Sonne, Mond und Sterne von Flordelis (Löwenherz Chroniken III-0) ================================================================================ Kapitel 1: Beim Direktor ------------------------ Auch wenn er Einsamkeit bereits seit seiner Geburt kannte – ein Augenblick, von dem er glaubte, er sei erst vor wenigen Jahren geschehen, obwohl er bereits 15 Jahre alt war – mochte er dieses Gefühl nach wie vor nicht und versuchte bei jeder Gelegenheit, ihr zu entkommen. Aber das war nicht einfach an diesem Ort an dem Freundschaften nicht gern gesehen waren und man sie sogar zu unterbinden versuchte. Sie sagten, es wäre ein Waisenhaus – aber das glaubte er nicht. Nicht zuletzt, weil er den Großteil seiner Zeit in einem Zimmer verbrachte, das mehr an das eines Krankenhauses erinnerte. Doch er war nicht dort, um sich selbst untersuchen zu lassen oder sich auszuruhen, sondern weil er denjenigen besuchen wollte, der wirklich in dem viel zu weißen und sterilen Krankenhausbett lag. „... und dann gab es Abendessen, das übliche unappetitliche Zeug“, sagte er zu der Person im Bett, ohne dass eine Antwort zurückkam. Er sprach immer mit einem Jungen, der beständig schlief, aber mit dem er sich verbunden fühlte, nicht nur weil er ihm als sein Bruder vorgestellt worden war, sondern auch, weil er das Spiegelbild seiner selbst zu sein schien. Rosa Haare waren nun wirklich nicht häufig, jedenfalls nicht in diesem Waisenhaus und da es bislang alles war, was er kannte, nahm er an, dass es auch für den Rest der Welt gelten musste, falls es da draußen überhaupt wirklich noch mehr gab. Ihm wurde im Unterricht zwar beigebracht, dass es noch mehr gab, aber solange er es nicht gesehen hatte, konnte er es noch nicht glauben Auch wenn der andere ihm nicht antworten konnte – so lange er ihn kannte, lag dieser aus ihm unbekannten Gründen bereits im Koma – so musste er doch seine Stimme hören und damit wissen, dass er nicht allein war und dieser Gedanke beruhigte ihn und gab ihm selbst das Gefühl, nicht mehr einsam zu sein. Deswegen war er immer hier, solange seine Freizeit es zuließ, genoss die Verbindung zwischen ihnen und die Gesellschaft, die keine wirkliche war und dachte in diesen Momenten nicht einmal mehr wirklich daran, dass sie sich hier alle in einem Gefängnis befanden, das aufgrund seiner Lage auf jegliche Gitter und Schlösser verzichten konnte. Niemand rannte davon, wenn es in jeder Himmelsrichtung viele Meilen weit nur Steppe gab, eine Savanne, in der nur dorniges Gestrüpp wuchs. Niemand verspürte Sehnsucht nach der Außenwelt, wenn sie hier lernten, dass diese grausam und bösartig war, noch mehr noch als das Leben in dieser Einrichtung. „Hier bist du also...“, erklang plötzlich eine abfällige Stimme. Er zuckte zusammen und fuhr herum. Ihm war nicht aufgefallen, dass die Tür geöffnet worden war, aber nun stand dennoch eine verkniffen aussehende ältere Frau im Rahmen. Ihre eisblauen Augen blickten ihn wie immer tadelnd über den Rand der dreieckigen Brille hinweg an, sie kannte keine Wärme und war daher auch nicht in der Lage, sie an die Kinder weiterzugeben – warum sie als Assistentin in einem Waisenhaus anfing, würde wohl auf ewig ihr Geheimnis bleiben, schon allein weil niemand dumm genug war, sie danach zu fragen. „Was gibt es, Ms. Cutter?“, fragte er höflich, um sie nicht aus Versehen wütend zu machen. Nicht selten kam es von ihrer Seite aus zu Strafen an Schülern, die manchmal regelrecht als grausam angesehen wurden. Für ihn selbst gab es nicht viel, was man ihm antun könnte, aber ihm zu verbieten, seinen Bruder zu besuchen, traute er ihr durchaus zu – und das wollte er nicht einmal riskieren. „Der Direktor möchte dich sprechen. Unverzüglich.“ Sie betonte das letzte Wort auf eine Weise, die ihm verriet, dass jeder Widerspruch nur vergeudete Zeit war und im schlimmsten Fall auch noch Ärger mit sich bringen würde, den er doch lieber vermeiden wollte. Also widersprach er erst gar nicht und hakte auch nicht nach, sondern nickte einfach. „Verstanden.