Home Sweet Home von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 23: Briefe an niemanden ------------------------------- Kapitel 23: Briefe an niemanden Die dreizehnte Woche kam schneller, als ihr lieb war. Es beruhigte sie, dass die Fehlgeburtsrate auf ein Minimum geschrumpft war, aber bei den zwei Punkten, die sie vor sich hatte, half es ihr überhaupt nicht. Temari starrte abwechselnd auf Kairi, die fleißig ihre ersten freien Schritte übte, indem sie die Tischkante immer mal wieder losließ, und das leere Blatt Papier, das vor ihr lag. Unschlüssig, was sie schreiben sollte, wanderte der Kugelschreiber von einer Hand in die andere. Hin und her, hin und her … Sie bemerkte, wie ihre Tochter sie interessiert ansah und den halben Meter zur Couch herüberstolperte. Das Mädchen lachte und griff nach dem Stift, doch sie brachte ihn schnell aus ihrer Reichweite. „Den kannst du nicht haben“, sagte sie zu ihr und deutete auf die Spielkiste, die offen auf dem Teppich stand. „Da drüben liegen genug Sachen, mit denen du spielen kannst.“ Kairi blickte kurz in die Richtung und streckte sich dann, in der Hoffnung, dass sie so den Kugelschreiber auf der Sofalehne erreichte. Als das nicht funktionierte, machte sie sich noch etwas länger und kletterte schließlich auf die Couch. Temari runzelte die Stirn. Dieses Kind wurde mit jedem Tag eigensinniger und wenn das so weiter ging … Gott, und in sechs Monaten musste sie sich zusätzlich um ein Baby kümmern! Wie sollte sie das nur auf die Reihe bekommen, ohne ständig Nervenzusammenbrüche zu erleiden? Anstatt sich ihr angepeiltes Spielzeug zu holen, warf sich Kairi mit dem Oberkörper auf den linken Oberschenkel ihrer Mutter und legte den Kopf in ihren Schoß. Das Mädchen suchte ihren Blick und grinste. Sie lächelte zurück, betrachtete sie liebevoll und streichelte ihr sanft über den Kopf. Gut, es war die letzten Monate wirklich anstrengend mit ihr geworden, aber solche Momente machten das wieder gut. Sie liebte ihre zickige und sture Tochter und sie wusste nicht, warum sich das ändern sollte, wenn das zweite Kind auf der Welt war. Kairi hob den Arm, tätschelte Temaris Bauch und quietschte vor Vergnügen. „Das ist dein kleiner Bruder oder deine kleine Schwester drin“, sagte sie mit einem Lächeln und kitzelte das Mädchen im Nacken. „Was wäre dir lieber?“ Sie lachte und schüttelte die Hand ihrer Mutter ab. Dann machte sie einen Satz nach hinten, setzte sich auf und schnappte sich ein Blatt Papier. Kairi beäugte es interessiert und stopfte sich eine Ecke in dem Mund. Temari nahm es ihr augenblicklich weg und ihr Kind begann, unter Protest zu schreien. Sie kreischte so hell und laut, dass es in den Ohren wehtat. Sie verzog das Gesicht und fragte: „Reicht es dir nicht, dass du neulich fast an so was erstickt wärst?“ Offensichtlich nicht, denn das Mädchen griff nach dem nächsten Blatt. Genervt brachte ihre Mutter die verbliebenen Zettel in Sicherheit und blickte sie verstimmt an. Kairi schimpfe etwas Unverständliches, rutschte vom Sofa und krabbelte davon. Temari sank wieder auf die Couch. Sie angelte den grellen orangefarbenen Kugelschreiber von der Lehne und drehte ihn zwischen den Fingern. Ein halbes Jahr noch, sie war alleinerziehend und sie glaubte nicht, dass sie diesmal mit Kankurous Hilfe rechnen konnte … Was zur Hölle hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie warf einen Blick auf ihre Tochter – sie hatte ihr den Rücken zugewandt und beschäftigte sich tatsächlich mit ihren Spielsachen – und zückte das Papier. Sie setzte den Kugelschreibers an und kritzelte los, um ihren Kopf frei zu bekommen. Ihre Gedanken tanzten regelrecht und sie hoffte, dass ihr das Malen von Formen dabei half, sie ein wenig zu ordnen. Damit sie die passenden Worte für den Brief fand. Die Mine tanzte über das Blatt und als es voll war, drehte sie es um. Sterne, Kreise, Spiralen, Buchstaben – aber keine Worte. Temari legte den Stift beiseite und seufzte. Warum machte sie es sich so schwer? Ein Im Januar kommt dein zweites Kind! reichte als Information doch völlig aus. Wozu sollte sie sich mehr Mühe geben, wenn er es ohnehin nicht wert war? Sie schmierte den Satz auf das Papier und las ihn. Er wirkte auf sie wie ein verspäteter Aprilscherz. Sie zerknüllte den Zettel und nahm sich einen neuen. Sie hörte das Kichern ihrer Tochter und die Erinnerung, wie er sich an dem Abend mit ihr