Home Sweet Home von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 29: Die Wahrheit übers Lügen ------------------------------------ Kapitel 29: Die Wahrheit übers Lügen Temari starrte teilnahmslos auf den Bildschirm und nahm selbst die Hand, die wild vor ihren Augen herumfuchtelte, nicht richtig wahr. „Hallo!“, schrie ihr jemand ins Ohr. „Erde an Temari! Die Zombie-Apokalypse bricht aus!“ Sie blinzelte und blickte irritiert ihre beste Freundin an. Diese stieß ein Seufzen aus. „Du wolltest doch abspeichern“, erinnerte Matsuri sie. „Oder möchtest du den Film jetzt doch nicht mehr gucken?“ „Doch, doch“, meinte sie monoton und rief das Menü auf. „Dein Glück. Wegen dir hab ich extra meinen Mädelsabend mit Sari sausen lassen.“ „Tut mir leid“, murmelte Temari. „Wenn ich das gewusst hätte …“ „Deine Freundschaft ist mir wichtiger als ihre“, erwiderte ihre Freundin. „Nur dass du es weißt.“ Sie erwiderte nichts und wechselte den Kanal. Das Titelbild des Films, den sie ausgeliehen hatte, war zu sehen, doch sie bestätigte ihre Auswahl nicht. „Was ist denn schon wieder los mit dir?“, fragte Matsuri. „Vor ein paar Tagen warst du noch so glücklich darüber, dass du einen Sohn bekommst und jetzt bist du wieder total depri? Das passt nicht zusammen.“ „Es hängt auch nicht zusammen“, gab sie zurück. „Irgendwie zumindest.“ „Irgendwie zumindest?“, wiederholte ihre Freundin empört. „Entweder freust du dich darüber, dass du einen Jungen erwartest oder nicht. Beides gleichzeitig geht nicht.“ „Ich freu mich wirklich über den Kleinen“, entgegnete Temari, „aber irgendwie …“ „Wenn du dieses Wort noch einmal in diesem Zusammenhang nennst, geschieht ein Unglück!“ „Entschuldige, es ist nur …“ Sie brach ab und startete den Film, doch Matsuri pausierte ihn wieder. „Was ist?“, wollte sie wissen. „Egal, was es ist: Raus damit!“ „Es ist nicht weiter wichtig. Sehen wir uns einfach den Film an und –“ „Ich hab aber keine Lust, was mit dir zu gucken, wenn du nicht bei der Sache bist.“ „Ich bin total bei der Sache“, widersprach Temari. Sie griff nach der Fernbedienung, aber ihre Freundin kam ihr zuvor und klemmte sie zwischen sich und die Couch. „Rede!“, forderte sie sie auf. „Ich möchte aber nicht reden!“ „Benimm dich nicht wie ein bockiges Kleinkind!“ „Das tue ich doch gar nicht“, legte sie fest. „Doch, tust du“, sagte Matsuri mit Nachdruck. „Hat Kankurou dich wieder schief angesehen?“ „Nein.“ „Was ist es dann?“ „Ist doch egal“, meinte Temari. „Ich halte mich nur an unsere Abmachung. Können wir also endlich anfangen, diesen verdammten Film zu gucken?“ Ihre Freundin warf ihr einen mitleidigen Blick zu, dann griff sie wortlos hinter ihren Rücken und drückte Start. --- Matsuri lachte noch Tränen, als der Abspann lief. Um zu verhindern, dass sie sie nicht gleich in ein Gespräch verwickelte und fragte, warum sie nicht einmal gelacht hatte, stand Temari auf und lief ins Bad. Sie schaute in den Spiegel und versuchte ein Lächeln einzustudieren, das ihre Freundin einigermaßen zufriedenstellen würde, doch es brachte nichts. Ihr war nicht nach lächeln zumute, seit sie trotz Gaaras unbeabsichtigter Vorwarnung auf die dumme Idee gekommen war, seine Zeitungen durchzusehen. Dieses dämliche Foto, das wahrscheinlich längst recycelt worden war, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Hinzu kam, dass sich die Situation mit Kankurou nicht gebessert hatte. Er ignorierte sie immer noch, aber wenigstens hatte er ihr seit dem einen Nachmittag keinen komischen Blick mehr zugeworfen. Nein, er behandelte sie, als existierte sie gar nicht. Und das war fast noch schlimmer für sie, als wenn er sie seinen Ärger spüren lassen würde. Sie wusch sich das Gesicht kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Dasselbe wie jeden Abend?