 Minuten ein und überlegte, was er den Tag über so tun könnte. Das Buch, mit dessen Hilfe er den Vortag überstanden hatte, war kurz nach Mitternacht ausgelesen und obwohl er versucht war, war er nicht noch einmal aufgestanden. Die bittere Rache war in der Nacht gekommen in Form von Träumen wie er sie lange Zeit nicht mehr gehabt hatte. Mit einer dumpfen Vorahnung hob er die Bettdecke und linste an sich hinab. Er würde sich wohl mit einer kalten Dusche vollständig wecken müssen, weigerte er sich doch schon wieder an ihn zu denken, während er selbst Hand anlegte. Seine Vermutung am Vortag war richtig gewesen und so fand er Handtücher verschiedenster Größe im Badezimmerschrank. Eines mittlerer Größe fand seinen neuen Platz vor der Dusche am Badewannenrand, während er selbst vorsichtig die Dusche betrat und kritisch betrachtete. Auf den ersten Blick sah die Armatur ganz normal aus, doch waren obendrauf und an den Seiten weitere Knöpfe, durch die zusätzliche Funktionen aktiviert werden konnten. Tunlichts darauf bedacht keinen davon zu berühren stellte er die Temperatur auf eiskalt und drehte vorsichtig den Hahn auf. Der nachfolgende Schrei war das Resultat eines noch nicht ganz klaren Kopfes. Denn statt die Brause in die Hand zu nehmen und sich wie gewohnt langsam von den Füßen her an das Wasser zu gewöhnen, hatte ein gewisser Herr sich direkt unter den Brausekopf gestellt. Da half auch kein vorsichtiges Aufdrehen mehr. Schnell drehte er die Temperatur wieder hoch, um weiter zu duschen. Eine gute Sache hatte die Aktion auf jeden Fall: er war wach und sein Körper wieder ernüchtert. Mit dem Handtuch um die Hüfte und barfuß ging er zum Kühlschrank. Irgendwie hatte er tatsächlich Lust etwas zu essen. Vielleicht lag es an den vergangenen zwei ausgelassenen Mahlzeiten, doch selten verspürte er tatsächlich Hunger. Leider verriet ihn der Blick in den vollen Kühlschrank, dass er in der Vergangenheit versäumt hatte in irgendeiner Form Kochen zu lernen. Nicht einmal seine nun angestrebten Rühreier konnte er sich selbst machen! Verärgert über sich selbst ging er zur Kontrolleinheit und drückte einen Knopf auf dem etwas abgebildet war, dass ihn an eine Kochmütze erinnerte. Einen kurzen Augenblick später vernahm er eine Stimme: „Schönen Guten Morgen! Was kann ich für Sie tun?“ Seto zögerte. Konnte er tatsächlich seine Bestellung äußern? Aber dieser Moment hielt nicht lange, sodass er antwortete: „Ähm, ich hätte gerne Frühstück. Rührei.“ - „Okay. Ich bin in 5 Minuten bei Ihnen“, kam prompt die Antwort und dann herrschte wieder Stille. Verdutzt blickte er auf das Metall, bevor ihm auffiel, dass er noch immer nur mit einem Handtuch bedeckt im Wohnzimmer stand. Schnell schleppte er den bis dahin ignorierten Koffer aufs gemachte Bett, riss ihn auf und zog sich ein frisches Hemd und neue Unterwäsche an. Die Hose nahm er vom Vortag, klappte den Koffer wieder zu und stellte ihn demonstrativ für sich selbst vor den Kleiderschrank. Denn eigentlich hatte er nicht vor die nächsten zwei Wochen aus dem Koffer zu leben. Keinen Augenblick später ging die Haustür auf. Angezogen durch die folgende Geräuschkulisse ging er ins Wohnzimmer zurück, wo ihm ein Hüne von Mann auswich und beladen mit einer großen offenen Kunststoffkiste in die Küche weiterging. Dort stellte er augenblicklich den Herd an und platzierte auf ihm eine große Pfanne. Das Öl, das er in sie goss, nahm er aus einem der Küchenschränke, und entpackte die Kiste weiter, solange es zum Erhitzen brauchte. Es folgte ein Gefäß mit Deckel und zu Setos Verwunderung ein ordentliches Stück Lachs. „Ich habe keinen Fisch bestellt.“ Der Mann in der Küche lachte auf. „Das sagen sie alle und am Ende wollen sie ihr Rührei nie mehr anders. Auf der Liste steht, dass Sie Fisch mögen, und die Kombination aus Ei und Lachs ist ein wunderbarer Start in den Tag.“ Es folgten ein Schneidebrett und ein großes Messer, mit dem er sich daran machte den Lachs in kleine Häppchen zu zerlegen. „Welche Liste?“ - „Die Liste, die Ihr Bruder uns geschickt hat, mit Ihren persönlichen Essensvorlieben.“ Die Häppchen verschwanden in dem Gefäß, das nun mehrere Male gut geschwenkt wurde. Währende Seto noch über den Sinn einer solchen Liste und weiteren Möglichkeiten, was Mokuba für Informationen preisgegeben hatte, nachdachte, wurde der Gefäßinhalt in die Pfanne gegossen, im Toaster landeten zwei Scheiben Brot und er wurde gefragt, ob er Kaffee zu seinem Rührei wolle. Er bejahte und stellte dann die erstbeste Frage, die ihm in den Sinn kam: „Auf was für einen Typ Mensch steht Ihr Chef eigentlich?“ Er könnte sich ohrfeigen! Hatte er das tatsächlich laut ausgesprochen. „Entschuldigung, ich meinte natürlich“, versuchte er zu retten was zu retten war, „Was für ein Typ Mensch ist ihr Chef? Außerdem hat er mir gestern keinen Namen genannt.“ Der Koch, denn das war er offensichtlich, lachte erneut, ohne sich umzudrehen oder sein ständiges Rühren in der Pfanne zu unterbrechen. „Den braucht er auch nicht. Der Chef ist eben der Chef. Auch wenn das bei manchen Gästen für Verwirrung sorgt, weil sie eher jemanden wie mich hinter dieser Anrede vermuten. Mein Name ist übrigens Shin. Und ich bin zwar Koch, aber nicht der Chef der Küche. Bin dafür zu oft bei den Gästen und koche vor Ort. Aber nun zu Ihrer ersten Frage. Das Privatleben vom Chef ist seine Sache. Er erzählt nichts darüber und wir fragen nicht. Er allerdings auch nicht bei uns.“ Er nahm einen Teller aus dem Schrank und schaufelte einen riesigen Berg Rührei aus der Pfanne. Bewaffnet mit Besteck ging Shin an Seto vorbei und stellte alles auf dem Esstisch ab, machte kehrt und brachte auf einem kleineren Teller den Toast garniert mit etwas salziger Butter. „Ihr Frühstück ist fertig.“ Etwas skeptisch setzte sich Seto an den Tisch. Das Essen duftete verlockend. Dennoch fand er die Kombination aus Ei und Fisch noch etwas gewagt so früh am Tag. Doch dann siegte sein Körper, der nach Eiweiß verlangte. Mit der Gabel teilte er sich etwas ab und führte es in den Mund. „Mhm“, entrann sich ein verräterischer Laut seiner Kehle. Schnell nahm er einen zweiten Bissen. Wie hatte er sich all die Jahre mit normalem Rührei zufrieden geben können? Vielleicht würde er es nicht jeden Morgen essen wollen, aber während seines restlichen Aufenthalts würde er garantiert noch mehrmals darauf Lust haben. Er musste sich dazu zwingen nicht gleich alles auf einmal herunterzuschlingen, sondern jeden einzelnen Bissen zu genießen. Im Hintergrund hörte er den Koch räumen. Anscheinend reinigte er seine Pfanne und den Herd. Als er aufgegessen hatte, wurde ihm der Teller weggenommen und ebenfalls gründlich abgewaschen. „Sie haben Glück, dass die anderen Gäste bereits gefrühstückt haben, sonst hätte ich nicht auf Ihren Teller warten können“, meinte er vergnügt, während er schnell noch das Besteck abtrocknete. „Apropos. Es gibt heute Mittag Bananencurry – eines der Lieblingsgerichte vom Chef - , weil Sonntag ist. Wollen Sie auch etwas oder kochen Sie sich selbst eine Kleinigkeit.“ Sicherlich hatte Shin ihn nicht beschämen wollen, aber der letzte Teil des Satzes hatte gesessen. Er, der erfolgreiche Firmenboss, würde ohne fremde Hilfe vorm vollen Kühlschrank verhungern, ja, hatte sich noch nicht mal sein Frühstück selbst zubereiten können! Daher fiel ihm die Antwort mehr oder minder leicht: „Ja, ich nehme auch das Curry.“ Shin packte gerade die letzten Sachen in seine Kiste. „Prima. Es steht dann so gegen 13 Uhr bei Ihnen vor der Tür.“ Die Kiste unterm Arm ging er zu seinen Schuhen und schlüpfte wieder in sie hinein. „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen ersten Tag bei uns.“ Langsam war Seto verwirrt. Waren die hier alle so fröhlich drauf? Er war lächelndes Personal gewohnt, hätte sich sogar beschwert, wenn es anders wäre, doch bis auf „den Chef“ war ihm bis jetzt nur echte Freundlichkeit begegnet. Wenn er angelächelt worden war, war das echt gewesen, die Wünsche für den Aufenthalt mehr als nur leere Floskeln. Gestärkt für den Tag ging er erneut vor dem Bücherregal auf die Knie. Es war Zeit herauszufinden, ob seine Lektüre ein Zufallsfund war oder ob sich dort noch ein paar mehr derartige Bücher versteckten. Mit kräftigem Schritt ging Shin den Weg zurück in die Küche. Der neue Gast in Nummer 4 hatte sich ihm gegenüber erstaunlich brav verhalten, weswegen auch er sich benommen hatte. Vor knapp 20 Stunden hätte er ihm noch am liebsten den Hals umgedreht. Er war es nämlich gewesen, der Yuki eine heiße Schokolade gekocht und sie wieder aufgebaut hatte. Da hatte er ihn für einen blöden Arsch gehalten, der ohne Statussymbole nicht auskam, doch irgendwie schien er doch ganz sympathisch – hatte sogar ohne Murren die Riesenportion Rührei aufgegessen. Wahrscheinlich hatte ihn Yuki tatsächlich nur auf dem falschen Fuß erwischt. Er würde dennoch wachsam bleiben, man konnte ja nie wissen, und Yuki war ihm einfach zu wichtig, als dass er es mehr als einmal zu ließe, dass ein Gast sie so runterputzte. Die Schwierigkeit lag aktuell leider woanders. Sollte er dem Chef erzählen, dass man sich nach seinem Privatleben erkundigt hatte, oder besser nicht? Seine letzte Beziehung schien Ewigkeiten her zu sein und er brauchte definitiv etwas, neben seiner Arbeit. Aber ob da ein Gast, vor allem ein so schwieriger wirklich das Passende war? Der hatte auf jeden Fall etwas Dauerhafteres als einen Urlaubsflirt verdient. Also erst mal still sein und schauen, wie sich das Ganze entwickelte. Seto Kaiba lag auf dem Boden und schüttelte sich vor Lachen. Das konnte man doch nicht ernsthaft schreiben! Wobei, anscheinend doch. Zu seiner großen Freude hatte er einen weiteren Shonen-Ai-Roman gefunden. Doch diesmal war er gespickt mit Klischees. Das hier konnte doch nicht wirklich der Ernst des Autors sein! Es war viel zu offensichtlich, wer später mit wem zusammenkam – nach 10 Seiten. Und dann erst diese Ausdrucksweise. Kein normaler Mensch sprach so! Trotzdem war er bereits bei Seite 50, denn irgendwie hatte die Story doch etwas, das ihn fesselte. Er wusste zwar nicht mehr, wann und wieso er sich nach hinten hatte umfallen lassen, doch musste er gestehen, dass der Holzboden gar nicht so unbequem war und wohl auch hier eine Fußbodenheizung eingebaut worden war. Also blieb er erst mal liegen, während seine Mundwinkel bereits wieder gefährlich nach oben zuckten. Wie konnte der Protagonist nur nicht kapieren, dass sein Mitschüler auf ihn stand? So wie die beiden sich immer an die Gurgel gingen, war es doch offensichtlich, dass da mehr im Spiel war als der normale Ärger. Schlagartig rutschten seine Mundwinkel nach unten und er richtete sich auf. Er markierte sich die Seite mit dem Lesezeichen, das er zwischen den Seiten gefunden hatte, und legte das Buch zur Seite. Vielleicht war es doch nicht die richtige Lektüre für ihn. Schließlich hatte er selbst dabei versagt, damals seine Gefühle deutlich rüber zu bringen. Oh Mann, war vielleicht er selbst das Klischee? Der Typ der sich seine Gefühle einfach nicht eingestehen konnte, bis es zu spät war. Die geliebte Person mit jemand anderem zusammen kam und so viel glücklicher wurde als sie es mit ihm jemals hätte werden können oder eines Tages plötzlich weg war. Sollte er nicht einfach weiterlesen, um zu wissen, was hätte sein können? Um zu fantasieren und ein wenig zu bereuen. Oder hatte er mittlerweile genug Abstand zu damals, um das Ganze objektiv zu betrachten? Leicht errötend dachte er an den vorherigen Abend. Nein, Abstand hatte er noch nicht, doch könnte er sich beim Lesen ihn in der einen Rolle vorstellen und sich selbst in der anderen. Und seit wann bitteschön lies er sich von einem Buch unterkriegen? Trotzig nahm er das Buch wieder in die Hand und las weiter. Wahrscheinlich hatte die Story eh wenig mit seiner eigenen gemein. Auf dem Boden blieb er sitzen, lehnte sich aber an die Wand und schlug an der markierten Stelle das Buch wieder auf. Gegen halb eins knackte es kurz aus der Kontrolleinheit. Verwundert sah Seto auf. Er hatte sich immer noch nicht umfassend mit dem Gerät beschäftigt und war daher doch etwas überrascht, als er nun Shins Stimme hörte: „Ihr Mittagessen steht in fünf Minuten vor Ihrer Tür.“ Fünf Minuten also. Mal sehen, ob diese Zeitspanne auch exakt eingehalten werden würde. Er las die Seite fertig, legte das Lesezeichen in das Buch und stand auf. Seine Glieder ächzten ein bisschen als er sich ausgiebig streckte. Danach ging er in den Flur und öffnete leicht die Haustür. Der Blick auf die Uhr verriet, dass er noch genau eine Minute auf sein Essen warten würde, da hörte er Schritte. Durch den Türspalt schielend erblickte er Yuki, die eine kleine Styroporkiste trug. Diese stellte sie vor der Tür ab und hob die Hand um zu klopfen. Kurz zögerte sie, als sie bemerkte, dass die Tür bereits leicht offen stand, und schlug dann so kräftig gegen die Tür, dass Seto die Tür gegen die Nase drückte. Bevor er noch reagieren konnte, hatte sie sich umgedreht und lief den Weg zurück. Fluchend rieb sich Seto die Nase. Er glaubte zwar nicht, dass sie das mit Absicht gemacht hatte, denn dazu hätte sie wissen müssen, wo er stand, aber es tat trotzdem weh. Hoffentlich war das Essen wenigstens die Schmerzen wert. Die Kiste war schnell in die Küche befördert und unter großem Staunen ausgepackt. Reis, Fleisch, Bananen und Currysauce waren jeweils in einen eigenen Behälter verpackt worden und noch dampfend warm. Die Behälter selbst waren so stabil, dass sie sicherlich mehrmals verwendet wurden. Etwas von allem fand den Weg auf einen Teller und dieser auf den Esstisch. Vorsichtig nahm er eine Mischung aus Fleisch, Banane und Sauce auf die Gabel und probierte. Wenn das so weiter ging, würde er nach diesem Urlaub fünf Kilo mehr wiegen! Genieserisch aß er den Teller auf und holte sich dann den Rest aus der Küche. Yuki hüpfte vor Freude auf den Fließen auf und ab. So verhielt sie sich bereits seitdem sie von der Essensauslieferung zurück war und Shin bezweifelte, dass sie sich in den nächsten Minuten beruhigen würde. Was er bis jetzt aus ihr herausbekommen hatte, klang wirklich äußerst amüsant. Anscheinend hatte der Gast aus Nummer 4 hinter der Haustür gewartet, um zu kontrollieren, ob das Essen auch wirklich innerhalb von fünf Minuten geliefert würde. Denn wirklich hungrig konnte er nach so kurzer Zeit und so gutem Frühstück noch nicht gewesen sein. Und sie hatte ihm mit ihrem gewohnten Klopfen die Tür gegen die Nase gedrückt. Zwar hatte sie sich nicht getraut, nachzusehen, doch allein das Wissen darum, versüßte ihr den Tag und versöhnte sie wieder. „Was ist denn hier los?“, fragte plötzlich eine Stimme, was Yuki für einen kurzen Moment inne halten lies. Doch sie grinste immer noch so breit, dass Shin für sie antwortete: „Unser Lieblingsgast war neugierig, stand hinter der Tür und hat jetzt höchstwahrscheinlich dank Yuki eine platte Nase.“ Der Chef schaute für einen Moment skeptisch, zuckte dann aber mit den Schultern. Viel lieber konzentrierte er sich auf sein eigentliches Anliegen als seine Mitarbeiter darauf hinzuweisen, dass es nicht im Sinne der Hotelphilosophie war, die Gäste zu verletzen. „Ist das Essen schon fertig?“ Shin verdrehte die Augen. Der würde sich auch in einhundert Jahren wohl nicht ändern. „Ja, Chef. Ist fertig. So wie immer?“ Ein Nicken reichte aus, um aus den verschiedenen Pfannen das Gericht zusammen zustellen. Glücklich zog der Chef von dannen und setzte sich nebenan an den Tisch im Angestellten-Raum. „Ich liebe Sonntag“, erschall es noch, bevor die Mahlzeit vernichtet wurde. Einmal mehr war Shin froh, dass er auf die Idee gekommen war Sonntag die Lieblingsgerichte des Chefs zu kochen. So war wenigstens dieser Tag ruhig und sein Chef unter Garantie gut gelaunt – zumindest, wenn er genug gekocht hatte. „Kann ich Nachschlag haben?“ Bis zu diesem Moment hatte sich Yuki tatsächlich etwas beruhigt, doch jetzt musste sie wieder anfangen zu grinsen. Seto grummelte vor sich hin. Nach dem opulenten Mittagessen hatte er abgewaschen. Zwar musste er so erwas normalerweise nicht machen, doch er hätte sich nicht wohl gefühlt, hätte das schmutzige Geschirr weiterhin in der Spüle gestanden. Die Schüsseln mit dem Essen hatte er zurück in die Kiste gestellt und diese in den Flur. Dort war sie wenigstens nicht im Weg. Dann war sein Koffer endlich ausgepackt und im Schrank versteckt worden. Er war begeistert von all dem Platz, den er auf Geschäftsreisen nicht immer für seine Anzüge zur Verfügung hatte. Bequem hätte in dem Schrank Wäsche für 4 Wochen Platz gefunden. Doch dann hatte er sich auf das Sofa gelegt für ein Nickerchen. Prompt übernahm die ihm nicht so wohl gesonnene Seite seiner Träume die Kontrolle. Vielleicht hätte er das Buch doch nicht weiterlesen sollen. Denn jetzt fühlte er sich berührt im Traum. Gestreichelt und gehalten von warmen Händen, die seinen ganzen Körper erkundeten. Überall, wo diese Hände auf nackte Haut stießen, kribbelte es. Doch da er derartige Berührungen nicht gewohnt war, empfand er sie fast schon als unangenehm und er wollte dort kratzen, damit dieses Gefühl endlich verschwände. Aber er konnte nicht. Eine der fremden Hände umfasste seine Handgelenke und hinderte ihn daran, während die andere weiter auf Erkundungstour ging. Was für Qualen! Er wollte schreien, jedoch war sein Mund zu trocken und es kam nur ein heiseres Krächzen hervor. Da lachte eine Stimme, zu der irgendwie die Hände gehörten, plötzlich kalt und herzlos auf. Mit einem Schrei fuhr er hoch. Im ersten Moment war Seto verwirrt, dann registrierte er, wo er war und atmete erleichtert aus. Er hasste es, wenn er so etwas träumte. Immer wieder wurde er liebkost, doch konnte er sich nicht entspannen und es genießen. Und immer wieder wurde ihm in seinem Traum klar gemacht, dass man nur mit ihm spielte, man ihn nicht für würdig genug erachtete mehr zu sein als ein kleiner netter Zeitvertreib, der deutlich unter dem eigenen Niveau lag. Nach solchen Träumen fühlte er sich elend. Sein so gut verdrängter Minderwertigskeitskomplex kam zum Vorschein und quälte ihn zusätzlich. In solchen Momenten wäre er gern unter Menschen gewesen, aber dann auch wieder nicht. Schließlich suchten die meisten seine Nähe nur wegen seiner gesellschaftlichen Stellung. Und so saß er dann hin und hergerissen an der Stelle, wo er aufgewacht war und versuchte sich selbst zu beruhigen. Er war Seto Kaiba, erfolgreich, jung, gesund, hatte bereits jetzt alles, was sich manche Menschen ihr Leben lang wünschten. Das half wenigstens ein bisschen. Doch das Schlimmste war, dass er genau wusste weswegen er diesen Mist träumte! Es war die Rache seines Unterbewusstseins, dass sich immer wieder darüber beschwert hatte wie er bereits als Jugendlicher mit seinem Umfeld umgegangen war, genauer gesagt mit einer ganz bestimmten Person. Wütend schlug Seto auf das Polster ein. Vielleicht verlor er so etwas von seinem inneren Zwist. Hätte er sich damals ein einziges Mal beherrscht, hätte er nicht immer den reichen Schnösel heraushängen lassen, hätte er damals eingesehen, dass er sehr wohl Freunde brauchte... Mokuba würde irgendwann aus der Villa ausziehen. So viel stand fest. Der Kleine beteuerte zwar immer, dass es ihm dazu, viel zu gut dort gefiele und er eher Angst hätte, sein großer Bruder würde ihm eines Tages den Stuhl vor die Tür stellen, damit er endlich sein eigenes Leben führte, doch irgendwann würde er gehen. Irgendwann würde er ein nettes Mädchen kennenlernen, dass tatsächlich ihn und nicht seinen Namen wollte, eine Familie gründen und wegziehen. Seit Jahren waren sämtliche Besuche in der Villa für ihn. Seto gab ab und zu Bälle in den unteren Räumlichkeiten, doch diese betrachtete er als Teil seiner Pflichten als Firmenchef. So würde er irgendwann einsam in diesem großen Haus sitzen, von der Welt zwar nicht vergessen, aber von ihr verlassen, und es würde seine Schuld sein. Eine Tatsache, die ihm jeglicher Möglichkeit beraubte, jemand anderen dafür runter zu machen, um seinen Frust kurzfristig los zu werden. Langsam stand er auf und ging in die Küche. Bei Zurückstellen des Geschirrs hatte er Kaffeefilter gesehen. Irgendwo müsste daher wohl auch die Hauptzutat für sein ganz persönliches Lebenselixier versteckt sein. Nach dem zweiten eher wahllosen Öffnen einer Schranktür, wurde er auch bereits fündig. Der Wasserkocher dampfte bereits vor sich hin, als er sich endlich für eine Tasse und eine bestimmte Dosierung entschieden hatte. Jeden normalen Menschen hätte das Getränk bis weit nach Mitternacht wach gehalten, schließlich war bereits später Nachmittag. Er musste länger geschlafen haben als gedacht. Fast schon triumphierend ging er mit der Tasse in der Hand wieder ins Wohnzimmer und lehnte sich tief in die Kissen des Sofas zurück. Zufrieden nahm er den ersten Schluck. Sein vorheriger Zustand schien vergessen, eine kurze Phase, die keinerlei Bedeutung hatte. Doch was jetzt tun, mit diesem fast schon Abend? Das Buch hatte er gerade einmal bis zur Hälfte durch. Es war zwar nicht das erste, was er unter normalen Umständen gemacht hätte, aber hier war es vorerst das Naheliegendste, es fertig zu lesen. Kapitel 3: 9.2. Montag ---------------------- „Ja, natürlich kann ich Ihnen wieder Rührei machen. Allerdings müssten Sie sich noch etwas gedulden, ich mache gerade Pancakes.“ Noch leicht verschlafen trat er in die Küche und beobachtete Shin, der gleichzeitig Pancakes in der Pfanne wendete und in die Sprechanlage sprach. Anscheinend war einer der Gäste zu ungewohnt früher Zeit aufgestanden und forderte nun sein Frühstück. Zum Glück stand seines bereits auf der Anrichte. Wie er sich auf den Stapel wahrscheinlich noch warmer Pfannkuchen mit frischem Obstsalat freute! Eben wollte er nach Teller und Schälchen greifen, als ihm Shin auch schon tadelnd mit dem Pfannenwender auf die Finger schlug. „Ja, ich kann Ihnen auch welche vorbeibringen lassen. Yuki ist in 10 Minuten bei Ihnen“, führte er ungerührt sein Gespräch mit dem Gast fort. Er hatte so eben seinen Chef gemaßregelt, doch schien ihn dies nicht weiter zu stören. Stattdessen landeten die fertigen Pancakes aus der Pfanne auf einem stattlichen Haufen neben dem Herd und neuer Teig in der Pfanne. Dann erst wandte er sich mit seinem breitesten „Guten-Morgen“-Grinsen wieder an ihn. „Chef, das ist Yukis Frühstück! Keine Angst, Sie bekommen auch noch ihre Portion.“ Das Grinsen wurde leicht diabolisch. „Aber zunächst erhält der Gast in Nummer 4 sein Essen.“ Murrend nahm er sich eine Tasse aus dem Regal und goss sich Kaffee aus der großen Kanne ein. Wenigstens das funktionierte an diesem Morgen. „Elender Frühaufsteher“, knirschte er zwischen seinen Zähnen hervor, während er die ersten Schlucke trank. Shin beobachtete weiterhin die Pfanne, während er die Transportkiste fertig machte, und erwiderte dann: „Chef, Sie wollen mir nicht weiß machen, dass Sie bereits wieder Hunger haben nach der großen Portion Essen gestern Abend?“ „Du hast Glück, das ich gerade nichts Adäquates zum Werfen in Reichweite habe.“ Hatte er schon, doch hielt er es für eine äußerst schlechte Idee ein Küchenmesser nach seinem Koch zu werfen. Schließlich war er heute allein dafür zuständig, dass sowohl Gäste als auch Mitarbeiter etwas Leckeres bekamen. Hans, der zweite Koch und eigentlicher Herr der Küche, hatte heute seinen freien Tag und würde erst am nächsten Tag mittags seinen Dienst wieder antreten. „Morge … Hey, was soll das?“, wollte Yuki von Shin wissen, der ihr sobald sie einen Schritt in die Küche getan hatte, die Transportkiste in die Hand gedrückt hatte. „Für Nummer 4. Ich komm hier noch nicht weg“, erklärte er knapp. „Und was ist mit meinem Frühstück?“ Entrüstet stemmte sie den freien Arm in die Seite und holte bereits Luft, um lautstark zu betonen wie wichtig es für sie war bereits morgens ausreichend Kalorien zu sich zu nehmen um den Tag über durch die Anlage zu rennen, als Shin stumm auf die Anrichte deutete. „Geht doch.“ Ihre Miene hellte sich augenblicklich auf. Schnell rollte sie sich einen der Pancakes zusammen, biss ab und wandte sich zum Gehen. „Bis gleich“, grüßte sie noch mit vollem Mund, bevor sie auch schon wieder verschwunden war. „Kann ich jetzt vielleicht mein Frühstück haben?“, fragte er, als Shin die nächste Fuhre Pancakes aus der Pfanne entfernte. „Selbstverständlich, Chef.“ Zufrieden zog er mit Teller, Schälchen, Besteck und Tasse von dannen. Allerdings fragte er sich, was Kaiba wohl dachte, was Pancakes waren. Denn freiwillig hätte der so süßes Zeug doch nicht angerührt, oder etwa doch? Yuki konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als sie die Haustür von Nummer 4 sperrangelweit offen stehen sah. Da hatte wohl ein gewisser jemand vom Vortag gelernt. Beim Betreten des Hauses setzte sie jedoch eine etwas professionellere Miene auf und klopfte an der Tür zum Wohnzimmer. Sie hatte nicht vor ihre Schuhe auszuziehen, wollte sie doch schnellst möglich zurück zu ihrem eigenen Frühstück, bevor der Chef auf die Idee kam auch über ihren Anteil herzufallen. Der Gast öffnete selbst die Tür, nahm ihr die Kiste ab und deutete auf die vom Vortag im Flur. Dabei nuschelte er irgendetwas, das man als „Danke“ hätte interpretieren können. Sie verbeugte sich leicht und antwortete: „Der Ahornsirup steht im Schrank rechts vom Kühlschrank. Mittagessen gibt es wieder um halb eins. Falls noch etwas sein sollte, wissen Sie ja mittlerweile...“ Er unterbrach sie. „Ähm, … wie kann ich hier Musik hören?“ Für einen kurzen Moment machte sie große Augen. Irgendwie hatte er unsicher geklungen. Und auf keinen Fall wollte sie hier noch länger sein! Schnell deutete sie um die Ecke auf die Kontrolleinheit. „Drücken Sie einfach auf den Knopf mit dem gekippten Dreieck drauf. Auf dem Display haben sie dann die Auswahl zwischen verschiedenen Playlists oder dem Zugriff auf die gesamte Bibliothek. Einfach mit dem Finger auswählen und scrollen. Das ist ein Touch Display. Falls Sie das Ganze steuern wollen, ohne aufzustehen. Im rechten Nachttisch liegt ein Mobilteil dafür.“ Noch bevor er irgendetwas Weiteres fragen konnte, hatte sie sich die alte Kiste geschnappt und war hinaus an die frische Luft. Ausnahmsweise war es ihr egal wie unhöflich das war. Schließlich ging es hierbei auch um ihr Frühstück und sie war sich sicher, dass dieser Gast ganz gut mit Technik zu Recht kam. Auf halbem Weg wurde sie aber dann neugierig auf etwas anderes, als ihr auffiel, wie laut die leeren Schüsseln in der Kiste klapperten. Sie hob den Deckel an. Das konnte doch nicht wahr sein! Der Typ hatte allem Anschein nach tatsächlich abgewaschen! Ungläubig inspizierte sie die Schüsseln genauer, hob sogar eine aus der Kiste heraus ins kaum vorhandene Morgenlicht. Blank und sauber! Für den Moment zumindest, denn auf ihrer Nasenspitze landete ein Wassertropfen. Schnell packte sie alles wieder zusammen und flitze in Richtung ihres eigenen Frühstücks. Hoffentlich war das nur ein kurzer Regenschauer. Es machte einfach keinen Spaß den ganzen Tag durch den Regen zu laufen und durch die Regenjacke schwitzte sie deutlich mehr als sonst. Aber erst einmal würde sie in Ruhe frühstücken. Die anderen Gäste würden erst in zwei oder drei Stunden wach werden. Seto kniete vor dem Nachttisch. Sein Frühstück war vorerst vergessen, weil es ihn ärgerte, dass er wegen etwas so Offensichtlichem hatte nachfragen müssen. Zumal die Frau in Eile gewesen zu sein schien. Nun blickte er in die offene Schublade auf eine Ansammlung verschiedener Dinge. Das erwähnte Mobilteil war eine kleine schlichte Fernbedienung, mit der man die Grundfunktionen wie Play, Pause, Stopp, vor und zurück steuern konnte, aber auch mehrere Lesezeichen lagen darin und fünf ganze Päckchen Papiertaschentücher. Wer bitte hortete so viele Papiertaschentücher direkt neben seinem Bett? Auch kamen ihm die Innenmaße der Schublade irgendwie zu klein vor, doch dachte er sich dabei vorerst nichts und wandte sich viel lieber dem Vertreiben der Stille zu. Bewaffnet mit der Fernbedienung stellte er sich vor die Kontrolleinheit und drückte den beschriebenen Knopf. Ohne groß zu überlegen wählte er eine Playlist aus, die mit einem einfachen „MP“ gekennzeichnet war. Augenblicklich drangen von irgendwoher die ersten Klänge von Tina Turners „Golden Eye“. Er blickte sich nach den Lautsprechern um, fand jedoch keine. Dennoch war der Raum gut und gleichmäßig beschallt. Zufrieden fürs Erste tigerte er in die Küche, um sich endlich den Inhalt der Kiste anzusehen. Den kleinen Stapel Pancakes packte er sich vollständig auf einen eigenen Teller, während er den Obstsalat lieber in seinem Behälter lies. Einen Schluck Kaffee trinkend stellte er sich vor den Schrank rechts des Kühlschranks. Ahornsirup klang gut. Er hatte schon lange keinen mehr gehabt. Wer würde schließlich einen Geschäftsmann ernst nehmen, der in seinem Alter noch so viel süß aß? Doch irgendwie erschienen ihm die Pancakes nur mit Obstsalat viel zu gesund. Kurzentschlossen öffnete er mit einem Ruck die Schranktür und erblickte auf Brusthöhe sein persönliches Paradies. Echter kanadischer Ahornsirup, aber auch noch eine Vielzahl anderer süßere Soßen. Er würde doch einen weiteren Teller brauchen. Zuerst stellte er die Pancakes und den Obstsalat auf den Esstisch und holte dann den zweiten Teller und sämtliche Flaschen, die er in dem Schrank fand. An diesem Morgen brauchte er zum Frühstücken fast 40 Minuten. Er hatte sich genau ausgerechnet wie viel Pancake er mit welcher Soße essen konnte, um sie alle einmal probiert zu haben, und genoss jeden einzelnen Bissen. Auf die Musik achtete er erst wieder als er sogar den Obstsalat restlos aufgegessen hatte. Das Lied gefiel ihm, doch kannte er es nicht. Erfreut stellte er fest, dass es von der Kontrolleinheit angezeigt wurde. Alicia Keys- Brand New Me. Seltsam, schien wohl neuer zu sein. Vielleicht konnte Mokuba was damit anfangen, wenn er wieder in Domino war. Bewusst darauf achtend nicht zu laut mit dem Geschirr zu klappern packte er alles in die Spüle und lies langsam Wasser einlaufen. Leicht zuckte er zusammen, als er in das heiße Wasser fasste. Wie er doch den Geschirrspüler zu Hause schätzte! Aber hier gab es keinen, also würde er sich wohl daran gewöhnen müssen. Erstaunt hielt er inne, den Teller in der Linken, den Schwamm in der Rechten. Er und sich daran gewöhnen, abzuwaschen?! Vielleicht hätte er genauer nachfragen sollen, was in den Pancakes war, denn solche Gedanken waren ihm eigentlich fremd. Vor sich hin grummelnd wusch er weiter alles ab und griff dann zum Geschirrhandtuch. Direkt im Anschluss verstaute er wieder das Geschirr im Schrank und die Behälter in der Kiste. Das Geschirrtuch noch in der Hand rieb er die Spüle nach. Das konnte doch einfach nicht normal sein! Natürlich wusste er um seinen Ordnungswahn, kombiniert mit einem gewissen Putzfimmel, doch normalerweise sorgte er dafür, dass dieser erst gar nicht ausbrechen konnte! Weiterhin grummelnd ging Seto ins Wohnzimmer. Was konnte er als nächstes tun? Sich hinsetzen und einfach nur der Musik zuhören? Dafür war er nach dem morgendlichen Zuckerschock zu gut mit Energie versorgt. Ein prüfender Blick nach draußen, ließ ihn seine erste Idee augenblicklich verwerfen. Bei den herunter prasselnden Wassermengen wäre er bereits nach 10 Metern bis auf die Haut durchnässt. Kein wünschenswerter Zustand im Februar, auch wenn er gerne nach draußen gegangen wäre. Dennoch musste er an seine Gesundheit denken. Als das Geräusch des Regens lauter wurde, schnappte er sich die Fernbedienung und drehte die Musik lauter. Einen Augenblick später funkelten seine Augen. Jetzt wusste er was er tun konnte! Wahllos öffnete er die ersten Schubladen. Tischdecken. Kerzen. Edel aussehende Stoffservietten. Was trieben normale Gäste hier nur, dass man sogar an so etwas gedacht hatte? Streichhölzer. Messerbänkchen. Und selbstverständlich die dazu passenden Serviettenringe. Am Schreibtisch fand er Papier und eine große Auswahl an verschiedensten Stiften. Eine weitere, kleine Sammlung Lesezeichen. Steckdosenadapter für Ausländer. Vasen. Ein Dekanter. Vielleicht fand er noch eine Flasche Rotwein oder konnte sich eine bringen lassen, um sie feierlich am Samstag zu trinken, froh darüber, dass er ungebunden und vor Nachstellungen in Sicherheit war. Eine stattliche Reihe großformatiger Folianten. Die Schutzumschläge schimmerten ihm im Licht der Deckenlampe verheißungsvoll entgegen. Eigentlich hatte er diese Tür am Sideboard gar nicht öffnen wollen, aber jetzt staunte er nicht schlecht. Die ersten Titel, die er entziffern konnte, zeugten erneut vom Geschmack desjenigen, der sie ausgewählt hatte. Ausstellungskataloge berühmter Museen auf der ganzen Welt. Werkssammlungen bekannter Maler. Und... Ernsthaft? „Hotelinterieur“ stand in weißen Blockbuchstaben auf dunklem Grund. Er zog das Buch heraus. Wie konnte man auf die Idee kommen, einen Einkaufskatalog für Hoteleinrichtung … Er stockte und besah sich das Buch genauer. Das war kein Katalog, sondern ein Bildband! Die Bindung ächzte leise als er ihn aufschlug. Beim Vorwort hielt er nicht inne, sondern ging direkt zum ersten Bild über. Die ganze Seite einnehmend verzichtete es auf Titel oder gar Beschreibung und zeigte einen Hoteleingang. Die Ausleuchtung war perfekt, die Farben satt. Die nächste Doppelseite zeigte das Foyer eines anderen Hotels, darin eine Frau mit schwarzem Haar, die freundlich, aber bestimmt in die Kamera blickte. Die nächste einfach nur zwei wundervolle Treppen, die eine fast schon altmodisch, die andere modern. Und so ging es weiter quer durch die verschiedensten Hotels, mal mit den Personen an ihrem Arbeitsplatz mal vollkommen menschenleer ein reines Spiel aus Licht und Schatten. Nach zwei Drittel des Bandes fühlte er sich plötzlich wie vom Blitz getroffen. Wieder eine Doppelseite, zwei Aufnahmen sich gegenüber und beide zeigten sie die gleiche Person. Links stand sie ganz professionell dar, in Kellneruniform in einem riesigen Speisesaal. Rechts war das Hemd weit aufgeknöpft und sie räkelte sich lasziv auf der Bar. Automatisch schoss Seto das Blut in die Wangen. Diese Person hätte er überall wiedererkannt. Fasziniert betrachtete er jede einzelne Strähne des verwuschelten Haares, das diesmal so aussah als wäre es ursprünglich ordentlich frisiert gewesen. Hatte er wirklich diesen Weg gewählt, nachdem er einfach so aus Domino verschwunden war? War sein Hündchen tatsächlich in die weite Welt aufgebrochen und hatte eine Anstellung in einem noblen Hotel erhalten, oder war vielleicht sogar Modell geworden? Joey Wheeler als Modell? Vor einigen Jahren hätte er sich darüber noch schief gelacht, doch jetzt hatte er den Beweis auf Papier gebannt wie gut er aussehen konnte. Er stand auf und kramte nach seinem Handy. Zufrieden stellte er fest, dass es noch Akku hatte und machte sich eine Notiz. Er musste unbedingt dieses Buch haben! Gedankenverloren blickte er wieder auf das Bild und erwischte sich dabei, wie er die Hand hob, um über den gedruckten Körper des anderen zu streicheln. Wieso war er damals nur so stolz gewesen? Wo sein süßer Golden Retriever jetzt wohl war? „Chef, das Wetter ist in Ordnung. Ich kann wie gewohnt meine Botengänge machen!“, zeterte Yuki in seinem Büro. „Und ich sage, dass es das nicht ist! Bei den Wassermengen, die runter kommen, könntest du dein Freischwimmerabzeichen machen!“ „Das hab ich bereits! Und so schlimm ist es nun wirklich nicht!“ „Aber du willst ja noch nicht mal eine Regenjacke anziehen. Wir können es uns nicht erlauben, dass du ausfällst!“ „Werde ich auch nicht! Ich kann nur nicht nachvollziehen, wieso ich nicht nach draußen darf!“ „Sagen sie alle! Und seit wann bist du so scharf darauf bei kräftigem Regen draußen herum zu rennen? Wird es dir hier drinnen zu eng mit uns Männern?“ „Nein, das nicht, Chef, aber wenn Sie mir den ausdrücklichen Befehl zum Drinnenbleiben erteilen, fühlt sich das irgendwie wie Hausarrest an.“ Darum ging es hier also. Sie schmollte! Augenblicklich fingen seine Mundwinkel an zu zucken. Wenn das alles war. Er hatte schon gefürchtet, es gäbe ernsthafte Probleme unter seinen Mitarbeitern. „Würdest du denn drin bleiben, wenn ich dich ganz lieb darum bäte und dir freistelle, selbst zu entscheiden, wie du mit der Zeit heute umgehst, solange wir dich nicht ganz dringend brauchen?“, wagte er einen kleinen Vorstoß. Yukis Miene erhellte sich schlagartig. „Einverstanden, Chef. Ich bin bei Shin und hol mir eine heiße Schokolade. Wollen Sie auch eine?“ „Ja, bitte. Und frag ihn, ob er die Mini-Marshmallows herausrückt. Das Wetter verlangt wirklich nach besonderen Maßnahmen.“ Verwirrt blickte Seto auf, als die Musik ohne sein Zutun stoppte. Kurz sah er auf die Uhr. Es war bitteschön wie spät?! Er konnte doch nicht so lange einfach nur das Bild seines ehemaligen Mitschülers angestarrt haben! „Ähm, entschuldigen Sie bitte. Es ist mir furchtbar unangenehm Sie zu stören. Vor allem wegen dieses Themas. … Aber, …. auf Grund des Wetters hat der Chef beschlossen, dass wir im Hauptgebäude bleiben sollen. Das heißt ich kann Ihnen auch nicht ihr Mittagessen bringen... Shin würde quasi so eine Art Fernkurs mit Ihnen machen, wenn das in Ordnung ist. Ansonsten ist auch noch Tiefkühlpizza im Gefr...“ „Was Yuki sagen möchte“, unterbrach sie Shins Stimme abrupt, „ist Folgendes. Wegen des Wetters müssen wir leider Ihnen die Zubereitung Ihres Mittagsessens selbst überlassen. Ich stehe Ihnen hierfür beratend zur Seite – auch wenn ich natürlich nicht sehe, was Sie machen. Als allerletztes Mittel gegen den Hunger, lagert eine … Tiefkühlpizza in Ihrem Gefrierfach.“ Das Wort „Tiefkühlpizza“ sprach er dabei aus als handele es sich um etwas besonders Ekeliges und Ungenießbares. Normalerweise wäre Seto Kaiba jetzt an die Decke gegangen und hätte sich über den hundsmiserablen Service beschwert, höchstwahrscheinlich sogar den Manager verlangt. Doch Seto Kaiba hatte Urlaub und Seto hatte zu seiner eigenen Verblüffung nichts dagegen einzuwenden, mal zu probieren für sich zu kochen. Lieber nur für sich allein in der Anfangszeit, bevor er noch seinen Gast vergiftete und sich somit blamierte. „Einverstanden“, kam es ihm über die Lippen. Am anderen Ende der Leitung war es kurz ruhig, dann vernahm er Yukis zögerndes „Wirklich?“. „Ja, wirklich. Kann ich jetzt bitte wieder Shin sprechen?“ „Natürlich.“ „Also, für was außer Tiefkühlpizza“, er versuchte die gleiche Verachtung wie der andere in seine Stimme bei diesem Wort zu legen und das gelang ihm ausgezeichnet, „habe ich die Zutaten da?“ „Oh, einiges. Sie haben sogar die Auswahl zwischen traditionell Japanisch und Westlich.“ „...“ „Ist alles bei Ihnen in Ordnung?“ Nein, nichts „war in Ordnung“. Er hatte noch nicht einmal angefangen zu kochen und fühlte sich jetzt schon überfordert! „Ja, alles in Ordnung. Was ganz einfaches Japanisches. Wäre das möglich?“ Seto hasste sich selbst dafür, wie unsicher seine Stimme klang. „Selbstverständlich. Können Sie Reis kochen?“, wurde vorsichtig die Frage von der anderen Seite gestellt. Er hatte keine Ahnung wie er darauf antworten sollte. Doch falscher Stolz würde ihm dabei nicht weiterhelfen, etwas Warmes in den Magen zu bekommen. „Nein.“ „Kein Problem. Gehen Sie einfach in die Küche. Dort sollten Sie mich auch noch problemlos hören können.“ Er gehorchte widerspruchslos. „Okay. Im Eckschrank rechts steht ein Reiskocher. So ein Gerät von fast 30 Zentimeter Durchmesser in weiß und lila. Daneben ist auch ein Messbecher. Nehmen Sie beides heraus und stellen Sie es auf die Arbeitsplatte. Nun gehen Sie zum Schrank, in dem die ganzen Soßen stehen.“ Shin ging wohl davon aus, dass er seine Pancakes nicht soßenlos verspeist hatte. „Im Fach darunter steht ein weißer Behälter mit Reis.“ Seto nahm ihn und stellte ihn neben das seltsame Gerät. „Und was jetzt?“ „Füllen Sie den Messbecher bis zur Markierung 1 ½ mit Reis und schütten das in das Gerät. Dann noch einmal die gleiche Menge an Wasser.“ Eine kurze Pause entstand, in der Seto alles genau abmaß. „Gut.“ „Dann schließen Sie das Gerät an die Steckdose an. Das wird jetzt so eine Viertel Stunde dauern. In der Zeit schauen Sie bitte in den Kühlschrank. Im mittleren Fach befindet sich bereits gedünstetes Gemüse.“ Tatsache. Wieso war ihm das nicht schon viel früher aufgefallen? „Sie können es in der Mikrowelle erwärmen, wenn sie wollen, Aber es sollte auch kalt sehr gut schmecken. So und jetzt suchen Sie sich bitte noch einen Löffel für den Reis raus. In der Besteckschublade finden Sie so einen sehr flachen, großen Holzlöffel. Den machen Sie später mit kaltem Wasser nass und holen damit den Reis aus dem Kocher. Der meldet sich ihm übrigen, wenn der Reis fertig ist. Dann ziehen Sie den Stecker und öffnen vorsichtig den Deckel.