Winter Carols von Frigg ================================================================================ Kapitel 12: Türchen 12 – Eisschichten ------------------------------------- Von einer stillen Nacht konnte im Haus von Naomies Großeltern nicht die Rede sein. Auch am Tage war es immer Laut. Stille war ein Fremdwort an diesem Ort. Eine Diele, die ihr Großvater seit dem letzten Weihnachten schon repariert haben wollte, im Flur des Erdgeschosses knarrte so laut, dass es noch eine Etage höher zu hören war. Im nächsten Augenblick wurde die Tür zum Wohnzimmer zugeknallt. Das kleine Glas mit den Mosaikfenstern in der Tür klirrte bedrohlich. Dann war es wieder still im Haus. Die Frage war, wie lange hielt das an? Naomie schreckte bei dem Lauten Poltern aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz schlug zehn Takte schneller und sie stöhnte leise auf. Genervt schloss sie die Augen wieder und atmete ruhig ein und aus. Wieso musste man so spät noch mit den Türen knallen? Gab es keine Klinken? Im Ohr hatte sie noch immer das leise Flüstern ihres Traumes und konnte die Wärme spüren, die sie umgeben hatte. Ihr Herz flatterte leicht vor Glück, trotz des Schreckens mit dem sie wach geworden war. Ein Seufzen verließ ihre Lippen und sie drehte sich in dem provisorischen Bett herum. Naomie schob einen Arm unter ihr Seitenschläferkissen und drückte es an sich. Sie kuschelte sich an das Kissen und legte ihren Kopf auf eine Ecke, als wäre es eine bequeme Schulter. In diesem Bett war an Schlaf kaum zu denken und nun, wo sie gerade eingeschlafen war und süß geträumt hatte, meinte jemand Poltern zu müssen. Ob sie einfach so wieder einschlafen und zu der Stelle in ihrem Traum zurück kehren konnte? Vermutlich nicht, aber Hoffnung durfte man ja noch haben, wenn man von zwei starken Armen träumte, die einen fest umschlungen hielten. Wohlig seufzte Naomie bei der Erinnerung auf. Der fremde Geruch des Bettzeuges drang in ihre Nase und sie musste niesen. Es war ein schlichter Duft, nichts Besonderes und nur ein feiner Hauch von Kernseife hing an dem Bettzeug. Der Geruch erinnerte sie an alte Möbel, Holz und alte Menschen, wie ihre Großeltern es eben waren. Angespannt lauschte Naomie, ob wieder eine Tür geöffnet und zugeknallt wurde. Abwegig war der Gedanke in diesem Haus nicht, doch es blieb weiterhin totenstill. Unruhig rutschte sie auf dem harten Schlafsofa herum, zog ihr Kissen mit und versuchte eine bequeme Einschlafposition zu finden. Ihr Körper entspannte sich langsam, wenn auch nur schwer. Die alten Federn drückten in ihren Rücken und die kleine Lehne fühlte sich steinhart an. Kein Wunder, wenn ihr Hals bei jeder Bewegung weh tat und sie seit Tagen nicht richtig schlafen konnte. Naomie fragte sich nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, ob der Boden nicht bequemer war. Aber sie blieb liegen und rollte sich wieder herum. Angestrengt lauschte sie nach weiteren Geräuschen in dem kleinen Haus, was es nicht einfacher machte wieder in den Schlaf zu fallen. An ihr Spiegelbild wollte Naomie lieber nicht denken. Die roten Augen und die dicken Augenringe ignorierte sie schon längst. Sie fühlte sich nicht nur wie ein ausgelutschtes Gummibärchen, sie sah auch noch so aus. Im Nebenzimmer war es still. Ihre Großmutter war scheinbar noch wach, genauso wie ihr Bruder Takuya, der in dem anderen Zimmer neben ihr einquartiert war. Über ihr war es auch still. Shun und Sanyu schliefen auch schon. Ihre Eltern würden sicherlich auch noch wach sein und später nach oben gehen. Naomie seufzte und schob sich ein paar