“ Gedanklich verabschiedete er sich von seinem Bruder und verließ dann das Krankenzimmer. Als er an Ms. Cutter vorbeiging, roch er ein überaus aufdringliches Parfüm, das ihm den Magen umdrehte, weswegen er fast schon froh war, als sich der feuchte Geruch des Gebäudes wieder in seiner Nase festsetzte. Sie waren mitten in der Savanne, aber dennoch schaffte dieses Haus es, sich einen gewissen Grad an Feuchtigkeit zu erhalten, so als ob die Einsamkeit und auch Bösartigkeit sich als Flüssigkeit in den Wänden festgesetzt hätte und nun in unregelmäßigen Abständen wieder abgegeben wurde, um die Schüler daran zu erinnern, in welcher Situation sie sich eigentlich befanden. Durch die fehlenden Fenster, da es auf beiden Seiten Türen und Zimmer gab, war der Gang stets dunkel und wurde lediglich von sacht glühenden Gaslaternen an den Wänden beleuchtet. Nach so langer Zeit, die er bereits in diesem Gebäude verbrachte – jedenfalls kam es für ihn so vor – war er allerdings daran gewöhnt und so wurde seine Sicht nicht im Mindesten eingeschränkt. Die hölzernen Dielen knarrten bei jedem Schritt, den man auf ihnen tat, ein vertrautes Geräusch, mit dem er allerdings nichts Gutes verband, denn es war immer der Vorbote von Leid und Schmerz gewesen. Wann immer man nachts im Bett lag, schlaflos im Dunkeln an die Decke blickte und dann dieses Geräusch hörte, war es nur eine Frage der Zeit, bis man den gequälten Schrei eines anderen Bewohners vernahm oder man selbst leiden musste. Alles Dinge an die er sich lieber nicht erinnerte – und doch kam es ihm stets ins Gedächtnis, wann immer er dieses Knarren hörte. Andere Menschen, so sollte er noch erfahren, verbanden mit einem Waisenhaus viele Kinder und vor allem Lärm. Aber in diesem suchte man die Geräusche spielender Kinder vergeblich, es gab kein Lachen und nicht einmal Gespräche. Jeder war für sich, beschäftigt nur mit dem, was gerade im Unterricht aktuell war und auch außerhalb dieser Zeiten noch einmal verinnerlicht wurde. Wenn er sich zu entsinnen versuchte, müsste er zugeben, dass er von keinem seiner Mitschüler den Namen kannte – und dass er sie auch gar nicht kennen wollte. Er war nur überzeugt, dass es in jeder Woche weniger wurden, aber er war sich nicht sicher, ob es mit bestimmten Gerüchten zu tun hatte, die man sich so im Haus erzählte, deswegen redete er sich einfach ein, dass er lediglich ein schlechtes Gedächtnis besaß und niemand verschwand. Nicht einmal die Namen der Lehrer konnte er sich merken oder deren Gesichter, dabei gab es ohnehin nur sehr wenige von ihnen an diesem Ort, zwei oder drei, wenn er sich nicht täuschte. Erst als er ins Erdgeschoss kam, wo sich auch das Büro des Direktors befand, gab es mehr Licht. Die Gaslaternen leuchteten an diesem Ort wesentlich heller, damit eventuelle Besucher keinen falschen Eindruck bekamen, jedenfalls ging er davon aus, auch wenn er sich an keinen einzigen Gast erinnern konnte. Seit er hier war, hatte es niemals irgendeinen Besucher hierher verschlagen, nie war eines der Kinder adoptiert worden. Unter anderen Umständen wäre ihm das seltsam vorgekommen, aber da er es gar nicht anders kannte, kümmerte es ihn gar nicht weiter. Das Büro des Direktors, das er nach einem kurzen Klopfen betrat, war das vollkommene Gegenteil des restlichen Gebäudes. In allen Räumen war die nackte, unverkleidete Wand zu sehen, die ein Gefühl von Kälte verbreitete, selbst in den Schlafsälen, doch im Büro zierte eine helle, freundliche Tapete die Wände, so dass es dem Licht der gelben Lampe leichtfiel, das Zimmer zu erhellen. Die Stühle waren mit bequemen, weinroten Polstern bezogen, damit man selbst beim längeren Sitzen keine Schmerzen bekam, wie es bei den sonstigen