“ Er war noch damit beschäftigt den richtigen Löffel zu suchen. „Ja, mach ich“, murmelte er vor sich hin unsicher, ob Shin ihn so überhaupt hören konnte. „Gut. Falls noch etwas sein sollte, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen.“ Die Leitung wurde unterbrochen und die Musik setzte wieder ein. Schon wieder ein Lied das er nicht kannte. Geduldig wartete er die restliche Zeit, die der Reis benötigte, und tat sich ungefähr die Hälfte des Gemüses auf einen Teller. Den Rest verstaute er wieder im Kühlschrank. Anschließend nahm er sich den gesamten Reis aus dem Kocher. Shin hatte es offensichtlich gut mit ihm gemeint und ihm eine große Portion verpasst. Als er sich hinsetzte verspürte er so etwas wie Stolz über sein erstes selbstgekochtes Essen – auch wenn es nur Reis war. Kapitel 4: 10.2. Dienstag ------------------------- Noch halb am Dösen gab er sich seinem Traum hin. Er hatte sich auf den Bauch gedreht und spürte wie die sonst so bequeme Matratze sich hart gegen ihn drückte. Laut stöhnte er in die Stille des Raumes hinein. Langsam begann er sich zu bewegen und rhythmisch an der Matratze zu scheuern, während ihm sein Traum deutlich süßere Bilder sandte als einen jungen Mann, der alleine in einem großen Bett lag. Er lag unter ihm die Augen glasig vor Lust. Trotzdem fixierten sie ihn so fest, dass es ihm unmöglich schien den Blick abzuwenden oder auch nur kurz zu blinzeln. Die nackte Haut fühlte sich warm auf seiner an und er hatte das Gefühl er müsse früher oder später verglühen. Sein Körper entschied sich für früher, schließlich wurde er an seinen empfindlichsten Stellen so sehr gereizt wie er es sonst nur gewohnt war, wenn er es sich selbst besorgte. Letzten Endes sorgte dies auch dafür, dass Seto aufwachte. Sein Traumpartner verschwamm und wurde zum Kissen, in das er seinen Kopf vergraben hatte, sobald er spürte, wie sich eine zähe Flüssigkeit in seiner Schlafanzughose breit machte. Noch leicht benebelt von der teils geträumten, teils realen Ekstase schlug er die Augen auf und drehte sich auf den Rücken. So hatte er seinen vierten Tag Urlaub nicht beginnen wollen. Schließlich war er kein unkontrollierbarer Teenager mehr, der sich nicht beherrschen konnte. Schlimmer. Er war 28 und alles, was er über das Liebesspiel zu zweit wusste, kannte er nur aus Büchern. Wenigstens hatte er noch Schlafanzüge zum Wechseln dabei. Angewidert schlug er die Bettdecke zur Seite und entkleidete sich. Die Wäschestücke warf er vorerst achtlos auf den Boden und schnappte sich eines der Taschentücher, die er auf den Nachtisch gelegt hatte. Vorsichtig wischte er die Spuren seiner morgendlichen Fantasiererei weg, nur um zu merken, dass ihn das bereits wieder erregte. Zwar wäre er nur zu gern noch etwas liegen geblieben, doch ohne Decke würde ihm sicherlich schnell kalt werden. Nicht umsonst suchte man kurzärmlige T-Shirts in seinem Kleiderschrank fast vergeblich. Und gegen die Decke sprachen sein persönlicher Stolz und der Widerwille die Bettwäsche, wenn auch nur ein wenig, einzusauen. Er hatte also keine Wahl und musste aufstehen. Schnell nahm er sich frische Kleidung aus dem Schrank und huschte wie er war, nackt, durchs Wohnzimmer ins Bad. Immer noch leicht bibbernd trocknete Seto sich ab. Es war nur zu hoffen, dass sich sein Körper in den nächsten Tagen anständiger benahm, denn auf Dauer würde er es bevorzugen nicht jeden Morgen das Duschen mit eiskaltem Wasser zu beginnen. Schnell zog er sich an, um nicht noch mehr Wärme zu verlieren und tapste in die Küche, um sich mit einem Kaffee auch von innen zu wärmen. Während das Wasser durch den Filter lief, überlegte er, was er frühstücken wollte. Am liebsten hätte er wieder Pancakes gehabt, doch das wäre wirklich der Untergang für seine Figur gewesen – vor allem bei der wenigen Bewegung, die er die letzten Tage hatte. Er linste aus dem Fenster und betrachtete den Himmel. Vielleicht könnte er sich trauen an diesem Tag nach draußen zu gehen und etwas zu spazieren. Schließlich kannte er den Rest der Anlage noch nicht. Aber erst einmal würde er etwas essen müssen, hatte er doch das Abendessen ausfallen lassen, weil er noch so satt vom Mittagessen gewesen war. Mittagessen! Das war doch mal ein Anfang. Er hatte den Reis nicht vollständig geschafft und in einer kleinen Schüssel in den Kühlschrank gestellt. Und irgendwo hatte er doch Sojasoße stehen sehen. Seto nahm sich Stäbchen aus der Besteckschublade und den Reis aus dem Kühlschrank. Fast schon siegesgewiss zog er so bewaffnet ins Wohnzimmer und sein gestriger Stolz kam auf leisen Sohlen zurück. Jedoch verflüchtigte er sich automatisch wieder, als er den ersten Bissen Reis mit Sojasoße im Mund hatte. Gar nicht zu sprechen davon, dass ihm dieses Frühstück unter normalen Umständen als zu simpel nicht auf den Tisch gekommen wäre, aber das hier schmeckte widerlich. Der Reis war zu trocken und natürlich noch kalt, wodurch die Sojasoße viel zu salzig wirkte. Er kaute, schluckte und rannte dann in die Küche um mit seinem Kaffee auch den letzten Rest hinunter zu spülen. Irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt. Irgendwie leckerer. Kurz analysierte er, wo er einen Fehler gemacht haben könnte, fand aber nichts. Also setzte er sich wieder und fuhr fort mit seinem Frühstück, das nicht gerade dazu beitrug, diesen Tag gut zu eröffnen. Seto war fast fertig mit dem Essen, als ihm doch eine mögliche Fehlerquelle seinerseits einfiel. Seine Haushälterin, aber auch Mokuba, stellte nie fertig gekochte Lebensmittel offen in den Kühlschrank. Gut die Hälfte des Kühlschranks in seiner Villa war belegt mit Frischhaltedosen, die all die Mahlzeiten enthielten, zu denen er nicht kommen konnte, weil er in der Firma noch zu viel zu tun hatte. Deswegen machte sie sich also diese Mühe! Und er hatte es immer für einen Spleen gehalten. Schnell wusch er ab und verstaute alles wieder ordentlich. Da er annahm, dass es draußen kalt war, zog er noch einen Pulli über das Hemd, bevor er im Flur die Schuhe anzog und... Mist! Er hatte sein Handy im Schlafzimmer liegen lassen. Kurz sah er an sich runter. Es konnte wohl nicht so schlimm sein, wenn er ein einziges Mal mit sauberen Schuhen durch das Wohnzimmer lief, um sein Handy vom Ladegerät abzuziehen. Mit extra großen Schritten legte er die kurze Strecke zurück, zog das Ladegerät aus der Steckdose, schnappte sich das gewünschte Gerät und stand wieder im Flur. Gehüllt in seinen warmen Wintermantel schloss er die Tür hinter sich ab und drehte sich um. Vor ihm lag der Beweis für die tatsächliche Heftigkeit des Regens, der ihn zum Kochen gezwungen hatte. Zwar war das Wasser bereits erstaunlich gut versickert und hatte keine einzige Pfütze hinterlassen, doch der Boden selbst wirkte noch sehr aufgeweicht und dazu bereit, sofort matschig zu werden. Deswegen hatte Mokuba also darauf bestanden, dass er die vor Jahren für einen gemeinsamen Urlaub gekauften Wanderstiefel mitnahm. Erstaunlicherweise waren sie tatsächlich eingelaufen, obwohl er auch diesen Urlaub größtenteils vor seinem Laptop verbracht hatte. Möglichst vorsichtig ging er auf Zehenspitzen zu seinem Wagen und öffnete mittels Schlüsselfernbedinung die Heckklappe. Auf dem Rand sitzend knotete er die Schnürsenkel des rechten Schuhs auf, zog ihn aus und legte ihn in den Kofferraum. Dann fischte er nach dem passenden Wanderstiefel und schnürte ihn bis ganz noch oben. Die Prozedur wiederholte er auch links, ließ die Klappe wieder nach unten sausen und machte sich nun endlich auf zu seinem Spaziergang. Er hatte gar nicht gemerkt wie sehr ihm die frische Luft in den letzten Tagen gefehlt hatte. Während er arbeitete schien es ihm deutlich weniger auszumachen, für eine Weile nicht den Himmel zu sehen. Doch jetzt atmete er gierig die frische Waldluft ein, während er den Weg entlang lief, auf dem er Yuki hatte kommen sehen. „Ja?“, meldete er sich mit einem müden Grummeln, als das Telefon direkt neben seinem Ohr läutete. Kurz lauschte er und wiederholte noch einmal sein „Ja“ zu Beginn des Gespräches. Allmählich kam er zu sich und richtete sich auf. Vielleicht würde es ja besser werden, wenn er aufstand und ins Tageslicht blickte. Er streckte sich, stand auf und ging hinüber zum Fenster. Der Himmel war noch leicht bewölkt, aber die Wolkendecke selbst dünn genug, sodass sich bereits einzelne Sonnenstrahlen hindurch stehlen konnten. Ansonsten blickte er nur in den zu dieser Jahreszeit eher kahlen Wald, dessen einziges Grün von einer Reihe immergrüner Pflanzen herrührte. „Wie bitte? Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen. Tut mir Leid, ich war gerade kurz abgelenkt.“ Während die Person am anderen Ende der Leitung ihre Forderung wiederholte, blickte er genauer nach unten, auf das, was seine Aufmerksamkeit von dem Gespräch abgelenkt hatte. Er hätte ihn wirklich nicht dort draußen erwartet, besonders nicht mit adäquatem Schuhwerk. „Natürlich wäre das möglich. Ich bin zwar aktuell nicht in meinem Büro, aber ich werde mir umgehend Ihren Wunsch notieren und es weiterleiten. Schließlich sollen Sie ihren Aufenthalt hier wieder vollkommen genießen können.“ Die Person unten sah zu ihm auf. Für einen kurzen Moment blickten sie sich soweit dies auf die Entfernung möglich war direkt in die Augen. Doch dann wandte sich der Untenstehende ab und folgte dem Pfad, der um das Haus herum nach Norden führte. „Wir sehen uns dann im Mai. Ich wünsche Ihnen bis dahin eine gute Zeit und grüßen Sie ihren Mann.“ Er legte auf und suchte sich etwas zu schreiben. Schnell schrieb er die ihm genannten Sonderwünsche auf, bevor er sich für den Tag fertig machte. Eigentlich hätte Seto so etwas erahnen müssen, schließlich gab es physische Grenzen, welche Entfernung ein Mensch in einer bestimmten Zeit zurücklegen konnte. Doch als das vierstöckige Haus zwischen den Bäumen auftauchte, war er im ersten Moment erstaunt. Genau wie sein Ferienhaus schien es auf das Meer durch eine Schneise im Wald zu blicken. Das erste Stockwerk besaß einen großen Balkon und eine große Glasfront Richtung Meer und... Aber als er den Blick hob, um sich im Näherkommen auch die oberen Stockwerke anzusehen, erblickte er eine Gestalt am Fenster im zweiten Obergeschoss. Für mehrere Augenblicke fiel es ihm schwer den Blick abzuwenden, auch wenn er weiterlief. Sie hatte fasziniert auf etwas unten am Boden geschaut und schien dabei zutiefst in Gedanken versunken. Dazu kam das lange, leicht zerzauste Haar, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Nichts war zu erahnen von der strengen Frisur, mit der er ihn kennengelernt hatte, doch wirkte er so fast noch eleganter. Seto beschleunigte seine Schritte und schaute wieder geradeaus, bevor sich irgendetwas in ihm regen konnte. Fast schon rannte er an dem Haus entlang und nahm den erstbesten Weg, der vor ihm auftauchte, um wieder im Wald zu verschwinden. Erst ein Stück weiter bemerkte er, dass er die Luft angehalten hatte. Vorsichtig drehte er sich um. Von dem Haus war nichts mehr zu sehen. Umso besser. Jetzt konnte er seinen Spaziergang in Ruhe fortsetzen. Während er weiter ging wanderten seine Gedanken automatisch zu seiner Firma. Hoffentlich war dort alles in Ordnung und seine Mitarbeiter lieferten die gleiche Qualität ab, wie wenn er da gewesen wäre. Und hoffentlich benahmen sich die Abteilungsleiter und stellten nicht irgendeinen Blödsinn an in seiner Abwesenheit. Um Mokuba machte er sich weniger Sorgen. Klar, der Kleine feierte gerne, aber er wusste ganz genau, was ihm blühte, wenn er die Villa verwüstete oder sich in irgendeinen Skandal verwickeln ließ. Auch hatten sie das Thema Alkohol ziemlich schnell geklärt gehabt, nachdem Mokuba seinen ersten Kater gehabt hatte. Er würde es wohl so schnell nicht noch einmal übertreiben. Das Gefühl des weichen Waldbodens unter seinen Sohlen war herrlich und hatte etwas Beruhigendes nach all dem Asphalt und Beton, über den er täglich schritt. Ab und zu machte der Pfad eine Biegung, aber es gab keine Abzweigungen, weswegen er einfach immer weiter schritt und sich tiefer in seine Gedanken grob. Zwischendurch sah er auf und genoss den Anblick, den die Natur um ihn herum bot und verlor jegliches Zeitgefühl, während er weiter und weiter lief. Irgendwann würde er wohl an den Rand der Anlage kommen. Hans begrüßte ihn mit einem breiten Grinsen, als er in die Küche kam, um sich einen Kaffee und sein Frühstück abzuholen. Er war bereits so spät dran, dass er vermutlich in seinem Büro würde frühstücken müssen. Selbst beim Zähneputzen hatte er einen Anruf entgegen nehmen müssen! Wieder ein Sommergast, der bereits jetzt seine Sonderwünsche bekanntgab, damit sie sich darauf einstellen konnten und alles tatsächlich gerichtet war, wenn sie kamen. Normalerweise begrüßte er dieses Verhalten, schließlich waren es bis zur nächsten kleinen Ortschaft zehn Kilometer ab der Grundstücksgrenze. „Na, Chef. Doch nicht mehr ganz so trinkfest wir früher?“, neckte ihn sein oberster Koch, im Begriff das Glas mit den Rollmöpsen zu öffnen, das bereits auf der Arbeitsplatte bereit stand. „Ich bin nicht verkatert. Lass um Himmels Willen, das Glas zu!“ Er hatte nie verstehen können, wie man so etwas Hering antun konnte, doch Hans schwor darauf als Katerfrühstück – und lies ihn sich in regelmäßigen Abständen von seiner Familie schicken. „Ach, Chef, Sie wissen eben einfach nicht was gut ist.“ Trotz erneutem Protest wurde das Glas doch geöffnet, aber es wurde nur einer der Happen für den „Eigenbedarf“ aus der Lake herausgefischt. „Trinkfest schon, aber nicht mehr an deutsches Bier gewöhnt. In letzter Zeit gab es für mich eher Wein. Haben wir noch Kaffee?“ Stumm, weil immer noch am Kauen, wurde ihm eine Tasse in die Hand gedrückt, die randvoll mit dem dunklen Getränk war. Vielleicht sollte er besser mehr als dreimal nachdenken, bevor er sich abends mit seinen Angestellten zusammensetzte. Immerhin hatte er eine Vorbildfunktion – mehr oder weniger. Nur Yuki war jünger als er selbst und zufrieden hatte er festgestellt, dass im Gegensatz zu ihrem Chef alle bereits aufgestanden und bei der Arbeit waren, als er Richtung Badezimmer den Flur entlang lief. „Wenn Sie schon den schönen Rollmops verschmähen, wie wäre es dann mit Rührei zum Frühstück?“ Er nickte bloß und zog sich dann mit Teller, Besteck und Tasse in sein Büro zurück. Er stellte alles auf dem Tisch ab und zog dann den Zettel aus der Hosentaschen, auf dem bereits die ersten Notizen des Tages standen. Mit Vorfreude auf die noch warmen Eier setzte er sich und nahm das Besteck in die Hand. Allerdings gönnte man ihm nicht einmal den ersten Bissen, denn prompt klingelte wieder sein Telefon, woraufhin er das Messer fallen lies um wenigstens eine Hand frei zu haben. „Ja, bitte?“, meldete er sich höflich ganz der Hotelmanager. „Ja, ich verstehe. Lassen Sie mich kurz nachschauen...6 Personen sagten Sie?“ Da der Computer noch aus war, schlug er im Reservierungsbuch, das eigentlich nur als Backup diente, nach. „Also, generell sind unsere Häuser nur auf maximal vier Personen ausgelegt. … Das wissen Sie bereits? Umso besser. Also, wir könnten versuchen in Haus Nummer 5 noch zwei Schlafmöglichkeiten zu bekommen. Das wären unter Umständen, aber keine so großen Betten wie es sonst bei uns üblich ist. Einfach aus Platzgründen. Alternativ... Können Sie sich auch auf zwei Häuser aufteilen? 2 und 4 vielleicht? … Nein? 3 und 3. Das wird schwierig. Moment... Also bei Variante 1 hätten wir im Juli noch Platz. Variante 2 ginge erst wieder ab Oktober, da wir dafür zwei große Häuser bräuchten. … Ist ihnen zu spät?... Nein, früher geht leider wirklich nicht. Tut mir Leid. … Ja, Ihnen auch einen schönen Tag.“ So ein unhöflicher Volli... potentieller Gast. Fälle wie diesen gab es zu oft, als dass er sich noch darüber aufregte, doch ihm missfiel es einfach, wie schnell die Leute ausfallend wurden, sobald man ihnen erklärte, man sei für einen bestimmten Zeitraum ausgebucht. Das hier war schließlich kein Billighotel mit tausenden von Zimmern, sondern sein persönlicher Traum von Privatheit und Erholung! Und solche ekeligen Typen, die noch auf den letzten Drücker eine Buchung wollten, um am Valentinstag vor der Gattin zu glänzen, konnte er erst recht nicht ausstehen. Nur weil sie mal irgendwo etwas von seinem Hotel gehört hatten, war er plötzlich gut genug als Notnagel, wenn ihnen nichts einfiel, womit sie ihr schlechtes Gewissen gegenüber Frau und Kindern beruhigen konnten! Er schaltete den Computer an und nutzte die wenige Zeit, die er zum Booten benötigte, um den ersten Bissen Rührei in den Mund zu bekommen. Und schon klingelte es wieder. Eine Stunde später war sein Rührei kalt und lag zu mehr als der Hälfte immer noch auf dem Teller. Wenigstens war der Kaffee bereits leer. Sieben weiteren Anfragen hatte er absagen müssen. Nur eine davon kam von einem Stammgast. Wenigstens hatte dieser Verständnis für die Situation und sich bereits gern für das nächste Jahr eintragen lassen. Die anderen waren dafür umso lauter geworden, als er ihnen versuchte klar zu machen, dass es zwischen Mai und Oktober einfach keine Möglichkeit mehr gab, Gäste aufzunehmen. Es kam zu den üblichen Bestechungsversuchen. Auch die ein oder andere Drohung war wieder dabei gewesen. Verzweifelt blickte er auf die Uhr, als es bereits wieder klingelte. Es war kaum halb elf und er hatte jetzt schon keinen Nerv mehr seiner Arbeit nachzugehen. „Ja, bitte? Nein, wir haben für den Sommer nichts mehr frei.“ „Na, Chef. Ich hoffe, du benutzt diesen Tonfall nicht bei deinen Gästen. Sonst musst du dir echt was einfallen lassen, um sie nicht zu vergraulen“, lachte es durch den Hörer. „Ach, du bist es. Nein, natürlich nicht. Hatte nur heute morgen bereits zu viele Anrufe der Sorte „Ich brauche UNBEDINGT eine Reservierung für den Sommer, um meine Frau/Mann/Verlobten/Schatz/XYZ am Samstag zu beeindrucken“. Und selbst wenn ich diesen Tonfall bei meinen Gästen benutzen würde, würde ich einfach Hans zusammen mit Shin was Leckeres backen lassen und alles wäre vergessen ob der kreierten Zuckerbomben – sogar das Kalorienzählen mancher.“ „Und sonst so? Was macht das Tagesgeschäft?“ „Läuft gut so weit. Es ist eben Februar. Hauptsächlich Pärchen, die eh für sich sein wollen, und der einzige Gast, der alleine angereist ist, hat sich den den letzten Tagen gut selbst unterhalten. Es gab keine Beschwerden – selbst als gestern wegen des Wetters das Catering nicht funktioniert hat.“ „Ihr habt das Wetter voll abbekommen, oder? So direkt an der Küste. Meine bessere Hälfte saß gestern Abend nach der Arbeit auch nur noch schmollend in der Ecke, weil er auf dem Rückweg patschnass geworden ist.“ „Passiert. Wir haben es uns hier drinnen gemütlich gemacht. Tagsüber mit heißer Schokolade und abends mit Bier und gutem Essen. Hans hatte einiges am Wochenende besorgt. Und prompt habe ich heute morgen verschlafen. Kannst du dir das vorstellen? Ich und verschlafen!“ „Du erwartest darauf jetzt aber keine ehrliche Antwort, oder?“ „Nein, ich kann mir deine Antwort auch schon denken. Mist! Es klopft an die Leitung.“ „Dann bis irgendwann. War gut, mal wieder deine Stimme zu hören und bestätigt zu bekommen, dass du noch lebst.“ „Ja, finde ich auch. Die Frage ist nur, wie lang noch, sollte das heute so weiter gehen. Grüße an deine bessere Hälfte.“ Er legte auf, lauschte einmal dem Klingelton und nahm dann wieder ab. Die kurze Plauderei hatte ihn wieder erfrischt und so gelang es ihm erstaunlicherweise die nächsten fünf Gespräche als die Höflichkeit in Person zu führen. Dann hatte er endlich genug Zeit, um sein Ei aufzuessen. In der darauffolgenden Stunde, ergaben sich drei weitere Buchungen für den Winter und die Anrufe mit nervigen Spontananfragen schienen weniger zu werden. So konnte er sich entspannt an den Tisch im Aufenthaltsraum setzten, sobald Shin quer durchs Haus rief, dass das Essen fertig sei. Zwar war seine letzte Mahlzeit weniger lange her wie er als wünschenswert empfand, doch bei geräucherter Makrele konnte er einfach nicht widerstehen und langte kräftig zu. Während die anderen munter quatschten, aß er still vor sich hin. Für den Vormittag hatte er genug geredet. Auch hoffte er auf einen eher ruhigen Nachmittag, damit er für die nächsten Wochen die Besorgungen planen konnte. Es gab eine ganze Reihe an Sonderwünschen, die es zu berücksichtigen galt, und auch die Bestände an Grassamen und Blumenzwiebeln mussten aufgestockt werden. Sobald er fertig war, stand er wieder stumm auf. Schon wieder in Gedanken an seinem Schreibtisch winkte er Yuki, die gerade von der Auslieferung des Mittagessens zurückkam. Irgendwer hatte ihn anscheinend tatsächlich erhört, denn das Telefon blieb den ganzen Nachmittag über ruhig. So konnte er einiges weg arbeiten und planen. Gegen halb vier war er so weit, dass nur noch die Budgetberechnung für das nächste Quartal übrig war. Doch bevor er sich daran machen konnte, brauchte er dringend einen Kaffee, wenn er noch einen klaren Gedanken fassen wollte. Aus der Küche hörte er die Stimmen von Shin und Yuki. Yuki schien ihm anscheinend irgendetwas mit Nachdruck zu erläutern, während er beruhigend auf sie einredete. Prompt machte er auf dem Absatz kehrt, um sich nicht in ihr Gespräch einzumischen. Auch wenn Shin es nie offen zugegeben hätte, so wusste er doch, dass er auf Yuki stand. Da er sich sicher sein konnte, dass Shin auch nie etwas Schräges unternommen hätte, konnte er ihm ruhig die Zeit alleine mit ihr gönnen. Aber dann hörte er, worüber Yuki sich solche Sorgen machte: „Und ich sage dir nochmal: Bei Nummer 4 stimmt irgendetwas nicht!“ „Nur, weil er kein Frühstück und auch kein Mittagessen wollte von uns, muss das noch nicht heißen, dass etwas vorgefallen ist. Vielleicht hat er sich einfach etwas selbst gekocht. Die Anleitung von gestern sollte er noch zusammen kriegen. Oder hat einfach nur lange geschlafen und noch keinen Hunger.“ „Nein, so ist es nicht. Ich... Ich war gerade eben im Haus, um nachzusehen. Er war nicht da!“ „Na und. Dann ist er eben mal an die frische Luft.“ „Aber wenn er den falschen Pfad Richtung Norden erwischt hat, dann verirrt er sich und ist nicht zurück, bevor es dunkel ist! Wir sollten ihn suchen!“ „Nein, sollten wir nicht. Du machst dir wieder viel zu viel Gedanken. Der Typ ist doch angeblich so schlau, der wird sich schon nicht verlaufen und selbst merken, wenn es dunkler wird.“ Er hielt es nicht mehr aus. Beiläufig, als käme er gerade eben erst aus seinem Büro streckte er den Kopf in die Küche und lies verlauten: „Mir brummt etwas der Schädel von den Berechnungen. Ich werde ein bisschen frische Luft schnappen, bevor ich weiter mache. Falls das Telefon klingeln sollte, wisst ihr ja, was zu tun ist. Bis nachher.“ Und schon war er wieder aus der Tür raus, zog sich an der Tür nach draußen seine festen Schuhe an und machte sich auf in Richtung des Weges, den sein ganz besonderer Gast vermutlich am Morgen genommen hatte. Seto konnte es nicht fassen. Irgendwann musste doch wieder das große Haus in Sicht kommen! Bereits vor zwei Stunden hatte er kehrt gemacht, nachdem er immer noch nicht an den Grenzen des Grundstücks angelangt war und schritt deutlich schneller voran als auf dem Hinweg. Aber seinem Ziel schien er dabei irgendwie nicht näher zu kommen. In schätzungsweise einer Stunde würde die Sonne untergehen und bis dahin hoffte er, wieder in dem bebauten Teil zu sein. Denn er hatte den ganzen Tag über keine weiteren Gebäude gesehen. Noch nicht einmal einen kleinen Schuppen. Eine Taschenlampe hatte er nicht dabei und sein Handy-Akku würde auch nicht so lange mitspielen, wenn er es benutzte, um den Weg vor sich soweit auszuleuchten, dass er nicht über einen Ast oder eine Wurzel stolperte. Kurz vor der nächsten Kurve hielt er an um kurz zu verschnaufen. Wenn er so weiter lief würde er Seitenstechen bekommen. Gierig sog er die Luft ein, die Hände auf die Knie gestützt. Oder er würde hyperventilieren und hier, ganz allein im Wald, umkippen. Ein knackender Ast in der Nähe lies ihn hochschauen. Direkt in der Biegung stand der Hotelmanager und blickte ihn entschuldigend an. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Entschuldigen Sie bitte.“ Nach den Stunden, nur umgeben von den Geräuschen des Waldes und seiner stark gedämpften Schritten, klang seine Stimme fremd, aber auch sanft und seltsamerweise trostspendend. „Kein Problem. Ich hatte nur nicht erwartet, hier jemandem zu begegnen.“ Ein Lächeln spielte um die Lippen des Blonden. „Ja, da muss ich Ihnen zustimmen. Normalerweise habe ich hier auf dem Weg absolut meine Ruhe. In welche Richtung sind Sie denn unterwegs?“ Seto war für einen kurzen Augenblick aus dem Konzept gebracht, antwortete dann jedoch wahrheitsgemäß: „Rückweg.“ Als ihm auffiel wie plump diese Antwort wirken musste, wollte er nachsetzen, wurde aber davor bereits unterbrochen. „Das passt. Ich wollte nur noch ein kleines Stück weiter, aber da Sie sich hier noch nicht auskennen, begleite ich Sie lieber zurück. Da wir außer direkt an den Häusern keine Außenbeleuchtung haben, ist es hier, sobald die Sonne untergegangen ist, immer sehr dunkel.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und lief den Weg zurück, den er wohl erst gekommen war. Seto blieb zunächst wie angewurzelt stehen. Er fühlte sich niedergeschlagen, als ob man ihn gescholten hätte, dass kleine Kinder nicht im Wald spielen sollten, da sie sich verlaufen könnten. „Was ist? Kommen Sie jetzt oder bevorzugen Sie eine Nacht im Wald?“, erscholl es von der anderen Seite der Biegung. Langsam setzte er sich in Bewegung. Irgendetwas passte ihm an diesem Typen ganz und gar nicht. Hatte er ihn am morgen fast schon attraktiv gefunden, so wirkte er jetzt als wolle er alles und jeden von sich fern halten. Trotzdem versicherte er sich regelmäßig mit einer leichten Drehung seines Kopfes, ob Seto noch da war. Denn dieser sah in der Regel nur die blonden Haare über einem dünnen Streifen roten Schal, der vorwitzig über den hochgeschlagenen Kragen des grauen Wintermantels hervorlugte. Nach der vierten Biegung blieb der Hotelmanager aber abrupt stehen und drehte sich wartend zu ihm um. „Ab hier nehmen wir den direkten Weg. Passen Sie bitte auf, dass Sie nicht über Wurzeln stolpern.“ Artig und ohne sich dagegen zu sträuben, wie es sonst seine Art gewesen wäre, folgte er dem anderen ins Unterholz. Den Abstand zwischen ihnen hielt er so kurz wie möglich, weil ihm aufgefallen war, wie schnell es doch dunkel wurde. Eine weitere Viertelstunde herrschte Schweigen, in der Seto sehr genau darauf achtete nicht über Wurzeln zu fallen oder an Ästen hängen zu bleiben. Plötzlich zog die Gestalt vor ihm ein kleines Walkie Talkie aus der Manteltasche. Er hatte keine Ahnung, was er damit wollte, schließlich gab es ja immer noch die Störsender. Doch vollkommen unbeirrt davon wurde in das Gerät gesprochen. „Ich hab ihn gefunden. Wir befinden uns auf dem Rückweg und brauchen wahrscheinlich noch 20 Minuten. Wenn beim Mittagessen etwas übrig geblieben ist, soll es dann bitte in Nummer 4 sein, wenn wir ankommen. Ansonsten darf Shin sich was einfallen lassen. Bis gleich.“ Da ihn der andere nicht sehen konnte, schüttelte Seto ausgiebig den Kopf. Wie blöd konnte man … Ein leises Knacken verriet, dass die Gegenseite zur Antwort ansetzte. „Verstanden, Chef. Ich frag kurz in der Küche nach und mach mich dann auf den Weg“, zwitscherte Yukis Stimme durch den sonst stillen Wald. Hätte einem Seto Kaiba die Kinnlade herunterfallen können, hätte sie es in diesem Moment getan. Glücklicherweise konnte einem Seto Kaiba – zumindest nach außen erkennbar – nicht die Kinnlade herunterfallen und so hatte er seine übliche, gelangweilte Miene aufgesetzt, als sich der Chef zu ihm umdrehte und anlächelte. „Ich war so frei, für Sie Abendessen zu organisieren. Bestimmt haben Sie heute tagsüber nichts gegessen.“ Das Lächeln war rein geschäftsmäßig und garantiert verschwunden, sobald er wieder nach vorn blickte, um den Weg zu sehen, den er immer noch entlangging. Die nächsten fünf Minuten kämpfte er gegen seine Mundwinkel an, die einfach nicht wieder nach unten in ihre übliche Position sinken wollten. Viel zu herrlich war der Anblick Seto Kaibas gewesen, der sich fragte, wie es möglich sein konnte, dass er von hier aus – immerhin schienen sie weiterhin von Wildnis umgeben – Yuki Instruktionen hatte geben können. Noch nicht einmal auf seine Vermutung bezüglich des Essverhaltens seines Gastes hatte er eine Antwort bekommen! Wenigstens lief er weiterhin hinter ihm, was ihm das beständige Knacken der Äste verriet. Wie konnte man nur so ein Trampel sein? 10 Minuten später fädelten sie sich wieder auf den eigentlichen Weg ein und umrundeten kurz darauf das Hauptgebäude. Vom Mann hinter ihm war immer noch kein Kommentar zu hören. Also lief er weiter und schlug den Weg Richtung Nummer 4 ein. Nach der langen Strecke, die sie zurückgelegt hatten, kam ihm dieser Abschnitt erstaunlich kurz vor. Doch kannte er dieses Phänomen bereits, weswegen er sich darum nicht weiter Gedanken machte. Was ihn viel mehr verwunderte war, dass obwohl der Weg nun definitiv breit genug war, der andere weiterhin hinter ihm her ging. Er könnte sich umdrehen und ihn auffordern aufzuschließen, doch der andere war alt genug, um dies selbst zu entscheiden. Wenn er also lieber hinter ihm her dackelte, war das dessen Sache, nicht seine. Erst bei der Haustür drehte er sich schwungvoll um und erhaschte einen kurzen Blick auf ein Gesicht, dem anzusehen war, dass es irgendwelche physikalischen Phänomene durchging. Allerdings war da noch etwas anderes gewesen, das er von früher kannte, doch seit Seto Kaibas Ankunft in seinem Hotel nicht zu Gesicht bekommen hatte. Interessant. „Ihr Essen sollte drinnen in der Küche stehen. Aber ich empfehle Ihnen davor eine heiße Dusche, um ihren Körper wieder aufzuwärmen. Zwar haben wir momentan keinen Frost, aber bei so langer Zeit draußen kühlt man doch stärker aus als man zunächst vermutet.“ Stumm ging der andere an ihm vorbei zur Tür und schloss auf. Bevor er hineinging, blickte er noch über die Schulter als würde er ihn auffordern wollen, ebenfalls hineinzugehen. Doch dann nuschelte er nur ein „Danke“ und hatte die Tür schneller von innen geschlossen als ein „Bitte“ über die Lippen des anderen kommen konnte. Einen kurzen Moment betrachtete er das dunkle Holz. Dann zuckte er mit den Schultern und trat den Rückweg an. Das konnte ja noch heiter werden! Immerhin hatte er ihn noch so nah an der Bebauung einfangen können und hatte nicht bis an die äußerste Nordgrenze des Grundstücks laufen müssen. Auf jeden Fall hatte er sich eine heiße Schokolade redlich verdient – auch wenn er abstreiten würde, extra für den Gast aus Nummer 4 wie ein Bekloppter durch den Wald gerannt zu sein. Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen. Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, könnte diese ganze Geschichte noch so interessant werden, dass sie ihm Spaß machte. Kapitel 5: 11.2. Mittwoch ------------------------- Ein vorwitziger Sonnenstrahl kitzelte Seto an der Nase und weckte ihn. Langsam öffnete er die Augen. Er hatte sich am Vortag sofort nach dem Essen ins Bett gelegt. Eigentlich hatte er noch etwas lesen wollen, doch dann siegten die Nachwirkungen der heißen Dusche und die Kuschligkeit des Schlafanzugs, den ihm Mokuba zu Weihnachten geschenkt hatte. Sein kleiner Bruder behauptete zwar das Gegenteil, aber offensichtlich diente dieses Geschenk dazu, dass er mehr schlief. Auch hatte er keine Ahnung wie genau dieses bis dato ungetragene Kleidungsstück seinen Weg in den Koffer gefunden hatte. Doch jetzt war ihm so behaglich zu Mute, dass er sich wieder tiefer in die Bettdecke kuschelte und den Blick nach draußen genoss. Er würde dieses Teil nie anziehen dürfen, wenn er am nächsten Tag arbeiten wollte! Der Himmel war in der Nacht anscheinend aufgerissen und bot nun die perfekte Leinwand zwischen den Bäumen, um über dem Meer den Sonnenaufgang zu zeigen. In für den Winter typischen, kräftigen Orangetönen wurde alles gefärbt, auf das das frühe Licht fiel. Seto lag einfach nur da und betrachtete das Spektakel, das sich ihm bot. Aber plötzlich bemerkte er eine Bewegung im Wasser und er setzte sich auf. Langsam erhob sich eine Gestalt aus den Fluten. Allmählich war erkennbar, dass es sich hierbei um einen Mann handelte. Als das Wasser nur noch hüfttief für ihn war, strich er sich das Haar aus der Stirn, doch Seto konnte auf Grund des Gegenlichts sein Gesicht nicht erkennen. So blieb ihm nur die Betrachtung des Körperbaus des anderen: groß, schmal, dennoch anscheinend trainiert. Auf halber Höhe des Strandes hob er elegant etwas vom Boden auf und verschwand dann zwischen den Bäumen zu seiner Rechten. Ein paar Mal rieb er sich verwirrt über die Augen, schließlich konnte er nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Das Wasser musste doch viel zu kalt sein zum Schwimmen um diese Jahreszeit! Außerdem hatte die Gestalt nicht unbedingt menschlich gewirkt. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass das alles nur Einbildung gewesen war. Genau. Er war verblüffenderweise immer noch müde und hatte einfach ein bisschen halluziniert. Unter normalen Umständen wäre es besorgniserregend für ihn, doch hier hielt er es einfach nur für ein Trugbild des frühen Morgenlichts. Wahrscheinlich war ihm am meisten geholfen, wenn er sich wieder die Decke bis zum Kinn hochzog und weiterschlief. Es war bereits 10 Uhr durch, als Shin Yuki in die Küche rief für das Frühstück von Nummer 4. „Nachdem du gestern so besorgt warst, als er nichts wollte, darfst du heute wieder ausrücken zur Raubtierfütterung“, lächelte Shin sie mit blitzenden Augen an. Sie schnitt ihm eine Grimasse und fragte schlicht: „Was bekommt er denn?“ „Warmen Griespudding mit unserem selbstgekochten Apfelmus.“ Yuki zog nur stumm eine Augenbraue nach oben und schnappte sich dann die Transportkiste. Sie hegte gewisse Zweifel, behielt sie jedoch für sich. Der Anblick des Himmels hob nach den Tagen grauen Winterwetters ihre Stimmung erheblich und so pfiff sie während des Laufens etwas vor sich hin, was Prokofjews „Peter und der Wolf“ hätte sein können. Diesmal erwartete er sie bereits an der Tür. Die kurze Wartezeit hatte er genutzt, um runter an den Strand zu gehen und nach Beweisen für die Erscheinung früher am Morgen zu suchen. Allerdings war er nicht wirklich fündig geworden. Der Sand war so fein, dass sich keine Abdrücke dauerhaft darin hielten. Dafür hatte er nun aber viel davon in den Sohlen hängen. „Guten Morgen!“, grüßte Yuki ihn bester Laune, während ihr Blick auf sein Schuhwerk fiel. „Sie wollen gleich wieder los?“ „Nein, ich hab mir nur kurz die Beine vertreten.“ Irritiert registrierte er, dass sie anscheinend aufatmete. „Allerdings habe ich noch eine Frage an dich. Kann man hier eigentlich schwimmen? Das Meer lädt geradezu dazu ein, wenn man es die ganze Zeit betrachtet.“ Ihre Mundwinkel schnellten nach oben. „Ja, schwimmen kann man hier. Auch wenn ich Ihnen kein Bad direkt im Meer empfehlen würde. Es ist um die Jahreszeit sehr kühl und generell ist die Strömung sehr stark, selbst wenn nicht gerade Ebbe ist. Aber wir haben mehrere beheizbare Becken für die Gäste mit Meerwasser. Aber im Winter sind die meisten davon trocken gelegt.“ Seine Miene verfinsterte sich leicht. „Kein Grund gleich so traurig zu sein. Immerhin haben Sie in Hinblick darauf wirklich Glück. Kommen Sie mal mit.“ Sie winkte ihm, ihr zu folgen, und lief zur dem Meer zugewandten Seite des Hauses. Vor der mit Holz verkleideten Terrasse blieb sie stehen und hielt auch ihn zurück, als er sich auf jene stellen wollte. Ohne genauer hinzusehen betätigte sie einen Knopf an der Hausfassade und erklärte weiter: „Da manche unserer Gäste lieber für sich bleiben, sind unter manchen Terrassen kleinere Becken installiert. Normalerweise wird das bei der Reservierung angegeben.“ Gut 10 Zentimeter vom vorderen Rand entfernt tat sich eine kleine Kluft auf, die sich rasch zum Haus hin vergrößerte. „Es bietet natürlich nicht so viel Platz wie unser eigentliches Becken am Hauptgebäude, doch wenn man nicht auf Strecke schwimmen möchte sollte es ausreichen. Sehen Sie mit dem Knopf hier schließen Sie den Boden wieder. Darum würde ich Sie wirklich bitten, wenn Sie fertig sind, damit die Wassertemperatur erhalten bleibt. Geöffnet habe ich mit diesem. Haben Sie noch Fragen?“ Seto schüttelte den Kopf und starrte verdattert in das Poolbecken, in dem sich leichte Wellen durch die Pumpe bildeten. Mit so etwas hätte er hier nicht gerechnet. Bis auf einen schmalen Rand hatte sich der Terrassenboden vollkommen unter das Haus zurückgezogen und immerhin eine Fläche freigelegt, die dem des Wohnzimmers in nichts nachstand. Auch verblüffte es ihn, dass Yuki ihn so verstanden hatte, als wolle er tatsächlich an diesem Tag schwimmen, vermutlich sogar in Kürze. Wieso eigentlich nicht. Er drehte sich zu ihr um. „Danke, das war alles. Mein Frühstück nehme ich an. Darf ich?“ Prompt hatte er die Kiste, auf die er zuvor gedeutet hatte, in der Hand. „Dann viel Spaß beim Schwimmen!“, rief Yuki noch über ihre Schulter, bevor sie den Rückweg antrat. Er selbst betrat das Haus wieder durch die Vorderseite. Die Kiste wurde in der Küche abgestellt und unschlüssig das Badezimmer betreten. Lust hatte er schon, sich ins Wasser zu stürzen. Aus dem untersten Stapel im Schrank griff er sich ein großes Handtuch und durchquerte das Wohnzimmer in Richtung Terrassentür. Bis auf die Unterhose zog er sich aus und legte alles fein säuberlich auf einen kleinen Haufen, bevor er die Tür öffnete. Die Februarluft war trotz des Sonnenscheins weiterhin kühl, was er auf der nun nackten Haut deutlich spüren konnte. Umso flinker war die Tür bis auf einen Spalt zugezogen und landete das Handtuch am Beckenrand. Erstaunt stellte er fest, nachdem er sich einfach am Stück ins Wasser hatte gleiten lassen, dass es genau die richtige Temperatur hatte. Warm genug, um nicht zu frieren, aber kühl genug, um einen längeren Aufenthalt möglich zu machen. Vielleicht würde er tatsächlich hier den Vormittag verbringen. „Du hast lang gebraucht, Yuki.“ Verwundert blickte Hans von der Küchenuhr zu ihr. „Ich hab ihm noch den Pool gezeigt“, antwortete sie ihm kurz, bevor sie sich vor Shin aufbaute. „Wie kommst du dazu, ihm unser Apfelmus anzudrehen!“ Vorher war ihr nicht eingefallen, was sie an der Frühstückszusammenstellung gestört hatte, doch auf dem Rückweg war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. „Was hast du denn?“ Er schien sich keiner Schuld bewusst. „Du weißt doch ganz genau, was für Nebenwirkungen es haben kann!“, konkretisierte sie, während er immer noch keine Miene verzog. „Achso, das. Ich gehe nicht davon aus, das er einen so hyperempfindlichen Magen hat wie ...“ „Du hast mit dem Mus bereits mehr als einmal fast eine Vollblockade sämtlicher Badezimmer erreicht! Die einzigen die sich noch rühren konnten, waren du, ich und der Chef! Selbst Hans hat es umgehauen!“ „Dann sei doch froh, dass dein Magen so gesund ist und alles verträgt“, entgegnete Hans mit einem Lächeln, in der Hoffnung ihr so halbwegs den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Was ist mit gesunden Mägen? Ich hab nur meinen Namen gehört“, mischte sich nun der Dritte im Bunde der Magenunempfindlichen ein. „Nicht so wichtig Chef“, antwortete Shin, „Yuki regt sich nur gerade darüber auf, dass ich für Nummer 4 Apfelmus zum Griespudding mitgeschickt habe. Dabei habe ich das nur gemacht, damit er sich nicht zu weit vom Haus entfernt, falls er auf die Idee kommen sollte, dass gute Wetter für weitere Wanderungen nutzen zu wollen, und sie sich keine Sorgen machen muss.“ Für einen kurzen Moment entgleisten dem Chef und Yuki die Gesichtszüge, während Hans stur weiter die Vorbereitungen für das Mittagessen traf. Doch dann brach das Lachen mit einem einleitenden Prusten aus beiden heraus. Fünf Minuten später keuchten sie vor Seitenstechen und versuchten wieder richtig Luft zu bekommen. Allmählich gelang es dem Chef wieder zusammenhängende Sätze heraus zu bringen. „Shin“, begann er mit dem strengsten ihm momentan zur Verfügung stehenden Tonfall, „dir ist hoffentlich bewusst, dass es keine Lösung ist, die Suche nach unseren Gästen zu vereinfachen, indem du sie für den Rest des Tages notgedrungen ans Badezimmer fesselst?