nervige Haare aus dem Gesicht. Was gäbe sie alles dafür jetzt ein schönes Bad nehmen und sich in dem heißen Wasser strecken zu können, damit die verspannten Muskeln sich lockern konnten. Aber leider war ihr das nicht vergönnt, denn es gab nur eine Dusche in dem Haus und selbst da musste sie sich beeilen, wenn sie nicht wollte, dass jemand dauerhaft gegen die Tür hämmerte, als würde gerade die Welt unter gehen. Was auch wieder ein Grund war, wieso sie ihre Haare seit zwei Tagen nicht gewaschen hatte und sie durch einen Haarknoten etwas versteckte, damit es nicht auffiel. Ihre ungewaschenen Haare gaben dem ausgelutschten Gummibärchenlook den letzten Schliff. Naomie kam sich, seit sie hier war, ein bisschen wie zehn vor, wie sie so auf dem Schlafsofa lag und die anderen noch wach waren. Dabei war sie erwachsen und keine acht mehr, wie ihr kleiner Bruder. Leise richtete sie sich in der Dunkelheit auf und lauschte nach irgendwelchen Geräuschen. Dabei war außer ihr niemand im Zimmer. Das Licht von der Straßenlaterne und der weihnachtlichen Gartenbeleuchtung drang bis nach oben zu ihr ins Zimmer und sie konnte ein paar Umrisse der Möbel erkennen, wie die Stehlampe mit den vielen Fransen am Fenster und der alte, braune Holzschrank mit Glasvitrine in der alte Lederbücher standen, die heute keiner mehr las. In dem Schrank lagen unzählige alte, abgegriffene Papiere und Dokumente, die vermutlich schon längt in den Müll konnten. Auch alte Fotos von Leuten, die sie nicht kannte, lagen darin. Auf dem Schrank selbst stand eine alte Topfpflanze, deren Ranken sich über den Schrank verteilten. In der Dunkelheit wirkten sie wie unheimliche Monsterarme. Auf der Fensterbank stand eine Puppe vom Weihnachtsmann. Durch das Schwache Licht wirkten die Züge tief und unheimlich. Am Fenster klebten mehrere Sticker mit Weihnachtsmotiven, deren Konturen sich in der Dunkelheit abzeichneten. Naomie rutschte etwas auf dem Sofa hin und er und starrte auf das Adventsgesteck, das auf dem Tisch vor ihr stand. Die Weihnachtsdekoration wirkte unter den Umständen, die sie hier war, absolut falsch und fehl am Platz. Denn die Stimmung im Haus war alles andere als festlich und voller Freude. Sie war bedrückend und Naomie hatte zeitweise das Gefühl, ihr fiel die Decke gleich auf den Kopf. Besonders, wenn sie sich um Shun kümmern musste, kam es ihr besonders falsch und hinterhältig vor, vor ihm gute Miene zu machen und sich auf Weihnachten zu freuen, während eigentlich andere Probleme die Stimmung drückten. Ihr Magen gab ein Knurren von sich. Das Essen war auch ein Problem in diesem Haus. Durch die vielen Probleme verging ihrer Familie der Appetit und ihr erschien es unangebracht als einzige, neben Shun, was zu essen, weshalb sie mitfastete. Dabei hatte Naomie totalen Heißhunger auf ein gutes Schnitzel mit Kartoffeln oder einem guten Eintopf mit Kartoffeln und als Nachtisch einen süßen Schokokuchen. Allein bei dem Gedanken rumorte es wieder und ihr Magen knurrte verräterisch laut. Naomie starrte in die Dunkelheit. Kurzentschlossen warf sie die warme Decke zurück und hatte das Gefühl der Raum war unglaublich heiß. Kalter Schweiß bedeckte ihren Rücken und ihr Shirt klebte ihr auf der Haut. Langsam, als könnte jemand unter dem Sofa hervor kommen und sie an den Füßen packen, stand sie auf. Unter ihren nackten Füßen spürte sie den alten, rauen Teppich, der im Zimmer ausgelegt war. Sogar einen Brandfleck konnte sie mit ihren Zehen erspüren. Naomie wollte nicht darüber nachdenken, wie alt der Teppich schon war und tapste auf Zehenspitzen zum Fenster. Sie