beschäftigt hatte, erschien vor ihrem inneren Auge. Eine schöne Erinnerung. Mit einem faden Nachgeschmack. Vielleicht hatte er doch ein paar Sätze mehr verdient. Lieber Shikamaru, schrieb sie und hielt inne. Sie spürte eine gewisse Wut in sich aufkommen. Lieber? So ein Schwachsinn! Nach dem, was er ihr angetan hatte, war das die völlig falsche Anrede. Was vermittelte ihm das denn? Dass er mit ihr machen konnte, was er wollte? Die Genugtuung gab sie ihm garantiert nicht. Temari strich das erste Wort bis zur Unleserlichkeit durch, drückte den Stift wieder aufs Papier und schreib: Ich schreibe dir nicht, weil ich dich vermisse oder so. Klar, ich bin wütend auf dich und enttäuscht von dir, da du dich einfach so aus dem Staub gemacht hast, aber das ist nicht der Grund für diese Zeilen. Eigentlich hab ich keine Lust, nach alldem mit dir in Kontakt zu treten und ich weiß nicht, ob es überhaupt Sinn macht, schließlich hast du beim letzten Mal auch ewig gebraucht, um dich zu melden, aber es gibt da etwas, das du wissen solltest. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich bin wieder schwanger. Da ich inzwischen die dreizehnte Woche erreicht habe, ist es also relativ sicher, dass in einem halben Jahr unser zweites Kind in meinen Armen liegen wird. Es ist mir egal, was du aus dieser Info machst – in erster Linie geht es nur darum, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss. Temari PS: Wahrscheinlich interessiert es dich nicht, aber Kairi geht es gut. Sie las ihr Geschriebenes ein paar Mal durch. An und für sich war sie zufrieden. Er hatte die richtige Länge und beschränkte sich auf das Wesentliche. Aber: Der Brief war viel zu nett. Sie legte das Blatt beiseite und von ihrem aufkeimendem Ärger beflügelt, fing sie noch einmal an. Hey, du Mistkerl! Ich hasse dich dafür, dass du dich einfach verpisst hast. Sind deine Versprechen gar nichts mehr wert? Waren sie das überhaupt schon mal? Anscheinend ja nicht. Am liebsten würde ich dich umbringen. Wie konntest du es wagen, mich so zu benutzen und dann wie ein Taschentuch wegzuwerfen? Ich weiß, ich hab dich damals, als ich dich abserviert habe, auch nicht mit Samthandschuhen angefasst, aber so eine verdammte Scheiße hab ich dir nicht angetan. Ach ja, danke übrigens, dass du mich schon wieder geschwängert hast. Der Termin ist Mitte Januar. Ich will auf gar keinen Fall wieder mit dir zusammen sein, aber beweg gefälligst deinen Arsch hierher! Du hast mein Herz gebrochen – und wie du das hast! –, aber ich lasse nicht zu, dass du das auch unseren Kindern antust. Kümmere dich um die beiden und sei der Vater, den sie verdienen und auf den Kairi seit vierzehn Monaten verzichten muss. Nein, das war noch größerer Mist als der erste Brief. Es tat ihr zwar irgendwie gut, dass sie sich das von der Seele geschrieben hatte, aber so dermaßen übertreiben musste sie auch nicht. Okay, auf ein Neues … Du Idiot! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mir Versprechungen zu machen und dich dann heimlich in der Nacht davon zu machen? Ach, weißt du was? Ich will es überhaupt nicht wissen. Weil es mir egal ist. Weil du mir inzwischen egal bist. Was mir allerdings nicht egal ist, ist deine Tochter und das kleine Würmchen, das dank dir in mir heranwächst. Ist das nicht großartig? In sechs Monaten hast du zwei Kinder und der Gedanke daran, dass du dich um beide nicht kümmern wirst, bricht mir das Herz … Temari hielt inne. Ihre Hand – nein – ihr ganzer Körper zitterte. Ihre Wut war verpufft und an ihrer Stelle breitete sich ein Gefühl aus, das sie zuletzt vor einigen Tagen gehabt hatte. Sie ließ den Stift los und während sie ihren letzten Versuch noch einmal las, verschwamm ihre Sicht. Ihre Finger wanderten zu ihrem gerundeten Bauch und sie biss sich auf die Unterlippe. Das war so unfair … so verdammt unfair … Sie starrte auf die Worte und vermied es zu blinzeln, bis es nicht mehr ging. Dann fiel die erste Träne auf das Blatt. --- Temari zerriss die Briefe in kleine Teile und warf sie in den Küchenmüll. Ihre Kinder hatten ein Recht auf ihren Vater, aber sie konnte es nicht. Sie konnte ihm nicht schreiben. Denn wenn sie ihm schrieb, bestand die verschwindend kleine Möglichkeit, dass er sich besann und doch noch einmal hier auftauchte. Und das wollte sie nicht. Sie wollte ihn nicht sehen, sie wollte ihn nicht hören, sie wollte überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nie