Reise in den Osten von JCZoldyck ================================================================================ Kapitel 5: Strahlungsart ------------------------ Es dauerte seine Zeit, bis Robin die Grundtechniken Ten, Ren und Zetsu erlernte. Nach wenigen Wochen Training allerdings wusste sie gezielt und auf Kommando ihre Aura zu aktivieren und wieder erlöschen zu lassen. Nachdem sie auch endlich Ren beherrschte und so die Kraft der Aura, die sie umgab, potenzierte, wagte ich mich mit ihr an ein Wasserorakel. Ihre Hände um das mit Wasser gefüllte Glas gelegt, bat ich Robin, ihr Ren einzusetzen und die Reaktion abzuwarten. Ich hoffte insgeheim entweder auf Sonderart oder Verkörperungsart, ihrem Gemüt nach zu urteilen, konnte sie beispielsweise genauso gut Strahlungsart sein. Konzentriert richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Glas zwischen ihren Händen. Angespannt blieb ich neben ihr stehen, bis sich etwas rührte. Das Wasser färbte sich rot. Ich hätte es gleich ahnen sollen. Tief seufzend ließ ich den Kopf hängen. Wie sollte jemand der Strahlungsart die Fähigkeit eines Exnenisten erlernen? Selbst wenn sie das Talent dafür besaß, bezweifelte ich, dass ihre Stärke je dafür ausreichen würde, Kurapikas Kette zu brechen. „Alles okay?“, fragte sie verwirrt. Ich setzte ein Lächeln auf, als ich den Kopf wieder hob. „Ja, alles in Ordnung. Wenn sich das Wasser übrigens verfärbt, weist es darauf hin, dass du zur Strahlungsart gehörst.“ Ich musste es positiv sehen. In der Zeit, in der ich Robin trainierte und in Venari lebte, musste ich mir keine Gedanken um Verpflegung oder Unterkunft machen. Jetzt konnte ich allerdings alles hinschmeißen und überlegen, wie ich meine Suche fortsetzte. Sie jetzt noch zu trainieren, war reine Zeitverschwendung, denn mir fiel keine Möglichkeit ein, wie sie mit ihrer Strahlungsart das Nen um mein Herz auslöschen konnte. Oder doch? Ich war gerade zu verzweifelt, als dass ich dafür eine Antwort fand. „Lern ich endlich Hatsu?“ Angestrengt nachdenkend, rieb ich mir die Schläfe. „Theoretisch könntest du damit bereits anfangen, es wäre aber von Vorteil, die anderen Grundtechniken erst zu stärken.“ „Das hab ich doch seit zwei Monaten getan“, stöhnte sie genervt. „Irgendwann muss ich doch meine Fähigkeiten entwickeln.“ Genaugenommen war dies nicht mehr meine Angelegenheit. „Dafür brauchst du mich nicht mehr. Man muss selbst herausfinden, welche Fähigkeit zu einem passt.“ Sie fing laut an zu denken, untermalt mit einem seufzenden Ton. „Welche Fähigkeit hast du?“ Ich grinste. „Die wichtigste Regel überhaupt: Verrat deinem Gegner niemals, welche Kräfte du besitzt.“ Unentwegt pikste sie mit der Fingerspitze in meine Rippen. „Sag es oder ich hör nicht auf!“ Selbst als ich einen Schritt zurückging, rutschte sie mit dem Stuhl hinterher und hielt mich fest, damit ich nicht abhaute. „Ich stehle anderen das Hatsu, wenn sie mich nerven.“ Empört stemmte sie die Arme in die Hüften. „Du Dieb!“, rief sie spielend geschockt. Ich lachte. „Da kann wohl jemand mit der Wahrheit nicht umgehen.“ Bevor ich erneut von ihr schikaniert wurde, rannte ich auf die andere Seite des Tisches, wo sie mich nicht erreichte. „Nein, ehrlich“, begann sie nun ernst, als ich ihr entwischte „Wieso erzählst du nie über dich?“ „Weil du mich ganz sicher hassen würdest, wenn ich es dir erzähle“, antwortete ich nüchtern. „Schwachsinn“, zischte sie. „Ich beurteile Menschen nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Vergangenheit oder ihren Taten. Mittlerweile weiß ich, wie du drauf bist und egal, was du über dich sagst, ich werd dich nicht hassen.