“ Ein reuiges Nicken. „Aber allein für die Idee würde dir...“ „WER ZUM TEUFEL HAT HIER SEINEN SCH*** NEOPREN-ANZUG SO UNORTHODOX AUFGEHÄNGT“, kam ein Schrei aus dem Keller des Hauses, gefolgt von wütendem Stapfen auf der Treppe. 2 Sekunden später flog die entsprechende Küchentür auf und gab den Blick frei auf das puterrote Gesicht von Cian. Demonstrativ blickte der Chef in eine andere Richtung, während er in den Fokus des Rothaarigen geriet. „WIE OFT“, da fiel ihm auf, dass er aus Rücksichtnahme auf seine Kollegen seine Lautstärke etwas herunterschrauben sollte, „muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie nicht so Ihren Anzug unten aufhängen können! Natürlich bin ich froh, dass er nicht mehr oben im Wohnbereich den Boden nass tropft. Aber muss es denn immer in der Nähe der frischen Handtücher und gesteiften Servietten sein?“ Kurzentschlossen entschied sich Hans für Konfliktminderung und schritt mit der Frage „Magst du einen Whiskey?“ ein, bevor sich der Chef zu Wort melden konnte. Cian wandte sich zu ihm um und erwiderte mit: „Hast du denn einen leichten Schotten hier oben?“ Hans bestätigte mit einem Grinsen, nahm aus einem der Schränke ein kleines schmales, hohes Glas und eine Flasche mit goldener Flüssigkeit und schenkte etwa zwei Finger breit ein. „Achtjährig. Wenig Phenol“, informierte er Cian, wobei er ihm das Glas übergab. Vorsichtig setzte dieser das Glas an die Lippen und nahm andächtig einen ersten Schluck. „Ein wirklich guter Tropfen. Womit wir wieder beim Thema wären. Chef, was haben Sie diesmal zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ „Es war früh am Morgen und ich wollte kein Licht anmachen?“, versuchte er es vorsichtig. Cian lies sich die Antwort bei einem weiteren Schluck durch den Kopf gehen. Mittlerweile war seine Gesichtsfarbe wieder normal. „Chef, ich hätte Sie nie mit den Gebräuchen von Cork für die Zeit zwischen den Jahren bekannt machen dürfen!“ Noch ein kleiner Schluck. „Auch wenn Sie es eindeutig übertreiben. Wie lange waren Sie heute im Wasser?“ Innerlich atmete er auf. Cian wirkte manchmal wie ein aggressiver Braunbär – und das nicht nur dem Auftreten nach – doch dann war er wieder ruhig und friedlich wie das Wetter auf den meisten Postkarten aus seiner Heimat, die schon so manchen unbedarften Touristen getäuscht hatten. „Eine Stunde. Heute aber nicht auf Strecke, bin mehr getaucht und kurz nach Sonnenaufgang zurück gewesen. Leider ist mir da nicht aufgefallen, dass der Anzug zu nah an den fertigen Servietten hing.“ Eigentlich brauchte Cian keinen Alkohol um wieder runter zu kommen, doch anscheinend war noch etwas anderes vorgefallen. „Sonst alles in Ordnung? Oder gab es Stress mit einem der Gäste?“, erkundigte er sich vorsichtig. „Wie man's nimmt, Chef“, brach die für Cork typische Sprachmelodie langsam durch. „Heut in der früh sind doch die Gäste aus Nummer 5 abgereist. Normalerweise bin ich da alleine in zwei-drei Stunden durch und dann glänzt die Bude wieder. Aber diesmal sah es dort aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen! Ich hab mir erstmal alles an Schmutzwäsche geschnappt was ich finden konnte und hier her gebracht. Mir graut es jetzt schon davor, wieder dahin zu müssen. Hab auf dem Weg hierher schon einen halben Rosenkranz zur Beruhigung gebetet!“ Da war ein falsch aufgehängter Neopren-Anzug natürlich ein rotes Tuch gewesen. „Okay, dann geh ich jetzt und sehe mir das Durcheinander mal an. Du kommst bitte nach, sobald die Maschinen laufen.“ Gut abgetrocknet hatte er sich wieder angezogen. Auf die anschließende Dusche hatte er verzichtet. Zu sehr mochte er den Geruch von Meersalz. Zwei ganze Stunden hatte er im Wasser verbracht. Die Zeit vergessend war er geschwommen, getaucht und hatte sich sogar dazu hinreißen lassen ein wenig zu planschen. Doch jetzt stand er hungrig in der Küche und betrachtete den Inhalt der Kiste, die ihm Yuki gegeben hatte. Der Griespudding war bestimmt nicht mehr warm, dafür war er zu lange im Wasser geblieben. Beides wäre vermutlich zu viel, wenn er um eine ähnliche Zeit sein Mittagessen bekam wie an den Tagen zuvor. Das Apfelmus konnte man bestimmt auch noch gut als Nachtisch oder zwischendurch essen. Daher stellte er es in den Kühlschrank und verschwand mit der Puddingschüssel ins Wohnzimmer. Zu seiner Verblüffung war noch eine gewisse Grundwärme vorhanden und so konnte er sich damit auch von innen noch ein bisschen wärmen. Anschließend spülte er ab und blätterte durch den Ausstellungskatalog des New Yorker Guggenheim Museums. Vielleicht würde er es bei seiner nächsten Geschäftsreise in die Staaten endlich schaffen, ihm einen Besuch abzustatten. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, zückte er sein Walkie Talkie. „Yuki, kannst du bitte kommen, wenn du mit dem Mittagessen fertig bist? Das Gröbste haben wir zwar bereits beseitigt, aber es geht doch schneller, wenn noch ein Paar Hände mehr anpackt. Danke.“ Ihre Antwort wartete er gar nicht mehr ab, sondern versuchte weiterhin die dunklen Flecken aus dem hellen Teppich zu bekommen. Der würde wohl auch direkt in die Reinigung müssen. Nach Cians Laune hatte er so einiges erwartet, doch das, was er tatsächlich vorgefunden hatte, hatte sämtliche Erwartungen übertroffen. Wie konnte man nur...! Benahmen die sich in ihren eigenen vier Wänden etwa genauso? Eigentlich hatte er bereits anfangen wollen, doch als Cian zu ihm stieß hatte er sich vor Schock immer noch nicht rühren können. Die Möbel waren verrückt und vollkommen neu arrangiert, der Boden und die Teppiche verdreckt. Der Inhalt der Schränke lag quer verteilt im ganzen Haus und war jetzt – zweieinhalb Stunden später – immer noch nicht an all seinen angestammten Plätzen. Doch was ihn am meisten erbost hatte, war die Tatsache, dass die Bilder abgehängt in einer Ecke achtlos abgestellt worden waren und seine Bücher eselsohrig offen herum lagen. Das würde definitiv noch ein Nachspiel haben! Zwar schien noch alles da zu sein, doch diese Familie kam ihm garantiert nicht noch einmal auf das Gelände! Die ersten zwei Stunden hatte sie damit verbracht, alles wieder zu verstauen. Mehrere Kerzenständer waren angeschlagen. Eine Schreibtischschublade scheinbar mit Tinte geflutet worden. Nur Cians Anwesenheit hielt ihn davon ab auszurasten. Am liebsten hätte er auch einen Whiskey gehabt oder irgendwas zum Schmeißen, etwas zum drauf einschlagen. Irgendwas. Dabei hatte war er doch auf dem Hinweg so guter Laune gewesen! Natürlich hatte er sich bereits Gedanken gemacht, doch dann hatte er es durch die Bäume hindurch platschen hören und hatte einen kleinen Umweg zu Nummer 4 zurück gemacht. Für einen kurzen Moment hatte er sich den Anblick eines total selbstvergessenen Seto Kaibas erlaubt, der allein in dem Becken unter der Terrasse vor sich hin planschte. Doch dann war ihm eingefallen, dass er auch bei keinem anderen Gast schauen würde – schließlich war das mit einer der wichtigsten Bestandteile seines Konzepts. Und dann kam er zu Nummer 5 und musste sehen, dass sein Konzept mit Füßen getreten wurde! „Chef, lassen Sie es. Das wird so nichts mehr. Der muss professionell gereinigt werden“, wurde er aus seinen düsteren Gedanken gerissen. „Machen Sie lieber in der Küche weiter. Mit dem Bad bin ich durch. Ich kümmer mich jetzt hierum und mach dann mit den Schlafzimmern weiter.“ Mit einem bloßen Nicken bestätigte er und ging in die Küche. Dort warteten Berge schmutzigen Geschirrs auf ihn. Offensichtlich war es immer nur benutzt worden und statt das Schmutzige zu waschen, wurde lieber Neues aus den Schränken genommen. Zum Glück hatte er sich darüber bereits gründlich aufgeregt. Denn wenn selbst Kaiba laut Yuki es schaffte abzuwaschen, sollte dies doch auch allen anderen möglich sein, oder? Seufzend ließ er das Wasser ins Spülbecken laufen und breitete auf einem Teil der Arbeitsplatte Geschirrhandtücher aus. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen alles auf dem Abtropfgestell platzieren zu wollen. Sein einziger Lichtblick war Yuki, die bald zu ihnen stoßen müsste. Vielleicht konnte sie parallel schon abtrocknen und wegräumen, während seine Hände langsam runzlig wurden. Sein Nachmittag war ruhig gewesen. Keine Stunde nach Beginn seiner Lektüre war Yuki erneut erschienen, hatte das Mittagessen gebracht und dabei etwas gemurmelt von einem dringenden Notfall in einem der anderen Häuser, wegen dem sie bereits jetzt das Essen verteilte. Also hatte er, weil er der Portion Spaghetti mit frischer Tomatensoße nicht hatte widerstehen können, seinen aufbegehrenden Magen ignoriert und die Mahlzeit noch warm sofort vertilgt. Anschließend hatte er sich den Katalog fertig angesehen und hatte zu etwas über die Berliner Museumsinsel gewechselt. Kopfschüttelnd hatte er sich erneut gewundert, was alle an dieser Nofretete so schön fanden. Ihr fehlte sogar ein Auge, aber alle Welt bewunderte sie für ihre Schönheit. Kunst war eben doch Geschmackssache. Bis er das nächste mal Hunger bekam, war es draußen bereits dunkel und er hatte zu einem schmalen Liebesroman gewechselt, bei dem er jedes Mal, wenn er die Seite umblätterte, den Autor am liebsten verklagt hätte. So viel Blauäugigkeit hielt doch kein normaler Mensch im Kopf aus! Wenigstens war es schnell vorbei und er sah sich wieder einmal bestätigt, weshalb es doch ganz gut war, nicht auf Frauen zu stehen. So wirklich würde er wohl nie aus ihnen schlau werden und diese ganzen Spielchen waren ihm eh zu wider. Bereits auf den letzten zehn Seiten hatte er sich intensiv Gedanken über sein Abendessen gemacht und empfand nun das Apfelmus als passend. Damit war er sich wenigstens sicher, dass es auch kalt schmeckte. Also stand er auf, lief zügig auf den Kühlschrank zu, entnahm ihm das auserwählte Gefäß, ließ die Tür schwungvoll wieder zu klappen und suchte sich einen Löffel. Im Wohnzimmer ließ er die angefangene Playlist weiterlaufen und setzte sich so, dass er hinaus in die Dunkelheit blicken konnte, während er Löffel um Löffel das Mus vernichtete. Anschließend wusch er ab, packte zumindest die Schüssel in die kleinere Transportkiste, die Yuki mittags noch nicht mitgenommen hatte, und stellte sie zu der anderen in den Flur. Eine Weile noch genoss er die Musik und legte sich dann schlafen. Eine Stunde später schlug er ruckartig die Augen auf. Was war das für ein Geräusch gewesen? Irgendwie hinterließ es ein seltsames Gefühl in seinem Bauch. Er lauschte nun genauer. Waren das etwa Einbrecher? Zwar klang es nicht danach, doch vorsichtshalber schaltete er doch die Nachttischlampe an. Die Anlage hatte er definitiv ausgeschaltet. Da ertönte erneut das Geräusch und er sah verwirrt an sich herab. Es stammte direkt aus seinem Bauch! Sollte er tatsächlich etwas nicht vertragen haben? Wenn ja, würde diese Nacht nicht sehr lustig für ihn werden, geschweige denn erholsam. Kapitel 6: 12.2. Donnerstag --------------------------- Beim ersten Blick in den Spiegel wusste er schlagartig, wieso es manchmal auch hieß „es graute dem Morgen“. Er sah fürchterlich aus! Instinktiv fragte er sich, ob er auch diesen Anblick bot, wenn er die Nacht wieder durchgearbeitet hatte. Dabei hatte er doch mindestens fünf Stunden Schlaf gehabt. Allerdings nicht durchgehend. Die ganze Nacht durch hatte sein Magen gesponnen, mal rumort, mal von ihm gefordert, dass er sofort ins Badezimmer rannte, dann lag er wieder im Bett und hatte das Gefühl sich vor Schmerz nicht rühren zu können. Er stellte sich immer noch die Frage weswegen er so reagierte. Es war ein Grummeln aus seinem Bauch zu hören. Doch diesmal klang es irgendwie anders als das Geräusch, an das er sich in den Stunden der Nacht beinahe schon gewöhnt hatte. Es konnte doch nicht etwa sein, dass sein Magen trotz allem nach Nahrung verlangte, oder? Er zog sich um und stellte sich vor die Kontrolleinheit, um sein Frühstück zu ordern. „Guten Morgen“, erklang Shins Stimme gut gelaunt. „Morgen. Hast du irgendeine Empfehlung für jemanden, dessen Magen die ganze Nacht durch verrückt gespielt hat, der aber trotzdem Hunger hat?“ Als Shin nun wieder sprach, klang es fast so als läge ein Hauch von Schuldbewusstsein in seiner Stimme: „Unser Chef hat da ein Geheimrezept. Ich schicke Ihnen Yuki mit allem Notwendigen vorbei. … Was haben Sie denn zuletzt gegessen?“ „Das Apfelmus. Wieso?“ „Ach, nur so. Yuki ist spätestens in 10 Minuten bei Ihnen. Heute Mittag gibt es eigentlich Chili con Carne, aber ich werde für Sie etwas anderes machen, das den Magen etwas mehr schont.“ „Okay.“ Seto war verwirrt. Weswegen war Chili con Carne nicht schonend genug für seinen Magen? „Ich warte dann auf Yuki.“ Damit war das Gespräch beendet und er setzte sich auf das Sofa, auf dem er sich am liebsten zusammengerollt hätte. Vorsichtig betrat Yuki das Wohnzimmer. Die Haustür war geschlossen gewesen und trotz Shins Versicherung, es sei alles in Ordnung, war sie sich ob der Laune des Gastes in Nummer 4 nicht so sicher. Doch da lag er friedlich schlummernd auf dem Sofa. Ein wenig erschrak sie bei dem Anblick, den er bot. Offensichtlich hatte er wirklich nicht gut geschlafen. Nur auf Socken schlich sie in die Küche und packte die Kiste aus, die alles enthielt, was der Chef für Magen-Darm-Probleme aller Art anwendete. Zwieback, eine Thermoskanne mit klarer Hühnerbrühe, eine Wärmflasche und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Sie füllte den Wasserkocher und hoffte, dass er vom Geräusch des kochenden Wassers nicht aufwachte. Anschließend goss sie einen Teil in die Wärmflasche und nutze den Rest für eine Kanne Tee. Während er zog, suchte sie im Wohnzimmer eine warme Decke, drückte dem Gast die Wärmflasche zwischen die Arme und deckte ihn zu. Bevor sie ging, entsorgte sie noch die Teebeutel und legte die Anleitung für die weiteren Schritte gut sichtbar daneben. Seto blinzelte. Wieso war ihm plötzlich so warm? Eine Decke? Er hatte sich doch nur kurz hingesetzt und dann … „Yuki?“ Er sah eine Gestalt an der Tür zum Flur, die sich nun prompt umdrehte. „Ja. Es tut mir Leid, falls ich Sie aufgeweckt haben sollte.“ „Nein. Nicht wirklich.“ Er sah an sich herab. Er war tatsächlich zugedeckt. „Hast du...?“ Irgendwie wusste er nicht wie er den Satz fortführen sollte. „Ja, habe ich. Das erprobte Geheimrezept unseres Chefs. In der Küche steht Tee, zusammen mit warmer Hühnerbrühe und Zwieback.“ Sie lief kurz hin und brachte ihm alles. „Erprobtes Geheimrezept?“ „Naja, Shin hat den Rest von uns einmal sehr erfolgreich ausgeknockt, als er ein neues Rezept ausprobiert hat, und der Chef und ich durften sie dann wieder aufpäppeln.“ „Wie viele sind denn der „Rest“ von euch?“ „Drei Leute.“ „Wirklich nur so wenige? Bin ich etwa der einzige Gast?“ „Nein, wir haben noch andere Gäste – auch momentan. Insgesamt sind es nur sechs Häuser. Das garantiert, dass unser Konzept einhaltbar bleibt. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Sonst würde ich jetzt wieder zurück. Mittags komm ich dann mit dem Essen.“ „Ähm, ja. Kannst du mir bitte was zum Lesen geben?“ „Wünsche?“ Yuki fand es keine gute Idee. Viel lieber hätte sie es gesehen, dass er sich bereit erklärte, brav die Brühe zu trinken und danach den Vormittag verschlief. Er sah wirklich nicht gut aus. Dennoch näherte sie sich dem Bücherregal. „Die Schachnovelle.“ Sie hatte das Buch sofort gefunden und einen Augenblick später in der Hand. Doch als sie auf ihn zuging zögerte sie einen Moment. Zwar hatte er für die Buchung einen anderen Namen verwendet, doch war sie sich sicher, dass sein wahrer Name „Kaiba“ war, auch wenn der Chef sich diesbezüglich nicht geäußert hatte. War es wirklich so ratsam ihm ausgerechnet dieses Buch zu geben? Aber dann sah sie wie er eine Hand aus der Decke befreite und ihr entgegen hielt. Schnell drückte sie es ihm in diese und verließ mit den Worten „bis später“ zügig den Raum. Die Wohnzimmertür schloss sie hinter sich. Gründlich band sie sich ihre Schuhe, während sie darauf lauschte, ob nicht irgendwelche verräterischen Laute aus dem Nebenraum drangen. Als es ruhig blieb, öffnete sie die Tür nach draußen und schlug den Weg zurück ein. Insgeheim freute sie sich bereits auf das Hühnchen, dass sie mit Shin noch zu rupfen hatte. Seto überflog mehr als dass er wirklich las. Manche Passagen kannte er bereits vollkommen auswendig, so oft hatte er das kleine Büchlein mittlerweile gelesen. Und eigentlich hatte er sich vorgenommen es während seines Urlaubs nicht zu lesen, sobald er es an seinem ersten Tag entdeckt hatte. Er war zwar immer noch Schachweltmeister, doch mit diesem hatte er sich nie identifizieren können. Sein Geist war niemals so träge gewesen. Stattdessen diente ihm Dr. B. fortwährend als Spiegel. Die Art wie er spielte kam der seinen so nahe, dass er die an Bord des Schiffes gespielten Partie nie aus der Sicht des Erzählers vor sich sah, sondern immer direkt aus seiner Sicht. Doch von Zeit zu Zeit änderte sich der Gegner und er musste sich selbst fragen, ob er irgendwann verrückt gemacht worden wäre, hätte er sich nicht vor so vielen Jahren zum Handeln entschieden. Und schließlich hatte es seine Gründe, weswegen er sich kaum noch an ein Schachbrett setzte. War er Dr. B. vielleicht nicht nur im Spiel ähnlich? Hatte die „Schachkrankheit“ auch auf ihn übergegriffen, ohne dass er es bemerkt hatte? Als Geschäftsmann, als Weiß, plante er immer weit voraus, um seinen Konkurrenten immer einen Schritt voraus zu sein. Aber privat, als Schwarz, wollte er dies auch tun und scheiterte ein ums andere Mal daran. Hämisch machte sich dann Weiß in seinem Kopf breit und er stürzte sich in seine Arbeit, um die eigenen Schwächen zu vergessen. Eher behutsam schlich sich dann Schwarz zurück und wurde zum nagenden Zweifel, ob er nicht auch außerhalb seiner Firma existieren sollte. Seine Hände fingen leicht an zu zittern. Wütend schmiss er das Buch auf den Wohnzimmertisch, bevor das unkontrollierte Rascheln des Papiers seinen Gemütszustand nach außen hin verraten konnte. Er war eh durch. Tief atmete er ein und aus, bis er seinem Körper wieder soweit traute, dass er sich problemlos eine weitere Tasse Hühnerbrühe einschenken konnte. Das sollte er sich dringend für lange Arbeitstage merken. Die Brühe schmeckte hervorragend, würzig, aber nicht versalzen. Während er in kleinen Schlücken trank, dachte er über Yukis Worte nach. Er hätte fragen sollen, was Shin damals gekocht hatte, um zu vermeiden es hier nichts ahnend zu essen. Wahrscheinlich hatte der Hotelmanager ihn erst einmal runter gemacht und ihn dann dazu verdonnert die Brühe zu kochen. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen bei diesem Gedanken. Doch schlich sich etwas Schmerzliches mit hinein, als er sich vorstellte, wie er sich danach fürsorglich um die anderen, ihm unbekannten Mitarbeiter kümmerte. Entschieden schüttelte er den Kopf. So würde er sich bestimmt nicht verhalten haben. Immerhin hatte das Hotel am Laufen gehalten werden müssen, da blieb wohl kaum Zeit sich gleichzeitig um drei Leute mit verstimmten Magen zu kümmern. Yuki war wirklich nett zu ihm gewesen. Nach dem Knabbern eines Zwiebacks kuschelte er sich wieder in die Decke ein. Zwischendurch hätte er beinahe gedacht, Sorge in ihrem Gesicht zu erkennen. Auf jeden Fall fühlte er sich körperlich bereits etwas besser als noch vor zwei Stunden. Also schien das Geheimrezept zu wirken. Er legte die Beine so hoch, dass er hinaus aufs Meer sehen konnte, das wieder bleigrau den Himmel reflektierte. Welle nach Welle sah er auf den Strand zu rollen und sich dann kurz vor dem Flutsaum brechen. Shin fiel fast der Pürierstab aus der Hand, als ihm jemand ins Ohr flüsterte: „Was ist aus dem Chili geworden?“ Er hatte den Chef nicht hereinkommen hören durch den Lärm, der durch das Pürieren der Suppe entstanden war. Leicht Vorwurfsvoll blickte er über die Schulter und erklärte: „Das gibt es gleich als Mittagessen. Aber vorher muss ich mich noch kurz um die Kartoffelsuppe kümmern, bevor Yuki kommt und sie zu Nummer 4 bringt.“ Erstaunt wurde der Blick erwidert. „Gab es eine Sonderbestellung?“ „Nicht direkt. Aber Yuki hat mir versprochen, einen ganzen Monat nicht mehr mit mir zu sprechen, wenn ich nicht für Nummer 4 was Magenschonendes zubereite. Anscheinend hat der ziemlich übel auf das Apfelmus angesprochen.“ „Und deswegen die Suppe?“ „Ja. Außerdem bereits Ihr Geheimrezept.“ „Minimum einen Zentiliter Rum pro Tasse für einen guten Pharisäer an Tagen mit ekeligem Wetter? Ich hege doch gewisse Zweifel, ob Alkohol eine gute Wahl in solch einer Situation ist.“ „Das andere, Chef. Zwieback und Hühnerbrühe, kombiniert mit Tee und Wärmflasche. Achtung! Ich fülle die Suppe um.“ Shin konnte gar nicht so schnell schauen, wie sich in die aus dem Topf laufende Suppe ein Löffel stahl. „Ich hoffe, er weiß, was er da bekommt. Wie immer sehr lecker. Machst du das bitte auch für Sonntag?“ „Natürlich, Chef. Vor oder nach dem Schokoladensoufflee?“ „Davor. Du willst ernsthaft ein schokoladiges Dessert am Sonntag machen? Gehst du davon aus, dass am Samstag nicht sämtliche Gelüste nach Schokolade für die nächsten drei Monate gedeckt sein werden?“ „Doch, vermutlich sogar für vier. Auf der anderen Seite geht Schokolade eigentlich immer und Sonntag habe ich endlich mal wieder genug Ruhe, um hier zu backen. Das ergänzt sich so gut zu den Dampfnudeln für die Suppe.“ „Na dann.“ Kopfschüttelnd verließ der Chef die Küche, um den Rest seiner Mitarbeiter zu suchen und für das Mittagessen zusammen zu trommeln. Sein Geheimrezept also. Hoffentlich half es und sein spezieller Gast kam nicht auf die Idee, sie auf Grund dieses Vorfalls zu verklagen. Denn am Vortag hatte alles noch deutlich erheiternder geklungen. Doch wenn Yuki so vehement auf etwas bestand, hatte man tatsächlich Grund zur Sorge. Kurz überlegte er, ob er persönlich nach dem Patienten sehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Wo käme er dann da hin, wenn er jetzt einfach zur Tür in Nummer 4 hereinspaziert kam und fragte, wie es ihm ging! Schließlich gab es nur zwei mögliche Reaktionen. Entweder er wurde schroff des Hauses verwiesen, was er in diesem Fall sogar hinnehmen und befolgen würde, oder er würde mit einem Häuflein Elend konfrontiert werden, für das er sich schuldig fühlen würde, weil er selbst, als ihm Shins Plan bekannt war, nichts getan hatte, um diesen Zustand zu verhindern. Als es klingelte, war er mehr als froh, dass sich Matt darum kümmern würde, weil er sich aktuell nicht in der Lage fühlte sich selbst darum zu kümmern. Seine Stirn ruhte auf dem Schreibtisch und er zwang sich ruhig und kontrolliert zu atmen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er sich zutraute, weiterzuarbeiten. Das zuvor geführte Telefonat war wichtig gewesen, doch war es für ihn furchtbar, wenn es um diesen Inhalt ging. Das Pärchen, das Nummer 5 verwüstet hatte, hatte dies zwar auch zugegeben, doch sah es keinerlei Fehlverhalten auf ihrer Seite. Sie hätten genug Geld bezahlt, da wäre es auch erwartbar, dass sie nicht den Job der Putzfrau übernähmen. Als er sie dann darauf hinwies, dass Cian erstens keine Putzfrau sei, und zweitens auch er selbst geputzt hätte, waren sie noch frecher geworden und hatten ihn ausgelacht, weil er sich niemand weiteren würde leisten können. Auf die Art und Weise war es noch eine ganze Weile weiter gegangen, bis er ihnen schließlich deutlich machen konnte, dass er keine weiteren Reservierungen von ihnen akzeptieren würde. In Mitten der nachfolgenden Schimpftirade, was ihm denn einfalle, man wäre ja nicht auf ihn angewiesen, eher umgekehrt, hatte er aufgelegt. Und nun saß er immer noch auf seinem Schreibtischstuhl und lauschte wie sein Blut in seinen Ohren pulsierte. Er brauchte dringend etwas, um sich zu beruhigen und die Anspannung los zu werden. Sein Blick wanderte zum Walkie Talkie. Ja, das könnte helfen. „Eine Durchsage an alle: Heute Abend wird trainiert!“ Er erwartete keine Antwort. Dann stand er endlich auf. Vielleicht sollte er Matt doch etwas helfen. Er zog sich einen warmen Pullover über sein Hemd und verließ das Haus. 50 Meter näher an der Grundstücksgrenze fand er tatsächlich seinen Gärtner und Cians regelmäßige Unterstützung. Der Gartenbetrieb, bei dem sie alle Bestellungen tätigten, war mit einem kleinen Laster mit offener Ladefläche angerückt, um die ersten Pflanzensamen für den Frühling vorbeizubringen. So wie es aussah, hatten sie gerade erst mit dem Ausladen begonnen. Kurz nahm er Matt zur Seite, der gerade wieder aus dem geräumigen Schuppen trat und fragte: „Kann ich helfen? Die Ladung scheint ja okay zu sein.“ Matt nickte, verzog aber skeptisch das Gesicht. Hätten die anderen schon längst gefragt, was mit ihm vorgefallen war, so war er seit jeher eher wenig gesprächig und hakte nicht nach, solange der andere keine Anstalten machte, von sich aus eine Erklärung zu liefern. „Dann packen Sie mal mit an! Es liegt noch ein Paar Handschuhe links neben der Tür. Und passen Sie auf Ihre Klamotten auf!“, antwortete er schlicht und fuhr mit seiner Arbeit fort. Schnell schlüpfte er in die Handschuhe, die er brauchte, um besser die Säcke mit Grassamen zu greifen, die trotz ihrer Größe doch schwer waren. Zufrieden sah er, dass endlich auch die Eimer mit der speziellen Blumenerde dabei waren, die Matt für die Rhododendren als Dünger hatte haben wollen. So erklärte sich aber auch, weswegen er mit seiner Kleidung aufpassen sollte. Mit dem Zeug konnte man sich wunderbare Flecken einhandeln. Als sie zu dritt den Laster vollständig abgeladen hatten und alles im Schuppen an seinem Platz war, stieg der Gärtnereimitarbeiter wieder ein und fuhr mit brummenden Motor zurück zum Tor. Es würde sich automatisch öffnen und schließen, sobald er das Grundstück verlassen hatte. Matt schloss gründlich die Tür des Schuppens zu, damit sich keine Wildtiere hinein verirren konnten. Es war noch zu früh im Jahr als dass er groß etwas auf der Anlage hätte machen können. Gemeinsam gingen sie das kurze Stück zum Hauptgebäude zurück. „Wir trainieren heute Abend?“ Er nickte. „Ja, wir trainieren. Ich habe mich vorhin über ein paar Gäste zu sehr aufgeregt und außerdem wird es sowieso mal wieder Zeit, dass wir etwas machen.“ Er bekam keine Antwort mehr darauf, sondern nur noch ein Nicken. Dann konnte er sehen wie Matt im Haus die Treppe nach oben nahm, anstatt im Keller nach Cian zu schauen. Wahrscheinlich würde er alles für den Abend vorbereiten. Schnaufend ließ sich Hans nach 100 Liegestützen auf den Teppich fallen, während Matthew neben ihm mit stoischer Gelassenheit zu den nächsten 50 ansetzte. Auch Yuki schien noch nicht aus der Puste. Am liebsten wäre er einfach so liegen geblieben, doch dann fing er den Blick des Chefs auf, der bereits mit Shin über die Ausführung eines bestimmten Hebels diskutierte. Also drehte er sich auf den Rücken und begann mit Sit-ups. Wie er diese wöchentlichen Trainingseinheiten doch hasste! Natürlich waren sie sinnvoll und leider auch notwendig, um fit zu bleiben und notfalls als Bodyguardersatz für die Gäste einzuspringen, doch wurde ihr Chef als Trainer immer zum Teufel persönlich und schien eine gewisse Freude dabei zu empfinden, sie zu quälen – zumindest ihn persönlich. Sein Stolz wurde nur dadurch befriedigt, dass keiner der Männer eine bessere Kondition hatte als Yuki, die sich fast den ganzen Tag über bewegte. „Das sollte zum Aufwärmen reichen“, beendete der Chef fünf Minuten später seine Qual, nur um diese erst richtig beginnen zu lassen. „Shin hat mich daran erinnert, dass wir lange keine Hebeltechniken mehr durchgesprochen haben. Eigentlich hatte ich vorgehabt mit euch Schlagtraining zu machen, doch tut es uns allen ganz gut, wenn wir alle Bereiche regelmäßig wiederholen.“ Hans verzog das Gesicht. Er hatte es noch nie gemocht, den anderen die Arme zu verbiegen, geschweige denn sich seine verbiegen zu lassen. Allerdings sah wenigstens ein Teil von ihm ein, dass diese Technik vor allem für Yuki sehr wichtig war. Und auch er selbst wäre gegen jemanden wie Matt in einem Kampf, der nur über Kraft ging, unterlegen. Daher schaute er dann doch aufmerksam seinem Chef zu, der sich erneut aus Shins festem Griff befreite und dabei erklärte welcher Teil seines Körpers dabei angespannt war und welcher locker. Er führte die Technik ganz langsam vor und allmählich sah man Schweißperlen auf Shins verzerrtem Gesicht. Mit der Andeutung eines Lächelns wurde er endlich zu Boden gelassen, wo er sich jedoch nicht ausruhte, sondern sofort wieder aufrichtete – bereit erneut anzugreifen. Diesmal wurde die Technik schneller durchgeführt und währenddessen erklärt, was ihm augenscheinlich weitaus besser gefiel. Nach vier weiteren Wiederholungen durfte er sich wieder zu den anderen gesellen und wählte sich Hans als Trainingspartner. „Du packst zu lasch zu“, warf er ihm gespielt vor und ließ den Blick hinüber zu Yuki schweifen, während er ihm die Chance gab seinen Griff zu verstärken. Die kämpfte gerade mit ihrem gesamten Körpergewicht gegen den Chef an, wurde aber auf einen leisen Kommentar seinerseits wieder ruhig und hatte sich fünf Sekunden später vollends befreit. Beim nächsten Mal klappte es sogar noch schneller. Mit einem Hauch von Stolz in der Stimme wandte er sich wieder Hans zu und erklärte: „Ich hab letzte Woche mit ihr trainiert und ihr die Technik genau erklärt. Anscheinend ist doch einiges hängen geblieben. Man muss sie nur kurz wieder daran erinnern.“ Nun setzte er selbst an, Hans mit gekonnten Bewegungen auf den Boden zu bringen und sich so sein Handgelenk frei zu bekommen. Noch nicht einmal das plötzliche, kurze Vibrieren des Bodens störte seine Konzentration. Cian hatte Matt schwungvoll zu Boden geworfen, der allerdings seinen Fuß zu packen bekam und ihn so neben sich beförderte. Kopfschüttelnd stand Hans wieder auf. Es war eine Trainingsstunde wie jede andere. Kapitel 7: 13.2. Freitag ------------------------ Abergläubisch war wohl eines der Wörter, die man nicht mit ihm in Verbindung gebracht hätte. Doch – und das hatte er immer schon beunruhigend gefunden - er war es. Sämtliche Versuche seinerseits dies zu ändern, waren gescheitert und so gab es immer noch keinen als solchen gekennzeichneten dreizehnten Stock im Hauptsitz seiner Firma. Auch vermied er den Abschluss von Geschäften, wenn der Dreizehnte eines Monats auf einen Freitag fiel. Doch an diesem Freitag war ihm das erstaunlich egal. Er freute sich sogar, dass Freitag war und ignorierte das Datum in seiner unglücksverkündenden Bedeutung. Sein Donnerstag war so schlimm gewesen, dass er beschlossen hatte, Freitag könne nicht schlimmer werden, und so bestellte er sich gut gelaunt am Morgen Rührei. Shin hatte ihm erklärt, er bräuchte noch eine halbe Stunde in der Küche, um das Frühstück für seine Kollegen zuzubereiten, würde sich danach aber augenblicklich auf den Weg machen. So saß er jetzt am Schreibtisch und studierte eine Karte, die er am Vortag in diesem gefunden hatte. Abends war er unruhig geworden, traute sich jedoch nicht seinen wieder erwachten Bewegungsdrang draußen auszuleben, weshalb er ein zweites Mal den Inhalt der Schubladen und Schränke genauer inspiziert hatte. Für die Hotelanlage war manuell ein kleines Kreuz eingetragen worden mitten in einer grünen Fläche, die wohl Wald darstellen sollte. Was ihn jedoch mehr interessierte war die Strecke in den nächsten kleinen Ort. Er wollte sich endlich bei Mokuba melden und ihm war noch eine Idee gekommen, die es bis Samstag umzusetzen galt. Shin hatte gerade erst nach dem Schneidebrett für den Fisch gegriffen, als ihm die Nähe des Gastes aus Nummer 4 auffiel. Aus dem Augenwinkel konnte er erkenne, dass dieser aufmerksam jeder seiner Bewegungen folgte. Das war für ihn nichts Neues. Gerade die Gäste, die es nicht gewöhnt waren, selbst zu kochen, fingen irgendwann an, ihn genauer bei der Arbeit zu beobachten. Diejenigen, die selbst kochten, hingegen, löcherten ihn mit Fragen zu Gewürzen, Mischungsverhältnissen und der Qualität des Fischs. Auf diese legte er immer besonders viel Wert, auch wenn er für Rührei nicht unbedingt Sushi-Qualität verwendete. Er hatte vorerst nicht vor, sein Vorgehen zu erklären, doch entschied er sich für ein wenig Small-Talk. „Geht es Ihnen wieder etwas besser?“, fragte er, während das Stück Fisch immer kleiner wurde. „Ja, deutlich. Dieses Geheimrezept hat offensichtlich geholfen.“ Augenblicklich war Shin froh, dass der andere ihm nicht direkt ins Gesicht sehen konnte. Denn nicht nur das Essen des Vortages, sondern auch sein Apfelmus schienen gewirkt zu haben. Die Stimme des Gastes klang deutlich weniger herablassend als noch am Sonntag. Nun landete der Lachs im bereits verquirlten Ei. „Und wie sehen Ihre Pläne für heute aus?“ Die Antwort folgte erst, als die Mischung sich langsam in der heißen Pfanne ausbreitete. „Ich will mir ein bisschen die Gegend ansehen. Gibt es in diesem Dorf 10 Kilometer nach Süden ein Restaurant?“ Shin zückte den Pfannenwender. „Naja, Restaurant kann man es nicht wirklich nennen. Eher so ne Art Cafe, das auch kleinere warme Mahlzeiten anbietet. Aber die Torten dort sind spitze! Die machen sogar denen von Hans Konkurrenz!“ „Hans?“ „Der eigentliche Chef unserer Küche. Flucht auf Deutsch, wenn ihm eine Torte misslingt. Zum Glück sagt er auch normale Sätze in seiner Muttersprache, sonst könnte der Rest von uns wirklich nur die Schimpfwörter.“ „Aha“, kam es zögerlich von hinten. „Aber das reicht mir. Für mich muss dann heute nicht mitgekocht werden.“ „Sind Sie wirklich sicher? Die Vorbereitungen in der Küche sahen nach Maultaschen aus. Die sind ziemlich lecker.“ „Ja, ich bin sicher.“ Und da war sie wieder, die befehlsgewohnte, strenge Stimme. Er hatte es also sauber versaut und die Stimmung wieder kippen lassen. Allmählich stockte das Ei und er nahm einen Teller aus dem Schrank. Den vollen Teller reichte er wenig später weiter mit den Worten „Lassen Sie es sich schmecken“ und machte sich an den Abwasch. Der Gast zog sich an den Esstisch im Wohnzimmer zurück und er konnte in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Morgen war Valentinstag und er würde wieder keine Schokolade verschenken und wohl auch keine erhalten – zumindest nicht von Yuki, da der Chef von Anfang an klar gemacht hatte, was er von diesem Hype am 14. Februar hielt. Allerdings erhielten sie jedes Jahr immer ziemlich viel Schokolade von außerhalb, die sie unmöglich auf normalem Wege innerhalb eines Tages wie der Chef es forderte vernichten konnte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, … „Lässt du mich auch an die Spüle?“, riss ihn Nummer 4 aus den Gedanken. Hatte der etwa so schnell schon aufgegessen? Verwirrt blickte er auf und rutschte. „Natürlich.“ Seine Verwirrung wuchs weiter, als er mit ansah, wie der Teller und auch das Besteck ohne Murren abgespült wurden. Irgendwann erinnerte er sich dann aber wieder daran, dass sein Arbeitstag erst begonnen hatte und packte alles, was wieder in die Küche im Hauptgebäude musste, ein und verabschiedete sich. „Heute also kein warmes Essen. Wegen morgen hören Sie noch einmal von mir.“ Ihm war eine Idee gekommen, doch musste er den richtigen Moment abwarten, um sie an entsprechender Stelle schmackhaft zu machen. Breit grinsend lief den Weg entlang. Verstimmt stellte Seto fest, dass seine normalen Schuhe nach wie vor im Kofferraum lagen, als er das Haus verlassen wollte. Daher schlüpfte er nur behelfsmäßig in die Wanderschuhe, die Schnürsenkel an der Seite reinsteckend. Die Haustür lies er offen – schließlich hatte er noch seinen Mantel drinnen. Fast hatte er seinen Sportwagen erreicht, als er eine dunkel gekleidete Gestalt sah, die ihm im Gehen zu nickte. Er trug wieder nur ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose, doch leuchtete um seinen Hals der Schal, den er auch drei Tage zuvor getragen hatte. Wie selbst verständlich blieb er stehen, nachdem Seto in der Bewegung inne gehalten hatte. „Guten Tag“, grüßte er nun richtig und kam auf in ein kleines Stück zu, um nicht schreien zu müssen bei seinen nächsten Worten. „Sie planen einen Ausflug?“ Für einen kurzen Moment wollte Seto ihn bissig darauf hin weisen, dass in diesem Hotel Privatsphäre angeblich ganz groß geschrieben wurde, doch dann sah er das leichte Lächeln auf den Lippen seines Gegenübers. Dieser wirkte vollkommen entspannt und es hatte keinerlei Neugier in der Frage gelegen, auch wenn es über eine höfliche Floskel hinauszugehen schien. „Ja. Aber das haben ich bereits Shin erklärt“, antwortete er stattdessen gewohnt kühl. Er wiederholte sich ungern. „Den hab ich seit meinem Frühstück nicht mehr gesehen. Aber dann wird er Ihnen wohl schon alles erklärt haben. Auch, dass sich durch den Sender am Schlüssel die Tore im Zaun automatisch öffnen. Umso besser.“ Das Lächeln wurde einen feinen Hauch breiter. „Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Sie entschuldigen mich?“ Und schon war er wieder weg, seinem Gast nur den Blick auf seinen Rücken lassend. Verwundert musste Seto feststellen, dass ihm dieser Anblick so sehr gefiel, dass er untypisch für ihn jemandem tatsächlich hinterher sah. Plötzlich genervt von sich selbst, holte er rasch die Schuhe, wechselte sie, zog sich den Mantel über, kontrollierte dabei, ob er sein Mobiltelefon tatsächlich einstecken hatte, schloss ab, setzte sich in den Wagen und startete den Motor. Die Tore der Hotelanlage hatten sich noch nicht vollständig wieder hinter ihm geschlossen, als ihm eine kleine Anzeige auf dem Display bereits signalisierte, dass er Empfang und somit Kontakt zur Außenwelt hatte. Er wählte den Weg nach Süden und stellte das Gerät auf Sprachsteuerung um. „Mokuba anrufen“, befahl er, während links von ihm der Wald vorbeirauschte und er auf der rechten Seite ungehindert den Blick ins Landesinnere hatte. Das melodische Summen, das mit der kühlen Winterluft in den Mitarbeiter-Raum wehte, ließ Shin hoffen, seinen Chef bei möglichst guter Laune anzutreffen. Hans hatte er davor bereits in seinen Plan eingeweiht und konnte zur Not von dieser Seite aus auf Unterstützung zählen. Doch zunächst wollte er es allein versuchen. Nach einem kurzen Klopfen erklang ein freundliches „Herein“ und er konnte gerade noch sehen, wie der andere seinen Blick von dem Monitor hob, auf dem gerade ein Sportwagen das Gelände verließ. „Was gibt es, Shin?“ „Morgen ist doch... Nein. Falscher Anfang. Entschuldigung.“ Das konnte ja ein tolles Gespräch werden, wenn er bereits jetzt anfing sich zu versprechen und herumzudrucksen. Dabei hatte er sich alles so wunderbar überlegt, während er Hans bei der Zubereitung des Mittagsessens beobachtete. Maultaschen waren etwas, in dessen Zubereitung er sich garantiert nie einmischen würde. Erwartungsvoll blickte ihn der Chef an. „Also“, versuchte er es von Neuem. „Wir haben doch um diese Zeit des Jahres immer viel zu viel Schokolade. Außerdem hatten Sie doch vor zwei Jahren eingeführt, dass diese spontan hinzukommenden Kalorienbomben spätestens am nächsten Tag verschwunden sein müssten.“ „Ja, das habe ich. Weiter.“ Shin konnte quasi zu sehen, wie sich die gute Laune Stück für Stück aus dem Zimmer stahl. „Meine Idee war daher, dass ich daraus für morgen Abend ein mehrgängiges Menü für uns und die Gäste, die daran teilnehmen wollen, koche. Nichts Romantisches, sondern einfach nur ein großes, leckeres Essen im Kreise aller, die aktuell im Hotel weilen.“ Erleichtert sah er, wie es sich die kleinen Stücke anders überlegten und umkehrten. „Und ich könnte heute bereits mit den Vorbereitungen anfangen, da ich Hans zur Zeit nicht helfen muss.“ „Das hört sich doch mal nach einem sinnvollen Vorschlag an. So wie du angefangen hast, hatte ich schon die schlimmsten Befürchtungen und sah mich im Amor-Kostüm im Ort Schokolade verteilen.“ Shin verkniff sich seinen Kommentar, dass es bestimmt eine Menge Leute gäbe, die diesen Anblick gerne gehabt hätten, entschied sich aber lieber für einen schnellen Rückzug in die Küche, bevor sein Projekt doch noch gestrichen wurde. Er war bereits auf der Türschwelle, als sich der Chef wieder zu Wort meldete: „Shin.“ „Ja?“ Halb drehte er sich um, damit Blickkontakt bestand. „Keine Extraschokolade für Yuki.“ Irgendwie war klar gewesen, dass so ein Spruch noch kommen würde. „Natürlich, Chef.“ „Großer Bruder! Hast du dich endlich wieder in die Zivilisation hinaus gewagt?“ „Hallo Mokuba. Ich freue mich auch, dich nach knapp einer Woche mal wieder zu sprechen. Was meinst du mit, ich hätte mich in die Zivilisation hinausgewagt?“ „Ich hab seitdem du dort bist nichs mehr von dir gehört, daraus folgere ich, dass du das Hotelgelände nicht verlassen hast. Außerdem höre ich Fahrtgeräusche im Hintergrund.