schlug die Gardinen zurück und öffnete das Fenster. Die kalte Winterluft schlug ihr entgegen und kühlte ihre Haut. Naomie hatte das Gefühl in diesem Zimmer zu ersticken und zog die Luft tief in ihre Lungen ein. Im Garten konnte sie die Schneemannfamilie erkennen, den sie mit Shun gestern Mittag gebaut hatte. Daneben waren noch die Abdrücke der Schneeengel, die sie gemacht hatten. Die verschneiten Hecken und die Fliesen der Veranda wurden vom Wohnzimmerlicht erhellt. Scheinbar saß unten der Rest ihrer Familie, der auch nicht schlafen konnte und noch Krisensitzung hatte. Naomie gähnte und schloss wieder das Fenster, ehe es zu kalt wurde. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Wieder tapste sie so leise es ging zur Tür. Die Klinke quietsche ein wenig, als sie die Tür öffnete und durch den kleinen Spalt hinaus schlüpfte. Auch im Flur fühlte sich der Teppich rau und unangenehm an den Füßen an. Der Flur lag ruhig und verlassen da. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Wenn sie sich fertig machen müsste, hätte sie jetzt freie Bahn. Doch das geflieste Zimmer war nicht ihr Ziel. Auf leisen Sohlen lief sie zur Treppe und stieg die Stufen hinunter. Auf halben Weg hielt sie inne und lauschte angestrengt. Stimmen drangen durch die geschlossene Wohnzimmertür. Sowie sie auf der Treppe stand, fühlte sie sich wie ein kleines Kind auf großer Abenteuertour. Die Küche mit dem Mineralwasser und dem Müsliriegel im Schrank war das Ziel und sie musste unbemerkt an den Monstern im Wohnzimmer vorbei kommen, ohne entdeckt zu werden. Naomie machte einen weiteren Schritt die Treppe hinunter und versuchte heraus zu hören, was gesprochen wurde. Durch die geschlossene Tür kamen die Worte aber nur bedingt bei ihr an. Ein Schatten bildete sich im Flur und schnell lief sie die Treppe wieder nach oben in den dunklen Teil und spähte nach unten. Die Tür vom Wohnzimmer wurde aufgerissen und sie hörte jemanden in die Küche gehen. Die Gläser klapperten laut. „Es wird Zeit an den Verkauf zu denken!“, sagte die Stimme ihres Vaters energisch, „Ihr könnt es nicht mehr alleine verwalten.“ Worüber redeten ihre Eltern? Wollten sie das Haus verkaufen? „Ich weiß, dass die Zeit grade hart ist, aber es ist besser so“, sagte ihre Mutter mit einfühlsamer Stimme. Naomie kannte den Tonfall. So sprach sie auch zu Kindern, wenn diese sich stur stellten. Auch zu ihr hatte sie früher so gesprochen, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. „Wir werden dir auch helfen eine seniorengerechte Wohnung zu finden.“ Naomie beugte sich etwas über das Geländer und versuchte noch mehr zu hören, doch die Tür wurde wieder zugeschlagen. Sie zuckte zusammen und seufzte. Scheinbar verlernten die Leute in diesem Haus die Benutzung der Türklinken. Doch vielleicht könnte sie jetzt nach unten schleichen, ohne dass sie jemand bemerken und dass sie stören würde. Denn eines war sicher, würde man sie sehen, würde das Gespräch sofort beendet sein und Naomie hatte keine Lust ein Störfaktor zu sein. Ihre Füße fühlten sich kalt an und auch ihre Beine verloren langsam an Temperatur. Unruhig wackelte sie mit den Zehen. Wieso lief sie nicht einfach nach unten, nahm sich ein Glas Wasser, einen Müsliregeln gegen den Hunger und ging wieder nach oben? Sie war genauso Gast hier wie der Rest ihrer Familie und würde bestimmt keinen Ärger kriegen. Dennoch war das dieses Prickeln, als würde sie etwas Verbotenes tun, sowie das Gefühl, dass es Falsch und pietätlos war. Naomie seufzte und wurde das Gefühl nicht los, wieder ein Kind zu sein. Vermutlich lag es