“, fragte Matsuri. Temari schüttelte den Kopf und setzte sich wieder. „Ich hab mich zuletzt vor drei Tagen übergeben“, antwortete sie. „Ich glaube, die Phase hab ich endlich überwunden.“ „Na, Gott sei Dank! Das wurde aber auch mal Zeit.“ Ihre Freundin atmete auf. „Wie viel hast du durch die Kotzerei jetzt abgenommen?“ „Viereinhalb Kilo.“ „Zum Glück hattest du von der vorigen Schwangerschaft noch welche übrig.“ „Davon sind auch immer noch einige da“, entgegnete sie. „Aber ja, ich bin froh, dass ich wieder vernünftig essen kann.“ „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich uns ’ne Pizza organisiert.“ Matsuri seufzte. „Da hätte ich jetzt echt Lust drauf. War nämlich in den letzten Wochen nicht ganz leicht, mich in puncto Essen in deiner Gegenwart zurückzuhalten.“ „Seit wann isst du denn gerne?“ „Keine Ahnung“ – sie zuckte die Achseln – „ich möchte ein bisschen zunehmen und irgendwie bin ich auf den Geschmack gekommen.“ „Mein Bruder findet dich zu dünn, oder?“ „Exakt“, bestätigte ihre Freundin. „Dabei heißt es doch, dass man als Frau fast nicht dünn genug sein kann und dann gerät man an einen, der nicht auf hervorstehende Wangenknochen und Schulterblätter steht.“ „Und Hühnerbeine“, ergänzte Temari und der Anflug eines Schmunzelns huschte über ihre Lippen. „Ehrlich, du bist ’ne untergewichtige und knochige Bohnenstange.“ „Sagt diejenige, die in ihrer Jugend selbst nicht viel besser war.“ „Als Kunoichi ist es eben von Vorteil, wenn man möglichst leicht ist.“ „Und warum gilt das Argument bei mir nicht?“ „Möglichst leicht bedeutet nicht nah an der Magersucht.“ „Ich bin nicht –“ Matsuri zog einen Schmollmund und verschränkte die Arme. „Ach, lassen wir das. Verrätst du mir nun, warum du immer noch so mies drauf bist? Der Film war einfach köstlich, aber du hast nicht mal ’ne Miene verzogen.“ „Ich fand’s halt nicht so lustig.“ „Als wir ihn vor drei Jahren schon mal zusammen gesehen haben, kam mir das aber nicht so vor“, bemerkte sie. „Los, raus damit! Was hat dir die Laune verdorben?“ „Wir reden doch nicht mehr über dieses Thema“, erinnerte Temari sie. „Oder hast du das schon vergessen?“ „Ich sagte, dass ich abhaue, wenn du ihn von dir aus erwähnst. Aber wenn ich dich schon danach frage, ist es in Ordnung.“ Sie fixierte ihren Blick auf den Bildschirm. Die Disk war wieder ins Menü gesprungen und das grelle Weiß erhellte das abgedunkelte Wohnzimmer. „Was raus muss, muss raus“, argumentierte Matsuri. „Wem außer mir willst du dich denn sonst anvertrauen?“ „Aber es ist so … lächerlich.“ „Das kann ich erst beurteilen, wenn du es mir erzählt hast.“ Ihre Freundin legte ihr die Hand auf die Schulter und schenkte ihr zur Aufheiterung ein Lächeln. --- „Das nennst du lächerlich?“ Matsuri legte die Stirn in Falten. „Das ist nicht lächerlich, sondern ein ernstes Problem, wenn du mich fragst.“ Temari rieb sich die Schläfen. „Hätte ich bloß nicht in diese verdammte Zeitung gesehen …“ „Und was hätte das an deinen Gefühlen geändert? Überhaupt nichts“, sagte sie. „Verdrängen ist Mist, denn es ist egal, wie gut du dich dabei anstellst, früher oder später bricht es hervor und dann tut es richtig weh.“ Sie erwiderte nichts. „Du hast genau zwei Möglichkeiten“, fuhr ihre Freundin fort, „entweder stellst du dich dem endlich oder du machst so weiter wie bisher und gehst allmählich daran zugrunde.“ Als Temari wieder nichts sagte, setzte sie nach: „Wofür entscheidest du dich? Ein reines Gewissen, dass dich nicht innerlich auffrisst oder ein Dasein als Dauerpatientin beim Psychologen?