“ Er hätte ihn nicht dazu erziehen sollen, logische Schlussfolgerungen auch als solche nach außen hin zu formulieren. Schlussfolgerungen? Moment... „Mokuba?“ Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren vorwurfsvoll. „Ja, Seto?“ „Soll das heißen, du wusstest von den Störsendern?“ „Nicht direkt. Aber der Chef hatte so etwas erwähnt, als er mich Samstagabend anrief, um mir mitzuteilen, dass du gut dort angekommen bist. Und dann nochmal gestern Nachmittag.“ Offensichtlich hatte sich Mokuba nun dazu entschieden, lieber gleich alles zu erzählen. „Wieso wollte er wissen, ob du auf bestimmte Lebensmittel doch etwas empfindlicher reagierst als auf andere?“ „Schlechtes Thema. Ein andermal.“ „Aber“, setzte die andere Seite zum Protest an, „ich muss doch wissen, was mit dir los ist! - Die Blumen nicht dorthin! In den Raum nebenan zu den anderen! - Schließlich verlangst du auch von mir immer einen ausführlichen Bericht.“ Und plötzlich war er zehn Jahre jünger und hatte wieder seinen kleinen schmollenden Bruder am Telefon, der sich darüber beschwerte, weswegen für ihn andere Regeln galten als für seinen großen Bruder. „Mir war gestern einfach nur nicht so gut“, räumte er nun ein. „Mir geht es aber wieder gut und du brauchst dir deshalb keine weiteren Gedanken machen. Okay?“ „Okay. - Nein, nicht für Sie. Was soll mein Bruder bitte schön mit so etwas? Das hier verlässt sofort mit Ihnen diese Villa und das Grundstück.“ „Ich will nicht wissen, was es war, oder?“ „Nein, willst du nicht. Aber keine Angst, es befindet sich hier schon genug Skurriles, das auf dich wartet. Wieso fangen die nur heute schon an, dich mit dem Zeug zu überhäufen?“ „Falsch, Mokuba. Es wartet nicht auf mich, sondern darauf von dir einer nützlicheren Bestimmung zugeführt zu werden. Und das mein ich ernst! Außer meiner Lieblingsschokolade und ein paar der Blumen will ich nichts mehr in der Villa nächste Woche vorfinden – abhängig davon, von wem die Sachen kommen! War wenigstens für dich auch etwas dabei?“ Er erreichte den Rand des Dorfes und folgte den Schildern, die einen dezent darauf hinwiesen, wo man als Tourist am besten parkte. „Noch nicht. Ich setz meine Hoffnungen alle auf morgen. Ansonsten bin ich ja bereits bestens mit deinem Zeug versorgt. Vielleicht sollte ich ein paar Leute einladen, die mir bei der Vernichtung helfen. Du solltest diese Mengen mal sehen! Ich fotografier dir alles und zeig dir dann die Bilder später. Momentan lohnt sich das noch nicht.“ Er stoppte den Motor. „Mach das. Übertreib es nur nicht mit dem Feiern. Ich versuche mich in den nächsten Tagen nochmal zu melden. Und du brauchst dir wirklich keine Sorgen um mich zu machen.“ „Hab dich lieb, Seto. Und ich weiß doch, dass ich das nicht brauche. Notfalls frag ich einfach den Chef.“ Mit einem Grinsen und noch bevor er reagieren konnte, wurde aufgelegt. Am liebsten hätte er postwendend erneut angerufen, besann sich dann jedoch. Mokuba schien alles im Griff zu haben und anscheinend hielt der Hotelmanager sein Wort und hielt ihn auf dem Laufenden. Allerdings sah er den Anruf gestern als überflüssig an. Von alledem wollte er sich trotzdem in diesem Moment nicht abhalten lassen, seine Idee in die Tat umzusetzen. Der Parkplatz lag direkt an einem kleinen Platz, um den sich die wichtigsten Geschäfte tummelten. Ein Obst- und Gemüseladen, eine Buchhandlung, ein Friseur und zu seiner großen Freude eine Bäckerei. Auf letztere ging er nun geradewegs zu. Zwar hatte er gut gefrühstückt, doch so ein bisschen Hunger machte sich bereits wieder in seinem Magen breit und eine Tasse Kaffee konnte ihm bestimmt nicht schaden. Ein kleines Glöckchen kündete von seinem Betreten des Ladens, der von innen deutlich größer war als er von außen wirkte, zumal er einen deutlich moderneren Eindruck machte als die Hausfassade vermuten ließ. Augenblicklich stürzte sich ein junger Kellner auf ihn, der ihn fragte, für wie viel Personen er einen Tisch bräuchte und ob er bereits wisse, was er trinken wolle. Überrollt von so viel Dienstwilligkeit, setzte er sich an einen kleinen Tisch im hinteren Teil des Speisebereichs und bestellte ein Kännchen schwarzen Kaffees, während man ihm die Speisekarte versprach. Seinen Mantel hängte er über den Stuhl neben sich und er griff anschließend nach der Tageszeitung, die noch fein säuberlich gefaltet auf dem Tisch lag. Kurz blätterte er vor zum Wirtschaftsteil und kontrollierte die Aktienkurse. Alles schien bester Ordnung. „Ihr Kaffee“, schob sich ein Arrangement aus weißem Porzellan in sein Sichtfeld am Rande der Zeitung. „Und die Karte. Die Küche hat momentan noch zu, allerdings kann ich Ihnen unsere Torten und Kuchen empfehlen.“ Wegen dieser Worte rührte er die ihm entgegengehaltene Karte erst gar nicht an. „Was hätten Sie denn da?“ „Einen Blechkuchen mit Obst und Streuseln, Bienenstich, Herrentorte, eine Biscuitrolle mit Himbeeren, eine Torte nach Art des Hauses, eine Banenentorte, ein in der Kastenform gebackener Matcha...“ „Ich nehme die Torte nach Art des Hauses. Danke“, beendete Seto die wohl nicht so bald endende Aufzählung kulinarischer Genüsse, bevor er in Versuchung geriet einen großen Teller mit allem zu ordern. Der Kellner verschwand wieder und er nutzte die Gelegenheit, sein Handy zu zücken, um eine weitere Telefonnummer in Domino zu wählen. „Sweetest Sweets. Was kann ich für Sie tun?“ „Guten Tag, hier ist Seto Kaiba. Ich habe eine Schokoladenbestellung.“ Sein Name schien seine Wirkung nicht verfehlt zu haben und es wurde als nächstes nur die schlichte Frage gestellt: „Gut und für wann?“ „Morgen.“ „Morgen geht schlecht. Wir sind wegen Valentinstag bereits seit zwei Wochen vollkommen ausgelastet.“ „Sie müssten es auch nicht liefern. Ich würde meine Leute bei Ihnen vorbeischicken, um die Bestellung abzuholen“, wurde seine Stimme eine Nuance kälter. „Selbst dann nicht. Tut mir Leid, aber wir sind bereits jetzt froh, wenn wir bis Sonntagmittag sämtliche Bestellungen abgearbeitet haben. Seit drei Tagen nehmen wir schon gar keine neuen Aufträge mehr an. Muss es denn wirklich morgen sein? Reicht Ihnen nicht auch noch im Laufe der nächsten Woche?“ „Was glauben Sie, mit wem Sie sprechen? Wenn ich sage, ich will die Schokolade morgen, dann meine ich das auch so – und keinen Tag später.“ „Ich weiß sehr wohl, wer Sie sind. Doch leider ist es unmöglich Ihre Bestellung rechtzeitig zu erledigen.“ „Dann vergessen Sie es eben. Auf Wiederhören.“ Wohl kaum. Er würde es sich bestimmt dreimal überlegen, ob er dort noch einmal Schokolade oder andere Süßigkeiten orderte. Wenn sie meinten, sie könnten es sich erlauben einen ihrer Stammkunden zu vergraulen, dann seinetwegen. Allerdings war so noch nicht sein Problem gelöst. Vorerst wurden seine Überlegungen, wie er noch so kurzfristig an Schokolade kommen sollte, unterbrochen. „Bitte sehr. Ihr Stück Torte.“ Seine Augen weiteten sich, als er sah, was auf dem Teller war. „Was genau ist das?“, wollte er umgehend wissen. „Unsere Torte nach Art des Hauses. Zwei verschiedene Sorten Boden und drei Sorten Buttercreme und in der Mitte eine Schicht Quittenkonfitüre, um dem schokoladigen Teil die Schwere zu nehmen. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.“ Er war bereits im Weggehen, während er sich so zu ihm drehte, dass er ihm direkt verschwörerisch in die Augen sehen konnte. „Die Schokolade dafür stammt im Übrigen aus einem kleinen Laden in der Straße, die neben unserem Kaffee vom Platz wegführt. Die Inhaberin stellt selbst her. Allerdings ist dort bis um zwei Uhr geschlossen.“ Und fort war er. Misstrauisch sah Seto ihm nach. Hatte er etwa sein Gespräch am Telefon mitbekommen? Anscheinend. In jeder anderen Situation hätte er sich darüber aufgeregt und sich beschwert, doch nun war er beinahe schon dankbar für den Hinweis, bei dem wenigstens versucht worden war subtil zu sein, und freute sich auf etwas, das seine vernaschte Seite Purzelbäume schlagen ließ – nicht, dass er das im wahren Leben beherrscht hätte. Er griff nach der Kuchengabel und beförderte ein kleines Stück der oberen Schichten in seinen Mund. Ungläubig probierte er die untere Hälfte. Kein Zweifel. Jede Schicht war für sich genommen lecker und so auf ihre Umgebung abgestimmt, dass die Aromen perfekt zur Geltung kamen, da wurde die bunte Optik nebensächlich. Ungefähr bis zur Mitte fuhr er so fort und genoss jeden einzelnen Bissen, danach wechselte er die Strategie und versuchte, ob sich auch die anderen Schichten miteinander kombinieren ließen. So hatte er schließlich das ganze Stück, das vielleicht ein Zwölftel der Torte gewesen war, vertilgt und nippte mit sich und der Welt zufrieden an seinem Kaffee. Es war erst kurz vor eins und er weiterhin der einzige Gast, was nicht heißen sollte, dass kein reger Verkehr herrschte. Fast minütlich klingelte das kleine Glöckchen an der Tür. Es schien fast als käme das gesamte kleine Dorf vorbei, um sich für nachmittags mit feinstem Gebäck einzudecken. Er schenkte ihnen kaum Beachtung und vertiefte sich stattdessen in die Zeitung, bis er einen Gesprächsfetzen mitbekam, der ihn aufhorchen ließ. „Der Ärmste! Und du bist dir ganz sicher, dass Madame nicht doch dieses Jahr über den Valentinstag im Hotel ist?“ „Ganz sicher. Normalerweise kommt sie immer in meinen Laden und deckt sich mit Material für ihre kreativen Arbeiten ein. Das heißt, er verbringt morgen ohne seine Familie und dass, wo er doch eh die ganze Zeit nur in seinem Hotel verbringt und kaum woanders hinfährt.“ „Naja, vielleicht hatte sie auch einfach nur zu viel vorher noch zu tun und kommt dann kurzfristig morgen. Ich muss jetzt leider weiter machen. Kommst du heute Nachmittag nochmal vorbei?“ Eigentlich hasste er diese Art von Klatsch aus tiefster Seele, doch nun lieferte er ihm interessante Informationen. Da stürzte sich wohl auch noch jemand anderes so sehr in die Arbeit, dass kaum Zeit für anderes blieb. Vielleicht ergaben sich noch ein paar mehr Parallelen mit ihm. Aber das würde er schon noch herausfinden, wenn er seinen Plan umsetzte. Den Teil mit der Familie überging er gekonnt. Punkt zwei stand er vor dem kleinen Laden in der Seitenstraße, auf dessen Scheiben in goldener Schrift die Worte „Chocolat Noir“ standen. Plötzlich unsicher prüfte er die Ladentür und stellte erschrocken fest, dass sie bereits offen war und nachgab. Es gab jedoch kein Geräusch, dass dies verriet. Jetzt könnte er immer noch kehrt machen und … „Kommen Sie doch bitte rein“, bat ihn eine weibliche Stimme aus dem hinteren Teil des Ausstellungsraumes. Zu spät. Innen war es heller, als er auf den ersten Blick von außen erwartet hatte und hinter dem Tresen, der fast die gesamte Raumbreite einnahm, stand eine junge Frau Anfang zwanzig, deren langes, lila Haar in einem Zopf gebändigt war. „Was kann ich für sie tun?“, fragte sie, nachdem sie mehrere Augenblicke Seto beobachtete, der perplex erst sie und dann den Laden genauer betrachtete. „Ah, ja“, riss er seinen Blick von der weißen Version eines süßen kleinen Hündchens, bei dem selbst der Blick stimmte, los. „Liefern Sie auch?“ Ihr Blick wurde skeptisch. „Das hängt immer davon ab, wohin und an wen.“ Er hatte schon ansetzen wollen, dass Geld keine Rolle spielte, als ihm der letzte Teil ihres Satzes auffiel. „An das kleine Hotel an der Küste. Ich bin dort für zwei Wochen und wollte mich für den bisherigen Aufenthalt bei den Angestellten bedanken.“ Ihr Blick blieb, doch ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Und wieso soll ich die Schokolade dann liefern, wenn Sie sich doch bedanken wollen?“ Er kannte die Antwort, doch es war ihm peinlich es auszusprechen. Noch am Morgen hatte alles wunderbar einfach geklungen und nun stand er vor dieser Frau und rang mit den Worten. „Weil ich nicht diese Art von Mensch bin“, brachte er schließlich hervor. „Außerdem habe ich bisher nur die Hälfte dort kennengelernt.“ „Lassen Sich mich raten. Yuki, Shin und der Chef? Der Rest sind Hans, der Koch, und Cian und Matthew, die alles in bester Ordnung halten. Und keine Angst, ich werde die Schokolade vorbeibringen, aber mit den Konsequenzen müssen Sie selbst klar kommen.“ Sämtliche Skepsis war verflogen, doch wäre diese ihm in Anbetracht ihres nun sehr intensiven Blickes lieber gewesen. „Haben Sie bestimmte Vorstellungen, was Sie verschenken möchten?“ Zögerlich nickte er und erklärte so knapp wie möglich, was er sich vorstellte. Sie nickte nur, machte sich mehrere Notizen und rechnete dann alles zusammen. Anschließend verabschiedete sie sich mit Handschlag von ihm und teilte ihm noch mit, dass er sich keine Sorgen machen solle, falls sie erst abends oder nachts dazu kam alles rüber zu fahren – der Laden wäre am 14.2. immer besonders stark frequentiert. Seto stand bereits wieder auf dem Platz, an dem auch das Cafe lag, bevor ihm auffiel, dass sie ihm mit dem Handschlag ein kleines Tütchen in die Hand gedrückt hatte. In sauberer Handschrift stand „gegen Nervosität, die entsteht, wenn man etwas Gutes tut, obwohl man so etwas normalerweise nicht macht“ auf der Folie, die den Blick freigab auf eine kleine sitzende Katze aus Zartbitter. Ohne lang zu überlegen, öffnete er das Tütchen und steckte sich die Schokolade in den Mund. Die Folie strich er glatt und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden. So gestärkt betrat er den Buchladen. Im Halbdunkeln wäre er beinahe an dem Tor im Zaun vorbeigefahren. Nur das leichte Aufblinken einer Lampe machte ihn darauf aufmerksam und sorgte für eine Vollbremsung seinerseits, während sich tatsächlich die Torflügel vor ihm öffneten. Wie Irrlichter führten ihn weitere kleine Lampen vom Tor weg zum Ferienhaus, vor dem er den Wagen parkte. Er griff sich die Tüte vom Beifahrersitz, stieg aus und schloss die Haustür auf. Er hatte den gesamten Nachmittag mit Stöbern in dem erstaunlich gut sortierten Buchladen verbracht. Immer wieder hatte er sich ein Buch aus den Regalen genommen und es angelesen. Das wenige Personal hatte ihn nicht behelligt und noch nicht einmal seltsam angesehen, obwohl auf der Titelseite eines Wirtschaftsmagazins gut sichtbar sein Antlitz prangte. Deshalb hatte er sich schließlich auch getraut zwei Bücher zu dem wachsenden Stapel auf der Kasse hinzuzufügen, die er sonst wohl über andere Wege erworben hätte. Er hatte bar gezahlt und mit sieben Büchern den Laden verlassen, als dieser schloss. Zwei waren ein Mitbringsel für Mokuba, drei würde ihre Bibliothek zu Hause um ein Sachbuch und zwei Thriller erweitern und zwei weitere würde er wohl mehr als gut verstecken müssen. Der Laden führte Shonen-Ai! Notfalls würde er sie nach dem Lesen im restlichen Urlaub wohl einfach mit in das Bücherregal stellen. Im Wohnzimmer tastete er nach dem Lichtschalter und kniff die Augen zusammen, weil die Deckenleuchte schlagartig aufflammte. Beinahe fühlte es sich an wie nach Hause Kommen, während sein Blick durch den Raum streifte. Auf dem Esstisch lag ein Zettel, der am Morgen noch nicht dort gelegen hatte. Er trat näher heran und las. Da ich nicht wusste, wann Sie von Ihrem Ausflug zurück sind, auf diesem Wege: Shin kocht für Morgenabend ein Menü und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns im Hauptgebäude Gesellschaft leisten würden. Beginn: 18 Uhr Yuki PS: Dadurch fällt das Mittagessen aus. PPS: Falls Sie lieber für sich bleiben möchten, sagen Sie mir bitte Bescheid. Kapitel 8: 14.2. Samstag ------------------------ Er wachte auf und roch Schokolade. Wie konnte es über zwei Stockwerke nach Schokolade riechen? Mit noch geschlossenen Augen schwang er die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Langsam öffnete er sie und griff nach seiner Armbanduhr, die er abends auf den Nachtisch gelegt hatte, wobei er fast eine Tasse voll dampfender heißer Schokolade abräumte. Unter ihr war ein Zettel eingeklemmt, der ihn aufforderte sofort zum Frühstück zu kommen. Noch im Pyjama tapste er mit der Tasse in der Hand die Treppen hinunter, dem Duft der Schokolade folgend. „Morgen, Chef“, schallte es ihm entgegen, sobald er die Küche betrat. „Schon so früh wach?“ Verwirrt blickte er auf die Uhr. Er würde normalerweise noch eine Stunde schlafen! Seufzend antwortete er: „Sieht fast so aus. Die Weckmethode ist aber auch link.“ Shin grinste breit. „Ich hatte erwartet, dass Sie hier später reinkommen und sich beschweren, dass Sie von ganz viel Schokolade geträumt haben. Das ist im Übrigen die, die bereits gestern eintraf – wenn auch nicht komplett. Den Rest habe ich für das Frühstück genutzt. Bin grade beim Dekorieren.“ „Hier riecht es ja toll!“, betrat nun auch Yuki vollständig angezogen den Raum. „Alles Vorbereitungen für heute Abend. Der Rest sitzt bereits drüben und wartet aufs Essen. Ich mach das hier kurz fertig und komm dann.“ Shins Freude über das Lob war kaum zu überhören, außer für Yuki, die mit einem „dann setz ich mich mal rüber“ den Raum durch die andere Tür verließ. Der Chef warf Shin noch einen kurzen, warnenden Blick zu und folgte ihr. Doch Shin war immun gegen diese Art der Warnung. Stolz trug er wenige Minuten später ein Tablett mit sechs Portionen Schokoladenpudding hinüber zu seinen Kollegen. „Damit sich keiner vernachlässigt fühlt“, fing er an zu erklären, während er das Tablett abstellte und anfing die Teller zu verteilen, „gibt es für jeden ein Frühstück von Herzem mit einem Dank, dass ihr mein Essen immer so brav aufesst.“ Selbst Matt musste lachen bei dem Anblick des Puddings. Der musste die ganze Nacht im Kühlschrank gelagert haben, andernfalls wäre ihr Frühstück nie so perfekt aus den Herzformen heraus gegangen. Gespannt, was sich der jüngere Koch noch alles für den Tag hatte einfallen lassen, verspeisten sie ihr Frühstück, tranken den Rest der heißen Schokolade und besprachen kurz den Tagesablauf und die Aufgabenverteilung. Shin wusste, dass ihn der Chef dabei nicht aus den Augen ließ, hatte er doch eine Lücke in seinem Versprechen vom Vortag gefunden. Denn wenn er auch für den Rest Extraschokolade machte, war die für Yuki keine mehr – und sei es nur ein Pudding aus ihrer Lieblingsschokolade. Der Tag war herrlich ereignislos an ihm vorübergezogen. Shin hatte ihm erklärt, wo er alles fand für eine große Portion Cornflakes zum Frühstück und hatte ihm den Tipp gegeben sich mittags einfach etwas Toast mit Butter zu machen, den er dann selbst spontan mit Ahornsirup verfeinerte. Ansonsten sah und hörte Seto nichts von den Mitarbeitern des Hotels. Er hatte es sich wieder auf dem Sofa gemütlich gemacht und das Buch, das er am Abend zuvor angefangen hatte, weiter gelesen. Der Autor hatte Talent und kam trotz der eigentlichen Hauptthematik ohne vulgäre Begriffe aus, was ihm persönlich sehr zusprach, war es doch ein Argument mehr, mit dem er das Buch vielleicht wirklich mit nach Hause nehmen konnte. Um 17 Uhr war er ins Bad gegangen hatte sich gründlich geduscht, die Haare geföhnt und frisiert, bis sie wieder wie gewohnt lagen und sich anschließend für einen schwarzen Anzug mit dunkelblauem Hemd entschieden. Bei der Einladung war kein Dresscode gestanden, doch sah er es als unter seiner Würde an legerer zu erscheinen. Abgerundet wurde das Gesamtbild mit einer dunklen Krawatte. Kurz vor 18 Uhr klopfte er an die erstbeste Tür, die er am Hauptgebäude entdecken konnte. Man hätte wirklich besser die richtige Tür auszeichnen können. Doch offensichtlich hatte er auf Anhieb Glück, denn vor ihm stand augenblicklich Yuki, die ihn freudestrahlend anlächelte. Würde er nicht auf Männer stehen, so wäre es dieser Moment gewesen, in dem er sich in sie verliebte. Aber er war nun einmal schwul und so genoss er einfach nur den Hauch von Wärme, der sich in seiner Brust ausbreitete, und ließ sich sogar dazu hinreißen ihr Lächeln leicht zu erwidern. „Guten Abend“, grüßte er automatisch von sich aus, während sie einen Schritt zurücktrat, um ihm die Gelegenheit zu geben, einzutreten. Der Raum war groß, doch durch die Menge an Möbeln, inklusive eines großen, quadratischen Esstischs mit Eckbank, wirkte er irgendwie kleiner und sehr gemütlich. „Werden wir hier essen?“ Mit Interesse sah er sich genauer um, besonders als er ein Bücherregal entdeckte, das noch umfangreicher war wie das in seiner Unterkunft. Yuki schüttelte den Kopf. „Nein. Wir essen oben im Speisesaal. Das ist nur der Angestelltenraum. Bis auf Hans und Shin, sind bereits alle oben. Folgen Sie mir einfach.“ Zügigen Schrittes durchquerte sie den Raum und den anschließenden Flur zu dem Teil der Treppe, der nach oben führte. Anscheinend besaß das Gebäude auch einen Keller. Sie schien davon auszugehen, dass er ihr folgte, denn sie drehte sich nicht noch einmal um, was ihm die Gelegenheit gab ihre Kleidung genauer zu betrachten. Die schwarze Hose und die ärmellose, weiße Bluse, die den Blick auf ein erstaunlich gut trainierte Armmuskulatur freigaben, wirkten nicht gerade feminin, doch sie hatte sich geschminkt und auch die Haare lagen geordneter. Fast sah sie aus wie herausgeputzt für ein Date. Am Kopf der Treppe trat sie an zwei große, schwere Holztüren und stieß sie auf. Seto hatte Mühe ihr schnell genug zu folgen, bevor sie wieder zu fielen. „Folgen Sie mir. Ich zeige Ihnen ihren Tisch.“ Momentan war er noch zu fixiert auf ihren Rücken, doch als er schließlich an einem der Tische nahe der Tür Platz nahm, konnte er den Raum genauer betrachten. Er schien einen Großteil der Etage einzunehmen und war in angenehmen, dunklen Tönen gehalten. Sein Tisch war klein und mit einem weißen Tischtuch, Silberbesteck, mehreren Gläsern und einer kunstvoll gefalteten Stoffserviette gedeckt. Er konnte fast den gesamten Raum einsehen. Es gab noch mehr Tische wie seinen, die jedoch nicht eingedeckt waren, und nahe der bei Helligkeit wahrscheinlich atemberaubenden Terrassenfront einen großen Tisch, an dem bereits drei Männer saßen, zu denen sich Yuki nun gesellte. Zwei von ihnen hatte er noch nie gesehen, doch sie waren beide sehr groß und muskulös und irgendwie machten sie einen sehr vertrauten Eindruck auf ihn wie sie so nebeneinander saßen. Der Dritte nickte ihm zu, als er seinen Blick bemerkte. Er hatte seinen Stuhl noch nicht an den Tisch herangeschoben und saß entspannt mit übereinander geschlagenen Beinen da. Dennoch strahlte er eine solche Selbstsicherheit in seinem roten Anzug aus, dass Seto unweigerlich an jemand anderen denken musste, dessen Markenzeichen rot war. Wären die Haare nicht nach hinten frisiert, konnte man fast glauben eine jüngere Ausgabe von Pegasus säße dort am Tisch! Er riskierte einen zweiten Blick. Der Hotelmanager wurde gerade von Yuki in ein Gespräch verwickelt und beachtete ihn nicht mehr. Innerlich musste Seto über sich den Kopf schütteln. Auf welche Gedanken er nur kam, seitdem er im Urlaub war! Allerdings musste er gestehen, dass dem anderen der Anzug hervorragend stand und das blonde Haar und die dunklen Augen erst richtig zur Geltung brachte, so wie der rote Schal, mit dem er ihn nun bereits zweimal gesehen hatte. Schnell richtete er seinen Blick wieder nach vorne, bevor man merken konnte, was er so genau betrachtet hatte. Das erneute Aufgehen der Türen ließ ihn aufblicken. Shin hielt eine davon mit seinem Rücken offen, damit ein weiterer Mann in dunkler Hose und – war das ein Kochhemd? - problemlos mit einem großen Tablett in den Raum kam. Kaum war er drin, ging Shin zu ihm und die Tür fiel wieder zu, während der andere auf den großen Tisch zusteuerte. „Der erste Gang. Salat mit gerösteten Kakaobohnensplittern“, erklärte Shin, nachdem er einen großen Salatteller vor Seto abgestellt hatte. Er bewunderte immer noch das Kunstwerk auf seinem Teller aus verschiedensten Sorten Salat und – was genau war das eigentlich? - als ein Flaschenhals in sein Gesichtsfeld kippte und Yuki einen Weißwein in das kleinere der Weingläser goss. „Möchten Sie auch Wasser?“, fragte sie nach, während sie die Flasche abstellte, damit die Wasserflasche von ihrer linken in die rechte Hand wandern konnte. „Ja, bitte.“ Ein weiteres Glas wurde mit Wasser gefüllt. „Sie können im Übrigen anfangen zu essen. Machen die anderen auch schon“, flüsterte sie ihm zwinkernd zu, bevor sie sich wieder zu ihrem Platz begab. Also nahm er das äußerste Besteck und probierte. Hilfe war das lecker! Der Salat konnte sich durchaus mit Sterneküche aus Domino messen. Nein, war sogar besser als das, was er dort vorgesetzt bekam! Die Komponenten waren für sich selbst genommen bereits lecker und von hoher Qualität, aber zusammen schmeckten sie einfach nur fantastisch! Und dazu dieser Wein! Bedächtig aß er den gesamten Teller leer. Wüsste er nicht, dass dies erst der Auftakt zu dem Menü war, hätte er bestimmt gefragt, ob er noch etwas davon haben könnte, obwohl er Salat sonst nicht mochte. Doch nun erregte zunächst eindringliches Getuschel vom anderen Tisch seine Aufmerksamkeit. Leise, aber bestimmt sprach Yuki auf die Männer ein, rollte leicht mit den Augen und sagte noch etwas mit mehr Nachdruck, als sie schließlich aufstand und direkt auf ihn zukam. „Würden Sie mir die Freude bereiten, sich zu uns zu setzen?“, fragte sie mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen, wobei sie seinen leeren Teller nahm. „Es würde mir einiges an Laufweg ersparen und Sie hätte etwas Gesellschaft beim Essen.“ Ihr erstes Argument konnte er noch halbwegs nachvollziehen, anscheinend war sie für seine Bedienung zuständig und es würde für sie kein entspannter Abend werden, müsste sie ständig schauen, ob er noch etwas zu trinken wollte. Doch das zweite erwischte ihn eiskalt. Wie konnte sie wissen, dass er eigentlich lieber in Gesellschaft aß? Normalerweise achtete er sehr darauf, mindestens eine Mahlzeit am Tag mit Mokuba zusammen einzunehmen, aber hier war er eigentlich immer allein gewesen. Er brachte den Anflug eines Lächelns zustande und stand auf. „Natürlich.“ Vom den Männern kam ein unzuordbares, leises Seufzen. Er wollte schon nach seinem Besteck greifen, jedoch hielt sie ihn davon ab, mit den Worten: „Das mache ich schon. Setzen Sie sich einfach rüber.“ Wie von Geisterhand stand plötzlich ein siebter Stuhl an dem großen Tisch und ohne, dass die restlichen Gedecke hektisch verschoben aussahen, war noch genug Platz für seines. Zögernd ging er hinüber, stellte sich neben seinen Stuhl und grüßte mit einem „Guten Abend“ die Runde. „Guten Abend“, grüßte der Hotelmanager zurück, während der Rest still blieb und ihn neugierig betrachtete. Unter diesen Blicken fühlte er sich irgendwie unwohl. „Setzen Sie sich erst einmal, dann stelle ich Ihnen den Rest meines Teams vor – soweit Sie es noch nicht kennen.“ Er gehorchte, auch wenn es freundlich und nicht nach einem Befehl geklungen hatte. „Shin kennen Sie ja bereits. Er ist kurz runter in die Küche, um nach dem Hauptgang zu sehen. Das hier ist sein Kollege Hans.“ Ein Nicken auf beiden Seiten. Wirklich deutsch sah er nicht aus, aber vielleicht fehlten ihm einfach nur die Vergleichsmöglichkeiten. Es verwunderte ihn eher, dass er nicht in der Küche stand und seinem Kollegen half. „Das ist Cian.“ Seto richtete seinen Blick auf einen der beiden Männer, die er bereits bei seinem Eintreffen gesehen hatte. Er hatte leuchtendrotes Haar, sah aber ansonsten aus, als wäre er sehr umgänglich. „Und, last but not least, Matthew.“ Er hatte tatsächlich eine ähnliche Statur wie Cian, doch waren seine Haare dunkelbraun und er ließ Seto unwillkürlich an einen Grizzly denken, als sich sein Blick nun verfinsterte. „Matt. Oder soll ich Sie beim vollen Namen nennen, Chef?“ Ihm entging der scharfe Blick nicht, der daraufhin folgte. „Angenehm“, schloss er selbst die Runde, unsicher, ob von ihm verlangt war, ebenfalls seinen Namen zu nennen. Welchen Nachnamen hatte er noch einmal für die Reservierung verwendet? Es wollte ihm nicht einfallen und nur der Vorname erschien ihm etwas zu intim. Genant blickte er auf das Tischtuch vor sich, auf dem Yuki gerade sein Gedeck neu drapierte. Es war ihm unangenehm eine gedrückte Stimmung erzeugt zu haben. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Doch zu seiner großen Erleichterung hielt das nicht lange an, denn Hans wandte sich an Cian mit einer Frage zum Thema Whiskey und es entspann sich eine angeregte Unterhaltung, in die nach und nach die anderen einstiegen – außer er selbst, der es vorzog ein stiller Beobachter zu bleiben, auch wenn er sich deutlich wohler fühlte als alleine an seinem kleinen Tisch. Ab und zu warf er einen Blick zum Hotelmanager herüber, dessen rotes Jackett immer wieder seine Aufmerksamkeit einfing, und sah diesen mit jeder Minute mehr aufblühen. Seine erhabene Ausstrahlung verschwand zwar nicht ganz, aber sie wurde entspannter und immer wieder konnte er beobachten wie die Mundwinkel nach oben huschten. Er schien nicht mehr der Chef zu sein, sondern unter Freunden, vielleicht sogar Familie. Und plötzlich schüttelte Seto den Kopf, was für Sorgen hatten sich die Leute im Dorf gemacht und wie glücklich sah er nun aus. „Ist etwas?“, fragte Yuki neben ihm. „Nein. Es ist...“ Doch Shin nahm ihm dankenswerterweise die Antwort ab, indem er laut sagte: „Achtung! Heiß und fettig!“ Wo kam der auf einmal so überraschend her? Auf einer freien Fläche, stellte Hans schnell einen Untersetzer ab und Shin daraufhin einen großen Topf, der etwas Flüssiges zu enthalten schien. Der Chef reckte seinen Hals ein wenig, um als erster sehen zu können, was er enthielt, als Shin vorsichtig den Deckel anhob. Seto selbst war im ersten Moment etwas enttäuscht, da nur Reis zur Beilage gefolgt war, wurde aber entschädigt sobald die ersten Geruchsschwaden zu ihm herüber wehten. „Curry?“, fragte er überrascht und seltsamerweise laut. „Sie haben eine gute Nase. Ja, Curry. Mein Spezialcurry – mit viel Liebe und einer Menge Schokolade gekocht“, antwortete Shin mit stolzgeschwellter Brust. Kurze Zeit später hatte jeder einen tiefen Teller gefüllt mit Reis und Curry vor sich und Seto musste sich stark zurückhalten nicht einfach schon zu beginnen, während der Hotelmanager Shin das Wort erteilte. Glücklicherweise hielt dieser sich kurz. „Ich hoffe, es wird euch schmecken. Es gibt genug für eine zweite Portion. Wenn ihr mich laut genug lobt, besteht vielleicht die Chance, das jedes Jahr zu machen. Danke. Und nun fangt an.“ Es war keine gute Rede, doch enthielt sie das Nötigste und keiner ließ es sich zweimal sagen, dass er nun endlich probieren durfte. Prompt senkte sich Schweigen über den Tisch, da alle mit Essen beschäftigt waren und selbst das beste Tischgespräch nicht gegen diesen Geschmack angekommen wäre. Das musste sehr, sehr gute Schokolade gewesen sein, die Shin dafür verwendet hatte, schoss es Seto bei fast jedem Bissen durch den Kopf. Die anderen Male genoss er einfach nur den Geschmack und war froh, dass er zu diesem Essen eingeladen worden war. Vielleicht war es die Wirkung des Currys, doch kam es ihm so vor, als ob die Gruppe eine innere Harmonie und Wärme ausstrahlte, wie er es eigentlich nur von seinen ruhigeren Momenten mit Mokuba kannte, wenn er nicht gleichzeitig noch vor seinem Laptop hing. Auch war er verblüfft über die guten Tischmanieren, mit der sie langsam und genussvoll... „Sie wollen wirklich einen zweiten Nachschlag, Chef?“, äußerte sich Hans erstaunt. „Ja, wieso nicht?“, wurde ihm prompt erwidert. Hans warf einen Blick hinüber zu Seto. „Naja, weil unser Gast gerade erst seine erste Portion aufgegessen hat.“ Dunkle Augen fixierten ihn. „Dann warte ich selbstverständlich, bis er seinen Nachschlag hat und nehme mir dann.“ Der Blick wurde intensiver. Wurde das etwa der Versuch, ihm klar zu machen, dass er unter keinen Umständen sich den Teller zu voll machen sollte? Wie hatte er es überhaupt geschafft bereits den zweiten Teller verzehrt zu haben? Ab und zu hatte er zu ihm herüber geschielt und da hatte er immer gesittet und langsam gegessen. Und wo bitteschön aß er das alles hin, sollte er immer einen solchen Appetit haben? Zögernd reichte er Hans seinen Teller, der näher am Topf saß, und sich herzlich wenig darum scherte, wie viel sein Chef noch vom Essen haben wollte. Leise Zweifel beschlichen ihn wie er eine so große Menge an Curry noch einmal schaffen sollte, doch er würde definitiv nicht aufgeben – dafür war es einfach zu lecker. Yuki war gerade fertig mit dem Abräumen des Hauptganges und Shin wieder in der Küche verschwunden, als sich Cian mit einer sehr direkten Frage an den Hotelmanager richtete: „Hat sich Miss Valentine heute schon bei Ihnen gemeldet?“ Die Raumtemperatur sank spürbar. Hatte er sich bei den Späßen der anderen über fehlende Valentinsschätze zuvor noch beteiligt, so wurde nun sein Gesicht ernst. „Nein, hat sie nicht“, antwortete er kühl. Doch Cian schien immun gegen derartige Kälte und setzte gleich nach: „Ich hatte Ihnen bereits letztes Jahr erklärt, dass Sie etwas sanfter zu ihr hätten sein sollen und sich mehr Zeit hätten nehmen müssen, um sich mit ihr auszusprechen.“ Augenblicklich erschien Cian Seto lebensmüde zu sein, was auch Yuki so gehen musste, denn sie versuchte es sofort mit einem sanften Themenwechsel: „Aber Martine-sama hat bestimmt schon angerufen, oder?“ Die Gesichtszüge wurden sanfter, auch wenn sich ein Hauch Melancholie auf sie schlich. „Leider noch nicht. Aber sie wird bestimmt mit den Kindern alle Hände voll zu tun haben. Wahrscheinlich ruft sie heute Abend noch an, wenn sie schlafen.“ Martine. War das die Frau, von der die Leute im Dorf gesprochen hatten? Auf jeden Fall klang der Name französisch. Ein Klingeln hielt ihn von weiteren Gedanken ab, besonders als der Hotelmanager ein Handy aus seinem Anzug hervorzauberte und das Gespräch annahm. „Ja, bitte?“ „Hallo, Honey“, erklang eine Frauenstimme im Raum. Darling?! Wer war das am anderen Ende der Leitung? „Hallo Martine. Wie geht es dir? Wo bist du? … Im Übrigen habe ich dich auf Lautsprecher.“ „Hallo, ihr Lieben.“ Ein kollektives „Hallo“ des Teams folgte, deren Gesichter mittlerweile ein breites Grinsen zierte. „Mir und den Kindern geht es gut. Wir sind für ein paar Tage zu meinem Bruder gefahren und die beiden halten ihn jetzt ganz ordentlich auf Trab. Aber man merkt ihm den stolzen Onkel an und ich muss ziemlich hinterher sein, damit er sie nicht zu sehr verwöhnt.“ „Also, so wie immer, wenn ihr bei ihm seid.“ „Ja. Eigentlich ist es so wie immer. Und was macht ihr so? Kam die Schokolade an?“ „Shin hat ein schokoladiges Menü gezaubert, gönnt uns gerade aber eine Verschnaufpause zwischen Hauptgang und Dessert. Dem Geschmack nach ist deine Schokolade allerdings im Curry gelandet, falls es die gleiche war wie letztes Jahr.“ Er klang fast entschuldigend. Ein fast schon mädchenhaftes Kichern war zu hören. „Macht nichts. Sie hat auf jeden Fall ihren Zweck erfüllt – ihr habt sie geteilt und gemeinsam genossen.“ Plötzlich hörte man leise einen vermutlich eigentlich brüllenden Mann: „Martine! Hilf mir! Deine Gören wollen mir Schleifen ins Haar binden!“ Etwas gedämpfter rief Martine zurück: „Das sind keine Gören, sondern dein von dir vergötterter Neffe und deine geliebte Nichte. Aber ich komm und helf dir... Bist du noch dran, Honey?“ „Wo sollte ich sonst sein?“, erwiderte der Hotelmanager sanft. „Gib den beiden Kleinen eine Kuss von mir und grüß deinen Bruder. Und jetzt versuch, zu retten, was zu retten ist. Haarschleifen hat er wirklich nicht verdient.“ Wieder dieses Kichern. „Danke! Ich meld mich. Und noch viel Spaß heute Abend. Hab dich lieb.“ Ohne eine weitere Antwort abzuwarten ertönte das Freizeichen und hinterließ einen verwirrten Seto Kaiba. Die Vertrautheit der beiden Gesprächsteilnehmer war bei jedem einzelnen Wort so greifbar gewesen, dass er nicht anders konnte als Eifersucht zu empfinden. Eifersucht darüber, dass es nur einen einzigen Menschen gab, mit dem er so reden konnte. Doch hier saß dieser bemitleidete Hotelmanager im Kreise seines Teams und versprühte vollkommene Zufriedenheit auf Grund eines einzigen, kurzen Gesprächs mit seiner Familie, die aus mehr als einer Person zu bestehen schien. Offen hätte er das nie zugegeben, doch insgeheim wollte er genau das auch. Shins Rückkehr wurde jubelnd gefeiert. Die anderen konnten doch nicht schon wieder hungrig sein! Doch er verstand, sobald sich ein kleines Stövchen mit einer Schüssel darauf vor ihm befand und daneben ein Teller mit kleingeschnittenem Obst und Marshmallows. Perplex stellte er fest, dass er jedoch der einzige war, dem eine solche Sonderbehandlung zu Teil wurde, denn der Rest blickte freudig auf eine deutlich größere Schüssel, auch wenn beide zu gut zwei Dritteln mit flüssiger Schokolade gefüllt waren. Shin, der seinen Blick bemerkt hatte, beugte sich zu ihm herüber und flüsterte: „Das ist nur, damit Sie definitiv etwas abbekommen. Denn der Chef und Matt sind ziemliche Naschkatzen.“ Er zwinkerte ihm zu und schnappte sich dann seine lange Fondue-Gabel, um auch noch etwas vom Dessert zu haben, da seine Aussage zu stimmen schien. Während die anderen einen harten Kampf – bei Einhaltung sämtlicher Tischmanieren – um die Leckereien führte, konnte Seto in aller Ruhe die Stücke einzeln aufpieksen, und sich mit warmen Schokoladenüberzug schmecken lassen. Dennoch ertappte er sich, wie er sich von der heiteren Atmosphäre immer mehr anstecken ließ und schließlich am Tischgespräch beteiligte, als es um die Vorzüge des jeweiligen prozentualen Kakaoanteils ging. Satt und zufrieden nippte er am Likör, den Yuki zum Dessert ausgeschenkt hatte und bemerkte, wie sein Blick wie selbstverständlich zum Hotelmanager wanderte, der gerade mit sich selbst, den Löffeln in der Hand, zu kämpfen schien, ob er nun die restliche Schokolade einfach so essen sollte oder nicht. Das letzte Stück zum Tunken war bereits vor Minuten verschwunden. Matt schien deutlich weniger Probleme damit zu haben und führte Löffel um Löffel unter Cians strengem Blick zum Mund. Als der Andere schließlich seine Entscheidung gefällt hatte und sich mit kindlicher Freude an den restlichen Schüsselinhalt machen wollte, war kaum noch etwas da, doch schien es ihn nicht weiter zu stören – auch weil Matt schlagartig aufhörte und ihm das Feld überließ. Sonstige Anwesende hatten davor schon bekannt, sie seien so rund gegessen, dass man mit ihnen Bowling spielen könnte, wobei sie als Kugel dienen würden. So saßen sie noch eine Weile beisammen und scherzten, bis sich der Hotelmanager erhob und leicht mit dem Stiel des blank geleckten Löffels an sein Wasserglas schlug. „Nach diesem wirklich vorzüglichen Mahl“, er blickte kurz zu Shin, ließ den Blick dann aber wieder in er Runde schweifen, „ist es nun an mir, euch euer Valentinstagsgeschenk zu überreichen. Ihr leistet jeden Tag hervorragende Arbeit und mir ist sehr wohl bewusst, dass ohne euch, der Laden hier nie so gut laufen würde.“ Verlegen sah Seto auf den Boden. Selten hatte er sich so fehl am Platz gefühlt wie jetzt. „Aber ihr kennt mich lange genug, um zu wissen“, brachte der Redner nach einer kurzen Pause wieder Schwung in das Gesagte, „dass ihr von mir keine Schokolade erwarten könnt. Außerdem glaube ich, dass wir – zumindest für heute Abend - keine mehr herunter bekommen würden. Daher schenke ich jedem von euch ein Lied. Nehmt eure Gläser mit und kommt in den Nebenraum.“ Unbehaglich rutschte Seto leicht auf der Couch hin und her. Obwohl sie bequem war, wollte er einfach keine Sitzposition finden, die für ihn angenehm war, was vielleicht auch daran liegen könnte, dass sich niemand sonst zu ihm getraut hatte. Normalerweise wäre er bestimmt froh über solch ein Verhalten gewesen, doch nun führte es nur wieder dazu, dass er sich als Fremdköper fühlte. Hans und Shin saßen ihm gegenüber, während Cian und Matt Yuki auf der dritten Couch, die das Hufeisen vervollständigte, in ihre Mitte genommen hatten. Ihre Getränke standen auf einem runden Tischchen in der Mitte, auch das des Hotelmanagers, der mit der Inbetriebnahme der Karaoke-Maschine beschäftigt war. Als die Boxen leicht zu summen anfingen stellte er sich auf die offene Seite des Tischchens und wandte sich an Hans: „Und? Womit soll ich beginnen?“ Hans sah ihm direkt in die Augen und erwiderte nur ein einziges Wort: „Nessaja.“ Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des anderen. „Wie du wünschst.“ Nach kurzem, schnellen Tippen auf einem Tablet, das zur Anlage zu gehören schien, erklangen die ersten leisen Töne der Musik. Seto brauchte eine Weile, bis er bemerkte, dass auf Deutsch gesungen wurde, so gefesselt war er von der Stimme, die nun sang. Doch hätte er auch gerne verstanden, was sie so melancholisch vortrug. Mit Beginn der zweiten Strophe entdeckte er, dass auf dem vom Sänger ignorierten Bildschirm auch die Übersetzung angezeigt wurde und las mit. Unten auf dem Meeresgrund wo alles Leben ewig schweigt kann ich noch meine Träume seh'n wie Luft, die aus der Tiefe steigt. Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben Ein Schauer durchfuhr ihn. Gespannt las er den Text weiter und stellte mit wachsender Verwunderung fest, wie gut er auf ihn passte. Viel zu früh hatte er erwachsen werden müssen. Doch gab es dieses innere Kind überhaupt noch in ihm? Düster hing er seinen Gedanken nach, verpasste das Ende des Liedes und auch wie nun Shin seinen Wunsch äußerte. Nur am Rande nahm er wahr, dass es schon wieder etwas Deutsches war, laut Bildschirm irgendetwas über einen Kerl, der von seiner Angebeteten nicht bemerkt wurde, aber er ließ sich wieder von dieser wunderbaren Stimme gefangen nehmen, die ihn sanft zurückholte, bis seine ganze Aufmerksamkeit nur noch dem Hotelmanager galt, der mit halb geschlossenen Augen vor ihm stand. Er hatte erwartet, dass als nächster Cian an die Reihe kam, doch kam zuerst Yuki zu Wort: „Ain't no sunshine. Und wenn Sie möchten, Chef, löse ich sie danach für ein Lied ab.“ Dieser nahm gerade einen großen Schluck Wasser. „Einverstanden. Mit welchem denn?“ Yuki grinste. „Lassen Sie sich einfach überraschen.“ Setos Meinung nach war das nächste Lied viel zu schnell rum. Er wollte lieber weiter dem Hotelmanager lauschen, der sich nun neben ihn auf die Couch fallen ließ, während Yuki aufstand, bis er die ersten Töne aus ihrem Mund hörte: Head under water And you tell me To breathe easy for awhile Das kannte er! Mokuba hatte es so oft rauf und runter gehört und zu seinem Bedauern auch fast genauso oft laut mitgesungen, dass selbst er textsicher war. Nur hatte Yuki eine deutlich bessere Stimme als sein kleiner Bruder und so viel Volumen und Kraft in ihr wie er es ihr nie zugetraut hätte. Unter tobendem Applaus ihrer Kollegen nahm sie wieder Platz, um ihrem Chef die Bühne erneut zu überlassen. Seto war im Folgenden zu sehr abgelenkt von Shins vor Begeisterung glühendem Gesicht, sodass er verpasste, was sich Cian gewünscht hatte. Doch die bald darauf einsetzende Melodie kam ihm bekannt vor. War das U2? Schien fast so. Did I disappoint you? Or leave a bad taste in your mouth? You act like you never had love And you want me to go without Die Worte trafen irgendetwas in seiner Magengegend, weswegen er den Blick schnell auf die Tischplatte senkte und nach seinem Glas griff, das er nun höchst interessiert musterte. Aber eine Bewegung des Mannes in rot ließ ihn aufschauen – direkt in dessen braune Augen. Have you come here for forgiveness? Have you come to raise the dead? Have you come here to play Jesus? To the lepers in your head Sicher, das war der korrekte Text, an dieser Stelle des Liedes, doch wieso fühlte es sich für ihn so an, als ob sie direkt an ihn gerichtet worden waren? Das erste Mal an diesem Abend war er froh darüber, dass der Hotelmanager irgendwann verstummte, etwas trank und sich dann Matt zuwandte. „Chef, seien Sie mir nicht böse, aber ich singe lieber selbst“, verzichtete dieser soeben auf sein Geschenk. Dessen Lächeln, wurde breiter. „Bin ich nicht. Dann zeig mal was du kannst.“ Und schon wieder saß er direkt neben Seto, auch wenn er doch einen gewissen Abstand hielt, um nicht aufdringlich zu wirken. Während Matt eine extrem gute Version von „Wonderwall“ eine Stimmlage tiefer als das Original zum Besten gab, tippte er jedoch auf dem Tablet herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Cian gröhlte am lautesten nach den Schlussakkorden und raunte dem wieder sitzenden Matt irgendetwas Englisches schnell ins Ohr, was diesen breit, beinahe schon etwas dreckig grinsen ließ. Währenddessen bezog der Chef wieder Stellung mit geschlossenen Augen und startete das nächste Lied. Leise summte er die ersten Töne mit, bevor er einsetzte: Everytime I realize there's something wrong when I see you. Sein Blick fiel genau auf Seto. The way you try to prophesize that dreams just can't come true. Sang er ihn etwa an? But now the hand of fate has turned ... Ja, es galt offensichtlich ihm. Cause everytime I opened up, well, you were never 'round And everytime I lost myself, you were nowhere to be found. ... Plötzlich wurden seine Gesichtszüge weicher. Life is a dream to me. ... Dann sollte er gefälligst alleine träumen. I thought that you were powerful, I once believed that you were strong. But now when I look at you, I realize theres something wrong. ... Ausnahmsweise schien Seto Ignorieren die beste Strategie zu sein. Er tat so als würde ihn all das nicht tangieren und blickte nur wieder gelangweilt auf sein Glas. My life is a dream to you, and me. Life is a dream to you, and me. Your life is a dream to you, and me. Endlich war das Lied rum. Doch damit war die Sache leider noch nicht erledigt. Anklagend sah Yuki den Chef an, aber ihr Protest ging in Cians lautem „Vielen Dank, Chef. Wie komme ich zu der Ehre eines zweiten Liedes?“ unter. Hatte er sich vielleicht geirrt und das Lied hatte gar nicht im gegolten? Ein kurzer Blick zu Yuki belehrte ihn jedoch eines Besseren. Sie schien stocksauer zu sein, stand auf und im nächsten Moment neben dem Hotelmanager, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Unmerklich schüttelte er den Kopf, flüsterte etwas zurück und erhob dann die Stimme: „Yuki hat mich gerade darum gebeten, noch etwas singen zu dürfen.“ Wer's glaubt! Sie sah ihn so finster an als male sie sich gerade möglichst qualvolle Foltern für ihn aus. „Long way to happy“, kam es nach mehreren Sekunden von ihr. Seto ignorierte ihren Chef, der wie selbstverständlich für den restlichen Abend neben ihm saß, während sein Team fröhlich vor sich hin sang. Stattdessen fixierte er die Wand hinter dem jeweiligen Sänger und fragte sich, wieso sie alle so gut singen konnten. Wenn sie ihn aufforderten ebenfalls ein Lied zu singen, wehrte er sich mit Händen und Füßen dagegen – zu peinlich wäre es für ihn geworden und zu schmerzhaft für ihre Ohren. So kam er irgendwie darum herum, sich die eigentlich wichtigen Fragen zu stellen. Wie kam der Hotelmanager dazu, ihm ein solches Lied zu widmen? Denn ihm war genau wie Yuki klar, dass es nicht eine Extrarunde für Cian gewesen war. Kapitel 9: 15.2. Sonntag ------------------------ Das entfernte Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Träumen. Noch nicht ganz wach schwang er seine Beine über den Bettrand und stellte sich auf seine wackligen Füße. Die Augen nur halb geöffnet tapste er quer durch das Wohnzimmer zum Flur und der Haustür, obwohl das Klopfen von dort mittlerweile verstummt war. Vorsichtig drückte er die Klinke runter und öffnete. „Morgen“, begrüßte er die unscharfen Konturen der Person, die immer mehr wie Yuki aussah. „Guten Mittag. Ich wollte Ihnen nur kurz Ihr Essen vorbeibringen. Kartoffelsuppe, separat dazu selbstgebackenes Brot und als Nachtisch ein Soufflé.“ Allmählich bekam er die Augen komplett auf. Dass er nur in Pyjama und barfuß vor ihr stand, schien sie wenig zu irritieren und er war sich seines Zustands noch nicht bewusst geworden. Dafür beschäftigte ihn etwas anderes. „Macht ihr heute Mittag etwas Besonderes oder warum bringst du das Essen schon so früh?“ Er unterdrückte ein Gähnen. Wie war er eigentlich in sein Bett gelangt? „Früh?“, entgegnete Yuki fassungslos. „Wir haben bereits 1 Uhr durch. Der Chef randaliert seit halb 12, weil Shin das Frühstück hat ausfallen lassen. Deswegen sollte ich mich auch jetzt beeilen zurück zu kommen, weil die anderen auf mich mit dem Essen warten.“ Sie drückte ihm die Kiste in die Hand und wartete seine Reaktion nicht mehr ab, bevor sie den Waldweg einschlug, der zum Hauptgebäude führte. Verdutzt blieb Seto noch eine Weile in der offenen Tür stehen. Drinnen ging sein erster Blick Richtung Uhr. Tatsache! Aber wie konnte er nur so lange geschlafen haben? Da er noch keine Hunger verspürte, begab er sich zuerst ins Bad. Vielleicht half ihm ja eine schöne Dusche, um seine Gedanken etwas zu ordnen und sich endlich daran zu erinnern, was geschehen war, nachdem Cian, Hans und Matt „All for Love“ zum Besten gegeben hatten. Zu dem Zeitpunkt war es gerade erst elf gewesen. Keine Uhrzeit für ihn, arbeitete er doch regelmäßig bis um drei oder vier Uhr morgens. Frisch geduscht und angezogen warf er einen Blick in die Kiste. Es wollte sich immer noch kein Hungergefühl bei ihm einstellen, doch musste er gestehen, dass er schlecht widerstehen konnte. Das Brot war seit nicht mal einer Stunde aus dem Ofen und am liebsten hätte er sich sofort über den Nachtisch hergemacht. Doch musste er auch an seine Figur denken, die bestimmt am Vortag gelitten hatte – eigentlich die gesamte erste Woche seines Urlaubs mit ein paar Ausnahmen. Also machte er den Deckel wieder drauf und entschied sich dafür, noch eine Stunde zu warten und stattdessen runter ans Wasser zu gehen, in der Hoffnung die frische Luft würde ihn hungrig machen. Tief sog er den Geruch des Meeres ein und lauschte den Wellen, die sich kurz vor dem Flutsaum brachen. Ein ewiges Rauschen, dem es gleichgültig war, ob er nun am Strand stand oder nicht, ob er sich in die Fluten stürzte, ob er überhaupt zu hörte. Einfach nur ein Rauschen aus sich selbst heraus. Das Licht war nach wie vor fahl und der Himmel bewölkt, so dass sie See keine andere Möglichkeit hatte als grau zu wogen. Er hätte noch nicht einmal sagen können, ob das Wasser hier klar war oder trüb von zig Schwebeteilchen und kleinen Tieren. Doch je länger er hinaus blickte auf den Horizont, desto stärker machte sich eine unglaubliche Ruhe in ihm breit. Seine Firma schien Welten entfernt, der vorherige Abend auch, selbst die Sorgen um Mokubas Zukunft schrumpften in sich zusammen. Es existierte nur noch dieser unglaublich lange Moment, der Himmel und das Meer. Nicht Licht, nicht Schatten. Nur dieses Zwielicht, in dem er sich sein ganzes Leben lang bewegt hatte. Plötzlich merkte er, dass es heller wurde. Die Wolken waren ein wenig lichter geworden. Was machte er eigentlich hier? Seit wann war er so philosophisch? Er war doch gerade erst eine Woche im Urlaub und dennoch schien er ein vollkommen anderer zu sein. Er machte etwas ohne Hintergedanken, nur um anderen eine Freude zu bereiten. Er lächelte andere Leute als seinen Bruder an. Er fand genug Ruhe, um bis in den Tag hinein zu schlafen. Licht. Wahrscheinlich war es Zeit, sich für eine hellere Nuance des Zwielichts, das ihn umgab, zu entscheiden, auch wenn es gleichzeitig einen Sieg für Schwarz bedeutete. Lächelnd blickte er auf den Horizont von dem aus das Wetter sich zu bessern schien. Zögernd stand er vor dem Soufflé. Er war satt und dieser Nachtisch würde ihm allein zum Genuss dienen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, es würde etwas dazu fehlen. Sein schlechtes Gewissen wegen des schmutzigen Geschirrs konnte es nicht sein, denn das hatte er bereits vor einer halben Stunde abgespült, sobald er mit der Suppe fertig gewesen war. Mit einem letzten kritischen Blick auf die süße Verführung trat er an die Kontrolleinheit heran und drückte die Kochmütze. „Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?“, wollte Shin wenige Sekunden später wissen. „Abend. Habt ihr einen trockenen Rotwein, der zum Soufflé passen würde?“ „Das haben Sie immer noch nicht gegessen?“ Er klang mehr als überrascht, gewann aber schnell seine Fassung zurück – vermutlich auch, weil ihm wieder einfiel, mit wem er da sprach – und antwortete deutlich ruhiger: „Müssten wir da haben. Kann aber eine Weile dauern, weil ich erst nachfragen muss. - Vom Wein halte ich mich in der Regel fern. Sind zwanzig Minuten Wartezeit okay? Immerhin hat das Soufflé bis jetzt überlebt.“ Seto erwischte sich beim Schmunzeln. „Ja. Passt.“ Eine Nuance heller fühlte sich gut an. Üblicherweise wäre er bei zwanzig Minuten Wartezeit an die Decke gegangen, hätte sich den Manager holen lassen und sich im Nachhinein über seine dadurch entstandenen Kopfschmerzen aufgeregt, doch nun blieb er gelassen. Nun waren es zwanzig Minuten, in denen er den Dekanter auf die Arbeitsplatte in der Küche stellte und sich einen der Bildbände schnappte, um ein bisschen zu Blättern. Dennoch schreckte er hoch, als die Tür zum Wohnzimmer geöffnet wurde. Die Person war gänzlich schwarz gekleidet und trug einen Koffer aus Stahl. Der Businesslook wurde nur von den schwarzen Pantoffeln an ihren Füßen gestört, nicht jedoch die insgesamt elegante Erscheinung. Schnell schlug er das Buch zu und erhob sich. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich einfach hier so reinplatze“, entschuldigte sich der Hotelmanager mit einem charmanten Lächeln. „Doch ich kann es leider nicht zulassen, dass dieser Wein alleine getrunken wird.“ Wie selbstverständlich schlenderte er, gefolgt von Seto, zur Küche hinüber und öffnete dort den Koffer. Zwei Flaschen Wein und zwei große Gläser kamen zum Vorschein, gefolgt von einem Korkenzieher. „Ich schlage vor, dass wir mit diesem Wein hier beginnen“, er hielt Seto kurz eine der beiden Flaschen hin, bevor er den Korkenzieher ansetzte, „da Shin meinte, Sie möchten ihn zum Soufflé genießen.“ Die Flasche war offen und er drückte ihm den Korken zum Riechen in die Hand, während er selbst den Wein in den Dekanter umfüllte. „Nur leider sollte er mindestens eine halbe Stunde atmen.“ Seto wusste immer noch nicht wie ihm geschah. „Was machen Sie hier?“, fragte er, als er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. „Darf ich mich vorstellen“, verschmitzt huschte ein Lächeln über seine Lippen bei der nun angedeuteten Verbeugung. „Ich bin der Sommelier dieses Hotels. Und bedauerlicherweise passt am besten zu Ihren Wünschen für heute Abend ein Wein, den ich mir selbst für später heraus gesucht hatte. Daher lautet mein Vorschlag, dass wir ihn uns teilen, denn leider ist das die letzte Flasche davon, die wir im Haus haben.“ Seto überlegte kurz und antwortete dann schlicht: „Einverstanden.“ Allerdings fiel ihm als nächstes seine Beobachtungen und die Kommentare von Yuki ein, weswegen er nach fasste: „Aber das Soufflé wird nicht geteilt.“ „Selbstverständlich nicht. Ich würde vorschlagen, Sie machen es sich mit ihrem Nachtisch bequem und ich kümmere mich um den Rest.“ Brav folgte Seto der Empfehlung und setzte sich auf die Couch, auf der er nun schon einige Stunden seit Urlaubsbeginn verbracht hatte und beobachtete den anderen Mann, der sich wie selbstverständlich im Wohnzimmer und der Küche bewegte. Mehrere kleine Untersetzer landeten auf dem Tisch, darauf die Gläser. Das Licht wurde gedimmt und Kerzen in kleinen, hübschen Glasschalen dazu gestellt. Zum Schluss trat er an die Kontrolleinheit heran und wählte die Musik. „Klassik?“, entfuhr es Seto überrascht. „Ja. Oder hätten Sie lieber etwas anderes? Sie brauchen es nur sagen und ich suche etwas anderes heraus.“ Der Hotelmanager wirkte leicht erschüttert, dass er mit seiner Musikwahl hatte daneben liegen können. „Nein, Klassik ist in Ordnung. Ich war nur überrascht, weil Sie nicht wie jemand wirken, der solche Musik oft hört.“ Eigentlich wirkte er sehr wohl wie so jemand, doch er hatte sich von den blonden Haaren irritieren lassen, die durch das weichere Licht noch mehr zur Geltung kamen und ihm regelrecht entgegen geleuchtet hatten bei der Einstellung der Musik. Wider Erwarten folgte daraufhin kein weiterer Kommentar, sondern das leise Geräusch, wenn sich jemand auf einen Sessel niederließ. Verglich man dieses Verhalten mit dem keine 24 Stunden zuvor, hätte man sagen können, er wäre auf Distanz gegangen, aber so hatten sie jetzt einen Vorteil, den sie nicht gehabt hatten. Sie konnten sich bequem ansehen. Eine Weile schwiegen sie und lauschten einfach nur dem aufgenommenen Orchester, das die „Moldau“ interpretierte, bis der Blick des Hotelmanagers auf Setos Lektüre fiel. „Hotelinterieur? Sie interessieren sich für Fotografie?“, fragte er mit einem Hauch von Überraschung in der Stimme, sonst klang er einfach nur nach seichtem Smalltalk. „Ein wenig. Ich reise viel geschäftlich und kenne mittlerweile eine ganze Reihe von Hotels, aber die Art der Darstellung in diesem Band hat etwas an sich, dass mich fast wünschen lässt, mehr Zeit in den Häusern zu verbringen als nur zum Schlafen.“ Der andere nickte wissend und nahm seine Vorlage auf: „Es hat wirklich etwas für sich, sich länger in diesen Häusern aufzuhalten. In ein paar der abgebildeten Hotels habe ich auch schon gearbeitet. In einem hielt ich selbst nach Monaten immer noch die Luft an, wenn ich im Foyer auf die Treppe nach oben sah.“ Er wandte kurz den Blick ab, um in Gedanken zu schwelgen. Umso unerwarteter traf Seto sein Blick und die darauffolgende Frage: „Haben Sie bereits ein Lieblingsbild?“ Zu seiner eigenen Verwunderung antwortete er wahrheitsgemäß: „Es ist ziemlich in der Mitte“ Er nahm den Band in die Hände und blätterte bis zur entsprechenden Stelle. „Der junge Mann vor der Bar.“ Er drehte ihn so herum, dass der andere problemlos von seinem Sitzplatz aus, das Bild betrachten konnte. „Stimmt, das ist sehr gelungen. Es zeigt im Übrigen einen Arbeitskollegen von mir, der sich um die Drinks gekümmert hat, während mein Metier der Wein war.“ Setos Blick, der ebenfalls dem Bild gegolten hatte, schoss nach oben in das fremde Gesicht. Der Typ wusste etwas über sein Hündchen? Unbemerkt von ihm selbst hielt er die Luft an. „Leider habe ich ihn nach meiner Zeit dort schnell aus den Augen verloren. Das war kurz nachdem ich anfing das Konzept für dieses Hotel hier auszufeilen.“ Er gluckste freudig und übersah dabei Setos enttäuschten Gesichtsausdruck. „Wussten Sie, dass das zweite Bild mit ihm nur entstanden ist, weil er eine Wette gegen die Fotografin verloren hatte?“ Seto schüttelte den Kopf. Mit Worten verneinen konnte er noch nicht, zu sehr hatte er sich auf Informationen über das weitere Leben des Abgebildeten gefreut. Doch wollte er auch nicht zugeben, dass er ihn persönlich gekannt hatte. Wen dieser sich weiterhin so benommen hatte wie in der Schule, würde das ein falsches Licht auf ihn werfen. Die Anekdote hörte er zwar, ließ sich jedoch nicht auf ihre Worte ein und klappte den Band einfach wieder zu, womit auch das Gespräch verebbte. Es folgte wieder eine Weile des Schweigens zwischen ihnen, während der nur die Musik zu hören war. Dann erhob sich der schwarz gekleidete und kam aus der Küche mit dem Dekanter zurück. Er goss den Wein nur in die unteren zwei Zentimeter der Gläser und fasste seines elegant am schlanken Stiel, während er sich erneut setzte und darauf wartete, dass es ihm Seto gleich tat. Still prostete er ihm daraufhin zu und nahm einen kleinen Schluck. Seto folgte seinem Beispiel und verstand augenblicklich, weshalb er genötigt worden war, die Flasche zu teilen. Der Wein war hervorragend. Doch vorerst stellte er das Glas wieder ab und griff nach der Kuchengabel und dem Soufflé. Während er aß und ab und zu an dem Wein nippte, herrschte weiterhin Stille zwischen ihm und seinem unerwarteten Gast. Dieser hatte sich nach hinten in den Sessel fallen lassen, blickte leicht hinauf zur Decke und … Seit wann war „Nessun dorma“ ein Duett? Glücklicherweise hatte er fertig gegessen und auch das Glas nicht in der Hand, denn ihm stand der Mund offen, während sein Gegenüber textsicher und fehlerfrei leise vor sich hin sang, dabei verträumt die Augen halb geschlossen. „Wirklich ein Glanzstück Pavarottis“, flüsterte er ehrfürchtig nach den letzten Tönen, als aus den Lautsprechern etwas rein instrumentales erklang. „Und eine wundervolle Oper“, fuhr er etwas lauter fort, sich aufrichtend. „Ein Held, der die Rätsel seiner eiskalten Angebeteten löst, ihr dann die Wahl über sein Leben lässt und sie schließlich ihrem Vater statt seines wahren Namens, der ihr die Ehe mit ihm ersparen würde, sagt, sein Name sei Liebe.“ Er ließ Seto kurz Zeit etwas zu erwidern, doch dem war es bei den Worten „eiskalten Angebeteten“ ganz anders geworden. Natürlich kannte er dieses Werk von Puccini, doch noch nie hatte er sich der Prinzessin ähnlich gefühlt. So ließ er den Moment für die Aufnahme des Gesprächsfadens vergehen, was dem anderen die Chance für einen Themenwechsel gab. „Apropos Rätsel. Wir bekamen gestern Abend noch Besuch.“ Nur mühsam konnte Seto seine Aufmerksamkeit auf dem Mann im Sessel fokussieren. „Dieser Besuch war so freundlich, etwas vorbei zu bringen, hat uns aber leider nicht gesagt, wem wir das Geschenk zu verdanken haben.“ Ein diabolisches Grinsen schlich sich auf dessen Lippen. „Es ist eine Sache, zu wissen, dass man Matt die Schokolade mit Fudge und Cian die mit Ahornsirup geben muss. Das wusste Katze alleine. Doch es ist eine andere, richtig zu liegen bei meiner Lieblingssorte und dann seine Identität zu verheimlichen.“ Woher auch immer zauberte er eine Tafel dunkler Schokolade hervor, auf deren Papier eine kleine schwarze Katze abgebildet war. Laut Beschriftung waren ihr Chilli und roter Pfeffer beigefügt. Seine Züge wurden sanfter, als er in Setos vor Schock versteinertes Gesicht sah. „Vielen Dank. Die meisten liegen bei meiner Lieblingssorte komplett daneben und ich steh dann da und darf mich für weiße Schokolade mit Kaffee oder viel zu süße Vollmilchschokolade bedanken. Sie dürfen sich gerne bedienen.“ Er packte die Tafel aus, brach sich ein großes Stück ab und schob sie dann quer über den Tisch auf ihn zu. Verwirrt nahm er sich ebenfalls ein Stück und wollte dann wissen: „Wie kommen Sie darauf, dass die Bestellung hierfür von mir war?“ Er vernahm ein lautes herzhaftes Lachen. „Nennen wir es Intuition. Und jetzt probieren Sie endlich – sonst komm ich mir das Stück holen.“ Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er es darauf ankommen lassen sollte, entschied sich dann aber für die Schokolade. Vorsichtig knabberte er an einem kleinen Stück. „Verschickt sie auch?“, war das erste, was er nach dem vollständigen Verzehr wieder von sich gab. Der Hotelmanager musste schmunzeln. „Ich lass die Leute normalerweise für sich selbst sprechen. Aber in ihrem Fall denke ich, würde sie einfach wieder sagen, dass es darauf ankäme, an und für wen. Aber seien Sie bitte vorsichtig mit den bestellten Mengen. Schließlich führt sie den Laden vollständig allein und produziert auch ausschließlich selbst.“ „Aha“, meinte Seto schlicht und schielte dabei zur Tafel, die verlockend auf dem Tisch lag. Konnte er es wagen, sich ein weiteres Stück zu nehmen – ein ganz kleines versteht sich. Denn eigentlich war es ja sein Geschenk an den Hotelmanager gewesen. Sein Rateglück hatte er der Erinnerung an den roten Schal oberhalb des Mantelkragens am Dienstag zu verdanken und nie hätte er geglaubt damit so ins Schwarze zu treffen. Schlanke, große Hände griffen nun nach der Schokolade und brachen ein Stück ab, das sie ihm einfach so in die Hand legten, bevor sie ebenfalls etwas nahmen und sich ihr Besitzer wieder entspannt in den Sessel zurücklehnte. Als er endlich im Bett lag, sah er im Dunkeln an die Decke hoch. Er versuchte sich zu erinnern, doch wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen, wann er sich das letzte Mal mit einer Person außer Mokuba so gut unterhalten hatte. Eine Weile noch hatten sie über Schokolade gesprochen, dann über Wein, klassische Musik, weitere Fotos, bereichert um die Erklärung wo genau sie aufgenommen worden waren, … Und irgendwie war so der Abend einfach an ihm vorbei geflogen. Sie hatten tatsächlich die zweite Flasche Wein noch aufgemacht und auch geleert. Sie hatte deutlich besser zu der Schokolade gepasst, die sie auch vollständig aufgegessen hatten. Zwischendrin hatte er abgespült, während der andere an der Arbeitsfläche lehnte und ihm erzählte wie er einmal mit dem Küchenjungen verwechselt worden war – ein Missverständnis, dass sich erst hundert Teller und zweihundert Tassen später aufklären ließ. Das Einzige, das diesen Abend gestört hatte, war der Aufbruch seines Gastes gewesen, nachdem sie beide mehrmals hintereinander in kurzen Zeitabständen gegähnt hatten. Sein vom Wein leicht benebelter Verstand hatte nicht verhindert, dass er ihm vorschlug, doch zu bleiben – das Bett sei groß genug für zwei. Er hatte nur entschuldigend gelächelt und sich dann die Schuhe zugebunden. Jedoch hatte er ein Versprechen oder vielmehr eine vage Hoffnung. Bereits auf der Türschwelle hatte der andere sich noch einmal umgedreht und gemeint, er würde – falls er denn Zeit fand dafür - nachmittags vorbei schauen und mit ihm etwas spielen, er sei ein ganz passabler Kartenspieler. Seto war danach wieder ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Die Kerzen waren ausgepustet, die Musik war auch nicht mehr zu hören. Er hatte noch fragen wollen, welche Playlist das gewesen war, doch seltsamerweise hatte er es dann vergessen. So blieb ihm nichts anderes, als leicht schwankend sein Bett anzusteuern, sich umzuziehen und dann ein zu kuscheln. Jetzt hatte er es! Das letzte Mal war vor über zehn Jahren gewesen mit ... Doch da schlief er auch schon tief und fest. Kapitel 10: 16.2. Montag ------------------------ „What shall we do with the drunken sailor? What shall we do with the drunken sailor?“ Augenblicklich zögerte er die Küche zu betreten. Doch sich still zurückziehen konnte er auch nicht mehr, viel zu offensichtlich war er bereits entdeckt worden. „Hurray!“ „And up she rises“, stimmte nun auch Yuki mit ein und ersparte somit ihren Kollegen den Versuch stimmlich in die Höhe zu kommen. Na toll, da wusste er wenigstens was für ein Empfang ihm blühte. Er versuchte möglichst unauffällig die Küche zu betreten und sich sofort mit seiner, auf der Anrichte stehenden Schüssel Cornflakes in sein Büro zu verziehen. Allerdings hatte er Pech. „Na, guten Morgen, Chef! So wie Sie aussehen, müssen wir für Sie gleich nochmal singen“, grüßte Hans ihn. „Oh ja, put me in the longboat 'til I'm sober“, antwortete er schlicht und nahm den ersten Löffel im Stehen zu sich. „Sie wollen mir nicht erzählen, Sie sind verkatert – von zwei Flaschen Rotwein! Eigentlich haben wir nämlich für Cian gesungen“, hakte Shin nach und schnitt die Karotten weiter klein. Ein weiterer Löffel. „Nein, mir geht es prima. Wir haben uns genug Zeit gelassen für den Wein und die Schokolade ist auch aufgegessen. Aber wieso musstet ihr für Cian singen?“ Wieder ein Löffel. Wenig begeistert blickte Cian zu ihm auf und grummelte: „Weil ich mir heute morgen den Kopf gestoßen habe und in die Küche runter getorkelt kam. Und anstatt bemitleidet zu werden, wurde ich mit einem Ständchen von meinen Lieben Kollegen bedacht... Apropos, wann kamen Sie gestern Abend eigentlich wieder?“ Zwei Löffel. „Zu spät. Aber der Abend war gut.“ Den nächsten Löffel konnte er nicht mehr vollständig schlucken, weil ihm jäh auffiel, dass er sich den letzten Satz besser verkniffen hätte. Denn prompt hoben sich Hans Augenbrauen, Shin hackte äußerst energisch auf den Brokkoli, zu dem er gewechselt hatte, ein, Yuki konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und Cian nickte wissend. Seine Mitarbeiter verzichteten glücklicherweise auf einen ausgesprochenen Kommentar, doch ihre Blicke untereinander sprachen Bänden. „Ich bin in meinem Büro“, ergriff er möglichst erhaben die Flucht. Wenigstens konnte er in seinem Schreibtischstuhl in Ruhe weiter essen und sich überlegen, wie er den Nachmittag gestalten wollte. Zufrieden mit sich und dem Ergebnis seines zweiten Kochversuchs schaufelte Seto den Reis aus dem Kocher in eine kleine Schüssel. Hierfür hatte er extra Shin Bescheid gegeben, dass er kein Frühstück bräuchte. Es war eigentlich schon zu spät, um diese Mahlzeit mit „früh“ zu betiteln, aber wenigstens hatte er es aus den Federn geschafft, bevor es Mittag war. Den Wein hatte er bestens vertragen und so hatte er sich tatsächlich an einen erneuten Kochversuch gewagt. Schließlich wollte er vor Mokuba ein kleines bisschen angeben, wenn er wieder zu Hause war – aber dafür musste er es wirklich können, sonst würde er sich bis auf die Knochen blamieren. Aber für seinen zweiten Versuch war der Reis lecker, auch ohne irgendetwas dazu. Und er würde ihn auf jeden Fall lang genug satt machen, bis Yuki mit dem Mittagessen auftauchte. Während er aß überlegte er, was er den Tag über machen könnte. Das kleine Stimmchen in seinem Kopf, dass ihm bereits beim Aufwachen freudig entgegen geschrien hatte, er würde heute wieder Besuch vom Hotelmanager erhalten, hatte er bewusst seit der lauwarmen Dusche abgestellt. Nicht, dass es kein warmes Wasser gegeben hätte, doch irgendwie konnte er sich nicht entschieden, ob er nicht doch besser kalt duschte, als langsam die Erinnerung an den vergangenen Abend wieder kam. Zu unsicher war er sich einfach, ob der andere mit ihm ab und zu geflirtet hatte oder ob dies nur Einbildung war. Schließlich schien er Familie zu haben, da machte man sich doch nicht einfach so an einen männlichen (!) Gast ran. Zumindest hatte sich das noch keiner bisher bei ihm getraut und er gestand sich eine gewisse Unsicherheit bei diesem Thema ein. Das war aber auch der Moment gewesen, in dem er intuitiv die Dusche auf eiskalt gestellt hatte. Also würde er unter keinen Umständen einfach nur herum sitzen, die Zeit verstreichen lassen und darauf warten, dass vielleicht ein gewisser Jemand das Haus betrat. Gleichzeitig wollte er sich aber auch nicht zu weit vom Haus entfernen – dies dachte jedoch nur sein Unterbewusstsein, während er die Playlists durchsuchte, auf die er durch die Kontrolleinheit zugreifen konnte. Welche hatten sie gestern bitteschön angehört? Kein einziger Name enthielt den Hinweis darauf, dass es sich dabei um Klassik oder eine Playlist des Managers handelte. Schließlich hörte er sich den Beginn jeder einzelnen an und überflog nebenher die restlichen Titel. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Yuki hilfsbereit hinter ihm, was Seto erst zusammenzucken und dann herum fahren ließ. „Nein, nein. Ich komm schon zu Recht“, erwiderte er schnell und fühlte sich seltsam ertappt. Natürlich könnte er einfach fragen, ob sie wisse, welche Playlist „Nessun dorma“ enthalte und gerne von ihrem Chef gehört wurde, doch dafür war es ihm zu peinlich Details über den Abend mit ihm preiszugeben. „Ich stöbere nur ein bisschen. Gibt es etwa schon Mittagessen. Was ist es diesmal?“ Die Kiste, die Yuki trug, wurde zu seinem neuen Verbündeten, obwohl er normalerweise auf einen solchen verzichtete. Sie folgte seinem Blick und zuckte entschuldigend mit den Schultern, während sie erklärte: „Gemüseauflauf. Shins Idee. Eigentlich macht er sonst auch Fleisch dazu, aber heute meinte er etwas von, er habe keine Lust auf Frikadellen. Wenn er meint. Allerdings muss er das auch noch Cian und Matt erklären, was wohl höchst interessant werden wird. Deshalb bin ich auch schon wieder weg. Ich stell nur kurz die Kiste in der Küche ab.“ Und weg war sie tatsächlich, wobei Seto genug Zeit blieb, um zu überlegen, seit wann sie so offen mit ihm über Hotelinterna sprach. Kopfschüttelnd nahm er sich einen Teller und kümmerte sich um das noch dampfende Stück Auflauf. Die Musik ließ er einfach weiterlaufen und genoss die eher ruhigen Klänge des Jazz. Nach dem Abwasch suchte er weiter, wurde aber nicht fündig, weswegen er sich lieber wieder ein Buch schnappte und las. Ab und zu blickte er auch einfach hinaus auf das Meer, dessen Wellen sich genau wie am Vortag kurz vor dem Flutsaum brachen. Beim sanften Klopfen an der Wohnzimmertür schreckte er hoch und blickte verwirrt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Die Person in der Tür sagte nichts, sondern nickte ihm nur grüßend zu, während sie darauf zu warten schien, von ihm herein gebeten zu werden. Schnell blinzelte Seto, um die letzte Verwirrtheit des Schlafes abzuschütteln. Er war doch in der Tat eingenickt. „Kommen Sie ruhig herein“, sprach er seinen Gast an und deutete mit der Hand auf den Sessel, in dem er bereits das letzte Mal gesessen hatte. „Vielen Dank. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange auf mich warten.“ Seto schüttelte vehement den Kopf und verneinte: „Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe die Zeit genutzt, um noch etwas zu lesen.“ Erklärend hob er das Buch vom Kissen der Couch hoch und bemerkte zu spät, dass es sich dabei, um das zweite handelte, dass er sich am Freitag gekauft hatte. Beschämt zu Boden blickend legte er es rasch wieder zurück und räusperte sich kurz. Ein abfälliger Kommentar blieb aus, so fuhr er schnell fort: „Sie meinten ja gestern, Sie könnten gut Karten spielen. Daher schlage ich eine Partie Duel Monsters vor.“ Er blickte dem anderen direkt in die Augen und versuchte gleichzeitig seine sonst so perfekte Haltung zurückzugewinnen, die ins Schwanken geraten war. „Tut mir Leid, aber ich weiß noch nicht einmal mehr wo mein Deck ist. Es könnte sogar sein, dass es in meinem Zimmer bei meinem Dad liegt.“ „Aber Sie können spielen. Dann ist doch alles klar. Ich habe auf meinem Laptop das Demo einer Online-Version.“ Er stand auf und wollte das Gerät holen. „Wir müssten dazu wahrscheinlich in ihr Büro, wegen des Internets, aber das sollte ja kein Problem...“ „Setzen Sie sich wieder“, forderte der andere von ihm, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. So gehorchte er zähneknirschend. „Um Ihre Frage zu beantworten. Ja, ich kann spielen. Mein bester Freund, der total besessen davon war, hat mir gezeigt wie es geht, und auch wenn es jetzt schon eine Weile her ist, dass ich mit ihm gespielt habe, sollte ich es immer noch können. Aber von mir werden Sie keinen Internetzugang erhalten, nur weil Sie spielen möchten. Wer sagt mir, dass Sie nicht die Zeit nutzen werden, die ich kurz durch meine Mitarbeiter abgelenkt bin, um Ihre E-Mails zu lesen oder zumindest kurz zu arbeiten?“ Beim letzten Satz wollte Seto wütend aufbegehren, verstummte aber, als er erneut in diese dunklen Augen blickte. „Zuerst hatte ich überlegt mit Ihnen Schach zu spielen“, sprach der andere weiter, pausierte aber als warte er auf eine bestimmte Reaktion von Seiten seines Gegenübers. „Doch dann habe ich mich für ein Spiel entschieden, bei dem unsere Chancen ausgeglichen sein sollten.“ Innerlich verfluchte er sich, weil er sich von diesem unglaublichen Lächeln hatte einlullen lassen, mit dem der Hotelmanager sein Intro für das Spiel, dass er mit ihm hatte spielen wollen, beendet hatte. Er war Seto Kaiba! Und ein Kaiba, vor allem ein Seto Kaiba, verlor nicht! Nie! Das war ungeschriebenes Gesetz und bis jetzt hatte sich nur einer gewagt, daran zu rütteln. Ungläubig starrte er auf den Wohnzimmertisch, auf dem die Partie noch gut sichtbar dar lag. Er brauchte nicht erst die Gebiete auszuzählen, um zu wissen, dass er verloren hatte. Doch das Schlimmste war, dass sein Gegenüber dies auch wusste! Zweifelnd hatte er ihn kurz angeblickt, als Seto darauf bestanden hatte die weißen Steine zu nehmen und ihn somit beginnen ließ, und nun saß er entspannt im Sessel und betrachtete noch einmal die Partie Go, die vor fünf Minuten damit geendet hatte, dass nach ihm auch Seto gepasst hatte. Gedanklich wiederholte Seto jeden einzelnen Zug. Nein, er hatte nach bestem Wissen die Steine platziert und doch hatte er eindeutig verloren. Dabei beherrschte er Go doch! Sobald er gemerkt hatte, dass ihm Schach keine wirkliche Freude mehr bereitete, hatte er sich etwas zum Ausgleich gesucht. Natürlich war er kein Profi, doch hatte er sich vom Können immer mit diesem verglichen, und nun das! Es war kein Glück, dass den anderen gewinnen ließ, sondern die bessere Strategie und ein Überblick über das Spiel, der ihm offensichtlich gefehlt hatte. „Kann ich auszählen?“ Was fragte der Typ überhaupt noch? Der wusste doch schon längst, wie es ausgehen würde! „Ja, natürlich.“ Er wusste genau, dass er sich daran eigentlich hätte beteiligen müssen, doch hielt ihn sein verletzte Stolz davon ab. Stumm sah er zu, wie die Steine routiniert verschoben wurden. „Wo haben Sie eigentlich gelernt, so zu spielen?“, fragte er, als wieder alle Steine auf dem Brett lagen und selbst ein Anfänger sehen konnte, dass Schwarz eindeutig siegreich war. „Ab und zu kommen zwei Go-Profis hierher als Gäste und wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, sich über ihre letzte Partie zu streiten, sind sie durchaus bereit mich und Shin zu verbessern und zu erklären, was wir falsch machen. Allerdings spielen wir nur einmal im Monat, wenn es hochkommt.“ Er sortierte die Steine wieder in ihre Behälter, legte die Deckel darauf und klappte auch das Brett zusammen. „Erhalte ich keine Revanche?“ „Heute nicht. Aber ich lasse alles hier für eine weitere Partie. Ich würde Ihnen gerne noch etwas zeigen, wenn Sie möchten.“ Geschmeidig erhob er sich und ging in den Flur, um dort seine Schuhe wieder anzuziehen. Mürrisch tat Seto es ihm gleich, obwohl er lieber noch etwas über dem verlorenen Spiel brüten würde oder bestenfalls noch einmal gespielt hätte. Dann zog er den Wintermantel an, während der Hotelmanager einen dunkelgrauen Pulli überstreifte. Draußen fing er dann an zu erklären, während sie quer durch den Wald gingen: „Wir haben insgesamt sechs Häuser, die jeweils etwas anders eingerichtet sind. Meistens ist das ein Zusammenspiel aus meinen und Martines Vorlieben, doch es gibt jeweils ein Haus, in das sich der andere kaum eingemischt hat.“ Seto horchte auf. Da war dieser Name schon wieder. „Ist Martine ihre Lebensgefährtin?“, fragte er gerade heraus. Er ging nicht davon aus, dass sie verheiratet waren, denn dann hätte er doch vermutlich einen Ring getragen. Das herzhafte Lachen des Mannes neben ihm überraschte ihn, ebenso sein forschender Blick, bevor er antwortete: „Nein, ist sie definitiv nicht. Sie ist die jüngere Schwester meines Geschäftspartners und eindeutig die kreativere von den beiden. Deswegen hat sie mir auch sehr viel beim Hotel geholfen. Der Begriff, der unsere Beziehung am besten umschreibt ist zwar etwas altmodisch, aber am ehesten würde ich sie als meine engste Vertraute bezeichnen. Nicht, dass ich nicht auf Frauen stehen würde, aber Beziehungen mit ihnen sind mir einfach zu stressig – und leider gibt es nur wenige Männer, für die nicht das Gleiche gilt... Ah, da sind wir auch schon.“ Er ließ Seto nicht mal annähernd genug Zeit, um die soeben erhaltenen Informationen zu verarbeiten, denn sie standen jäh vor einem Ferienhaus, das noch größer war, als das, in dem er die zwei Wochen Urlaub verbrachte. Mit einem Schlüssel, den er aus der Hosentasche zog, schloss der Hotelmanager auf, winkte ihm zu folgen und begann im Flur seine Schuhe auszuziehen. „Ich würde Sie bitten, auch die Schuhe zu wechseln. Cian und Matt haben hier heute Vormittag erst sauber gemacht.“ So betrat Seto das weitläufige Wohnzimmer in Pantoffeln, die ihm gereicht worden waren. Der Panoramablick auf das Meer war fast wie bei ihm, doch wo bei ihm so etwas wie Eleganz herrschte, stand hier die Gemütlichkeit klar im Vordergrund. Zwei große Sofas, weiche Teppiche auf dem Holzboden, abgerundete Ecken, eine Menge Kissen und … eine offensichtliche Vorliebe für Drachen. „Das Elternschlafzimmer, die Küche und das Bad sind fast wie bei Ihnen“, fing der andere wieder an zu erklären. „Auch wenn wir natürlich beim Wohnzimmer darauf geachtet haben, dass bequem vier Leute Platz haben. Doch das wollte ich Ihnen nicht zeigen. Stellen Sie sich bitte vor diese Tür und machen Sie die Augen zu.“ Leicht verwirrt tat Seto wie ihm geheißen und bezog Stellung vor der Tür, hinter der sich bei ihm das Badezimmer befunden hätte, und schloss die Augen. Leise hörte er wie die Tür geöffnet wurde und dann eine Stimme direkt hinter ihm, die sagte: „Und jetzt gehen Sie drei Schritte gerade aus. Gut. Und jetzt drehen Sie sich bitte nach rechts.“ Er merkte, wie er nervös wurde, konnte jedoch nicht einordnen, ob dem so war, weil er nicht wusste was ihn erwartete oder wegen der Nähe des anderen. Doch all diese Gedanken waren verflogen, als er nun die Augen öffnete. Instinktiv wich er einen Schritt zurück als er sich dem weißen Drachen mit eiskaltem Blick direkt gegenüber sah. Fast lebensgroß blickten ihn die blauen Augen wachsam an. Es lag keinerlei Aggression darin, doch wirkten sie und das Wesen, zu dem sie gehörten, so echt, dass sie seine Holosysteme verblassen ließen. Staunend betrachtete er den Rest der Wand, den Hals und Körper so ausfüllten als käme der Drache direkt auf einen zu geflogen. Jede Einzelheit war perfekt dargestellt und wirkte plastisch, obwohl die Wand selbst flach war. Nach einigen Minuten stiller Bewunderung drehte er sich fragend zum Hotelmanager herum, der halb die Wand halb ihn zu beobachten schien. „Was...Wer...Wie...