“ Auf ihren Lippen bildete sich ein zartes Lächeln ab. „Ich weiß ja, dass du keiner Fliege etwas zuleide könntest. Und solltest du in der Vergangenheit trotzdem etwas Unverzeihliches getan haben, sehe ich, dass du dich geändert hast.“ Sie klang so ehrlich, dass ich beinahe überlegte, ihr die Wahrheit zu gestehen. Wenn sie glaubte, was sie über mich sagte, war sie viel zu gutmütig. Aber solche Leute, die mich als harmlos eingestuft hatten, weil ich mich höflich oder freundlich benahm, hatte ich zu Genüge erlebt. Besonnen schüttelte ich den Kopf, während ich auf einem Stuhl direkt neben mir Platz nahm. Robin seufzte laut. „Überhaupt nichts? Kannst du auch nicht sagen, woher du kommst oder dein Beruf? Irgendwelche Hobbys? Familie? Oder warum dich jemand mit diesem komischen Kettenfluch belegt hat?“ Still schaute ich an mir herunter, als sie von der Judgement Chain sprach. Robin tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Fußboden. „Ich warte.“ „Später.“ Zum Glück vergaß sie es schnell wieder. Ich übernahm diesen Abend freiwillig die Wache, während Robin ihr Nen trainierte. Die Aufgabe hatte ich mir ein wenig interessanter vorgestellt, denn bis auf ein paar wilde Tiere bestand keine Bedrohung. Die Zeit nutzte ich hauptsächlich, um zu überlegen, ob ich noch eine Weile in Venari blieb oder bereits abreiste. Das Hauptproblem bestand darin, dass ich keine Anhaltspunkte für ein weiteres Ziel besaß. Mittlerweile neigte sich die Sonne dem Horizont, als einer der Jäger auf den Aufsichtsturm stieg, um mich abzulösen. An der Hütte der Angelius angekommen, hielt der alte Chasio bereits Ausschau. „Kannst du Robin Bescheid geben, dass es gleich Abendessen gibt? Sie ist vorhin in die Bibliothek gegangen.“ „Kein Problem, bis gleich“, verabschiedete ich mich, bevor ich einen erneuten Fußmarsch auf mich nahm. Normalerweise las sie nicht gern, hatte sie mir erzählt, deswegen überraschte es mich, dass sie sich ausgerechnet in der Bibliothek aufhielt. Vielleicht schnüffelte sie auch nur nach, was ich dort die ganzen Tage tat. Die Auflösung kam bald. Ich blieb still am Eingang der Bibliothek stehen. Halb verdeckt von den Regalen, saß Robin an einem dunklen Holztisch, wo sie Bücher vor sich ausgebreitet hatte. Sie brauchte einige Zeit, bis sie mich bemerkte. Nach einer kurzen Schrecksekunde nahm sie wieder normale Haltung ein. „Sag mal was hältst du eigentlich davon, Hunter zu werden?“, fragte sie mich beiläufig, während sie die Zeilen vor sich überflog. Mich hatte es noch nie gereizt, an der Hunterprüfung teilzunehmen, wenn der Großteil der Anwärter keine Ahnung von Nen hatte. Es gab demnach niemanden, dessen Fähigkeiten ich hätte stehlen können, außerdem genoss ich als Anführer der Phantom Brigade dieselben Privilegien wie ein Hunter, und schwer zugängliche Informationen konnte Shalnark, der Einzige mit einer Lizenz, für die Gruppe beschaffen. „Hunter haben viele Privilegien, aber bisher kam ich auch ohne Lizenz klar.“ Ich rückte den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches zurück, um Platz zu nehmen. „Ich überleg ja für mich. Die dürfen beispielsweise gesperrte Gebiete bereisen oder kommen an geheime Informationen, die ein normaler Mensch nie beschaffen könnte. Außerdem können sie öffentliche Verkehrsmittel kostenlos nutzen.