“ Sie schwieg. Sie wusste es nicht. --- Kairi lachte, warf mit Sand um sich und das Mädchen, das mit ihr spielte, brachte sich flink in Sicherheit. Temari musterte aus den Augenwinkeln die Eltern der etwa Dreijährigen. Sie unterhielten sich und lieferten sich gelegentlich das eine oder andere Wortgefecht, über das sie im Anschluss lachten. Es erinnerte sie an ihre vergangenen Beziehungen und sie kam nicht umhin, ein wenig neidisch auf die andere Mutter zu sein. Sie lenkte ihren Blick wieder auf ihre Tochter, um sich von ihren Gedankengängen abzulenken. Kairi krabbelte fröhlich hinter dem anderen Mädchen her und als dieses sich endlich von ihr fangen ließ, kicherten beide los. Temari lächelte und sie begann, ihren Bauch zu streicheln, was der kleine Junge in ihrem Unterleib mit ein paar sanften Bewegungen quittierte. Sie hob ihr Kinn und schaute in den Himmel. Sie schloss die Augen und spürte, wie ihr eine kaum merkliche Brise über das Gesicht fuhr. Das Wetter war großartig, ihre Tochter hatte eine Spielkameradin gefunden und ihrem Sohn ging es prächtig. Sie hatte wirklich keinen Grund, um an diesem Tag etwas Negatives wie Neid zu verspüren. „Ich bekomme also einen Neffen, hm?“ Ihr Herz schnürte sich einen Augenblick lang auf schmerzhafte Weise zusammen, dann kam sie zu dem Schluss, dass sie sich die Stimme eingebildet haben musste. Warum sollte er sich die Mühe machen und hierher kommen, wenn sie sich jeden Tag zu Hause sahen? „Du hättest es mir ruhig selbst sagen können“, fuhr ihr Bruder fort. „Ich war zwar sauer, aber ich hätte dir für die Info sicher nicht den Kopf abgerissen.“ Temari riss die Augen auf und wandte sich um. Kankurou stand tatsächlich neben der Bank und als ob sie das nicht schon genug verwunderte, grinste er sie an. Sie fragte sich, ob sich jemand mit einem Henge einen schlechten Scherz mit ihr erlaubte, doch sie wusste nicht, wem sie so etwas Geschmackloses zutrauen sollte. „Du redest mit mir?“, fragte sie langsam. „Es hat zwar etwas gedauert, aber ich hab beschlossen, nicht mehr wütend auf dich zu sein“, erklärte er. „Gaara hat mit dir gesprochen, oder?“ „Auch“, sagte er, „aber ich habe dir genug zugemutet, indem ich dich zwei Wochen lang ignoriert habe.“ „Es war wirklich ein verdammtes Scheißgefühl“, erwiderte sie, „aber es war zu Recht.“ „Allerdings. Ich hoffe, dass dir das eine Lehre war.“ Kankurou schmunzelte und setzte sich zu ihr. „Wenn du dich noch einmal von einem Ex schwängern lässt, kündige ich meine Verwandtschaft zu dir.“ „Keine Sorge, das ist völlig ausgeschlossen.“ „Na, ich weiß ja nicht …“ „Du musst mich für ziemlich blöd halten.“ Über das Gesicht ihres Bruders huschte ein weiteres Grinsen. „Möchtest du darauf wirklich eine Antwort haben?“ Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, ich weiß selbst, dass ich das in manchen Belangen sein muss.“ „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“, flötete er und klopfte ihr auf die Schulter. „Das hoffe ich in deinem Fall zumindest.“ Sie richtete ihre Augen wieder auf Kairi. Es wäre schön, wenn es so wäre, aber so einfach war es dann doch nicht. Ansonsten wäre sie nicht so egoistisch und würde ihr eigenes Wohl ganz nach oben stellen. „Ich dachte, du würdest dich mehr darüber freuen, dass ich wieder mit dir rede“, merkte Kankurou nach einer kurzen Pause an. „Ich kann dir gerne noch um den Hals fallen und dir vor Freude ins Ohr schreien, wenn dir das lieber ist“, gab Temari zurück. „Du weißt ja, dass so ein Verhalten total mein Ding ist.“ „Ich hab dich auch lieb, Schwesterherz. Und wenn du noch so ironisch bist.“ „Das war keine Ironie, sondern mein Ernst.“ Er lachte los und diesmal schlich sich ein amüsiertes Lächeln auf ihre Lippen. Es tat gut, wieder so unbeschwert mit ihm zu reden und jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie das in den vergangenen Wochen vermisst hatte. „Du hättest übrigens zugeben können, dass du mit Matsuri zusammen bist“, bemerkte sie schließlich. „Zugeben?“, entgegnete er. „Du hast mich doch nie danach gefragt!