“, versuchte er einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. „Martine. Sie hat ein Faible für Drachen, wie Sie bestimmt bemerkt haben – besonders für die in Duel Monsters. Die Wette von der ich Ihnen gestern Abend erzählt habe, die mein Kollege verlor bezog sich darauf, ob sie ihn besiegen könne. Er wurde in Grund und Boden gestampft von ihr.“ Ein sanftes „Ach, Hündchen“ entschlüpfte Setos Lippen, bevor er es verhindern konnte. „Wie bitte?“ „Nichts. Sprechen Sie weiter.“ „Üblicherweise, wenn sie im Hotel ist, bekommt sie dieses Haus. Den Drachen hier hat sie für ihre Kinder gemalt. Manche Eltern sind entsetzt, wenn sie ihn das erste Mal sehen, aber den Kindern gefällt es immer. Sie sagen dann, er würde sie vor bösen Träumen beschützen. Von einigen weiß ich sogar, dass mittlerweile ein Poster von ihm in ihrem Kinderzimmer hängt. Und...“ „Wieso zeigen Sie mir das eigentlich?“ Belustigt hoben sich die Mundwinkel noch etwas höher. „Ihr Bruder hat sich verplappert, bezüglich Ihres Namens.“ „Mokuba...“ „Und ich dachte mir, es könnte Ihnen gefallen das hier zu sehen, wenn ich mich schon weigere mich mit Ihnen zu duellieren. Außerdem ist das für mich einer der schönsten Räume in unseren Häusern – neben dem Wohnzimmer von Nummer 4.“ „Aha.“ Wirklich zufrieden stellend fand er die Antwort nicht, doch für eine Beschwerde genoss er gerade zu sehr den Anblick des Gemäldes. „Wie lange hat sie dafür gebraucht?“ „Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung. Sie war abends des Öfteren verschwunden, während ich die Kalkulation überprüft oder einfach das Gelände erkundet habe. Das war ein Zeitraum von über einem Monat, doch wie viel Zeit sie tatsächlich hierfür verwendet hat, weiß ich nicht, denn ein paar der anderen Häuser haben auch Wandmalereien. Allerdings sind die etwas weniger imposant, sondern eher schlicht, fast unauffällig. Bei der Einrichtung haben wir quasi das gesamte erste Jahr, das das Hotel in Betrieb war, noch nachgebessert, aber dieser Raum hier hat sich kaum verändert – bis auf die Betten. Anfangs war das hier“, er deutete auf ein riesiges Stockbett hinter ihnen, „nur auf Kindergröße ausgelegt, doch dann hatten die Zwillinge ihren ersten größeren Wachstumsschub und Martine stand entsetzt bei mir im Büro und bestand auf eine Vergrößerung. Jetzt haben wir oft Gruppen von vier Erwachsenen hier drin, die sich darum streiten, wer im „Drachenzimmer“ schlafen darf. Seto konnte sie nur zu gut verstehen. Er hatte inzwischen angefangen zu überschlagen, was es ihn kosten würde ein ähnliches Gemälde in seinem Schlafzimmer in Domino zu haben. Anfangs war er für das Arbeitszimmer gewesen, doch hätte das vielleicht seine Autorität untergraben können, wenn er sich zu kindlich gab. Die meisten seiner Geschäftspartner waren deutlich älter als er und zeigten auch so schon wenig Respekt gegenüber jenen Erwachsenen, die sich mit kindlicher Begeisterung mit Spielzeug beschäftigten, selbst wenn sie selbst in der Spielbranche tätig waren. Aber auch diesen Gedanken verwarf er schnell wieder. Sollte es ihm gelingen, jemals einen Mann zu finden, den er mit in sein Schlafzimmer nahm, würde der es wohl kaum prickelnd finden, wenn an der Wand ein Drache prangte, auch wenn es das Markenzeichen seines Liebsten war. Wobei, einen gäbe es bestimmt, der damit keine Probleme hätte, sondern es höchstens mit einem Kommentar wie „Größenwahn“ oder „zu viel Geld“ quittieren würde. Nur kannte er von ihm nicht einmal den aktuellen Aufenthaltsort. Nein. So wie es schien, waren es zwei, wenn er hinüber blickte zu demjenigen, der gerade in den Anblick der Flügel versunken schien. Blieb nur noch die Frage, ob er sich die Aufmerksamkeit wirklich mit einem zweidimensionalen Drachen teilen wollte. „Chef? Was machen Sie denn noch im Büro?“, wollte Matt von ihm wissen, der seine übliche Runde über die Außenanlagen beendet hatte und vermutlich von außen noch das Licht der Schreibtischlampe gesehen hatte. „Mir ist nur gerade noch etwas eingefallen, was ich erledigen wollte, bevor es mir wieder entfällt. Nichts Großes. Bin gleich fertig.“ Wie es seine Art war, behielt Matt seine Gedanken für sich und verabschiedete sich nur kurz nach oben: „Na, dann. Ich geh dann mal schauen, was Cian macht.“ Und schon war er auch wieder aus der Tür hinaus und zog vermutlich eins und eins zusammen. Denn der Chef saß nicht erst seit Kurzem an seinem Schreibtisch, sondern bereits den ganzen Abend, nur unterbrochen vom Abendbrot. Doch wollte er sein Vorhaben für den nächsten Tag durchführen, musste er so viel Arbeit wie möglich erledigt haben. Vielleicht machte er noch eine Stunde und ging dann zu Bett. Es würde ihm nämlich auch nichts nützen, wenn er vor Müdigkeit im Stehen einschlief. Die Vorfreude ließ ihn schneller arbeiten und als er schließlich den Computer herunterfuhr und die Lampe ausknipste, konnte er sich mit gutem Gewissen einen Tag frei geben – was aber nicht alle zu wissen brauchten. Kapitel 11: 17.2. Dienstag -------------------------- „Morgen, Yuki“, begrüßte Seto sie freundlich, als sie mit seinem Frühstück in der Tür zum Flur erschien. Irgendwie gewöhnte er sich allmählich daran, dass sie immer mit diesen seltsamen Transportkisten auftauchte und nach ein paar freundlichen Worten wieder verschwand. „Guten Morgen.“ Sie schien bester Laune. „Ich habe hier Ihr Überraschungsfrühtstück für Sie. Wenn Sie es mir hier abnehmen, müsste ich nicht die Schuhe ausziehen.“ Bereitwillig erhob er sich aus dem Sessel und ging zu ihr hinüber, während ihr Blick auf die wieder aufgebaute Partie Go fiel. „Wenn Sie mal einen Gegner brauchen, kann ich gerne schauen, ob ich zwischendrin Luft habe. Aber erzählen Sie es bitte nicht den anderen. Die beschweren sich nämlich immer, weil ich sie nicht gewinnen lasse.“ Seto machte große Augen und fragte: „Auch der Chef?“ Yuki kicherte. „Naja, der nicht. Aber dafür pflegen wir eine gesunde Rivalität und momentan habe ich einen Sieg mehr als er. Wie gesagt, das Angebot steht. Lassen Sie sich das Essen schmecken.“ Sie zwinkerte ihm noch kurz zu und war dann wieder aus der Tür hinaus. Was konnte dieses Hotelteam nicht? Es konnte singen, spielte Go, malte traumhafte Bilder. Fehlte nur noch, dass sie alle Höchstleistung in irgendeiner Sportart erbringen konnten. Doch für ihn zählte erst einmal sein Frühstück, bei dem er sich von Shin hatte überraschen lassen. Und so staunte er nicht schlecht, als er frische Brötchen und kleine Marmeladengläser in der Kiste fand, deren Inhalt verdächtig selbstgemacht aussah. Hungrig verteilte er alles auf dem Esstisch und holte sich anschließend Geschirr aus der Küche. Nach dem Abwasch hatte er die Partie Go wieder weggeräumt. Trotz der Stunden, die er über ihr gebrütet hatte, war ihm immer noch keine Methode eingefallen, wie er seine Niederlage hätte abwehren können, und es wäre ihm unangenehm, wenn er von noch jemanden dabei erwischt würde, wie er sie anstarrte. Schließlich hatte er an der Haustür das Versprechen bekommen, dass ein gewisser Jemand im Laufe des Vormittags wieder bei ihm vorbeischauen würde. Eine genaue Uhrzeit war leider nicht genannt worden und so blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Etwas, das ihn mehr als alles andere nervte, vor allem, weil es ihm genug Zeit zum Nachdenken gab. Nachdenken darüber, was der langsam verblassende Traum der letzten Nacht zu bedeuten hatte, und darüber, was er überhaupt hier machte. Seit wann suchte er die Nähe eines Menschen – von Mokuba einmal abgesehen, der als sein Bruder nicht wirklich zählte? Denn immerhin war er sein Motor, sich zu behaupten und immer sein Bestes zu geben. Bisher hatte er gedacht, dass es ihm niemals so ergehen würde und dann träumte er so einen Blödsinn von weißen Drachen, die direkt vor einem blonden Mann landeten, der den Kopf des einen zart mit der Hand berührte. Das war doch nicht mehr auszuhalten! Auch wenn er sich geschworen hatte, hier zu warten, konnte er nicht verhindern, dass er hinaus in den Flur stürzte, seine festen Schuhe anzog und erst halb im Mantel die Haustür aufriss und beinahe in die Hand des Hotelmanagers lief, der sie bereits zum Klopfen erhoben hatte. Im letzten Moment konnte er gerade noch mit vor Schreck geweiteten Augen stehen bleiben. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte dieser leicht besorgt. Er musste aussehen wie ein gehetztes Tier! „Ja, alles in bester Ordnung. Ich wollte einfach nur an die frische Luft.“ „Dann passt mein Plan für heute ja. Sie sollten allerdings abschließen, bevor wir uns auf den Weg machen.“ Still gehorchte er, sich immer noch unsicher, wie er mit der Situation am besten umging. Wäre er nur ein wenig schneller gewesen, hätte er sich selbst ausknocken lassen, zwar von jemand sehr charmantem, aber immer noch...Moment! Charmant? Seit wann gehörte dieses Wort in sein Vokabular, außer er musste ein Lob für eine weniger hübsche Frau finden, was selten genug vorkam. „Was haben Sie denn für heute geplant“, täuschte er Interesse vor, um sich von seinen eigenen Gedanken abzulenken. „Einen längeren Spaziergang. Da Sie letzten Woche bereits den Norden des Geländes kennengelernt haben, dachte ich mir, es könnte Sie interessieren, auch den Süden kennen zu lernen.“ Statt zu antworten schritt Seto einfach an ihm vorbei in Richtung des Waldweges, der seines Erachtens nach Süden führen müsste. Die Mühelosigkeit mit der er eingeholt wurde und mit der mit ihm Schritt gehalten wurde, überraschte ihn. „Wir können aber auch einen Dauerlauf machen, wenn Sie möchten“, kam es vom Mann an seiner Seite. „Allerdings hätten Sie da gegen mich schlechte Karten.“ Eigentlich hatte Seto ihn mit Schweigen strafen wollen, doch seine Neugier siegte. Was sprach dagegen ihm mal so richtig schön auf den Zahn zu fühlen? Daher fragte er nun: „Wieso? Ich wirke auf den ersten Blick zwar wie jemand, der nie aus seinem Büro herauskommt, aber ich mache durchaus auch Sport!“ „Sie haben also auch beim letztjährigen Iron Man mitgemacht? Ich bin beeindruckt.“ Es lag kein Spott in der Stimme, eher Verwunderung. „Nein, ich... Was? Wie finden Sie die Zeit zum Trainieren? Sie sehen gar nicht aus wie...“ „...jemand, der mit Muskeln vollgepackt ist? Beim Triathlon geht es in erster Linie um Ausdauer, dadurch werden die Muskeln nicht so dick, wie zum Beispiel bei Sprintern. Und das Training mache ich nebenher. Zwei bis dreimal die Woche laufe ich hier auf dem Gelände, morgens schwimme ich und wenn abends noch Zeit ist, schwinge ich mich aufs Fahrrad. Das geht alles bei einem geordneten Tagesablauf. Und dann trainiere ich natürlich noch mit dem Team Nahkampf, falls es mal zu Zwischenfällen im Hotel mit Externen kommen sollte.“ „War das denn schon einmal notwendig?“ „Ja, zweimal bereits. Das erste Mal hatte der Eindringling Glück. Er ist nur Matt über den Weg gelaufen und hatte einen gebrochenen Arm. Der zweite lag einen Monat lang im Krankenhaus.“ Seto wollte fragen, doch es war überflüssig. Etwas in seinem Inneren wusste ganz genau, wem der zweite Eindringling über den Weg gelaufen war. Doch seltsamerweise machte dieses Wissen den anderen nur noch faszinierender für ihn. „Wann haben Sie damit angefangen?“ „Mit dem Triathlon? Während des Studiums so richtig, davor bin ich aber auch schon viel gelaufen und Rad gefahren. Das dann während der Praxisphasen aufrecht zu halten, war schon etwas schwieriger. Haben Sie schon einmal versucht in Manhattan Fahrrad zu fahren? Das ist wirklich nur etwas für Lebensmüde!“ „Eigentlich meinte ich das andere.“ „Nahkampf? Das hat mir meine Tante vor sieben Jahren angefangen beizubringen, nachdem ich ihr erzählt habe wie oft ich mich als Jugendlicher geprügelt habe. Ihr war wichtig, dass ich den Respekt vor dem Menschen lerne, den ich angreife. Mittlerweile ist es eine reine Verteidigungsmöglichkeit für mich... Ganz offensichtlich bin ich dadurch ein ganzes Stück ruhiger geworden – oder ich habe endlich meinen jugendlichen Leichtsinn verloren.“ „Wie alt sind Sie?“ „26. Was ist? Sie schauen so entsetzt.“ Seto wusste nicht genau, was er antworten sollte. Ihm war bewusst, dass der Hotelmanager noch relativ jung sein musste, aber er wirkte trotzdem ziemlich reif und eindeutig älter. „Nichts. Ich hätte nur erwartet, dass sie vielleicht so Anfang dreißig sind. Aber das heißt auch, dass Sie kurz nach dem Studium angefangen haben dieses Hotel zu leiten, oder? Gab es hier früher schon ein Hotel? Wem gehört das Gelände eigentlich? Wie kamen Sie zu dem Job?“, sprudelten die Fragen aus Seto heraus. „Merkwürdigerweise werde ich meistens etwas älter geschätzt – das führt immer zu einer Reihe von Missverständnissen, wenn ich mit Dad oder meiner Tante unterwegs bin. Um es kurz zu machen. Ich war 22, als ich anfing das Ferienhaus meines Geschäftspartners in das Hotel umzubauen. Seitdem gehört es mir inklusive der Freiflächen zur Hälfte.“ Eine Weile gingen sie schweigend neben einander her, weil Seto nicht genau wusste, was er darauf erwidern sollte. Es imponierte ihm, wie der Chef so klar heraus sprach und, dass er anscheinend sehr zielführend seine Pläne umsetzen konnte. Dass seine letzte Frage offen in der Luft hängen geblieben war, fiel ihm erst auf, als der andere plötzlich weitersprach: „Zu dem „Job“, wie Sie es ausgedrückt haben, kam ich an dem Abend, an dem mein Kollege die Wette gegen Martine verlor. Es war schon recht spät und bevor sie an die Bar kam, war nur noch ein Gast dort gewesen. Er hatte zuvor einen schweren Rotwein bei mir geordert und wirkte leicht genervt, als sie nun gut sichtbar schwanger auf den Barhocker kletterte und mit meinem Kollegen das Schäkern anfing. Er murmelte, er wünsche sich mehr Privatsphäre und Ruhe. Und aus irgendeinem Grund begann ich ihm knapp zu erzählen wie ich mir das Hotel verstellte, das ich später einmal führen wollte. Manchmal stellte er Gegenfragen oder erkundigte sich nach Details, denn anscheinend hatte ich sein Interesse geweckt. Zwischendrin wurde mir bewusst, wie riskant es war einem Fremden eine so gute Idee zu verraten, aber dann stand er am Ende des Abends auf, reichte mir seine Visitenkarte und bat mich am nächsten Tag um 15Uhr in der Lobby zu sein. In der Nacht tat ich kein Auge zu. Ich war viel zu verunsichert, was ich tun sollte. Der Typ hatte nicht so gewirkt als wollte er etwas von mir – im sexuellen Sinn – und mein Kollege schallt mich einen ziemlichen Idioten, als ich ihm am Morgen erzählte, dass ich nicht hingehen wollte. Dann erzählte er mir von seinem Pech mit der schwangeren Fotografin und schleifte mich als Strafe für mein Lachen zu dem Termin. Wir staunten nicht schlecht, als sich beide mit vollem Namen uns noch einmal vorstellten, denn sie hatten zu zweit auf uns gewartet. Niemals hätten wir gedacht, dass das Geschwister wären, auch nicht, dass er ein ziemlich erfolgreicher, amerikanischer Geschäftsmann war! Ich erhielt einen Vertrag, in dem festgehalten wurde, dass die Idee von mir kam – bis ins kleinste Detail – und ich der Einzige sei, mit dem sie diese Idee umsetzen würden. Ich bekam genug Zeit mein Studium abzuschließen und noch etwas Erfahrung zu sammeln, währenddessen arbeitete ich aber schon fleißig am Projekt und suchte die passenden Leute zusammen. Bei meinem nächsten Aufenthalt in Japan zeigten sie mir dieses Grundstück und es machte klick.“ Nach diesem Redeschwall blieb er wieder für geraume Zeit still und folgte einfach nur dem Waldweg, der deutlich weniger mäanderte als sein nördlicher Bruder. Auch Seto schwieg, tief in Gedanken. Mittag war schon längst durch, als er aus diesen gerissen wurde. Vor ihnen öffnete sich der Wald und gab den Blick auf den Strand frei. In der Übergangszone zwischen Waldboden und Sand blieb der Hotelmanager stehen, stellte sich auf ein Bein und begann seine Stiefel aufzuschnüren. Entsetzt blickte Seto ihn an, als der erste nackte Fuß auf dem Sand stand. „Keine Angst! Sie können ruhig ihre Schuhe anlassen, aber Cian macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich den ganzen Sand mit ins Haus schleppe.“ Der zweite Stiefel folgte und die Schnürsenkel wurden zusammengeknotet, so dass sie bequem an diesen tragbar waren. „Aber wir laufen jetzt eh erst mal nicht weit“, fuhr er fort und steuerte eine Bank links von ihnen an, die vor der letzten Baumreihe stand. Dort stellte er einen kleinen Rucksack ab und begann ihn auszupacken, während Seto kritisch den Inhalt musterte, der malerisch auf der Mitte des Holzes verteilt wurde. Wurst, Käse, Brot, Sandwichs, Obst, zwei Flaschen Wasser. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass der andere das die ganze Zeit über getragen hatte. Dieser setzte sich nun zufrieden auf die eine Seite des Essens und krempelte seine dunkle Hose ein Stück höher, damit der Saum nicht im Sand hing und schnappte sich ein Sandwich. Während seines ersten Bissens deutete er neben sich. Mit wieder leerem Mund verdeutlichte er: „Setzen Sie sich und nehmen Sie sich etwas. Wir werden für den Rückweg noch gut zwei Stunden brauchen.“ Eigentlich wollte Seto sich dagegen sträuben. Seinetwegen würde er sich noch hinsetzen, aber essen wollte er garantiert nichts. Kerzen gerade saß er da und blickte aufs Meer hinaus, bis ihm der verlockende Geruch von Fisch mit Hönigsenf in die Nase stieg. Ohne hinüber zu sehen zu demjenigen, der ihm ungefragt das Sandwich direkt vor sein Gesicht gehalten hatte, griff er danach und biss ab. Konnte man das Hotel verklagen, weil es zu leckeres Essen machte? Er hatte keine Waage im Bad und auch seine Kleidung spannte noch nicht, doch er hatte bestimmt zugenommen! Er nahm sich ein weiteres, diesmal mit Putenbrust, ohne den interessierten Blick des anderen zu bemerken, der mit Sandwich Nummer 3 fertig war und sich nun bei der geräucherten Wurst und dem Käse bediente. Nachdem alles aufgegessen war, räumte er die Reste zusammen und verstaute sie wieder. Die nächsten zehn Minuten überlegte Seto fieberhaft wie er wieder ein Gespräch anfangen könnte. Die Stille, die zwischen ihnen herrschte, war nicht unangenehm, aber er war neugierig geworden, was der andere schon alles erlebt hatte. „Wie war eigentlich Ihre Schulzeit?“, fragte er möglichst desinteressiert, während er damit kämpfte, dass er in den Schuhen schlechter vorankam als der andere, der Nahe des Flutsaums lief. Doch Ausziehen war für ihn keine Option. „Meine Schulzeit?“ „Ja.“ „Eigentlich sehr gut. Meine besten Freunde waren mit mir in einer Klasse. Allerdings führte das auch dazu, dass die Lehrer uns oft ermahnten, wir sollen nicht so viel Blödsinn machen während des Unterrichts. Meine Noten waren auch gut – auch wenn man mir das meistens nicht zugetraut hat. Und gegen unseren Klassenprimus hatte ich eh nie eine Chance. Super Noten, wohlhabende Familie, hat sich für was Besseres gehalten und sich immer darüber beschwert wie kindisch wir doch wären. Aber eine Tatsache wurde immer ignoriert. Er war zwei Jahre älter als ich, ein Jahr zu alt für unsere Klassenstufe. Aber ansonsten war meine Schulzeit wirklich schön. Trotzdem bin ich froh, dass ich mir mittlerweile selbst aussuchen kann, in welchen Gebieten ich mich weiterbilde. Und wie war sie bei Ihnen?“ Erschrocken blickte Seto ihn an. Mit einer Gegenfrage hatte er nicht gerechnet, außerdem waren ihm gewissen Parallelen aufgefallen, die zwischen dem Hotelmanager und jemand anderem zu bestehen schienen. „Relativ normal und ereignislos. Kein sehr großer Freundeskreis, gute Noten, die Möglichkeit nebenher für meine Firma zu arbeiten. Mehr gibt es da nicht zu erzählen“, tat er die Geschichte schnell ab. Er musste einfach fragen, sonst würde ihn das den ganzen restlichen Tag beschäftigen. „Wie heißen Sie eigentlich? Es wäre nur fair, nachdem Sie anscheinend meinen Namen kennen, wenn ich auch Ihren erfahren würde.“ Abwartend sah er zu ihm herüber, während sie weiterliefen. Skeptisch wurde eine Augenbraue hochgezogen. „Mein Name ist relativ unwichtig und ich mag ihn auch nicht besonders. Sie können mich Chef nennen, so wie der Rest, der das Bedürfnis verspürt mich mit einem Namen anzusprechen. Oder Sie machen es wie Martine und necken mich mit amerikanischen Kosenamen. Aber bitte nicht „Pumpkin“ - das erinnert mich zu sehr an die Kutsche aus der Cinderella-Verfilmung von Disney.“ Es gefiel Seto nicht, dass er nur eine ausweichende Antwort erhalten hatte, traute sich aber nicht, direkt nachzubohren. Sicherlich würde es noch andere Situationen geben, in denen er den anderen vielleicht sogar so überrumpeln konnte, dass er mit der Wahrheit herausrückte. Daher wechselte er das Thema: „Sie kennen die Disney-Version von „Cinderella“? Ich hätte nicht gedacht das ein erwachsener...“ „...Mann solchen Kitsch schaut? Ich um ehrlich zu sein auch nicht. Aber meine Cousine steht total auf diesen Film und während ihrer Prinzessinnenphase musste die Familie gut ein Dutzend Mal den Film mit ihr schauen – als ob es nicht schlimm genug wäre, dass ihre Mutter den Spitznamen „Rapunzel“ hat, weil ihre Haare so lang waren als Jugendliche.“ „So lang sie ihre Haarfarbe nicht von blond auf brünett gewechselt hat, ist doch alles in Ordnung.“ „Wirklich gewechselt nicht, aber sie sind dunkler geworden. Was für Filme außer „Tangled“ kennen Sie eigentlich noch?“ Seto konnte über sich selbst fluchen, dass er sich so verplappert hatte. Alle Erklärungen, die ihm spontan einfielen, wirkten selbst auf ihn unglaubwürdig und so musste er sich wohl oder übel für die Wahrheit entscheiden: „Mein Bruder wollte sie immer sehen, als er noch klein war, und ich hab irgendwann festgestellt, dass sie wunderbar beim Ausspannen nach einem zu langen Arbeitstag helfen. Deshalb kenne ich vermutlich fast alles, was Disney je an Märchenfilmen herausgebracht hat. Zur Verteidigung meiner Ehre, kann ich nur sagen, dass ich auch jeweils die Originale gelesen habe.“ „Wirklich? Wie fanden Sie die Entzauberung des Froschkönigs?“, wollte der andere nun wissen und er antwortete wahrheitsgemäß. Kaum zu glauben, dass sie mit „Märchen“ ein so ergiebiges Thema gefunden hatten! Doch plötzlich verfinsterte sich das Gesicht des Hotelmanagers mitten in einem Witz über das gealterte, runzlige Dornröschen. „Wir sollten ein bisschen schneller gehen“, riet er und blickte über die Schulter Richtung Land. Seto folgte seinem Blick, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Natürlich war der Himmel grau hinter ihnen, aber das war er schon den ganzen Tag über gewesen und wenn die Zeitangabe des anderen stimmte hatten sie nur noch eine dreiviertel Stunde zu gehen, bis sie wieder an seinem Ferienhaus angelangt wären. „Wieso?“ „Weil uns das Wetter, das da kommt, in nicht mal einer halben Stunde eingeholt haben wird. Der Regen war zwar angekündigt, aber offiziell erst für heute Nacht.“ Mit großen Schritten holte er aus und erhöhte somit sein Tempo spürbar. Seto hatte nun wirklich Schwierigkeiten mit ihm mitzuhalten. Das Gespräch hatten sie abgebrochen. Er brauchte momentan sämtlichen Sauerstoff, um kein Seitenstechen zu bekommen. Doch alle Bemühungen waren umsonst, denn wie perfekt abgemessen, spürte er exakt 25 Minuten später die ersten Tropfen auf seinem Kopf. Der andere musste es auch bemerkt haben, denn nun wechselte vom Flutsaum zum Waldrand, wohin Seto ihm folgte. Hier sank er zwar auch bei jedem Schritt ein, doch bildete er sich ein zumindest etwas trockener zu bleiben. Ein Irrglaube, wie er fünf Minuten später festgestellt hatte. „Keine 10 Minuten noch“, kam es von vor ihm. Die beiden Einschnitte im Wald, die seinem ähnelten ignorierten sie, zogen aber erneut das Tempo an, das ersehnte Ziel nun in fast greifbarer Nähe. Der Hotelmanager wartete nicht, bis er seinen eigenen Schlüssel gezogen hatte, sondern schloss einfach auf und betrat den Flur, ließ aber die Tür offen für Seto, der nur noch sah, wie er die dunklen Pantoffeln an den Füßen im Wohnzimmer nach rechts abbog. Der graue Mantel und der rote Schal hingen bereits tropfnass an der Garderobe. Es fiel ihm zum ersten Mal auf, dass man beim Einbau offensichtlich damit gerechnet hatte, dass dort auch mal nasse Kleidung hing. Träge schälte er sich ebenfalls aus seinem nassen Mantel und fluchte leise, weil die vollgesogenen Schnürsenkel sich so schwer öffnen ließen. Der untere Teil seiner Hose tropfte den Boden voll. Er musste schnell seine Sachen wechseln. Zielstrebig wollte er bereits an seinen Schrank, als er aufgehalten und ins Bad geschoben wurde mit den Worten „Ich komm auch gleich“. Warmes, dampfendes Wasser floss in die Wanne zu einem Schaumbad hinein und stieg schnell höher. Ohne zu überlegen, zog Seto sich rasch aus, stieg hinein, setzte sich auf einen der inzwischen mit Schaum und Wasser bedeckten Vorsprünge und lehnte sich mit geschlossenen Augen nach hinten. Die Wärme tat ihm gut und entspannte seine schmerzende Beinmuskulatur, die gegen die mangelnde Versorgung mit Sauerstoff bereits kurz nach Beginn des Regens aufbegehrt hatte. Und das Wasser stieg weiter. Erst als der Rand der Wanne fast erreicht war, riss er panisch die Augen auf und wollte nach dem Wasserhahn greifen, der aber außerhalb seiner Reichweite lag. Dafür sah er eine große, schmale Hand, die ihn kräftig zudrehte. Der Hotelmanager hatte sich ebenfalls ausgezogen und ein kurzes Handtuch um die Hüfte geschlungen, das er um ließ, während er nun ebenfalls in die Badewanne stieg. Seine blonden Haare lagen nicht mehr ganz so ordentlich und hatten durch den Regen draußen angefangen ein gewisses Eigenleben zu führen. Auch sah man mehr als deutlich, dass er keineswegs ein Sportmuffel war, nur hatte sich seine ausgeprägte Muskulatur bisher nicht unter seiner Kleidung abgezeichnet. Seto war froh, dass er die leichte Rötung seiner Wangen zur Not auf das warme Wasser schieben konnte, und erleichtert, als der Schaum nun auch dem Chef bis knapp unter die Schultern reichte. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er sonst nichts anderes hätte tun können als diesen wunderschönen Körper zu begaffen. Schnell schüttete er sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, wobei er jedoch die ganzen Seifenblasen vergaß. Wild schnaubte er, um Mund und Nase frei zu bekommen, und stellte geknickt fest, dass sein Gegenüber ihn frech angrinste. Um von sich selbst abzulenken, stellte er die erste Frage, die ihm in den Kopf kam: „Kennen Sie eigentlich einen Joseph Wheeler?“ Das Grinsen wurde breiter. „Natürlich kenne ich ihn! Das ist mein ehemaliger Kollege, von dem ich die letzten beiden Tage erzählt habe. Ich hatte nicht gewusst, dass Sie ihn kennen.“ Er schien ihm Wasser etwas zu suchen. „Naja, kennen wäre übertrieben. Er war die Nervensäge meiner Schulzeit.“ Der andere lachte: „Das kann ich mir gut vorstellen! Er war damals auch immer sehr speziell. Augen zu!“ Er kam Seto näher, dem gerade sehr bewusst wurde, dass er vollkommen nackt im Bad saß. Wie sollte er später hier raus kommen, ohne sich so vor dem anderen zu zeigen? Okay, er hielt seinen Körper für halbwegs ansehnlich, aber er war käsig und untrainiert und...Der Wasserstrahl überraschte ihn. Verdutzt machte er die Augen wieder auf. Damit hatte er nun am wenigsten gerechnet. Ein winzig kleiner Teil seines Verstandes hatte sogar auf irgendeine Form der Zärtlichkeit gehofft und da wurde er einfach so abgebraust! „Besser?“ Seto nickte nur und folgte mit den Augen dem jungen Mann, der wieder seinen Platz einnahm. Diesmal war er fast enttäuscht, als der Oberkörper wieder unter den Wasserspiegel verschwand. Wie gerne hätte er den Anblick noch etwas länger genossen. Entsetzt über den Gedanken schloss er schnell die Augen und rutschte etwas tiefer. Hoffentlich war dieser Schaum blickdicht und hielt lange! „Ich habe Yuki Bescheid gegeben. Sie wird mir frische Kleidung bringen, sobald sich der Regen etwas gelegt hat.“ „Mhm.“ Er traute sich nicht etwas zu erwidern, weil in ihm plötzlich die Frage aufkam, was der Chef wohl tun würde, wenn er nichts hätte, um sich nach dem Bad wieder anzukleiden. Die Nähe des anderen war ihm immer noch viel zu sehr bewusst und nagte an seiner Selbstbeherrschung. Zwei konkurrierende Ideen schwirrten in seinem Kopf. Die eine beinhaltete die Frage, ob das Wasser sich zu verräterisch bewegen würde, wenn er mit der Hand in tiefere Regionen seines Körpers gehen würde. Nur ein wenig streicheln. Würde er sich tatsächlich einen runter holen, hätte er zu große Angst sein Gesicht könne etwas preisgeben. Die zweite war absolut schamlos und beinhaltete eine Menge Eigeninitiative seinerseits. Er könnte sich doch einfach auf den Schoß des anderen begeben, diesen abknutschen und warten, was passieren würde. Er sah aber auch zu verführerisch aus mit den leicht geröteten Wangen – anscheinend kämpfte auch er mit den Temperaturen. Doch blieb da das Problem, dass er keinerlei Erfahrungen hatte – und sein Ego es nicht ertragen könnte zurückgewiesen zu werden. Irritiert beobachtete er nun einfach den anderen, der sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Wanne erhob und in die Dusche stieg. Seto erkannte an der Handdrehung, dass er sie auf kalt stellte, schielte er doch vorsichtig mit nur noch halbgeschlossenen Augen zu ihm hinüber. Fast hoffte er, dass das vollgesogene kurze Handtuch der Schwerkraft folgen würde. Und sein Wunsch wurde tatsächlich erhört – allerdings erst, als die ersehnte Hüfte in ein größeres Badehandtuch, das am Wannenrand gelegen hatte, geschlungen war. Zielstrebig ging der Hotelmanager zum Schrank, nahm sich einen Bademantel heraus und zog diesen so an, dass später wohl möglichst wenig von seiner nackten Brust zu sehen sein würde, den Rücken dabei stets zur Wanne haltend. „Ich mach einen Tee. Aber Sie sollten auch nicht mehr so lange im Wasser bleiben“, meinte er schlicht, als er sich im Türrahmen noch einmal nach ihm umdrehte und dann die Tür hinter sich schloss, was Seto genug Privatsphäre zumindest für seine erste Idee gab. Idee zwei war mit dem Duschen hinfällig geworden. Drei Stunden später verabschiedete sich der Hotelmanager bei ihm an der Tür zum Wohnzimmer. Yuki hatte ihm tatsächlich frische Sachen und einen Schirm vorbeigebracht, selbst gekleidet in eine Regenjacke, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, da es noch immer regnete. Doch er war noch zum Abendessen geblieben und hatte das Gespräch über Märchen weitergeführt. Aber nun stand er direkt vor ihm, keine 15 Zentimeter von ihm entfernt. Die Stufe auf der Seto stand war nur ein kleiner Ausgleich und erlaubte ihm nur ein wenig, auf ihn hinab zu sehen, während er sich für den Spaziergang bedankte. Ein seltsames Lächeln schlich sich auf die Lippen seines Gegenübers, der wie selbstverständlich erwiderte, dass eher er sich bedanken müsste, weil er endlich wieder jemanden zum Spazieren und Reden gehabt hätte. Dann beugte er sich vor – auf die Zehenspitzen musste er sich nicht stellen, es reichte völlig aus, den Kopf etwas in den Nacken zu legen – und gab ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. An einer Stelle der Wange, die nur sehr knapp neben Setos Mund lag, als hätte er im letzten Moment sich dagegen entschieden diesen zu küssen. Mit einem „Gute Nacht“ war er auch schon zur Tür hinaus, bevor Seto etwas erwidern konnte – wäre ihm denn in seinem geschockten Zustand ein passender Satz eingefallen. Kapitel 12: 18.2. Mittwoch -------------------------- Verstimmt stocherte in seinen Pancakes herum. Es war kaum zu glauben, dass er mit solcher Laune bereits morgens am Tisch saß, obwohl sein bisheriger Urlaub so gut gelaufen war. Er hatte tatsächlich einmal Zeit nur für sich, konnte tun, wozu er sonst keine Zeit fand und der charmante, gut aussehende, gebildete Manager sowie Mitbesitzer des Hotels, in dem er Urlaub machte, schien ein kleines bisschen auf ihn zu stehen. Er war zu realistisch, um sich einzubilden, dass sich daraus etwas entwickeln könnte, doch es gefiel ihm sich mit ihm zu unterhalten, zu sehen wie ein Lächeln über seine Lippen huschte oder er ihn einfach nur sehr intensiv aus diesen dunklen Augen musterte. Es fühlte sich einfach nur gut an in seiner Nähe zu sein. Aber dann war da dieser kleiner Teil seines Selbst, der ihm das alles vermiesen wollte. Der Teil, der hinter seine Fassade blickte und ihn wütend anschrie. Wie er diesen Straßenköter dafür hasste, dass er immer noch in seinem Kopf herumschwirrte! Warum hatte er den Chef – die Betitelung mit Kosenamen war ihm dann doch etwas zu gewagt – nur nach ihm gefragt? Es wäre ihm bestimmt leichter gefallen, wenn er nicht gewusst hätte, dass sich beide kannten. Wenn er sich keine Vorwürfe machen würde, dass er einen fremden Typen so nah an sich heran ließ, wie er es seinem geliebten Hündchen nie erlaubt hätte. Für einen Kuss auf die Wange hätte er ihn einen Kopf kürzer gemacht, auch wenn er sich einen solchen schon lange gewünscht hatte. Und jetzt ließ er es einfach zu, reagierte nicht, wehrte sich nicht, drohte nicht mit einer Klage wegen sexueller Nötigung, sondern warf all seine alten Gewohnheiten über Bord und kümmerte sich um seine Morgenlatte noch im Bett liegend und nicht an seinen Golden Retriever denkend! Naja, zu seiner Verteidigung konnte er vorbringen, dass er sehr wohl zu Beginn an ihn gedacht hatte, doch dann kam die Erinnerung an sein letztes Bad wieder hoch und seine Fantasie kippte. Selbst jetzt ertappte er sich dabei, darüber nachzudenken, ob Ausdauersport auch Ausdauer in anderen Bereichen bedeutete, wie er es sich vor nicht einmal einer Stunde ausgemalt hatte. Wenigstens hatte er den Bettbezug nicht versaut. Wütend aß er den schon arg in Mitleidenschaft gezogenen Rest seines Frühstücks auf und wusch dann ab, wobei ihm vor lauter Energie fast der Teller kaputt gegangen wäre, als er ihn auf die Arbeitsplatte stellte. Schon eher aus Gewohnheit heraus, setzte er sich vor das Schränkchen, in das er das „Hotelinterieur“ immer zurückstellte, nachdem er es sich angesehen hatte. Allerdings war sein Ziel nun ein anderes Buch, dass so weit hinten in der Reihe stand, dass er zunächst ein paar andere heraus nehmen musste, um es ohne Beschädigung hinter dem Türscharnier hervorzuziehen. Nachdem er wieder alles aufgeräumt hatte, schloss er die Tür und betrachtete auf dem Boden sitzend den schlichten blauen Einband genauer. Im Vergleich zu den anderen Bänden und Katalogen war es eher dünn und ohne von außen erkennbaren Titel. Neugierig schlug er die erste Seite auf, die noch keine genaueren Hinweise auf den Inhalt gab. Vielleicht würde es ihm helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Es war schließlich unerträglich, dass er sich überhaupt solche Gedanken machte. Aber sobald er das Inhaltsverzeichnis gefunden hatte, wusste er, dass er einen Fehler begangen hatte. Entsetzt spürte er die Röte in sein Gesicht steigen, während er es kurz überflog. Wer stellte bitteschön eine solche Lektüre in ein Ferienhaus? Als ob Leute die zu zweit hier her kämen, dass nicht alles schon längst wüssten, und Gäste, die wie er allein ihre Zeit hier verbrachten, noch auf ihre Einsamkeit hingewiesen werden wollten! Kurz atmete er tief ein und aus, um seinen sich erhöhenden Puls etwas zu beruhigen. Seit wann reagierte er bei diesem Thema so empfindlich? Schließlich hatte er es auch geschafft, sich selbst und vor vier Jahren seinen kleinen Bruder aufzuklären, obwohl er bei diesem das Gefühl nicht los wurde, ein paar Jahre zu lange mit diesem Gespräch gewartet zu haben. Sei es drum. Sein Interesse war stärker und so suchte er sich nun die Seitenzahl, ab der das für ihn interessante Kapitel des Buches beginnen würde. Hetero-Sex würde er eh nie brauchen und wie Frauen das unter sich machten, wollte er besser gar nicht erst wissen, um unnötiges Kopfkino in Geschäftsverhandlungen zu vermeiden. Umso spannender war für ihn nun die folgende Lektüre. Schnell begriff er, dass er sich ein paar Notizen machen sollte für weitere Recherchen, sobald er wieder Internetzugang hatte. Er war schon im Schlafzimmer und beugte sich zu seinem Koffer hinunter, als ihm auffiel, dass es wohl keine gute Idee wäre, Informationen dieser Art auf einem durchaus angreifbaren Gerät zu haben. Daher wechselte er von digital zu analog und nahm sich Schreibsachen aus einer der Schubladen des Schreibtischs, darauf achtend, dass sich das Geschriebene nicht auf die darunter liegenden Blätter durchdrückte. Er notierte sich einiges zum Thema Vorspiel, zu verschiedenen Stellungen, aber auch zur Wichtigkeit von Hygiene und... das nächste Unterkapitel ließ ihn schlucken. „Spielzeuge und Fetische“. Von dieser Seite hatte er seine Branche noch nie betrachtet. Es hatte ihn zwar früher angemacht, wenn er gegen sein Hündchen in Duel Monsters gewann oder es einfach nur durch seine Bemerkungen erniedrigen konnte, aber er wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, Spielzeuge in sein Sexualleben mit einzubeziehen. Rasch verdoppelte sich die Menge seiner Notizen und er war froh darüber, dass er so klein schreiben konnte. Das Buch enthielt wirklich ein paar erstaunliche Dinge, die er gerne einmal ausprobiert hätte. Aber wie sollte er unbemerkt an so etwas ran kommen? Und selbst, wenn die Pakete es bis in seine Villa schafften, wie sollte er sie vor Mokuba verstecken? Dieser kannte nämlich sämtliche seiner Verstecke, was kurz vor Weihnachten und vor seinem Geburtstag immer kritisch war, da er gerne vorab nachschaute, welche Geschenke er bekommen würde. Zum Glück konnte er manche mit Pins und Passwörtern schützen. Er las noch etwas weiter und war vor dem Mittagessen mit dem Kapitel durch. Ordentlich verstaute er es wieder in dem Schränkchen. Wenn Yuki kam, würde es ihr bestimmt nicht auffallen, doch wenn der Chef am Nachmittag wieder kam, wäre es ihm peinlich bei dieser Lektüre erwischt zu werden. Nicht, dass er noch etwas falsch verstand. Auf die Minute pünktlich erschien Yuki mit dem Essen, machte dabei jedoch einen äußerst unzufriedenen Eindruck. Ihr „Hackbraten mit Kartoffelbrei und Reis“ klang ziemlich angesäuert und ihr Blick sprach Bände. Im ersten Moment zögerte er nachzuhaken, was denn so verkehrt an diesem Essen sei, doch dann stellte er die Frage. „Seit Montag schneidet Shin alles Essen extrem klein und Hans hat zwei Tage frei. Wenn er so weiter macht, kann ich mein Essen auch gleich in den Mixer geben.“ Er nahm ihr die Kiste ab und stellte sie in der Küche neben die vom Frühstück. „Oh, und ich habe Ihnen eine Kleinigkeit aus unserer Bibliothek zum Lesen besorgt“, fuhr sie fort, als er ihr die alte Kiste in die Arme drückte, „weil ich selbst momentan wieder viel zu tun habe.