Sitzgelegenheiten üblich war. Der große Schreibtisch, auf dem wie jedes Mal allerlei Akten aufgestapelt waren, war das mit Abstand neueste und modernste im gesamten Waisenhaus. Manchmal fragte er sich, was wohl in diesen Akten stehen mochte, warum man so viel über Kinder aufschrieb, die nie etwas anstellten, aber natürlich las er diese niemals und er fragte nicht einmal, was wohl ihn seiner vermerkt worden war. Normalerweise erwartete der Direktor ihn bereits mit einer Kanne dampfenden Tees und einem Teller frischgebackener Kekse, um ungezwungen mit ihm über die letzte Zeit zu sprechen. Man könnte es als schöne Gelegenheiten beschreiben, aber so freundlich dieser Mann auch war, von ihm ging Einsamkeit und Kälte aus – er war das Zentrum des Bösen, das in diesem Haus herrschte, davon war er überzeugt, egal wie nett der Direktor sich ihm gegenüber gab. Dennoch konnte er nicht gehen. Da war sein Bruder, der ihn brauchte, außerdem befanden sie sich mitten in der Savanne, ohne jede Menschenseele weit und breit – und noch dazu kannte er die Welt dort draußen nicht und das Unbekannte machte ihm mehr Angst, als alles, was sich in diesen vertrauten Wänden befand. An diesem Tag gab es keinen Tee und auch keine Kekse, dafür war er nicht allein mit dem Direktor. Auf zwei der drei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen, saßen zwei Jungen, die älter waren als er, weswegen er sie nicht einmal vom Sehen aus dem Klassenzimmer kannte. Da jeder immer für sich blieb und es auch mehrere Schlafräume und unterschiedliche Essenszeiten gab, wusste er auch nicht, ob sie vielleicht in einem der anderen Jahrgänge waren, aber das musste so sein, denn niemand verirrte sich einfach so in diese Gegend. Der ältere der beiden Jungen hatte weißes Haar, das größtenteils von einer schwarzen Mütze verdeckt wurde, die goldenen Augen blickten abweisend und desinteressiert. Der jüngere sah mit seinem braunen Haar und den grünen, scheu niedergeschlagenen Augen wesentlich normaler aus, wären da nicht die Verbände an seinen Unterarmen gewesen, die auf zahlreiche Verletzungen hinwiesen. Im ersten Moment konnte er diesen Jungen deswegen nur ansehen und sich fragen, was ihm wohl zugestoßen sein mochte, ob es sich dabei um vom Personal verursachte Verletzungen handelte – oder ob das Gerücht wirklich der Wahrheit entsprach und das Waisenhaus seine Kinder aussandte, um zu kämpfen. „Bitte, setz dich doch.“ Die Stimme des Direktors lenkte seine Aufmerksamkeit auf diesen. Er saß hinter dem Schreibtisch und betrachtete alle Personen vor sich interessiert und gleichzeitig amüsiert. In gewisser Weise hatte er durchaus Ähnlichkeit mit dem älteren Jungen, jedenfalls waren die goldenen Augen gleich – aber das silber-graue Haar des Direktors war zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er folgte dem Geheiß, sich zu setzen, um zu erfahren, was vor sich ging. „Mein Lieber“, fuhr der Direktor fort, „darf ich dir die beiden Besucher vorstellen?“ Er deutete auf den Weißhaarigen. „Das hier ist Lunaris.“ Der Erwähnte wandte mit einem Schnauben den Blick ab. Der Direktor deutete auf den anderen Jungen. „Und das ist Solaris.“ Dieser zeigte sich wesentlich sozialer, indem er dem Neuankömmling kurz zunickte, was dieser erwiderte. „Du fragst dich sicherlich, warum ich dich den beiden vorstelle. Der Grund ist ganz einfach: Die beiden sind mein bestes Team, aber ich denke, ein Trio wäre besser.“ Fragend hob er die Augenbrauen, wagte aber nicht, seine Gedanken laut auszusprechen, aber das musste er auch nicht, denn der Direktor reagierte von selbst: „Ich brauche ein Team für verschiedene Aufträge, die ich zu vergeben habe. Mein letztes Team leistete gute Arbeit ... aber leider sind sie nicht mehr abkömmlich.