mehr. Sie wischte sich die letzte Träne aus den Augenwinkeln und durchstöberte den Küchenschrank auf der Suche nach etwas Essbaren für Kairi zum Mittag. Sie öffnete eine Schale Gemüse-Risotte, leerte sie auf einen Teller und schob ihn in die Mikrowelle. Eine halbe Minute später gab das Gerät ein Klingeln von sich und sie öffnete die Tür, damit die Hitze abziehen konnte. Sie hörte ein paar Schritte hinter sich. Das Geräusch hatte ihre Tochter angelockt. Sie stand im Türrahmen und schaute sie interessiert an. Bei ihrem Anblick bekam Temari ein schlechtes Gewissen. Gut, von Kairi wusste er, aber … Sie hob das Mädchen hoch und drückte sie an sich. Ihre Kleine hatte etwas Besseres verdient. Und das Kind, das noch gar nicht auf der Welt war, auch. Missmutig schaute sie zum Mülleimer herüber. Wenn sie doch nur nicht alle drei Versionen zerrissen hätte, dann würde sie sie alle in einem Umschlag stecken und – Nein, das würde sie nicht und sie wusste, dass sie auch in ein paar Tagen oder Wochen ihre Meinung nicht ändern würde. Weil sie genug hatte. Und weil sie das leidige Kapitel endlich abschließen wollte. Temari drückte ihrer Tochter einen Kuss auf. Sie spürte, wie sich ihr Magen verknotete. Nicht aus Übelkeit, sondern aus Ekel über sich selbst. Sie war wirklich eine verabscheuungswürdige Egoistin. --- Resigniert spülte sie die Galle weg, die sie erbrochen hatte. Der widerliche Geschmack lag ihr auf der Zunge, doch da sie ihrem Magen erst die Chance geben wollte, sich zu beruhigen, spülte sie ihren Mund nur mit Wasser aus. Sie stützte sich mit den Handballen an den Rändern des Waschbeckens ab und sah in den Spiegel. Ihre Haut machte einen ungesunden Eindruck – wie schon seit Wochen – und unter ihren Augen hatten sich so dunkle Schatten eingegraben, die sogar denen von Gaara Konkurrenz machten. Temari schlief in den letzten Tagen schlecht. Wenn sie versuchte einzuschlafen, kreisten ihre Gedanken ruhelos umher und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ins Land der Träume wegdriftete. Und wenn die Nacht nicht um halb sieben durch Kairis Geplauder zu Ende war, wachte sie selbst schon geraume Zeit davor auf. Während des Mittagsschlafs ihrer Tochter konnte sie zwar etwas Schlaf nachholen, doch dann lag sie am Abend nur noch länger wach. Ein Teufelskreis. Sie wusch sich das Gesicht und ging zurück ins Wohnzimmer. Gaara saß dort in einem Sessel, las ein Buch und trank nebenbei eine Tasse Tee. „Schon Feierabend?“, fragte sie beiläufig. Er nickte und musterte sie ausgiebig. „Du siehst furchtbar aus“, bemerkte er im Anschluss. „Diese Schwangerschaft ist auch einfach furchtbar“, erwiderte Temari tonlos. „Ich hätte nie gedacht, dass man sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen jeden Tag so oft übergeben kann.“ Sie warf einen Blick auf seine Teetasse und setzte nach: „Entschuldige, wir wechseln besser das Thema.“ Ihr jüngster Bruder winkte ab und widmete sich wieder seiner Lektüre. „Übrigens“, sagte er ohne aufzusehen, „ich werde doch zum Finale der Chuunin-Prüfung reisen. Mitte nächster Woche geht es los.“ „Dann viel Spaß“, gab sie zurück. „Das wäre sonst das dritte Mal in Folge, dass es nicht geklappt hätte, oder?“ Ein erneutes Nicken. „Nimmst du Kankurou mit?“, fragte sie weiter. „Nein, ich kann ihm im Wachschutz nicht so kurzfristig abziehen“, sagte Gaara. „Aber da er das Feuerreich ohnehin nicht besonders leiden kann, wird er nicht traurig darüber sein.“ „Wahrscheinlich.“ Sie lachte und überspielte damit ihre Erleichterung darüber, dass er ihn nicht dorthin begleitete. Obwohl sie momentan nur Wut für ihren Ex übrig hatte, wollte sie nicht demnächst in der Zeitung lesen müssen, dass Kankurou ihn auseinander genommen hatte. Ihr Bruder lugte über das Buch zu ihr herüber. „Soll ich Shikamaru irgendwas von dir ausrichten?“, fragte er. Temari blinzelte. Das war die Gelegenheit, dass er von dem Kind erfuhr, ohne dass sie sich selbst darum kümmern musste, aber … „Nein“, sagte sie. „Außer meinem kleinen Magenproblem gibt’s eh nichts Neues. Und dagegen kann ich nicht mal selbst was machen. Die Info kannst du dir also sparen.“ „Falls dir bis Dienstag noch etwas einfällt, kannst du es mir sagen“, meinte er mit einem Lächeln. „Klar.“ Ihr fiel eine Menge ein, das sie ihrem Exfreund mitteilen wollte. Doch sie tat es nicht. Niemals. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)