“ Er nickte ihr nur kurz zu, froh nicht sprechen zu müssen, und sie verschwand wie gewohnt aus dem Flur und durch die Haustür. Es erschloss sich ihm nicht, was so schlimm an Shins Verhalten sein sollte. Zwar fand er die Kombination aus Kartoffelbrei und Reis etwas ungewöhnlich, aber vor zwei Wochen wäre er auch nie auf die Idee gekommen, dass Ei und Lachs sich so gut vertrugen. Rasch packte er alles aus und sich auf den Teller. Dabei sah er auch die beiden schmalen Heftchen, die Yuki wohl gemeint hatte. „Meisterpartien von Shindo“ und „Die besten je gespielten Go-Partien“. Wenn das wirklich einfach so in den offenen Bücherregalen stand, die er am Samstag nicht genauer hatte untersuchen können, wunderte ihn nichts mehr, auch wenn seine Niederlage ärgerlich blieb. Nachdem er etwa die Hälfte der Portion gegessen hatte, wuchs allmählich sein Verständnis für Yuki. Es war gut zubereitet und gewürzt, doch Geschmack und Qualität des Fleisches ließen vermuten, dass es eigentlich ein richtig gutes Steak oder Ähnliches hatte geben sollen. Wirklich schade drum. Blieb nur zu hoffen, dass nicht noch mehr guter Lebensmittel Shins Schneidewahn zum Opfer fielen. Moment? Hatte Yuki nicht bereits am Montag so etwas erwähnt, als das Essen vegetarisch ausgefallen war? Aber was konnte den Koch so aufgebracht haben? Erschreckt von diesem Gedanken, nahm er das letzte Stück Fleisch in den Mund und kaute kräftiger als nötig gewesen wäre. So weit kam es noch, dass er sich über das persönliche Wohlbefinden von Angestellten in irgendeinem Hotel Sorgen machte! In seine morgendliche, schlechte Laune zurück rutschend aß er den restlichen Reis. Den Kartoffelbrei hatte er als aller erstes vernichtet. Dieses Mal musste sich das Geschirr beim Abwasch und anschließenden Abtrocknen nicht fürchten und landete wohlbehalten im Schrank, genauso wie die Schüsseln, in denen sich das Essen befunden hatte, in der Kiste und in dieser im Flur. Seto drehte sich bereits wieder zum Durchgang zum Wohnzimmer um, als er im Augenwinkel etwas rotes hinter seinem schwarzen Mantel bemerkte, das dort nicht hingehörte. Zumindest hatte er es zuvor nie bemerkt. Er griff danach und erstarrte, sobald seine Finger das weiche Gewebe berührten. Es fühlte sich nicht nur weich, sondern auch unglaublich anschmiegsam und warm an. Vorsichtig holte er den Kleiderbügel nach vorne und betrachtete verblüfft den roten Schal, der auf ihm hing. Das war definitiv nicht seiner. Es fehlte jegliches Etikett oder das Zeichen der KC. Beinahe hätte er gesagt, er wäre handgestrickt, auch wenn er sich mit so etwas nicht auskannte. Diese Mischung aus Perfektion und Unikat wirkte zu menschlich, um mit der Maschine geschaffen worden zu sein und erinnerte ihn wieder daran, wie Mokuba einmal für die Schule hatte stricken müssen. Das ewige Geklapper der Metallnadeln, um die sich dunkelblaue Wolle ringelte, hatte ihm den letzten Nerv geraubt. Dennoch hatte er sich gefreut, als er das fertige Gebilde zu Weihnachten in einem eher ungeschickt eingepackten Paket mit seinem Namen gefunden hatte. Dieses Geschenk trug er nur ganz selten, aber nicht weil es sein sonst so perfektes Auftreten zerstört hätte, sondern einfach, weil er Angst hatte es könne beschädigt werden oder verloren gehen. Wer dem Hotelmanager wohl diesen Schal hier gestrickt hatte? Ohne es bewusst entschieden zu haben beugte er sich vor und vergrub mit geschlossenen Augen seine Nase darin. Ja, es war eindeutig sein Schal. Dieser Geruch nach Wald, der salzigen Seeluft und etwas Mildem, das mit sehr viel Fantasie Schweißgeruch sein könnte. Er atmete bewusst durch die Nase ein, um jede noch so kleine Nuance wahrnehmen zu können und wiederholte diese Prozedur solange, bis er sicherlich nie wieder durch einen Wald gehen konnte, ohne an dieses Kleidungsstück und seinen Besitzer denken zu können. Schlagartig wurde Seto bewusst, was er eigentlich gerade tat, riss die Augen auf und hielt den Schal auf Abstand, der ganz unschuldig aus seinem Griff herab hing. Er nahm ihn mit ins Wohnzimmer, wo er ihn zuerst zusammen legte und dann auf den Sessel deponierte, den sein Besitzer anscheinend als seinen Stammplatz erkoren hatte. Dort würde er ihn zumindest gleich finden, wenn er heute Nachmittag vorbei kam. Immer noch leicht verlegen stellte er das Go-Brett und beide Behälter auf den Wohnzimmertisch und begann mit seiner neuen Lektüre. Das zweite Heftchen war älter und enthielt fast nur Partien, die er bereits kannte, doch das andere, dass eine Zusammenstellung der besten Partien eines einzelnen Go-Profis enthielt, barg Erstaunliches in sich. Wie konnte man nur so eine Strategie aufbauen? Ob das einer der beiden war, von denen der Chef lernte? Kein Wunder, dass er es am Montag so schwer gehabt hatte. Größtenteils las er, doch baute er sich interessanter Abschnitte auch oft auf dem Brett auf, um sie in Ruhe studieren zu können. Aber ganz bei der Sache war er nicht. Immer wieder glitt sein Blick zur Wohnzimmertür. Schließlich konnte es ja sein, dass der andere sich herein geschlichen hatte und dort stand, stumm ihn beobachtend und auf den richtigen Moment wartend, sich bemerkbar zu machen. Anfangs machte er dies nur alle Viertelstunde, doch ab 15 Uhr wurde daraus langsam aber sicher ein 10- bis 5-minütiger Rhythmus. Zwanghaft versuchte er seine Konzentration aufrecht zu halten, aber erwischte sich immer öfter dabei, wie er sehnsüchtig zur Tür starrte anstatt auf das Brett. Selbst der Gedanke, dass er sich nicht mit einem solchen Gesichtsausdruck von dem anderen erwischen lassen wollte, half nichts. Er war wie ein Hund der auf sein Herrchen wartete, das einfach ohne ein Wort morgens zur Arbeit verschwunden war, und nicht wirklich viel mit sich selbst anzufangen wusste. Gab es Hunde mit blauen Augen? Die Fellfarbe störte ihn dabei herzlich wenig. Gab es bestimmt, aber so genau hatte er sich nie damit beschäftigen müssen. Sein Hündchen war eindeutig ein Golden Retriever. Immer lustig drauf, keine Ahnung von der Welt und zu allen freundlich, die nicht zu sehr nach ihm traten. Und für die anderen Sprüche wie „Straßenköter“ war auch kein weiteres Wissen erforderlich gewesen – waren doch eh alles Promenadenmischungen, bei denen man nie so genau sagen konnte, was für Hunde die Eltern mal gewesen waren. Er streckte sich und sah wieder zur Tür. Diesmal fiel sein Blick bei der Rückkehr zur aktuell gelegten Partie wie zufällig auf den Schal. Ob ihm ein rotes Halsband stehen würde? Und dazu seine Hände gefesselt mit diesem Accessoire? Für einen kurzen Moment entgleisten seine Gedanken. Was sollte das schon wieder sein? Er würde auf keinen Fall – wie war dafür nochmal der Fachbegriff? - sein! Er war ein absoluter Kontrollfreak und nie im Leben würde er zulassen, dass jemand anderes außer ihm die Kontrolle im Bett hatte. „Man kann diese Dinge auch außerhalb eines Bettes zu zweit machen“, flüsterte ein leises Stimmchen in seinem Kopf, das er nur zu gut hörte, da der Rest seines Verstandes sich langsam aber sicher verabschiedete. „Verdammt!“, schrie Seto, während er mit beiden Fäusten auf die Tischplatte schlug. Die Goke reagierten mit einem protestierenden Geräusch. Wütend stand er auf, ergriff das rote Paket und stampfte in den Flur. „Ich werde mich nicht schwach geben! Schon gar nicht vor ihm!“ Er pfefferte es auf die dunklen Pantoffeln. „Rot steht mir noch nicht einmal! Wenn schon, dann will ich was in Blau oder in Weiß!“ Die Hand an der Klappe, hinter der auch die anderen Pantoffel aufbewahrt wurden, stockte er. „Aber der einzige, der hier ein Halsband tragen wird, ist das Hündchen!“ Er warf sie mit so viel Kraft zu, dass sie drohte wieder auf zu gehen, was er mit einem gezielten Tritt verhinderte. Immer noch unter Dampf stehend rauschte er ins Badezimmer, entledigte sich seiner Kleidung und stellte sich unter die Dusche. Mittlerweile musste er nicht einmal mehr hinsehen, um sie auf eiskalt zu stellen. Erst als seine Zähne gegeneinander zu schlagen begannen, stellte er das Wasser aus und hüllte sich in eines der großen Badehandtücher. Die am Vortag angefallene Wäsche war auf seltsamer Art und Weise bereits verschwunden. So wie er war tapste er quer durchs Wohnzimmer und zur Tür in der Glasfront. Es würde vielleicht noch eine Stunde hell sein, aber zur Not konnte er sich Licht machen. Vermutlich gab es hier sogar eine Außenbeleuchtung. Darauf bedacht, nicht auf dem beweglichen Teil der Terrasse zu stehen, betätigte er den Schalter, der ihm Zugang zum Pool gewähren würde. Das Handtuch ließ er in der Nähe der Tür zurück und begab sich am Rand entlang zu der Stelle, an der er bereits die Lücke groß genug war, dass er ins Wasser konnte. Nach der vorangegangenen Ausnüchterung nahm er die Temperatur noch um einige Grade höher wahr als sie tatsächlich war und tat rasch die ersten Schwimmzüge, um seinen Körper wieder in Schwung zu kriegen. Die Bewegung tat ihm gut, um seinen Kopf endgültig frei zu bekommen, denn während des Duschens war ihm ein weiterer Gedanke gekommen, weswegen er nicht der Uke – da war das Wort! Wenigstens war auf sein Gedächtnis noch halbwegs Verlass – in einer Beziehung sein wollte. Es war viel zu leicht ihn zu verletzten, ihn von sich zu stoßen, ihn zu ignorieren, wie ein Spielzeug, dessen man überdrüssig geworden war. Für ihn war die Frage, wer der Dominantere beim Sex war, gleichbedeutend mit der Macht in der Beziehung. Er hatte schlicht und ergreifend Angst, keine Macht zu haben über... ja, über eigentlich alles, was seiner Meinung nach eine Beziehung ausmachte. Und so zog er einfach nur seine kleinen Bahnen, den Kopf gerade nur soweit immer außer Wasser, dass er kurz atmen konnte. Er machte sich kein Licht an, während der Himmel sich langsam vom Horizont her seine tief dunkelblaue Decke höher zog für die Nacht. Ausnahmsweise hatte er keine Probleme damit, nicht den Boden eines Schwimmbeckens sehen zu können. Zumindest etwas. Mit einer Tasse grünen Tees setzte er sich wieder an den Wohnzimmertisch. Die Hoffnung, an diesem Tag noch Besuch zu bekommen, hatte er von dem Wasser im inzwischen wieder geschlossenen Pool davon treiben lassen. Die wenigen brennenden Lampen waren gedämpft und spendeten gerade genug Licht, dass er gegen nichts dagegen laufen konnte und sich beim Lesen nicht die Augen verdarb. Doch er suchte sich kein Buch, las kein einziges Wort. Er saß einfach nur da und horchte in die Stille hinein, in der er immer noch die Bewegung des Wassers zu hören glaubte. Kapitel 13: 19.2. Donnerstag ---------------------------- Wie gebannt starrte Seto an die Uhrzeit an der Decke, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Die Nacht war traumlos gewesen, wofür er dankbar war, und ohne weitere Folgen für seinen Körper, was seine Dankbarkeit vergrößerte. Endlich einmal wieder warm duschen! Draußen war es bereits hell, versprach aber nur einen weiteren grauen Wintertag, weshalb er sich gar nicht erst mit den kleinen Hemdknöpfen abmühte, sondern sich gleich einen Pulli schnappte. Irgendetwas spannendes zum Lesen würde er schon finden. Aber erst brauchte er etwas Essbares, wie ihn sein Magen freundlich erinnerte. Hoffentlich war das nur so eine Nebenwirkung des Urlaubs. Sein Personal würde vom Glauben abfallen, wenn er morgens neben seinem Kaffee und dem Wirtschaftsteil plötzlich feste Nahrung verlangte! Mit einer genauen Vorstellung, was er essen wollte, drückte er den gewohnten Knopf und antwortete reflexartig auf das „Guten Morgen“, das ihm aus dem Lautsprecher entgegen schallte: „Guten Morgen. Ich hoffe es ist noch früh genug, Shin, dass du vorbei kommen kannst und mir ein paar Rühreier machst.“ Er hielt zögernd inne. Irgendetwas stimmte nicht. Nicht nur, dass er seine Anfrage äußerst höflich formuliert hatte, sondern auch Shins Stimme hatte anders als sonst geklungen. „Hans?“ „Ja?“ „Wo ist Shin?“ „Shin hat heute frei und ich kann hier momentan nicht weg. Aber keine Angst! Sie bekommen Ihr Frühstück wie gewünscht. Ich lass mir etwas einfallen.“ Damit war die Verbindung beendet und ließ Seto nichts anderes übrig als Däumchen zu drehen. Prophylaktisch deckte er den Tisch, vielleicht wurde es ja was mit seinem Frühstück, und suchte sich dann das Buch aus dem Regal heraus, das er den Tag über Lesen wollte. Er liebte einfach alte Science Fiction – besonders, wenn ihm dabei auffiel, was er mit seiner Firma bereits Realität hatte werden lassen. Beim Geräusch der aufgehenden Tür zum Flur drehte er sich um und stand auf, um Yuki ihre Last abzunehmen und sie nach Shin zu fragen, gefror jedoch mitten in der Bewegung, den Finger noch zwischen den Seiten. „Guten Morgen.“ Statt der jungen Frau stand der Chef vor ihm, beziehungsweise ging auf Socken auf die Küche zu, zwei Kisten übereinander balancierend, und sich nicht davon stören lassend, dass er keine Antwort bekam. Nur Setos verwirrter Blick folgte ihm und seiner Fracht, die nun auf der Arbeitsplatte landete. „Shin besucht heute seine Familie“, erklärte er und fing an auszupacken. „Aber er hat mir erzählt, dass Sie eventuell Interesse daran hätten, zu lernen, wie man unser Rührei zubereitet. Deswegen können Sie mich heute als Ihren persönlichen Kochlehrer ansehen. Ist Pizza zum Mittagessen für Sie akzeptabel?“ Hatte er sich je darüber beschwert, was ihm die Küche vorsetzte? Seto nickte nur schlicht und trat ein paar Schritte näher. Neben den vertrauten Zutaten, die er bereits bei Shin gesehen hatte, wurden nun auch zwei Schürzen zu Tage gefördert, von denen ihm eine hingehalten wurde. „Wofür brauchen wir die?“, fragte er entsetzt, als er erkannte, dass die schlichte dunkelgraue Farbe durch mehrere Feenaufnäher kompromittiert wurde. „Zum Schutz der Kleidung. Gerade Kochanfänger neigen dazu, sich ihre Sachen zu versauen. Alternativ kann man natürlich auch oberkörperfrei kochen – dann ist nur noch die Hose in Gefahr“, erwiderte der Chef und zog sich, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, den warmen Pullover über den Kopf. Leider trug er noch ein Hemd darunter, zu dessen Schutz er nun die zweite Schürze umlegte. Sie war knallrot und wies hier und da Erdbeeren auf, die sich bei genauerem Hinsehen als Kobolde oder zumindest irgendetwas in der Art herausstellten. Offensichtlich hatte Seto noch die ertragbare Variante abbekommen. „Aha“, stellte er trocken fest und ergab sich in sein Schicksal. „Wo findet man solche … Schürzen?“ Kritisch blickte er an sich herab. Wie sollte er in diesem Aufzug auch nur einen Hauch einer Chance haben, für den anderen attraktiv zu wirken? Denn nach dem ersten Schock hatte sich die Freude über dessen Anwesenheit bei ihm eingestellt und alle Zweifel und Entschlüsse des Vortages einfach davon gewischt. Ein herzhaftes Lachen, zog seine Aufmerksamkeit wieder zu anderen Dingen. „Sie sind speziell nicht wahr? Meine Tante macht sie. Ihr Modell war im Übrigen mal für meinen Dad entstanden, der es mir aber sehr schnell für das Hotel mitgegeben hat.“ Was für eine Verrückte musste diese Tante sein, dass sie davon ausging, ihr Bruder würde so etwas tatsächlich tragen. „Wollen wir dann loslegen?“ Einen Ausweg schien es nicht zu geben. „Als erstes müssen die Eier in diese Schüssel. … Nein. Ohne die Schale! Sehen Sie? So.“ Zum Glück schien er mit Rückschlägen gerechnet zu haben und hatte genug Eier mitgebracht. „Ja, besser. Acht sollten reichen. Dann verquirlt man sie. Entweder mit einem Schneebesen oder einer Gabel. Nein, das ist ein Kuchenspatel.“ Vorsichtig wurde ihm das richtige Werkzeug in die Hand gedrückt. „Das Wichtige ist, dass alle Eigelbe geöffnet sind und sich mit dem Eiweiß gut vermischen. Ja, gut. Kommen wir nun zum Fisch.“ Zumindest hatte er das richtig gemacht. Und mit Messern konnte er umgehen – dachte er zumindest. „Ihnen ist schon bewusst, dass das nächste Krankenhaus 20 Kilometer entfernt ist? Passen Sie daher bitte auf Ihre Finger auf! Besser ist es, wenn Sie die Hände so halten. Dann gleitet das Messer so entlang, dass es nicht in Ihre Hand schneiden kann. Tut dem Geschmack des Fisches auch besser, wenn kein Blut drauf ist. So, das kommt jetzt alles zum Ei. Langsam! Sonst spritzt alles aus der Schüssel heraus. Gut. Jetzt können wir uns um die Pfanne kümmern. … Für die Menge brauchen wir eine Pfanne von ungefähr der Größe. In dieser müssen wir nun ein bisschen Fett erhitzen. Sonnenblumen-Öl eignet sich auch gut dazu. Nein, das ist Olivenöl.“ Schweigend standen sie beide nebeneinander, während sie darauf warteten, dass die Pfanne heiß genug wurde – wann immer das der Fall sein sollte. Immerhin hatte er den Herd an bekommen. „Ich würze nun kurz die Menge. Sehen Sie? Ungefähr diese Menge an Salz und ein kleines bisschen Pfeffer. Bei Spiegelei würzt man meist erst am Ende der Bratzeit, aber bei Rührei wird sonst der Geschmack nicht gleichmäßig. Hier bitte sehr“, er drückte ihm die Rührschüssel in die Hand, „das muss jetzt alles in die Pfanne... Alles heißt alles. So und jetzt kräftig umrühren.“ Er legte ihm ein seltsames Holzgebilde in die Hand und wartete. „So wird das nichts. Achtung!“ Von hinten wurden Setos Hände gegriffen, der kurz zusammenzuckte. Die eine führte seine Linke an den Griff der Pfanne, die andere festigte seinen Griff um das seltsame Holz und ließ sie kräftig in der langsam stockenden Eimasse herumstochern und rühren. Doch er konnte sich kaum darauf konzentrieren, was er da eigentlich tat, denn die Wärme des anderen hinter ihm war nur zu deutlich spürbar. Ihre Wangen berührten sich fast und er war vollkommen überfordert, als er nun allein weiter machen sollte. Außerdem hätte er beinahe lauthals protestiert gegen die plötzliche Unterbrechung des Körperkontaktes. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er irgendwie die Bewegungen nachzumachen, während er sich fragte wie lange er das noch machen musste und wo der Chef geblieben war, da er sich nicht traute auch nur eine Sekunde den Blick von der Pfanne zu nehmen aus Angst, es könne ihm alles um die Ohren fliegen. „Das reicht. Sonst ist das arme Frühstück tot und das hat es wirklich nicht verdient.“ Sanft aber bestimmt wurde Seto zur Seite geschoben und die Pfanne übernommen. Unglaublich selbstsicher landete das Ei auf zwei Tellern, die unvermutet auf der Arbeitsplatte standen. „Bitte sehr. Setzen Sie sich bitte schon. Ich kümmere mich hier noch um den Rest.“ Brav gehorchte er, fasziniert von dem, was er nun zu seinem Platz transportierte als hätte es noch seine ursprüngliche rohe Form. Mit anhaltendem Hochgefühl setzte er sich hin und wartete. Und wartete. „Wird das heute noch was? Ich dachte, dass das Frühstück es nicht verdient hätte, tot zu sein - und das wird es sein, wenn es kalt wird“, grummelte er ungeduldig vor sich hin. „Noch eine halbe Minute, dann sind auch die Vorbereitungen für unser Mittagessen abgeschlossen und meine Hände auch wieder sauber.“ „Unser Mittagessen? ... Welche Vorbereitungen?“ „Der Teig. Denken Sie wirklich, ich lasse schnöden Fertigteig in mein Hotel? So, fertig. Der muss jetzt noch gehen.“ Seto hörte das Rauschen des Wasserhahns. Wenige Augenblicke später saß er nicht mehr allein am Tisch. „Was ist? Wieso fangen Sie nicht an? Es ist definitiv nicht vergiftet, wie Sie selbst beobachten konnten. Außerdem - wenn Sie nicht bald anfangen, werde ich Ihre Portion auch essen.“ Scharf zog Seto die Luft ein. „Das würden Sie nicht wagen!“ „Wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen?“ Statt zu antworten, schob sich Seto den ersten Bissen in den Mund. Es war zwar nicht so gut wie Shins, doch dafür, dass er mitgewirkt hatte, schmeckte es gut. Er gab es zwar ungern zu, aber Kochen würde wohl nie seine Stärke werden, was ihn auf einen anderen Gedanken brachte. „Woher können Sie das alles eigentlich?“ „Was genau?“ „Kochen. Sie machen Rührei nebenher und machen einfach so einen Pizzateig - auch wenn ich noch nicht weiß, ob dieser überhaupt genießbar ist.“ Wie schaffte man es, Rührei im Mund verschwinden zu lassen und gleichzeitig so wundervoll zu lächeln? „Das ist wirklich keine Kunst“, kam über die Lippen seines Gegenübers, bevor wieder etwas von dem Essen hinter ihnen verschwand. „Aber Sie leiten das Hotel hier, sind gebildet und...“ „Seit wann schließt sich denn das aus? Natürlich lassen mich weder Shin noch Hans in Ihre Küche, aber so ein bisschen weiß ich noch aus der Zeit, als ich alleine gewohnt habe. Und zum Thema Pizza. Der Teig ist spitze. Hans' Familienrezept. Ich hab ihn in Italien kennengelernt nach Ende meines Studiums. War ein hartes Stück Arbeit, seinen Onkel davon zu überzeugen, dass er seinen besten Koch gehen lässt – und dann ausgerechnet nach Japan. Das war aber nichts im Vergleich dazu, als er uns zu seinem Einstand Sauerkraut vorsetzte. Können Sie sich das vorstellen? Wir erwarteten alle etwas leckeres Italienisches und saßen dann vor deutscher Hausmannskost!“ So ein bisschen konnte Seto sich das in der Tat vorstellen, doch aktuell war er zu sehr von dem breiten Grinsen auf dem Gesicht des Hotelmanagers abgelenkt. Wenigstens hatte er während seines Redeschwalls nicht weiter gegessen. Wäre ja auch noch schöner gewesen! Das wäre viel zu sehr der Stil des Köters gewesen. Wie wenn er sich geschnitten hätte, zuckte er zusammen. Seit wann war er wieder – auch wenn nur in Gedanken – so gemein zu seinem Hündchen? Schnell versuchte er sich mit dem nächst besten, was ihm einfiel, abzulenken und sagte: „Naja, an dem Namen hätte es Ihnen vielleicht auffallen können. Apropos, wie heißen Sie eigentlich?“ Der andere funkelte ihn aus seinen dunklen Augen an. „Vielleicht. Aber Sie können mir glauben, die wenigsten von denen kochen tatsächlich typisch deutsch. Außerdem, wie gesagt, traf ich ihn in Italien... Ich sehe, Sie sind auch fertig. Wenn Sie wollen, wasche ich kurz ab und danach erhalten Sie eine kleine Revanche für Montag.“ Geschmeidig erhob sich der Chef und räumte den Tisch ab, bevor er in der Küche verschwand, die Ärmel noch vom Teigkneten hochgekrempelt. Setos letzte Frage blieb unbeantwortet. „Hier. Sehen Sie? Hier an dieser Stelle, haben Sie mir den ersten Vorsprung geschenkt. Das wird in vielen Büchern und Magazinen als der korrekte Weg dargestellt, aber es gibt auch eine Gegenbewegung, die diese Form der Reaktion als besser erachtet.“ Flink entfernte er die Steine vom Brett und legte sie in den Farben wechselnd neu. „Damit hätten Sie an dieser Stelle parieren können und meine Strategie wertlos.“ Endlich saßen sie sich wieder gegenüber, wie Seto es sich am Tag zuvor so sehnsuchtsvoll – innerlich knirschte er mit den Zähnen, doch es war das beste Wort, was ihm dazu einfiel – gewünscht hatte. Er auf dem Sofa, der Chef auf dem Sessel, zwischen ihnen der Wohnzimmertisch. Beide hatten sich leicht nach vorne gebeugt, zum einen, um das Brett besser betrachten zu können, zu anderen, um zu zweit verschiedene Möglichkeiten ihrer alten Partie durchzugehen. Mit dem was er gestern gelesen hatte, war er für ihn um ein Vielfaches einfacher, die Züge seines Gegners zu verstehen. Dennoch stellte er auch fest, dass diese Denkweise sich vollkommen von seiner eigenen unterschied. Fast schon hatte er das Gefühl als läge in ihr ein Hauch von Chaos. „Hören Sie mir noch zu?“, wurde er aus den Gedanken gerissen. Heftig nickte er, den Blick starr nach unten gerichtet. „Natürlich. Sie meinten gerade, dass ich dort“, er wies auf einen Bereich in der aus seiner Sicht oberen linken Ecke, „Gebiet verschenkt habe. Allerdings musste ich so reagieren, denn sonst hätten Sie mir wahrscheinlich die ganze Ecke geraubt und...“ Irgendetwas stimmte nicht. Er kam nur nicht darauf. Nur seine Intuition sagte ihm, dass sich etwas in der letzten Minuten verändert hatte. Aber das Brett lag unverändert da, bis zu dem Zug, an dem er anscheinend nicht optimal gesetzt hatte. Also musste es etwas in seiner unmittelbaren Umgebung sein. Er hatte sich beim Zeigen noch ein bisschen weiter nach vorne gelehnt und hob nun vorsichtig den Kopf. Hatte er den Abstand zwischen ihnen am Dienstag bereits für gering gehalten, so wurde er nun belehrt, dass es näher ging, sehr viel näher. Ihm blieb nur ein kurzer Augenblick, in dem er sein eigenes Spiegelbild in etwas Dunklem sehen konnte, über dem sich rasch die Augenlider schlossen und er rasch die Luft einsaugen konnte, bevor seine Lippen ganz sacht und sanft etwas Zartes berührte. Zögernd schloss ebenfalls er seine Augen, um es besser wahrnehmen zu können. Seinen Herzschlag konnte er bis zu seinem Hals hinauf spüren, seine Nase war gefangen mit Gerüchen, die in sofort an einen Wald denken ließen und auf seinen Lippen schien eine ganze Kolonie von Ameisen ein Fest zu veranstalten. Erst als er die vorwitzige Spitze einer warmen Zunge dort spürte, konnte er sich daran erinnern, dass er sowohl Feste, als auch Ameisen noch nie besonders gut hatte ausstehen können. Trotzdem löste er sich nicht abrupt, sondern richtete sich langsam auf, wodurch die Verbindung einen Moment länger bestehen blieb. Seine Augen waren längst wieder offen und so erhaschte er einen Blick darauf, wie unglaublich sanft das Gesicht des Chefs aussehen konnte, der noch kurz in der Position verharrte. Währenddessen überschlugen sich die Gefühle und Gedanken in Seto. Erstens hatte er sich seinen ersten Kuss eindeutig anders vorgestellt. Wenn er sich denn einmal mit so etwas beschäftigte, hatte er immer erstaunt feststellen müssen, dass er doch ein wenig Romantiker war – zumindest was diesen einen, ersten Kuss anbelangte. Er hatte Kerzen gewollt, schöne Musik, ein dramatischer Abendhimmel wäre nicht schlecht gewesen. Aber darauf konnte er zur Not verzichten, denn es gab zwei Dinge, die ihm dabei bedeutend wichtiger gewesen waren. Er hatte ihn immer mit seinem Hündchen gewollt und ihn beginnen wollen – quasi um sich herausreden zu können und es als erniedrigenden Scherz darstellen zu können, falls der andere nicht so reagierte, wie er es sich erhoffte. Was ihn unweigerlich zu zweitens brachte. Was fiel diesem Kerl ein, ihn so mir nichts dir nichts ohne Vorwarnung oder sonstige Anzeichen zu küssen? Okay, es hatte am Montag diese Andeutung gegeben, dass er auf Männer stand, und sein Verhalten am Dienstag konnte man durchaus als Flirten bezeichnen – wie schaffte er es gerade eigentlich sich noch an Wochentage zu erinnern? – aber das war noch keine Erklärung, warum er so über ihn herfiel! Keiner behandelte Seto Kaiba einfach so und kam damit ungeschoren davon! Er spannte seine Muskulatur an, um ihm eine zu verpassen und hielt in der Bewegung, die er noch nicht begonnen hatte, inne. Der andere blickte ihn einfach nur stumm erwartend an. „Sagen Sie mir jetzt wenigstens wie Sie heißen?“ Seine einzige Antwort war ein Kopfschütteln, bei dem ein paar Haarsträhnen ihren frisierten Platz verließen. „Ich darf Sie aber zumindest duzen?“ Wieder ein Kopfschütteln, bei dem er feststellen konnte, dass seine Wangen leicht zu glühen schienen. Doch mit einem solchen Misserfolg wollte er sich nicht zufrieden geben. „Küssen Sie mich dann noch einmal?“ Er wusste selbst nicht, woher das kam, aber als sich der Chef erhob, sich quer über den Tisch lehnte und mit den Händen auf Armlehne und Polster des Sofas abstützte, nur um seine Lippen zu erreichen, war ihm das auch egal. Dieses Mal kam keine Zunge dazwischen, doch es schien ihm als würde der Kuss zwischendrin immer wieder leicht gelöst, um ihn dann wieder zu intensivieren. Nun war er es, dem einfach die Lippen des anderen entzogen wurden. Am liebsten hätte er protestiert, aber der zurückgebliebene Rest seiner Selbstachtung hielt ihn davon ab, während es sich der Chef wieder im Sessel bequem machte und zu sprechen begann: „Ich würde Ihnen gerne einen Vorschlag machen. Sie kennen doch bestimmt die Handlung von Lohengrin.“ Seto nickte nur, unsicher, worauf der andere hinaus wollte. „In Anlehnung daran, kam mir die Idee, treffen wir eine Vereinbarung. Sie erfahren meinen Namen. Aber“, fuhr er dazwischen, bevor Seto ihn zu Weiterem auffordern konnte, „erst wenn Sie am Samstag wieder zu Hause sind. Ich werde Ihnen persönlich eine E-Mail schicken. Bis dahin, werden Sie weder mich oder einen anderen des Teams nach meinem Namen fragen. Tun Sie es doch – und ich werde es bestimmt erfahren – werden Sie diese E-Mail nicht erhalten, unabhängig davon, ob sie eine zufriedenstellende Antwort erhalten haben oder nicht. Einverstanden?“ Er hielt ihm über den Tisch hinweg seine Hand hin. Ohne auch nur einen Moment zu zögern oder gar mit der Wimper zu zucken, schlug Seto ein. „Einverstanden.“ Die nächsten Stunden vergingen für ihn wie im Rausch. Es verstrichen mehrere Minuten, bis sie endlich ihre Hände wieder losließen, doch sie kehrten nicht zu ihrer Partie zurück. „Haben Sie schon einmal Pizza selbst belegt?“, fragte der Chef ihn, während er aufstand. „Natürlich!“, schoss ihm die Antwort überraschend harsch entgegen. „Dann werden Sie mir bestimmt bei der Zubereitung unseres Mittagessens helfen.“ Damit ging er hinüber in die Küche und öffnete den Kühlschrank. „Stellen Sie es einfach auf der Arbeitsplatte ab.“ Er drückte Seto verschiedene Behälter in die Hand. Der größte davon war unverkennbar Tomatensoße, dann gab es verschiedene Käsesorten, Oliven, Pilze,... Was war das alles und wieso hatte es unbemerkt in seinem Kühlschrank gestanden? Aber bevor er fragen konnte, war die Tür auch schon wieder zu und der Chef widmete sich zuerst dem Backofen, aus dem er mehrere Bleche nahm und ihn hochdrehte, und dann dem Teig. „Waschen Sie sich bitte gründlich die Hände und krempeln dann die Ärmel hoch.“ Seto machte es ihm nach und starrte neugierig in die Schüssel. Der Chef beschrieb ihm knapp wie man erkennen konnte, ob er die richtige Konsistenz hatte und formte dann flink zwei Pizzen, die jeweils ein eigenes Blech erhielten. Erst beim Belegen durfte er wieder mithelfen. Unschlüssig starrte er in die Behälter. Schließlich entschied er sich für eine Mischung aus Salami und Peperoni. Stumm wurde ihm der Käse hingehalten, um sein Werk zu vervollständigen, was seinen Blick auf die andere Pizza lenkte, auf der sich eine sehr eigenwillige Interpretation einer Quattro Stagioni präsentierte. Er glaubte nicht, dass das auch nur irgendwie schmecken konnte. Wortlos machte er alles fertig und wartete dann darauf, dass endlich alles in den Ofen kam. Ihr Essen verlief eher ruhig, weil sie beide viel zu sehr damit beschäftigt waren, es zu genießen. Für gepflegte Konversation blieb so keine Möglichkeit. Erst beim Abwasch, den Seto übernahm, kam wieder ein Gespräch zwischen den beiden zu Stande. „Wieso hatten Sie eigentlich so viele verschiedene Sachen auf ihrer Pizza?“, fragte er, während er die Tomatenflecken auf seinem Teller bearbeitete. „Wieso nicht? Leider gibt es bei uns nicht so oft Pizza und es fällt mir immer schwer mich für einen Geschmack zu entschieden.“ „Dann sagen Sie doch einfach Hans, dass Sie öfter Pizza haben wollen. Das macht zumindest Mokuba regelmäßig mit unserer Köchin.“ „Aber bestimmt weisen Sie ihn dann genauso oft daraufhin, dass es ungesund ist, oder? Leider ist Pizza nämlich nicht so optimal, wenn man Muskeln aufbauen will. Also muss ich ein bisschen auf meine Ernährung achten – wenigstens erlauben mir Shin und Hans ab und zu was Süßes. Vor allem, wenn es kaum Kalorien hat.“ Beim letzten Satz schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, dass Seto unsicher werden ließ, ob wirklich noch von echten Süßigkeiten die Rede war. Schnell wandte er sich wieder dem dreckigen Geschirr zu und so entging ihm der Blick des anderen auf die Uhr. „Was halten Sie davon, wenn wir noch eine Stunde über Go sprechen? Ich sollte mich nämlich demnächst wieder an die Arbeit machen.“ Er war keineswegs glücklich darüber, dass der andere so bald schon wieder gehen wollte, doch das Argument Arbeit musste er gelten lassen. „Gerne“, antwortete daher Seto und beeilte sich jetzt erst recht mit dem Abwasch. Zum Glück hatte er mit den zerbrechlichen Teilen begonnen, denn plötzlich spürte er die Wärme des Chefs an seinem Rücken, einen Arm, der sich um seinen Körper schlang und seinen Kopf auf seiner Schulter. „Wir könnten natürlich aber auch etwas anderes machen, wenn Ihnen das lieber ist“, wurde in sein Ohr geflüstert. Seine Nackenhaare richteten sich auf, während die Schüssel zurück in die Spüle rutschte. Was würde er lieber machen als ein gutes Gespräch über Go zu führen? Schlagartig strömten Gedanken und Bilder auf ihn ein. Offensichtlich hatte seine Fantasie den Urlaub genutzt, um aufzublühen, denn so etwas hatte er sich bisher nicht in seinen kühnsten Träumen vorgestellt. Er schluckte heftig in der Hoffnung so zumindest einen Teil davon zu vertreiben. Seiner Stimme traute er in diesem Moment nicht, so drehte er sich einfach in der engen Lücke zwischen fremden Körper und Spülbecken um, schlang seine Arme um ihn und presste seine Lippen auf seine. Einen Augenblick später wollte er sich schon wieder enttäuscht lösen – Küssen war anscheinend doch schwerer als er gedacht hatte; dieser Kuss zumindest war grauenvoll – als er merkte, wie er erwidert wurde. Diesmal tat er nichts gegen die neugierige Zunge, die sich verlangend, aber vorsichtig in seinen Mund hineinwagte und dort auf Erkundungstour ging. Jedes Mal, wenn sie wie zufällig die seine berührte, musste er sich zusammen reißen, nicht zu keuchen oder zu stöhnen. Er hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren, als sie sich zurückzog, aber durch sanftes Stupsen ihm zu verstehen gab, ihr zu folgen. Unsicher sah Seto dem Chef zu, der sich hastig die Schnürsenkel zu band. Seine Lippen fühlten sich geschwollen und leicht wund an. Sein gesamter Oberkörper kribbelte dort, wo ihn die Hände des anderen während ihres Kusses berührt hatten, und erst allmählich schien sich Atmung und Herzrhythmus bei ihm wieder zu stabilisieren. Die Haare des Blonden waren noch nicht ganz wieder ordentlich, was ihm trotz aller Eleganz ein wildes Aussehen verlieh, und … „Morgen Vormittag werde ich arbeiten müssen. Aber nach dem Mittagessen werde ich zu Ihnen kommen“, riss der Hotelmanager ihn aus seiner Betrachtung. Er nickte bloß und hatte gerade genug Zeit den Abschiedskuss zu erwidern, bevor er sich allein im Haus befand. Mit viel zu schnell schlagendem Herzen lag er wach im Bett und starrte an die Decke. Seit über zwei Stunden versuchte er nun bereits einzuschlafen, versagte dabei aber kläglich. Ihm war heiß und kalt zu gleich, seine Lippen brannten noch immer und sein Kopf kam einfach nicht zu Ruhe. Ohne wirklich zu wissen wieso, stand er auf und begab sich in den Flur. Aus einem der Fächer der Garderobe nahm er etwas rotes, weiches heraus und drückte sein Gesicht hinein. So schwankte er zurück in sein Bett, deckte sich zu und war nach nur wenigen Atemzügen endlich eingeschlafen. Kapitel 14: 20.2. Freitag ------------------------- Das erste was er sah, als er die Augen öffnete war rot. Irgendetwas konnte nicht stimmen, da war er sich sicher. Vorsichtig hob er die Hand, um sich die Augen zu reiben, spürte aber statt Haut etwas anderes weiches, das anscheinend über seinem Gesicht lag. Verwirrt hob er es an und konnte schlagartig besser sehen. Die Morgensonne hatte bereits das Wohnzimmer geflutet und beschien nun auch ihn, wie er verdutzt zu dem roten Schal hinauf blickte. Hatte er den nicht zu den Pantoffeln im Flur getan? Auf jeden Fall sollte er ihn dem Hotelmanager zurück geben, bevor er Samstag wegfuhr. Der Gedanke an den Blonden ließ in mit einem Seufzen tiefer in sein Kissen fallen. War der Vortag tatsächlich real gewesen? So ganz konnte er das nicht glauben. Sein erster Kuss. Stolz erlaubte er sich ein breites Grinsen. Es wurde ja auch langsam Zeit mit 28. Da konnte sein Hündchen ihm noch so sehr vorwerfen, er sei gefühlskalt und würde nie jemanden abbekommen, der ihn wirklich liebte. Triumphierend ging er ins Badezimmer und duschte bei angenehmen Temperaturen, während er sich ausführlich um die Befriedigung seiner körperliche Bedürfnisse kümmerte. Und am Nachmittag würde der Chef wieder zu ihm kommen. Konnte dieser Tag noch besser sein? Einzig die Tatsache, dass es sein letzter Tag war, trübte seine gute Laune etwas. Frisch geduscht stand er vor dem Kleiderschrank und betrachtete das an Wäsche, was noch sauber war. Er wollte gut aussehen am Nachmittag, aber nicht unbedingt so wirken als hätte er sich extra herausgeputzt. Sonst konnte man ja sonst was über ihn denken. Letzten Endes entschied er sich für ein blaues Hemd und legte noch ein hellgraues für den nächsten Tag zur Seite. Dann schmiss er den Koffer auf das bereits gemachte Bett und verstaute die restliche Kleidung, die er nicht mehr brauchen würde darin. Die übrige Zeit des Tages war ihm viel zu kostbar, als dass er sich später mit Kofferpacken aufhalten wollte. Ausnahmsweise mochte er seinen eigenen Ordnungswahn. Die Schmutzwäsche der letzten zwei Wochen war bereits ordnungsgemäß verstaut. Nachdem er damit fertig war, ging er hinüber in die Küche und machte sich neben dem Kaffee eine große Schüssel Cornflakes. Das Zeug war zwar ungesund, aber es ging wesentlich schneller als erst in der Küche anzufragen und bereits beim ersten Blick nach draußen an diesem Morgen hatte er gewusst, dass er unbedingt nach draußen wollte. Rasch spülte er ab und ließ alles wieder in die Schränke verschwinden. Ein Lächeln huschte kaum merklich über seine Lippen bei dem Gedanken wie wohl seine Angestellten auf ein solches Verhalten seinerseits reagieren würden. Und erst Mokubas Blick! Zufrieden summte er vor sich hin und zog sich die Wanderstiefel und den Wintermantel an. Er hatte noch knapp drei Stunden bis zum Mittagessen und nichts würde ihn davon abhalten sie an der frischen Luft zu verbringen. Da sagte noch mal einer er sei ein ewiger Stubenhocker, der nur seine Arbeit kenne! Er nahm den direkten Weg vor zum Strand und blieb erst stehen, als die langsam auf den Sand zurollenden Wellen keck seine Sohlen umspülten. Der Anblick des Meeres war unglaublich. Kein Anzeichen mehr davon, dass es die letzten Tage bleigrau gewesen war. Jetzt funkelte es nämlich in den schönsten Blautönen und sah eher nach Sommer denn nach Februar aus. Ganz vorsichtig, um reagieren zu können, falls er doch nicht sicher stehen sollte, hob Seto den rechten Fuß soweit an, dass er in mit den Händen erreichen konnte. Er öffnete den Schuh, zog ihn aus und ließ auch den Socken folgen. Als er ihn wieder abstellte fühlte er, dass es doch noch kühl im Jahr war und die erste Berührung mit dem Wasser strafte die sommerliche Ansicht Lügen, doch für ihn gab es jetzt kein zurück mehr. Und so wurde auch der linke Fuß dieser Prozedur unterworfen. Sobald er vollständig barfuß auf dem Sand stand, krempelte er noch kurz die Hosenbeine fein säuberlich nach oben und ging dann los Richtung Norden, die Stiefel an den verknoteten Schnürsenkeln tragend. Den südlichen Teil des Strandes kannte er bereits. Durch den ersten Einschnitt im Wald zu seiner Linken konnte er ein weiteres Ferienhaus sehen, dass er für Nummer 3 hielt und nicht weiter beachtete, doch beim zweiten geriet er kurz ins Stocken. Von der Seeseite her, war das Hauptgebäude noch ein bisschen beeindruckender mit seinen insgesamt 4 Stockwerken, den beiden großen Balkonen und dem davor gelegenen, momentan leeren Swimming Pool. Kahle Flächen und solche, die durch schwere Jutestoffe geschützt waren, verrieten, dass Matt wohl einiges im restlichen Jahr zu tun hatte, schließlich bedurfte das alles intensiver Pflege. Zu lange wollte Seto sich aber auch nicht aufhalten und genoss die Sonne, die seinen Rücken wärmte. Er ging exakt am Flutsaum entlang, mal einen mal beide Füße leicht im Wasser und stellte erfreut fest, dass ihm die Kälte relativ wenig auszumachen schien. Wenigstens dafür waren all die kalten Duschen gut gewesen. Der nasse Sand fühlte sich seltsam an und gab manchmal stärker unter ihm nach als er erwartete, doch irgendwie machte es sogar Spaß. Enttäuschung machte sich kurz auf seinem Gesicht breit, als nach etwas mehr als einer Stunde sich seine Uhr meldete. Das war das erste mal seit Urlaubsbeginn, dass er die Weckfunktion nutzte und eigentlich hatte er keine Lust darauf, jetzt umzudrehen, tat es aber trotzdem. Nach den nächsten 10 Schritten, war sie jedoch vollkommen verflogen und machte einem anderen Gefühl Platz, bei dem Setos Herz immer wieder kleine Hüpfer machte. Das war nicht mehr normal. Vielleicht sollte er in Domino einen Kardiologen aufsuchen und sich durchchecken lassen. Nicht, dass das noch was Schlimmeres war und er für längere Zeit in der Firma ausfiel. Ob sich das Hotel auch als Kurort für Herzkranke eignete? Die tiefe Wintersonne blendete etwas und schien Gefallen daran gefunden zu haben mit den Wellen zu spielen. Für einen kurzen Moment konnte sich Seto vorstellen wie es hier im Frühjahr oder Sommer sein musste. Der Wald saftig grün, der Strand nur ein schmales Band, das ihn vom tiefblauen Ozean trennte. Er mit einem guten Buch im Liegestuhl sitzend oder am Wasser entlang laufend, so wie jetzt, dann allerdings in Badehose und ins Gespräch vertieft mit dem Chef. Er sah bestimmt gut aus in Badehose, da musste er sich nichts vormachen. Schließlich hatte er am Dienstag genug von ihm gesehen, um das sehr genau beurteilen zu können. Ausnahmsweise ließ er diese Gedanken zu und schlenderte gemütlich zurück. Am Haus kam er zeitgleich mit Yuki an, die gerade klopfen wollte. „Das kannst du dir sparen“, sagte er ihr, als er zu ihr trat. Erschrocken zuckte sie zusammen und fuhr herum. „Oh, guten Tag!“ Ihre Laune hatte sich offenbar deutlich gebessert. „Ja, scheint so. Aber“, sie musterte ihn kritisch von oben bis unten, „ich sollte Ihnen zumindest etwas aus dem Flur holen, damit Sie saubere Füße haben, bevor Sie wieder reingehen.“ Damit hatte sie wohl Recht. Seine Füße waren bis über den Knöchel nass gewesen, als er dem Meer endlich den Rücken zudrehte und Richtung Haus ging, was der feine Sand gleich ausgenutzt hatte, um diese zu panieren. „Warten Sie kurz hier.“ Flink schloss sie auf und kam nur Augenblicke später mit einem kleinen, grauen Handtuch wieder, das sie ihm reichte, und Pantoffeln, die auf der Türschwelle landeten. „Was gibt es denn heute?“, setzte Seto das Gespräch fort, während er hochkonzentriert versuchte den Sand wieder los zu werden. „Steak mit Ofenkartoffeln und Erbsengemüse“, antwortete sie knapp. Ihrem Blick war anzumerken, dass sie seine Technik noch nicht für ausgereift hielt. „Hat Shin seinen Schneidewahn überwunden?