“ „Gut, vielleicht hab ich das Offensichtliche übersehen, aber sonst erzählst du mir so was auch, ohne dass ich dich gezielt danach fragen muss.“ „Eben weil es so offensichtlich war, dachte ich, dass du irgendwann selbst drauf kommst.“ Er zwinkerte ihr zu. „Außerdem hast du auch eine Weile gebraucht, bis du mir gesagt hast, dass du mit deinem Ex im Bett warst und wieder schwanger von ihm bist.“ „Das ist doch was völlig anderes.“ „Vom Prinzip her nicht“, sagte Kankurou. „Ich hab dir was verschwiegen und du mir umgekehrt auch.“ Temari presste den Mund zusammen. Er hatte zwar in gewissen Maße Recht, aber irgendwie hinkte der Vergleich trotzdem. „Mal ehrlich“, fuhr ihr Bruder fort, „was hast du dir davon versprochen, nicht mal wenigstens kurz zu erwähnen, dass er hier war?“ „Was hätte das genützt?“, fragte sie. „Was hättest du davon gehabt, wenn du gewusst hättest, dass er jetzt doch seine Tochter besucht hat?“ „Eine minimal bessere Meinung von ihm“, antwortete er. „Er wird sich wohl kaum auf die dreitägige Reise hierher begeben haben, wenn er überhaupt kein Interesse an ihr gehabt hätte. Und davon bin ich nun mal ausgegangen, bis du mir die gute Neuigkeit mitgeteilt hast.“ Sie wusste nicht, ob er das Letztere nicht ironisch meinte, doch sie fragte nicht nach. Sie wollte das Thema ungern weiter vertiefen, schließlich führte es zu nichts. „Hast du dir schon überlegt, wo der Kleine schlafen soll?“, fragte er weiter. Es überraschte sie, dass er selbst nicht weiter darauf einging, aber sie beschwerte sich nicht. „Bis zur Geburt sind doch noch mehr als fünf Monate Zeit“, sagte sie. „Außerdem wird er erstmal mit bei mir mit im Zimmer schlafen. Und dann … Zur Not musst du halt deinen Werkraum abtreten.“ „Auf gar keinen Fall!“, protestierte ihr Bruder belustigt. „Vielleicht opfere ich einen Teil meiner Freizeit, um dich zu unterstützen, aber meinen Raum bekommst du nur über meine tote Leiche.“ Sie musste über seine Wortwahl aufrichtig lachen. „Keine Bange“, entgegnete sie. „Bevor ich das tue, ziehe ich lieber selbst auf die Couch. Ich brauche dich schließlich gelegentlich als Aufpasser.“ „Gelegentlich?“ Kankurou hob die Brauen, schaffte es aber nicht, sie lange so forsch anzusehen und setzte mit einem Lächeln nach: „Wenn du meine Hilfe brauchst, scheue dich bloß nicht zu fragen.“ „Danke“, sagte Temari, „aber du hast mir mit Kairi schon mehr als genug geholfen. Das kann ich doch nicht noch einmal von dir verlangen.“ „Erstens hast du es nie von mir verlangt, denn es war meine freie Entscheidung, dir so oft unter die Arme zu greifen“, meinte er, „und zweitens solltest du wissen, dass ich dasselbe für meinen Neffen tun werde, wenn es nötig ist, auch wenn ich die Geschichte seiner Entstehung mehr als diskussionswürdig finde.“ Sie lächelte ihm dankbar zu. „So einen großartigen Bruder wie dich habe ich gar nicht verdient.“ „Allerdings“, stimmte er zu und legte ihr einen Arm um die Schulter, „dabei warst du doch immer die Vernünftigere von uns beiden.“ Ihr Blick schweifte wieder in den Himmel. „Ich glaube, das bin ich schon seit Jahren nicht mehr.“ „Es ist nicht zu spät, um das wieder zu ändern, findest du nicht?“ Sie horchte auf. Es kam ihr sehr zufällig vor, dass er das ausgerechnet jetzt zu ihr sagte. „Hat Matsuri dir irgendetwas erzählt?“, fragte sie. „Nein“, gab er zurück, „wir reden nicht viel über dich, wenn ich mich nicht gerade über dich aufregen muss.“ Sie schmunzelte. „Also war ich euer Gesprächsthema Nummer Eins in den letzten Wochen.“ „Nope“, sagte Kankurou, „du überschätzt dich maßlos, Schwesterherz. So brennend interessieren mich deine fragwürdigen Entscheidungen auch nicht, dass ich stundenlang Theorien darüber aufstellen muss.“ „Selbst wenn sie einen so großen Einfluss auf dein Leben haben werden?