“ Der Direktor sprach nicht aus, was mit dem Team geschehen war, aber er konnte es sich auch so denken. Menschen sterben, das war seit dem Anbeginn der Zeit ein natürlicher Prozess und würde auch immer so bleiben, so viel hatte er bereits durch den Unterricht gelernt und deswegen gab es für ihn keine Fragen mehr bezüglich des Teams. Er wunderte sich vielmehr über die Aufträge, von denen er das erste Mal in wirklich bestätigter Form von einer Autoritätsperson hörte. Lunaris schnaubte noch einmal. „Ich glaube nicht daran, dass der Kerl uns helfen kann. Der hat doch in seinem ganzen Leben noch keine Waffe in der Hand gehabt.“ „Ist das wahr?“, fragte Solaris sanft und wandte sich direkt an denjenigen, über den gesprochen wurde. Dieser blickte unsicher zwischen den beiden hin und her, da er immer noch nicht so recht verstand, worum es überhaupt ging. „Na ja ... ich hab schon mit Messern hantiert ... beim Essen und so ...“ Derartige Werkzeuge konnten immerhin ebenfalls als Waffen verwendet werden – aber an Lunaris' abfälligem Schnauben und Solaris' amüsierten Lachen bemerkte er, dass das nicht unbedingt einer der gefragten Gegenstände war. Keiner der beiden bot eine Erklärung an, aber der Direktor fuhr bereits, ungeachtet dessen, fort: „Natürlich wird er zuvor ausführlich getestet werden – aber ich wollte, dass ihr ihn vorher schon einmal seht und er euch kennenlernt.“ „Getestet?“, fragte er. Seine anhaltende Verwirrung und diese Plötzlichkeit, mit der die Ereignisse ihn zu überrollen drohten, verhinderten, dass er das alles überhaupt verarbeiten konnte. All die Jahre war nie wirklich etwas geschehen und nun alles auf einmal ... Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte und obwohl es gleich war, was der Direktor ihm antworten würde, gab es für ihn ohnehin keine andere Wahl als dem zuzustimmen. Er war überzeugt, dass er, falls er ablehnen würde, ohnehin nicht mehr lange leben würde und das wollte er nicht einmal riskieren. „Jeder, der für meine Aufträge entsendet wird, begibt sich in große Gefahr.“ Das klang vernünftig, wie er fand, immerhin hatte er im Unterricht ein Sprichwort gelernt: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. „Um sicherzugehen, dass meine Leute dem gewachsen sind, müssen sie zuvor einen ganz besonderen Test bestehen.“ Auch das klang äußerst durchdacht und wie ein gutes System. Aber er wusste nicht, ob er wirklich bereit für so etwas war, immerhin war er noch nie zuvor einer Bedrohung ausgesetzt gewesen – jedenfalls nicht soweit er sich erinnerte. Das Leben in diesem Waisenhaus war nicht sonderlich schön, aber es war sicher, sofern man keine Probleme machte. Andererseits war es möglicherweise seine einzige Möglichkeit, hier herauszukommen und seinem Bruder einmal von der Außenwelt zu erzählen, es gab also kaum etwas zu verlieren und dafür so viel zu gewinnen. Und wer wusste schon, wie lange er hier noch sicher sein würde, wenn er nicht etwas zur Zufriedenheit des Direktors erledigte. „In Ordnung, ich mache es.“ Sogar Lunaris wandte ihm wieder den Blick zu, als er den entschlossenen Ton in seiner Stimme bemerkte, allerdings wirkte er immer noch desinteressiert – es würde wohl mehr brauchen, um diesen Jungen davon zu überzeugen, dass er ein vollwertiges Teammitglied sein könnte. Solaris schien schon eher angetan, der erste Eindruck, dass er der sanftere der beiden war, bestätigte sich darin wohl. Der Direktor lächelte sichtlich zufrieden, auch wenn seine Augen immer noch ein kaltes Glitzern beherbergten. „Willst du denn nicht erst wissen, was für einen Test du durchstehen musst?“ Es war für ihn nur zweitrangig, in erster Linie stand immer noch sein Bruder, aber das wollte er nicht alles erläutern, deswegen nickte er lediglich. „Oh, sehr schön.“ Der Direktor lehnte sich zufrieden zurück. „Dein Test wird genau wie der aller anderen in einer extra dafür eingerichteten Einrichtung stattfinden – und zwar direkt heute Nacht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)