“ „Keine Ahnung. Er ist noch unterwegs. Hans hat gekocht und der setzt zum Glück noch gern seine Zähne ein. Den Rest bekommen Sie alleine hin, oder? Dann könnte ich versuchen mit den anderen zu essen.“ „Ja, das schaffe ich. … Und danke für die Lektüre. Sie war sehr aufschlussreich.“ „Freut mich zu hören. Guten Appetit.“ Im Gehen drehte sie sich noch einmal um und hob kurz die Hand zum Abschied. Sobald sie außerhalb seiner Sichtweite war, bemühte er sich seine Füße endlich sauber zu bekommen, was ihm so ganz aber nicht gelingen wollte. Resigniert schlüpfte er in die Pantoffeln und betrat das Haus. Die Kiste mit seinem Mittagessen stand auf der Stufe zum Wohnzimmer und wurde von ihm in die Küche verfrachtet, bevor es weiter ins Bad lief, wo er vorsichtig mit dem Brausenkopf den restlichen Sand entfernte. Danach holte er seine Schuhe in den Flur und gönnte sich endlich das Steak. Eigentlich mochte er es nicht, wenn er nicht bestimmen konnte, wie gut sein Fleisch durch war, aber Hans verstand wirklich etwas von seinem Fach und anscheinend war die Transportmethode doch ausgeklügelter als er bisher gedacht hatte, denn das Fleisch zerfiel fast von selbst und war genau richtig temperiert. Wenn er Yuki richtig verstanden hatte, würde vermutlich auch der Chef noch im Hauptgebäude essen. Hoffentlich kam er danach bald zu ihm. Bevor er mit dem Abwasch begann, machte er sich Musik an und versuchte mitzusummen. Dann ließ er das Wasser ein und machte sich an den Teller. Mit einem lauten Platsch fiel das Messer wieder ins Wasser, als ihn plötzlich jemand umarmte und einen Kuss auf die Wange drückte. „Ich hoffe ich bin nicht zu früh“, säuselte eine Stimme in sein Ohr, die dafür sorgte, dass sich seine Nackenhaare aufstellten. „Äh, nein. Sind Sie nicht. ... Ich esse nur ziemlich langsam.“ Woher kam diese plötzliche Aufgeregtheit? „Dann mache ich mich mal nützlich, damit Sie schneller hier fertig sind.“ Seto passte es gar nicht, wie sich die Arme wieder von ihm lösten und ihr Besitzer nach einem Geschirrhandtuch suchte. Er sollte ihn lieber noch so halten! In seinem Inneren grummelnd fischte er das Messer wieder aus dem Wasser und schrubbte es wiederholt gründlich ab. Konnte sein Verstand sich nicht einfach mal beherrschen? Eine Berührung und er wurde vom äußerst erfolgreichen Jungunternehmer zu einem verliebten Teenie! Wie? Ver … Verliebt? Nein, er sah das rational. Er war definitiv nicht verliebt. Wo käme er denn da hin. Hier ging es einfach nur darum, dass er sich, aber hauptsächlich seinem Körper, ein paar neue Erfahrungen gönnte. Basta! „Kann ich das Messer haben? Es sollte mittlerweile sauber sein“, unterbrach der Chef seine Gedankengänge. Sachte entwand er es Setos Händen, auf denen es plötzlich zu kribbeln begann. Schnell schnappte er sich den nächsten Gegenstand im Spülbecken und fing wiederum an diesen blank zu schrubben. Es war der letzte gewesen. So legte er ihn zur Seite und ließ das Wasser ab. Er wollte gerade die Hände ausschütteln, um sie etwas zu trocknen, doch der andere kam ihm zuvor und wickelte sie in das Geschirrhandtuch ein. „Würde es Ihnen gefallen Ihre Revanche für Montag zu erhalten, nachdem wir gestern nicht mehr dazu kamen?“ „Hört … Hört sich gut an.“ Seit wann war seine Stimme zu unsicher? Um es zu überspielen flüchtete er sich ins Wohnzimmer, entschied sich um und ging hinüber ins Schlafzimmer, wo zusammengefaltet der Schal auf der Decke lag. Er kehrte schnell zurück und hielt ihn dem Chef entgegen, der bereits wieder im Sessel saß und ihn interessiert mit den Blick folgte. „Oh, hier hatte ich ihn gelassen.“ Bedächtig nahm er ihn entgegen und fuhr mit der Hand darüber. „Vielen Dank. Das hätte ganz schön Ärger gegeben, wenn der nicht mehr aufgetaucht wäre.“ Setos Augen weitete sich. „Von wem denn?“ „Meiner Tante. Das war ein Geschenk von meiner Tante zu unserem ersten Weih... dem ersten Weihnachten nach der Geburt meiner Cousine und meines Cousins.“ Irgendetwas an seiner Formulierung ließ Seto aufhorchen, doch er konnte nicht genau bestimmen, was es war. „Selbstgemacht?“ „Ja. Sie wurde irgendwie häuslich während der Schwangerschaft. Und seitdem sind die meisten Sachen, die ich von ihr bekomme, in der Regel rot. Seltsamerweise findet sie, dass ich mich sonst immer zu trist kleide.“ Seto nahm auf dem Sofa Platz und musterte ihn kurz kritisch. „Vielleicht macht sie das auch einfach nur, weil Ihnen rot sehr gut steht?“, warf er in den Raum. Erst dann fiel ihm auf, dass man die Äußerung auch falsch verstehen konnte. Auf der Suche nach etwas anderem, griff er sich die weißen Go-Steine und schob dem Chef die anderen hin. „Was ist nun mit meiner Revanche?“ „Mit dem größten Vergnügen.“ Zwei Stunden später starrte Seto verdattert auf das Brett. Diesmal hatten sie tatsächlich auszählen müssen, um den Ausgang der Partie zu bestimmen, aber auch das hatte nichts am Ergebnis geändert. Aber wie ging das? Er hatte sich doch die anderen Partien angesehen und Gegenstrategien entwickelt, wenn sie nicht bereits notiert waren. Es konnte einfach nicht sein, dass er schon wieder verloren hatte – wenn auch dieses mal deutlich knapper als zuvor. „Wenn Sie weiterhin so finster drein schauen, bekommen Sie noch Falten auf der Stirn“, neckte ihn der Chef. Er meinte es freundlich, dass sah er in seinem Blick, obwohl ihm der leichte Hüpfer seines Herzens nicht gefiel, den es beim Anblick seines Lächelns machte. „Aber wenn es Sie beruhigt. Sie haben diesmal schon deutlich besser gespielt. Anscheinend hatten Sie nur in der Zeit davor zu wenig Gelegenheit zum Spielen. Möchten Sie die Partie durchsprechen oder reicht Ihnen etwas anderes, um wieder runter zu kommen?“ Den letzten Teil brachte er so schelmisch hervor, dass Seto tausend Dinge in den Kopf schossen, mit denen er von der Partie und seiner erneuten Niederlage abzulenken wäre. Ein melodisches Summen vertrieb minimum die Hälfte davon. „Was ist das für ein Lied?“ „Kelly Clarkson – Can I have a kiss. Nicht wirklich das, was ich sonst höre, aber Martine hat ihre CDs quasi non-stop hoch und runter laufen lassen, während wir die ersten beiden Häuser eingerichtet haben.“ „Und“, wollte Seto wissen, „können Sie einen Kuss haben?“ „Kommt ganz darauf an.“ „Worauf denn?“ „Ob Sie sich küssen lassen?" Seto konnte kaum so schnell schauen, wie der andere um den Tisch herum war, neben ihm auf dem Sofa wieder saß, eine Hand in seinem Nacken platzierte und ihn zu sich zog, bis er bequem an seine Lippen kam. Leider brachte das Seto etwas aus dem Gleichgewicht, der prompt zur Hälfte auf seiner Brust lag und das erste Mal wirklich seine Augen wahrnahm. Aus der Nähe betrachtet waren sie keineswegs so dunkel wie er bisher angenommen hatte. Wieso hatte er das zuvor nie getan? Natürlich waren sie von einem dunklen Braun, aber es lag eine Wärme in ihnen, die ihm den Atem raubte. Dafür spürte er den des Chefs, der im Zeitlupentempo die letzten Zentimeter zwischen ihnen überwand. Krampfhaft versuchte Seto seine Augen offen zu behalten, um weiterhin sein Gesicht genau betrachten zu können, doch je fordernder der Kuss wurde, desto schwerer fiel es ihm, bis er schließlich nachgab. Sein gesamter Blutkreislauf widersetzte sich ihm und lief auf Hochtouren. Er hasste den Gedanken, dass seine Wangen vermutlich genauso sehr glühten wie sie sich anfühlten, aber diesen Kuss hasste er nicht. Langsam wurde er mutiger und fuhr vorsichtig mit der Hand in die Haare des anderen. Er spürte irgendein Pflegeprodukt, das sie vermutlich an ihrem Ort halten sollte, was dringend notwendig erschien. Es reizte ihn, ihre ordentliche Lage zu zerstören, um zu sehen wie er wohl ohne diese strenge Frisur aussah, die die Belastung der letzten Tage immer relativ unbeschadet überstanden hatte. Währenddessen interpretierte der Hotelmanager sein Verhalten richtig, setzte ihn wieder auf und schwang ein Bein über ihn, sodass er nun rittlings auf ihm saß und von oben in sein Gesicht schaute. Seto musste den Kopf stark in den Nacken legen, um die Berührung ihrer Lippen fortbestehen zu lassen, jedoch besaß er nun einen Vorteil gegenüber seiner vorherigen Position. Er hatte beide Hände frei. Eine davon beließ er in den blonden Strähnen, während die andere neugierig den Körper des Größeren erkundete. Als er die Knopfleiste des Hemdes spürte hielt er kurz inne und öffnete seine Augen vollständig. Der Kuss war unterbrochen, der Chef hatte sich wieder aufgerichtet und bot einen Anblick, den Seto nicht erwartet hatte. Die Haare hingen ihm wild zerzaust ins Gesicht, aus dem ihm ein glasiger Blick begegnete, seine Atmung ging schwer und offensichtlich war er nicht mehr wirklich in der Lage zu sprechen, denn er nickte nur kaum merklich, um die stumme Frage zu beantworten. Setos Hände zitterten leicht vor Erregung bei dem Versuch die Knöpfe zu öffnen und dann wurde er noch nicht einmal für seine Mühe belohnt. Unter dem schwarzen Hemd, kam ein ebenso schwarzes T-Shirt zu Tage. „Das ist beim Tragen angenehmer“, wurde auf seinen irritierten Blick erwidert, „hat aber zugegebenermaßen in gewissen Situationen seine Nachteile.“ Im nächsten Moment flog das Hemd unachtsam auf den Boden, gefolgt vom T-Shirt. Doch Seto konnte diesen neu gewonnenen Anblick nicht lange genießen, sondern sog überrascht die Luft ein, als sich sanfte Küsse seinen Hals entlang nach unten arbeiteten. Wer hatte den Ameisen erlaubt wiederzukommen? Mit geübten Händen legte der andere sich nun stückweise den Weg frei bis zur Mitte seiner Brust und fuhr nun mit der Hand über die Stellen seiner Haut, die er nicht aktuell mit seinen Lippen liebkoste. Das lockerte auch die letzte Sicherung bei Seto, der, den Chef halb auf seinen Knien sitzend, Anstalten machte sich zu erheben. Augenblicklich wurde seinem Wunsch nachgekommen und etwas verwirrt zu ihm gesehen, da sie nun beide standen. Bestimmend griff Seto nach seiner Hand und zog ihn quer durch den Raum zum Schlafzimmer und dort auf das Bett. Blitzschnell lag er über ihm und verwickelte ihn erneut in einen Kuss, wobei er langsam seinen Körper an dem des Hotelmanagers rieb. Zufrieden stellte er fest, dass dessen Hose wohl demnächst etwas zu eng werden würde, wenn sie es nicht schon längst war. Leicht löste er den vollen Körperkontakt, um dem entgegen zu wirken. Kurz sehnte er sich dessen Wärme zurück, aber er hatte ein höheres Ziel, dessen Ergebnis sogar noch erstrebenswerter war. Nur wieso musste es so schwer sein, einen Gürtel, den man nicht selbst anhatte, zu öffnen? Endlich hatte er es geschafft, mit halber Konzentration, denn er versuchte mittels des Kusses von seinem Vorhaben abzulenken und die ihn streichelnden Hände förderten sie auch nicht besonders. Knopf und Reißverschluss waren vergleichsweise geringe Hürden. Siegesgewiss kniete er sich hin, fuhr mit den Händen unter Hose und den Bund, den er darunter spürte und zog beides erwartungsvoll auf sich zu. Doch bevor er nur einen kurzen Blick auf den Inhalt seiner Bemühungen erhaschen konnte, drehte sich seine Welt. Er lag plötzlich auf dem Rücken, die Arme beinahe schmerzhaft auf seinen Bauch gepinnt und sah verständnislos nach oben. Oh ja, der Chef konnte wild aussehen, doch das hier war anders als Seto es sich gewünscht hatte. Die ihm entgegenschlagende Wut war selbst für ihn, an dem normalerweise Gefühle andere abperlten, greifbar. „Nein.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch so deutlich und bestimmt, dass Setos Ohren klingelten. Aber er wäre kein Kaiba, wenn er sich damit einfach abwimmeln ließe. „Was, nein?“ „Nein zu dem, was Sie offensichtlich vorhatten.“ Es war keinerlei Stimmung daraus zu lesen. „Und woher wollen Sie wissen, was ich vorhatte?“, schmiss ihm Seto trotzig entgegen. „Weil es eindeutig war.“ Der Griff um seine Arme lockerte sich ein wenig, der Blick wurde sanfter. „Es fällt Ihnen wahrscheinlich schwer das zu verstehen, daher bitte ich Sie mir einfach nur still zuzuhören. Ich hatte genug Beziehungen und sonstige … Aktivitäten“, die Art wie er es aussprach, ließ keine Zweifel zu, welcher Art diese gewesen waren, „um zu wissen, dass Sie mit mir schlafen wollen.“ Seto gefiel es gar nicht, dass seine Absichten so leicht zu durchschauen waren. „Damit wir uns richtig verstehen“, fuhr der andere fort, „ich will hier nicht Ihre Gefühle verletzen und unter anderen Umständen wäre ich mehr als versucht, einfach dort weiter zu machen, wo wir aufgehört haben – Sie haben nämlich für meinen Geschmack eindeutig noch zu viel an. Aber Sie sind mir einfach noch zu grün hinter den Ohren.“ Seto wollte protestieren. Er und grün hinter den Ohren? Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Er war einer der einflussreichsten Männer Japans, lenkte die Schicksale unzähliger Menschen und … hatte null Erfahrung, wenn es um Sex ging. So wartete er einfach, was noch kommen würde. „Mir geht es einfach darum, dass Sie diese Erlebnisse mit der richtigen Person teilen. Einer Person, an der Ihr Herz hängt – nicht nur Ihr Körper. Und nein, ich bin das nicht – ganz egal, was Sie im Moment glauben sollten. Dafür kennen Sie mich noch nicht gut genug. Oft wird zwar das Gegenteil behauptet, aber es macht sehr wohl einen Unterschied, ob es einem nur um das Körperliche geht oder darum, dem Menschen, den man liebt so nahe zu kommen, wie es auf physischer Ebene nur geht. Haben Sie das verstanden?“ Seto, immer noch leicht benebelt von seinen eigenen Hormonen, nickte langsam. Es missfiel ihm zutiefst eine solche Abfuhr erhalten zu haben, auch wenn er vermutlich Recht hatte. Was war nur in ihn gefahren, dass er jegliche Vernunft über Bord geworfen hatte? Der Chef war inzwischen aufgestanden und hatte begonnen sich anzuziehen, während er weiterhin auf dem Bett saß. Jetzt würde er bestimmt gleich aus dem Haus verschwinden und ihn allein lassen als Strafe für sein unüberlegtes Verhalten. Aber wie war das? Er hätte gerne weiter gemacht. Dann lag es wirklich nur ein seiner Unerfahrenheit. Das ließe sich ändern. Es würde zwar zeitintensiv werden neben seiner Arbeit und gegebenenfalls auch ins Geld gehen, aber es würde nicht lange dauern und er hätte dieses Problem beseitigt und dann könnte er ja noch einmal schauen, ob man ihm so leicht widerstehen konnte. Verdammt! Wem wollte er hier eigentlich etwas vormachen? Wenn er schon so anfing, würde er tatsächlich immer von Männern umgeben sein, die nicht ihn, sondern seinen materiellen Wert liebten. Konnte er das wirklich ertragen? Nein, konnte er nicht, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Es bestand natürlich die Chance, dass es dem Hotelmanager tatsächlich um ihn ohne all das ging, aber nur an ein paar Amok laufender Hormone wollte er sein Glück nicht hängen. Dabei formulierte sich in seinem Kopf eine Frage. Schnell sprang er auf, den leichten Schwindel ignorierend, und lief zum Flur, um den anderen noch abzupassen, fand ihn jedoch leer vor. Dafür hörte er Geräusche aus der Küche und sah nach. „Was tun Sie hier?“, wollte er entgeistert wissen, sobald er den Chef erblickte, der verschiedene Käsesorten auf einem großen Teller anrichtete. „Uns eine kleine Stärkung zum Abendessen vorbereiten. Der Wein ist bereits im Dekanter.“ Fassungslos starrte Seto ihn weiterhin an. „Nein, ich meine allgemein. Ich dachte, Sie wären gegangen, nachdem...“ Leicht beunruhigt erwiderte er seinen Blick und antwortete: „Ich glaubte, wir hätten noch ein bisschen Redebedarf. Aber ich kann Sie natürlich auch in Ruhe lassen.“ Er ließ alles stehen und liegen und wahr bereits fast an Seto vorbei, bis dieser endlich wieder reagierte. „Nein, bleiben Sie“, zaghaft blickte er dem anderen ins Gesicht, „bitte. Ich habe in der Tat noch einige Fragen.“ Erleichtert sah er, wie er sich umdrehte und sich wieder seiner Arbeit widmete. „Was wollen Sie denn wissen?“ Der restliche Käse wurde Stück für Stück drapiert. „Wenn es nicht zu persönlich ist“, fing Seto an. Seit wann scherte er sich um so etwas? Aber er wollte eine ehrliche Antwort, da musste er nun einmal vorsichtiger zu Werke gehen. „Hatten Sie Ihre ersten Erfahrungen mit so jemanden, wie Sie es mir geraten haben?“ „Ganz ehrlich? Nein. Ich hatte zu viel getrunken – war nicht wirklich gut drauf damals – und hab mich abschleppen lassen von jemanden, der mich ein bisschen an die Person erinnerte, in die ich damals verliebt war. Das Gefühl selbst damals war berauschend, doch am nächsten Morgen habe ich mich noch elender gefühlt als davor. Kein Filmriss, kein Kater. Nur ein ganz klassischer One-Night-Stand. Weil ich wusste, dass das mit mir und meinem Traumpartner eh nie etwas werden würde, ging es dann eine Weile so weiter. Später dann kamen ein paar Beziehungen – sind alle aus dem gleichen Grund gescheitert. Sie alle sagten mir, ich würde an dieser einen Person noch hängen, die ich sowieso niemals würde haben können. Alles kaputt wegen etwas vollkommen Unerreichbaren. Ist das nicht komisch?“ Energisch landete das Käsemesser im Bergkäse. Seto konnte nur seinen Rücken sehen und erkannte dennoch, wie sehr ihn das mitnahm. Aber wie verhielt man sich normalerweise in einer solchen Situation? Er hatte es nie gelernt und war nun völlig überfordert damit. Immerhin verstand er jetzt, weswegen er ein verletztes Ego hatte, anstatt sich im Bett zu vergnügen. Würde er es jemals schaffen über sein Hündchen hinweg zu kommen? Das restliche Gespräch war deutlich heiterer. Nach einer Weile hatte sich der Chef soweit beruhigt, dass der sich mitsamt Käseteller Seto wieder zu wenden konnte. Sie hatten eine Flasche schweren Rotweins geleert, dazu den Käse gegessen und zunächst über Science-Fiction-Literatur geredet. So erfuhr Seto auch, dass er alle Bücher im Regal bereits selbst gelesen und für das Haus ausgesucht hatte. Angesprochen auf die unterste Reihe, lachte er laut auf. „Was denken Sie wohl, weswegen sie da stehen?“, antwortete er schlicht und zwinkerte ihm zu. Seto konnte sich ohrfeigen dafür, dass er sich selbst verraten hatte. Aber das Zursprachebringen dieses Themas barg seine Vorteile. Er erfuhr, wo Mann in Europa und den USA gut weggehen konnte, um unbehelligt zu feiern und Leute kennen zu lernen, ohne dass diese gleich erwarteten, mit ihm in der Kiste zu landen. Es war definitiv zu spät, um seine sexuelle Orientierung ihm gegenüber noch leugnen zu können. Anschließend verloren sie sich in einer Mischung aus Möbeln, Musik, den Schwierigkeiten des Managements und dem Anblick des Meeres. Es war spät, als sie sich schließlich erhoben. Es schien ein stilles Abkommen zwischen ihnen zu bestehen, die unsichtbare Grenze, die sie am frühen Abend zwischen sich gezogen hatten, nicht mehr zu überschreiten, dennoch bot Seto an, dass der Chef über Nacht bleiben konnte. Zu seiner großen Verblüffung stimmte er zu. „Aber nicht, dass Sie mitten in der Nacht auf blöde Gedanken kommen!“, warnte er lachend und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sie hatten sich nicht mehr vollständig bändigen lassen und Seto fiel auf, dass er so deutlich besser aussah. Jünger, lebensfroher. Aus dem Badezimmerschrank wurde eine weitere Decke und ein Kopfkissen gezaubert und zum Bett getragen. Seto verschwand mit seinem Pyjama wiederum dort, zog sich um, putzte sich die Zähne und musterte sich kurz streng im Spiegel. Zwar wollte er ihn nicht verführen, doch es konnte ja nicht schaden, den ein oder anderen Knopf oben offen zu lassen. Barfuß, seine getragenen Sachen unter dem Arm kehrte er zurück und gönnte sich den Anblick, den der Chef mittlerweile bot. Er trug nur noch das T-Shirt und Unterhosen und stand im Licht der Nachttischlampe – den Rest hatte er bereits ausgeschaltet – vor dem Bücherregal. Viel zu schnell fuhr er mit dem Kopf herum und fragte: „Ist das Bad jetzt frei?“ Auf Setos Bestätigung hin, verschwand er ebenfalls kurz dort und schlüpfte im Anschluss auf seiner Seite des Bettes unter die Decke neben Seto. Das Licht war schon eine Weile aus, als Seto leise sprach: „Wissen Sie was seltsam ist?“ Die sofortige Antwort verriet, dass der andere ebenfalls noch nicht am Einschlafen war. „Nein, was denn?“ „Sie sind der Erste neben meinem kleinen Bruder, der mit mir in einem Bett schläft.“ „Gut zu wissen. Dann werde ich heute Nacht ganz besonders darauf achten, dass Sie sich nicht zu breit machen.“ Seto wollte bereits Einspruch erheben, aber das leise Lachen zu seiner Linken war Indiz genug dafür, dass die Bemerkung ein Scherz gewesen war. „Zumindest hoffe ich, dass Sie danach nicht für alle Zeiten abgeschreckt sind und niemanden mehr bei sich schlafen lassen“, folgte die Korrektur kurze Zeit später. „Ich denke kaum. Schließlich sollte diese eine Person, die für mich richtig ist, nicht immer das Weite suchen müssen, nur weil ich schlafen will, wenn ich sie denn endlich gefunden habe.“ „Dann drücke ich Ihnen Daumen. Gute Nacht.“ Damit war es von der anderen Seite des Bettes ruhig. „Gute Nacht.“ Kapitel 15: 21.2. Samstag ------------------------- Seto ließ seine Augen noch eine Weile geschlossen, als er aufwachte. Die Nacht war herrlich gewesen und er wollte sich noch nicht damit auseinander setzen, dass er in nur wenigen Stunden abreisen würde. Er hatte sich tatsächlich etwas zu breit gemacht, doch statt ihn einfach weg zu schieben, wurde sich an ihn gekuschelt und so Stück für Stück der Platz zurück erobert. Momentan lag er alleine auf seiner Hälfte, aber das konnte man ganz schnell ändern. Tastend streckte er die Hand aus, griff jedoch ins Leere. Also rutschte er ein Stück weiter rüber und tastete erneut. Immer noch nichts. Erst als er die Bettkante spürte, öffnete er die Augen. Da konnte etwas nicht stimmen! Noch verschlafen stand er auf und durchsuchte die Räume. Sein erster Gedanke galt der Küche, als er bemerkte, dass keine fremde Kleidung mehr neben dem Bett lag. Es wäre doch wirklich schön, mit einem Frühstück überrascht zu werden. Aber sowohl Küche, als auch Bad sowie das Wohnzimmer waren leer, selbst der Schal war verschwunden. Der Blick in den Flur verriet noch mehr. Dort standen auch keine fremden Schuhe. Seto war allein. Enttäuscht kämpfte er gegen die Leere an, die sich in ihm auszubreiten drohte. Den Abend zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt und nun war da nichts mehr als Leere und Kälte. Sein altes Selbst. Und er, der nicht wusste, ob er es überhaupt noch mögen konnte. Ob er sich so akzeptieren wollte, jetzt da er wusste, dass er auch anders sein konnte. Auf dem Weg zu Bad, drückte er den Knopf für die Küche, meldete sich aber nicht gleich. Dafür hörte er Shins Stimme, die ihn begrüßte: „Guten Morgen, Nummer 4. Womit kann ich Ihnen so kurz vor der Abreise noch etwas Gutes tun?“ Seto hielt sich gar nicht erst auf mit irgendwelchen Floskeln auf. „Rührei.“ Da war sein altes Selbst wieder, wurde ja auch wieder Zeit. Ab Montag, vielleicht aber auch bereits Sonntag würde er wieder arbeiten, und sie sollten alle vor ihm erzittern. Er duschte kalt, zog sich an und räumte seine Sachen in den Kulturbeutel. Shin stand bereits in der Küche, als er das Wohnzimmer betrat, und schnitt gerade den Lachs. Er grüßte lediglich mit einem „Morgen“ und verstaute die Schmutzwäsche vom Vortag und sein Waschzeug im Koffer. Dann kehrte er zu dem Koch zurück und beobachtete genau jeden seiner Handgriffe. Der Chef hatte es ihm tatsächlich eins zu eins so gezeigt. Aber daran wollte er gerade nicht denken und versuchte mit aller Macht den Gedanken an ihn zu verdrängen. „Wann haben Sie vor zu fahren?“, startete Shin den Versuch ein Gespräch in Gang zu bekommen, während er das Ei in die Pfanne schüttete. „Sobald wie möglich. Ich werde frühstücken, meine restlichen Sachen packen und dann losfahren. Das Wetter lädt nicht gerade zum Bleiben ein“, fügte er hinzu als wäre damit alles erklärt. „Dann kann ich nur hoffen, dass Sie meine Kochkünste in guter Erinnerung behalten werden. In ungefähr zwei Minuten können Sie essen.“ Als er Seto den vollen Teller mit Ei und Toast reichte, verabschiedete er sich bereits. „Leider kann ich nicht länger bleiben, da noch weitere Gäste Frühstück möchten. Ich hoffe allerdings, dass ich in der Zukunft hier wieder für Sie kochen kann. Sie waren wirklich herrlich unkompliziert mit Ihren Wünschen. Auf Wiedersehen.“ Er reichte ihm die Hand und verschwand dann in Richtung Flur. So blieb Seto nichts anderes übrig als seine Henkersmahlzeit ohne Gesellschaft zu verspeisen. Eigentlich hatte er ihn noch nach dem Hotelmanager fragen wollen. Aber da ließ sich anscheinend nichts machen. Wenigstens schmeckte es gewohnt lecker. Beim Abwasch überlegte er, ob er zum Hauptgebäude gehen sollte, um sich vom Chef zu verabschieden, entschied sich jedoch energisch dagegen. So weit käme es noch, dass er ihm hinter her rannte, wie ein ausgesetzter Hund! Schließlich hatte er beschlossen, nicht zu warten, bis Seto aufgewacht war, oder ihn zumindest zu wecken, um ihm mitzuteilen, dass er gehen musste. Die letzte Tür des Einbauschrankes flog etwas zu heftig zu und ließ das Geschirr dahinter entrüstet klirren. Im Anschluss machte er einen letzten Rundgang durch das Ferienhaus und kontrollierte, ob er auch nichts vergessen hatte. Es war wirklich ein angenehmer Rückzugsort gewesen, dass musste er zugegeben. Vielleicht sollte er sich einen der Räume in seiner Villa ähnlich einrichten, um sich während seiner langen Arbeitsphasen etwas Ruhe zwischendrin gönnen zu können. Er nahm die Bücher, die ihm gehörten und legte sie oben in seinen Koffer. Das Go-Brett ließ er so wie es war auf dem Wohnzimmertisch stehen und warf noch einen letzten Blick auf das dunkelgraue Meer, über das der Wind hinwegfegte. Seine wenigen Gepäckstücke stellte er in den Flur und zog sich seine Schuhe an. Zerknirscht stellte er fest, dass er vergessen hatte, seine Wanderstiefel richtig zu säubern, doch er verspürte keinerlei Lust, dies jetzt nachzuholen. Sein Kofferraum würde ein wenig Sand bestimmt verkraften. Den Mantel zog er nicht an, sondern legte ihn nur locker über den Koffer. Vor der Tür wartete bereits Yuki auf ihn und fragte prompt, ob sie ihm mit seinem Koffer behilflich sein könne. Aber er verneinte und trug alles selbst zu seinem Auto. Nachdem die Kofferraumklappe mit einem lauten Rums geschlossen war, wandte er sich ihr wieder zu. „Ich wollte mich nur noch kurz bei Ihnen verabschieden – auch im Namen des gesamten Teams – und Ihnen das hier geben.“ Sie hielt ihm einen kleinen Zettel entgegen, auf dem eine Internetseite und ein Nickname vermerkt waren. „Falls Sie mal einen Gegner zum Go-Spielen brauchen“, erklärte sie, während er das Stück Papier in der Hosentasche verstaute. „Danke. Allerdings weiß ich nicht, wann ich dazu kommen werde.“ Zumindest ihr gegenüber gelang es ihm wieder nett zu sein. „Macht nichts. Es war eigentlich nur so eine Idee. Ich hoffe, es hat Ihnen gut bei uns gefallen, und wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt. Passen Sie die nächsten 30 Kilometer noch etwas auf – die Kurven sind ziemlich tückisch bei diesem Wetter. Ciao.“ Sie drückte kurz seine Hand und sah ihm dann dabei zu, wie er einstieg und sich anschnallte. „Die nächsten 30?“, hakte er mit herunter gelassener Scheibe noch einmal nach und startete dann den Motor. Sie bestätigte. „Danke. Ich werde es mir merken.“ Er befestigte sein Handy in der Halterung, die Scheibe fuhr wieder nach oben, und wendete so, dass er bequem die Straße zum Tor einschlagen konnte. Yuki winkte ihm hinterher, bis er außer Sichtweite war. Auch ohne den Schlüssel, den er in der Tür hatte stecken lassen, öffneten sich die Torflügel für ihn automatisch. Er befahl seinem Navi die Navigation zu seiner Villa in Domino. Dann schaltete er die Musik ein und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. And I'd give up forever to touch you Cause I know that you feel me somehow You're the closest to heaven that I'll ever be And I don't want to go home right now Für seinen Geschmack etwas zu kitschig, aber wenigstens war es ruhig genug, um Yukis Rat zu folgen. Die Straße ins Landesinnere hatte wirklich so ihre Tücken. Die Anzeige des Navis behauptete, dass er dreieinhalb Stunden nach Hause brauchen würde. Zeit genug, um sich auch emotionale Distanz zu schaffen. Erleichtert sah er wie sich das Tor zuerst vor dem Sportwagen öffnete und hinter ihm wieder schloss. Endlich war er ihn los. Die letzten zwei Wochen waren hart für ihn gewesen. Härter als er es je für möglich gehalten hätte. Doch er hatte das Gefühl, das alles gut gemeistert zu haben. Er musste schmunzeln, als er an den Kuss dachte, denn er sich im dunklen Morgengrauen noch von den Lippen des Kühlschranks gestohlen hatte. Wenigstens seine Körpertemperatur war angenehm gewesen. Den Blick noch auf das Laptopdisplay gerichtet griff er sich das Telefon. Es gab nur eine Person, die er nun dringend sprechen musste, und zu seiner großen Freude, hob sie sofort ab. „Hier Martine. Was kann ich für Sie tun?“ „Ich bin's“, antwortete er in akzentfreiem Englisch. „Hallo, Süßer. Wie geht es dir? Hast ja lange nichts von dir hören lassen.“ Auch sie hatte die Sprache gewechselt. „Ganz gut“, log er. „Mister Kaiba hat soeben das Hotel verlassen. Was mich dazu bringt, dich zu fragen, was du dir dabei eigentlich gedacht hast.“ „Sag jetzt nicht, dass dir dein Spielzeug zum Valentinstag nicht gefallen hat! Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.“ „Das ist es nicht, aber diese Art Geschenk suche ich mir normalerweise gerne selbst aus.“ „Glaub mir. Die Seiten dafür taugen nichts. Das habe ich letztes Jahr probiert, als ich für eine Fotoreihe ein paar neue Gesichter gesucht habe – keiner von denen hat tatsächlich ein Bild von sich selbst hochgestellt. Außerdem wollte ich dir damit helfen, deinen guten Vorsatz zu Silvester umzusetzen. Er war es doch, den du damals gemeint hast, oder?“ „Ja, aber es hat mich etwas überrumpelt, dass du es geschafft hast, ihn hier her zu locken. Außerdem hatte ich dir das im Vertrauen erzählt.“ „Unterschätze niemals meine Fähigkeiten.“ „Ich weiß und irgendwie hat es mir auch Spaß gemacht, mit ihm ein bisschen zu spielen. Da hattest du wirklich Recht. Aber ich hätte gerne einen Beipackzettel gehabt.“ „Was hätte ich denn da drauf schreiben sollen?“ „Die Nebenwirkungen vielleicht. Das es nicht so einfach ist, sein Herz dabei außen vor zu lassen. Es war plötzlich alles wieder da. Jedes einzelne Gefühl von damals. Und dann gleichzeitig diese Macht, die ich auf einmal über ihn hatte. Ich hätte alles mit ihm anstellen können, wenn ich gewollt hätte! Ich hätte ihn in die höchsten Spähren hinauftragen können, nur um dann dabei zuzusehen, wie er nur Augenblicke später unten am Boden zerschellt. Ich war so kurz davor das zu machen. Verdient hätte er es definitiv, aber dann hat er wie aus heiterem Himmel nach Wheeler gefragt. So als sprächen wir über einen gemeinsamen Bekannten. Das hat mich dann meistens wieder zur Vernunft gebracht.“ „Ach, Kleiner.“ „Du hast mir nicht gesagt, dass es so schwer werden würde! Als du von Nebenwirkungen sprachst, hatte ich nicht an so etwas gedacht... Jedes Mal, wenn er mich ansah, habe ich die Luft angehalten in Erwartung, dass er mich endlich erkennen würde. Und jedes Mal wurde ich enttäuscht. Ich hatte ernsthaft gedacht, dass er zumindest die Ähnlichkeit bemerken würde, aber da war nichts. Ich war für ihn ein vollkommen Fremder, so als hätte es mich früher in seinem Leben nie gegeben.“ „Du bist auch nicht mehr der Gleiche wie damals, warst es noch nicht mal mehr, als wir uns kennen gelernt haben. Du kannst nicht erwarten, dass man dich sofort wiedererkennt nach so vielen Jahren. Sieh es doch als Kompliment. Du hast all das soweit hinter dir gelassen, dass selbst derjenige, der dich damals darüber definiert hat, dich nicht mehr erkennt. Du hast keine Vorstellung wie stolz ich auf dich bin, weil du dieses Schritt geschafft hast. Wie stolz auch mein Bruder ist.“ „Wie geht es dem eigentlich? Seit ihr drei immer noch bei ihm?“ „Ja, sind wir. Soll ich ihn dir geben?“ „Nein, lass. Ich telefoniere ein andermal mit ihm.“ „Na gut. Es geht ihm gut – allerdings ist er kurz davor Ethan die Geige wegzunehmen. Mit Claras Klavierspiel hat er weniger Probleme. Aber er hat demnächst genug Zeit sich damit anzufreunden – ich hab die nächsten zwei Monate ziemlich viele Aufträge außerhalb.“ „Das kann ich mir wirklich gut vorstellen, wie er Ethan erklärt, dass man auf einer Geige spielt und nicht sie quält... Deine Auftragslage klingt gut. Wo überall?“ „Unter anderem Ende nächsten Monats in deiner Heimatstadt. Willst du vielleicht mit? Dann könnten wir mal wieder in meinem Lieblingsantiquariat stöbern. Ich bin immer noch nicht mit der Einrichtung in Nummer 6 zufrieden. Irgendetwas fehlt mir dort noch. Frag mich aber jetzt bitte nicht was. Ich wäre um einiges glücklicher, wenn ich es selbst wüsste. Was sagst du? Ist das ein guter Vorschlag?“ „Schlecht hört es sich zumindest nicht an. Ich muss hier wirklich mal raus. Die Wohnung ist ja groß genug. Stadtluft soll ja gut für die Gesundheit sein.“ „Vor allem, wenn man dort arbeitet, wo andere Urlaub machen. Dann plan ich meine Strecke so, dass ich dich abholen kann. Das wird vermutlich der Neunzehnte. Passt dir das? Da ist doch im Hotel noch nicht so viel los. Einfach nur für eine Woche. Das bekommen die auch ohne dich hin. Matt wird natürlich genug mit dem Garten zu tun haben, aber Yuki sollte das alles gut organisieren können. Bist du noch da?“ „Ja, bin ich. Mir ist nur gerade wieder aufgefallen, was für ein Glück ich mit meinem Team habe. Sie sind wirklich wie meine Ersatzfamilie – meine nervigen Geschwister. Apropos. Hast du Dad schon gefragt, wie es bei ihm im Sommer aussieht?“ „Nein, noch nicht, aber er würde sich freuen, zu wissen, dass du ihn endlich so nennst.“ „Verrat es ihm bitte nicht. Zudem ist das eine ganz neue Angewohnheit.“ „Aber wieso? Er ist dein Dad! Und nichts ist natürlicher als ihn auch so zu nennen.“ „Ja, aber ich will das selbst machen. Am liebsten würde ich dabei sein Gesicht sehen, aber das geht am Telefon so schlecht.“ „Von Videoanrufen hast du aber schon mal was gehört?“ „Natürlich. Sonst bekäme ich meine Freunde ja gar nicht mehr zu Gesicht! Die treiben sich in der Weltgeschichte herum und lassen mich hier in Japan ganz alleine. Schicken noch nicht mal eine Postkarte.“ „Du müsstest einfach nur endlich eine ihrer Einladungen annehmen und zu ihnen fliegen. Wofür haben wir das Monstrum denn?“ „So lang kann ich mir gar nicht frei nehmen. Eine Woche geht mal, aber für längere Zeiträume müsste ich hier dicht machen – wir sind jetzt schon wieder zur Hälfte für nächstes Jahr ausgebucht.“ „Dann hättest du dir mal nicht so ein gutes Konzept ausdenken dürfen.“ „Ich weiß, aber ich liebe es, dass es so gut aufgegangen ist. Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich auf den Sommer hier freue, wenn die Kinder hier wieder rumtoben, Hans und Cian den ganzen Tag singen und das Wasser warm genug ist, um ohne Neoprenanzug darin zu schwimmen.“ „Ähm, doch, weiß ich. Neben Weihnachten die schönste Zeit des Jahres – außer der Tatsache, dass ich mir wieder überlegen darf, was meine beiden Verrückten von mir zum Geburtstag geschenkt bekommen.“ „Ihr Onkel wird dich auch dieses Jahr übertreffen.“ „Ich weiß. Aber ihren Cousin mögen sie unverdienter Weise dennoch lieber. Kannst du mir mal verraten wie der das immer macht?“ „Vermutlich tobt er einfach nur mehr mit ihnen und vernachlässigt sträflich seine Arbeit, wenn sie in der Nähe sind. Im Übrigen, … ich muss demnächst noch etwas wegschicken und mir vorher überlegen, wie ich das formuliere.“ „Was denn? Soll ich dir helfen?“ „Nein, das ist was Privates.“ „Bezüglich deines Geschenks? Ich erwarte kein Dankesschreiben. Das kannst du dir also sparen.“ „Wäre zwar auch eine nette Idee. Schön auf starkem Papier, gegebenenfalls mit Stanzung und allem drum und dran, aber das hebe ich mir lieber für die nächste Geburtstagskarte auf. Es geht um den letzten Zug in dem Spiel, dass ich durch dich spielen konnte.“ „Dann störe ich dich mal nicht weiter.“ „Machst du doch nie, aber danke. Die E-Mail muss nämlich in einer Stunde fertig sein. Grüß mir Clara und Ethan … und Dad. Er soll nicht so streng mit ihnen sein.“ „Richte ich aus, Kleiner. Hab dich lieb.“ „Ich dich auch, Große.“ Eigentlich hätte er sich gleich an den Laptop setzen sollen, er wusste längst was er schreiben würde, aber der Blick aus dem vierten Stock war doch immer wieder etwas ganz Besonderes. Vor fünf Jahren hatte er geglaubt, er würde sich irgendwann daran gewöhnen, doch momentan sah es noch nicht danach aus. Vielleicht sollte er sich einfach mal öfter in sein wirkliches Zimmer zurückziehen und einfach nur aus den bodentiefen Fenstern nach draußen blicken. Vom Horizont her klarte es auf und der Himmel wirkte gleich heller. Eine Viertelstunde später riss die Wolkendecke tatsächlich auf und präsentierte einen frischen blauen Himmel, auf dem kein Platz zu sein schien für seine düsteren Gedanken. Es war Zeit dieses Spiel zu gewinnen. „No regrets they don't work No regrets now, they only hurt (We've been told you stay up late) I know they're still talking (You're far too short to carry weight) The demons in your head (Return the videos they're late) If I could just stop hating you (Goodbye) I'd feel sorry for us instead“ Es tat ihm gut dabei zu singen. Die E-Mail war schnell geschrieben. Den Laptop ließ er laufen, schnappte sich ein Buch, öffnete die Fenster und setzte sich in das Licht der plötzlich warmen Februarsonne. Selbst wenn er nicht den letzten Zug hatte, war doch sein Sieg gewiss. Seto nahm sich kaum die Zeit, den Wagen richtig in der Garage zu parken. Er hatte die Strecke in unter drei Stunden geschafft und hummelte nun darauf, endlich seinen Computer hochzufahren. Das wenige an Gepäck, das er mitgenommen hatte, trug er ins Haus hinüber. Seinen kleinen Bruder ignorierte er, als er ihn in der Eingangshalle abpassen zu wollte. „Später Mokuba, ich muss ganz dringend an meinen Computer. Danach komm ich wieder zu dir und erzähle vom Urlaub.“ Er trug den Koffer weiter nach oben in sein Zimmer und nahm sich den Laptop heraus. Dann ging er damit über den Flur in sein Arbeitszimmer und drückte ihn in die Docking Station. Das kaum hörbare Summen des Geräts hatte ihm gefehlt. So viel zu dem Sinn einer zweiwöchigen Abstinenz. Rasch tippte er sein Passwort ein und öffnete dann sein E-Mail-Programm. Wie nicht anders zu erwarten war er in der Zeit mit Nachrichten überschüttet worden. Zum Glück musste er sich seinen Firmenposteingang nicht anschauen für das, was er suchte. Dafür würde am Montag noch genug Zeit sein. In einem Unterordner fand er das Postfach für die Adresse, die er extra für die Kommunikation mit dem Hotel eingerichtet hatte, und öffnete es. Unbeabsichtigt fing sein Puls an zu rasen. Hoffentlich hatte der Chef Wort gehalten und ihm bereits geschrieben. Ja, hatte er, auch wenn er auf einen Betreff verzichtet hatte. Ein einziger Klick trennte ihn noch von der langersehnten Antwort. Doch dann zerbrach seine Realität. Mokuba stoppte das Computerspiel und legte den Controller zur Seite. Hatte Seto nicht gesagt, dass er nur kurz an seinen Computer wollte? Aber vermutlich war die Zeit ohne Internet einfach zu viel für ihn gewesen. Der Chef hatte ihm geschrieben, wie er auf diese Eröffnung reagiert hatte und kurz fühlte er sich ein wenig schuldig, dass er seinen Bruder zu dem Hotel geschickt hatte. Vielleicht sollte er mal nach ihm sehen. Ausgerüstet mit einer der wenigen Tafeln Schokolade, die aus dem Haufen vom Valentinstag im Haus hatten verbleiben dürfen, stieg er die Stufen hoch und klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer. Es blieb still. Er klopfte erneut und drückte dann vorsichtig die Klinke runter. Sein Bruder saß wie erwartet am Schreibtisch, aber was Mokuba sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Seto wirkte seltsam weggetreten und reagierte nicht, als er ihn ansprach. Er starrte einfach nur auf seinen Laptop. Schnell umrundete er den Tisch, um sehen zu können, was ihn so in seinen Bann schlug, doch da reagierte Seto plötzlich und klappte das Display zu. „Ich komme“, sagte er schlicht und stand auf. Seto schob Mokuba Richtung Tür und schloss sie hinter sich beiden. Zum Glück hatte er noch schnell genug verhindern können, dass er den Inhalt der E-Mail sah. Er machte sich bestimmt jetzt schon genug Sorgen. Wie spät war es eigentlich? Kaum zu glauben, dass er sich so lange damit aufgehalten hatte. Dabei hatte man ihm nur genau zwei Wörter geschickt. Joseph Pegasus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)