“ Er schüttelte den Kopf und drückte sie freundschaftlich. „Selbst dann nicht. Was natürlich nicht heißt, dass ich es in irgendeiner Form verstehe oder gar gutheiße.“ Temari beobachtete erneut Kairi und ihre neue Freundin. Die beiden Mädchen tobten immer noch ausgelassen durch den Sand und wirbelten zu dem Leidwesen eines älteren Paares, das sich gerade auf der nahegelegenen Bank ausruhte, ordentlich Staub auf. Sie war versucht, ihre Tochter dort wegzuholen und an einer Stelle abzusetzen, wo sie niemanden belästigte, doch dann bemerkte sie die amüsierten Blicke der Leute und verwarf den Gedanken wieder. „Aber weißt du“, setzte ihr Bruder nach und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch mit ihm, „verstehen würde ich es schon gerne.“ Sie zuckte zusammen und schwieg. „Mir ist schon klar, dass du ihn immer noch liebst und es ohne diese Komponente wahrscheinlich nicht dazu gekommen wäre, aber –“ „Wäre es definitiv nicht“, legte sie fest. „Ich war wohl ein bisschen zu naiv, als ich geglaubt habe, dass es wieder so werden kann wie früher.“ „Was ist an dem Abend denn zwischen euch vorgefallen?“, hakte er nach. „Ich meine, außer der Sache, der ich demnächst einen Neffen zu verdanken habe?“ „Viel. Zu viel.“ „Und das heißt?“ „Das Wesentliche weißt du doch schon.“ „Du meinst, dass es im Grunde deine Schuld ist?“ „Ja.“ „Du möchtest es wohl nicht noch etwas für mich präzisieren?“ Temari deutete ein Kopfschütteln an und ihr Bruder ließ ein Seufzen verlauten. „Okay, tappe ich halt weiter im Dunkeln“, sagte Kankurou. „Es geht mich eigentlich auch nichts an.“ Er beobachtete einen Moment seine Nichte und setzte nach: „Aber Schuldfrage hin oder her: Sollte man nicht wenigstens seinen Kindern zuliebe versuchen, einen Kompromiss zu finden?“ „Wenn es ihn gibt“, erwiderte sie tonlos, „sollte man das wohl.“ „Und was wäre das deiner Ansicht nach?“ Sicher nicht das, womit ich ihn in die Ecke gedrängt habe, dachte sie, ließ diese Worte aber unausgesprochen. „Ich weiß nicht“, sagte sie laut. „Kann man überhaupt einen zufriedenstellenden Kompromiss für alle finden, wenn man nicht einmal im selben Land lebt? Irgendeiner muss immer zurückstecken und Opfer bringen. Und was soll man machen, wenn keiner dazu bereit ist?“ „Weiter suchen.“ Weiter suchen … Das klang so lächerlich einfach. Aber es war nicht annähernd so lächerlich wie der Kompromiss, den sie auf Kosten ihrer Kinder für sich geschlossen hatte und der auf lange Sicht niemandem etwas Gutes brachte. Nicht mal ihr selbst. „Hast du ihn schon davon in Kenntnis gesetzt, dass Nummer Zwei unterwegs ist?“, fragte er plötzlich. Sie faltete ihre Finger und unterdrückte so, dass sie aus Nervosität irgendeinen Blödsinn anfing, der sie verdächtig machte und antwortete: „Nein.“ „Dachte ich mir schon“, sagte er. „Und wie willst du es diesmal handhaben?“ Temari starrte auf ihre Hände und ihr Mund öffnete sich, um ihm mitzuteilen, dass sie es gar nicht vorhatte, doch … Nein, das konnte sie ihrem Bruder nicht sagen, wenn sie es sich nicht gleich wieder mit ihm verscherzen wollte. Und genauso wenig wollte sie ihm noch eine Lüge auftischen, die – auch wenn es noch einige Zeit dauerte – garantiert aufflog. Sie wollte ihn überhaupt nicht mehr anlügen. „Du wirst es ihm doch mitteilen, oder?“ Seine Frage bohrte sich in ihr Herz und auf einmal konnte sie sich vorstellen, wie sich Shikamaru gefühlt haben musste, als sie ihm keinen Ausweg mehr gelassen hatte – und wie sich später Kairi und ihr kleiner Bruder fühlen würden, denen sie mit ihrer Entscheidung nicht einmal die Möglichkeit einer Wahl bot. Das konnte sie nicht verantworten, selbst wenn es ihr Ego für das Beste hielt. „Ja“, antwortete sie, „ich werde es ihm schreiben, wenn der Kleine auf der Welt ist.“ Und sie wusste, dass es die Wahrheit war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)