“ Ich betrachtete die aufgeschlagenen Seiten. Unter den vielen Werken über Hunter und Menschen mit besonderen Fähigkeiten befanden sich einige, die ich bereits gelesen hatte. Beunruhigen tat mich eigentlich nur die aufgeschlagene Seite über Meteor City aus einem Ratgeber über unentdeckte Orte. „Wie kommst du eigentlich darauf?“ Ich tippte auf das Buch. „Ich hab mich über die Orte der Welt informiert, die nicht für alle zugänglich sind. Die Seite hatte einen Knick, darum hab ich die zuerst aufgeschlagen.“ Ich nickte abwesend als Zeichen, dass ich ihr zuhörte. Das Buch schlug ich ohne zu zögern zu. „Sowas musst du nicht lesen. Das meiste darin stimmt sowieso nicht.“ „Woher willst du das wissen?“, blaffte sie mich an und suchte nach der Seite, als sie mir den Ratgeber aus der Hand riss. „Schon mal da gewesen?“ „Vielleicht?“ Sie blätterte willkürlich durch die Seiten, während sie ihre Aufmerksamkeit mir schenkte. „Die ganze Stadt besteht nur aus einer riesigen Müllhalde, das war’s.“ Robin rümpfte die Nase. „Ich hab gehört, da leben auch Menschen. Kann mir nicht vorstellen, dass die nur in Müll leben. Also verarsch mich nicht.“ Ich grinste. „Du glaubst gar nicht, wie viele Orte ich schon bereist habe und das ganz ohne Hunterlizenz. Aber du musst selbst wissen, ob du mir glaubst.“ Ich stand auf, als mir einfiel, weshalb ich überhaupt herkam. „Ach ja, ich wollte eigentlich Bescheid geben, dass es Abendessen gibt.“ Unschlüssig sah Robin zwischen ihren Büchern und mir hin und her. „Wenn du mir das auch nicht glaubst, bleib ruhig hier“, meinte ich schulterzuckend und verließ die Bibliothek. Nach nur wenigen Sekunden folgte sie mir polternd. Robin packte mich am Handgelenk, als ich vom Essenstisch aufstand und fragte leise: „Kommst du mit?“ Ich ließ mich von ihr in ihr Schlafzimmer führen, nachdem Chasio versicherte, dass er sich um den Abwasch kümmerte. Wie sie setzte ich mich auf das gemachte Bett. Ihre Finger streiften an meinem Hosenbein auf und ab, während sie nachdachte. „Weißt du, ich hab in letzter Zeit einiges überlegt“, begann sie zögernd. „Venari ist zwar schön ruhig, aber ich will auch nicht ewig hier leben. Das letzte Mal, dass ich draußen war, war vor über einem Jahr.“ „Und deswegen willst du Hunter werden?“, unterbrach ich sie. „Das war ja nur eine Überlegung.“ Langsam wanderte ihr Blick an mir hoch, bis sich unsere Augen trafen. „Du hast doch sicher mehr da draußen gesehen als ich, oder?“ Ich nickte knapp. „Na ja, darum interessiert es mich einfach, was du alles schon erlebt hast. Ich selbst weiß ja kaum etwas von der Außenwelt.“ Schade, ich dachte, sie hätte das Thema bereits abgehakt oder gar vergessen. Ihre Finger krabbelten unbemerkt über mein Bein. Ich drehte mich etwas weiter zu ihr. „Ich versteh dich schon“, sagte ich lächelnd. „Es ist nur so, dass ich nicht gern darüber rede, weil ich über manche Dinge, die ich getan habe, nicht stolz bin.“ „Ist doch egal“, flüsterte Robin. „Jeder hat mal Fehler begangen.“ Dass sie mein Leben mit ihren kleinen Jugendsünden verglich, brachte mich beinahe laut zum Lachen. Selbst wenn sie eine gefürchtete Mörderin war, was ich bezweifelte, kam dies niemals meinen Taten gleich. „Jetzt zieh nicht so ein Gesicht. Ich will doch gar nicht, dass du irgendwelche Missetaten gestehst, sondern dass du mir von den Orten erzählst, die du besucht hast.“ Aufmunternd lächelte sie mich an. Dabei blies ich keinen Trübsal, sondern schwelgte nur in Erinnerungen. Ich überlegte, wie ich beginnen sollte. Am besten am Anfang, denn an meiner Kindheit gab es nichts Verwerfliches. „Du möchtest also immer noch wissen, wo ich aufgewachsen bin?“, fragte ich nach. Sie nickte eifrig und hörte gespannt wie ein kleines Kind zu. „Meine gesamte Kindheit hab ich in Meteor City verbracht, bis ich mit ein paar Freunden von dort abgehauen bin, um durch die Welt zu reisen.“ Robin sah aus, als glaubte sie mir nicht. So langsam zog sie ihre Finger von meinem Oberschenkel herunter. Ihr Mund blieb offen stehen. „Dann hast du vorhin nicht gelogen?“ „Wieso sollte ich?“ Sie zuckte ratlos die Schultern, immer noch verblüfft. „Aber da leben nur Ausgesetzte und Flüchtlinge. Heißt das dann, dass du deine Familie gar nicht kennst?“ Ich lächelte schwach. „Ich kenn nur meine Herkunft nicht. Trotzdem hatte ich Leute um mich, die ich als Familie angesehen habe. Wir waren auch bis vor kurzem immer zusammen geblieben.“ Jetzt konnte ich meinen Blick tatsächlich nicht verstecken. Augenblicklich dachte ich an die Spinne zurück, die ich dank der Judgement Chain nicht mehr sehen durfte. Was sie wohl alle ohne mich machten? Sicher ernannten sie vorläufig einen neuen Anführer und machten weiter wie zuvor. Zumindest hoffte ich, dass sie immer noch zusammenblieben. Hisokas Berichte waren immer sehr schwammig und selbst in den letzten Wochen konnte sich vieles ändern. „Vermisst du die anderen?“, fragte Robin leise. Gedankenversunken nickte ich und merkte erst später, dass sie ihre Arme um mich schlang. Tief seufzend lehnte ich mich nach vorn gegen ihren Körper und murmelte leise: „Jetzt mach dir darum keine Sorgen. Ich sehe ja alle bald wieder und solange sie ohne mich klarkommen, ist alles in Ordnung.“ Vorsichtig befreite ich mich aus ihrem Griff und trocknete mir schnell die Augenwinkel, bevor sie einen Blick auf mich warf. „Meine Kindheit war schön, obwohl ich auf einer Müllhalde aufgewachsen bin. Auch wenn die Bevölkerung aus Verstoßenen, Verbrechern oder Ausgesetzten besteht, verhalten sie sich untereinander menschlicher und familiärer als Blutsverwandte.“ „Okay“, nuschelte sie leise. „Es hat auch seine Vorteile, aus Meteor City zu kommen. Theoretisch kann ich tun und lassen, was ich will und kann nicht gesucht werden, weil mein Name in keinen offiziellen Datenbanken steht.“ Ich fragte mich, ob sie jemals von der Phantom Brigade gehört hatte und ob sie Verdacht schöpfte. Nach längerem Überlegen wurde mir jedoch klar, dass es keinen Unterschied machte, wenn sie es wusste oder nicht, denn vielmehr lag sie in meiner Schuld, weil ich ihr Nen beibrachte, und ich würde keine Bitte mehr an sie richten, wenn sie sich nicht aus irgendeinem unerklärlichem Grund plötzlich als Exnenistin entpuppte. Obendrein war ich trotz ihrer Nen-Fähigkeiten stärker als sie, was hatte ich also zu befürchten? Mir fehlte lediglich die Lust, Robin die Wahrheit über mich zu erzählen. Was gab es schließlich für einen Grund? Die junge Frau senkte den Kopf, dann sah sie wieder in meine Augen. „Können wir morgen weiterreden?“ „Gern“, lächelte ich ihr entgegen. Sie gab mir einen sanften Kuss auf die Wange, gefolgt von einem Fausthieb in meine Hüfte. „Jetzt mach dich vom Acker, ich will mich umziehen.“ Flugs sprang ich vom Bett auf und verließ ihr Zimmer. „Dann geh ich lieber, bevor sich Madam vor mir geniert.“ Robin warf ein Kissen nach mir, was nur gegen die geschlossene Tür abprallte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)