daran, dass sie von der Familiensitzung ausgeschlossen war, während ihr älterer Bruder Takuya mit bei sein durfte. Zählte ihre Meinung denn gar nichts? War sie nur gut genug, um auf Sanya und Shun aufzupassen, wie schon den Rest der Woche auch? Das Gefühl nicht ernst genommen zu werden in dieser Familie beschlich sie immer mehr. Von oben hörte sie Geräusche und wie die Tür geöffnet wurde. Schnell huschte sie wieder durch den Spalt ihrer Zimmertür und schloss diese leise. Wenn einer ihrer Geschwister sie sehen würde, würde sie sich um das Problem kümmern müssen und darauf hatte sie absolut keine Lust. Es reichte schon, wenn sie sich tagsüber um sie kümmern musste. Sie war ihre Schwester, aber nicht ihr Kindermädchen. Zitternd huschte sie wieder ins Bett und berührte dabei etwas Kaltes auf ihrem Kopfkissen. Naomie presste ihr Handy an sich und zog die Decke hoch. „Mama!“, rief ihr kleiner Bruder vor ihrer Zimmertür und sie sah den Schein des Flurlichts durch die Tür in ihr Zimmer kommen. „Mama!“, rief Shun lauter und hämmerte gegen das Holzgeländer. Es hörte sich an wie ein Bauarbeiter, der sein Tagewerk verrichtete. Unten im Wohnzimmer wurde die Tür erneut geöffnet. Jemand kam die Treppe mit schnellen und schweren Schritten nach oben getrampelt. Wenn sie nicht schon wach wäre, wäre sie es mit Sicherheit jetzt. Seufzend drückte sie sich ihr Kissen auf die Ohren. Das Haus ihrer Großeltern schien niemals ruhig zu sein. Naomie hörte die Stimme ihrer Mutter vor der Tür und wie sie beruhigend auf Shun einredete. Sie gingen zur Treppe, die ins Obergeschoss führte und Naomie blieb weiterhin liegen. Langsam nahm sie das Kissen von den Ohren. Sie wusste nicht, wieso sie sich aufführte, wie ein Teenager, der etwas verbrochen hatte. Aber so konnte es nicht weiter gehen. Wieder lauschte sie angestrengt. Schritte waren von oben zu hören und ihre Mutter polterte wieder die Treppe hinunter, während sie vor sich hin murmelte. Naomie rollte sich zur Seite, so dass sie mit dem Rücken zur Tür lag. Ihre Tür wurde aufgerissen und sie konnte den Schatten ihrer Mutter an der Wand sehen. „Naomie?“, fragte ihre Mutter und wartete, ob sie reagieren würde, doch sie regte sich nicht. Kurz blieb ihre Mutter im Zimmer und verschwand wieder. Die Tür wurde zugeschlagen. Sie zuckte zusammen. Glaubten die Leute in diesem Haus wirklich, dass man bei dem Krach tief und fest schlafen konnte? Leicht schüttelte Naomie den Kopf und knurrte leise. Wieder drehte sie sich herum. Bei dem Lärm war es kein Wunder, wenn sie keinen Schlaf fand und übermüdet war. Zum Glück war das ihre letzte Nacht hier. Morgen Nachmittag würde sie wieder zu Hause in ihrem Bett sein. Es ging so nicht weiter und ihre Arbeit wartete auch. Sie musste aus diesem Haus raus, sonst würde sie früher oder später wegen Übermüdung noch die Nerven verlieren. Naomie schaute auf ihr Handy und sah weitere SMS, die unbeantwortet im Postfach lagen, sowie ein Anruf in Abwesenheit, den sie merkwürdigerweise sogar angenommen hatte. Ein verlegenes Schmunzeln stahl sich auf ihr Gesicht. Offenbar hatte sie den Anruf im Schlaf angenommen und Kaiba hatte sie schlafen gehört, während sie mit dem Telefon gekuschelt hatte. Hoffentlich hatte sie nicht irgendwas Wirres vor sich hin gemurmelt und wenn, dann hatte er wenigstens was zu lachen gehabt. Naomie las sich jede einzelne SMS durch und seufzte auf. Wie schon in den letzten Tagen wusste sie auch auf diese keine richtige Antwort. Dafür, dass er so in sich gekehrt war und nicht viel von sozialen Kontakten hielt, schrieb er ihr oft und rief auch ziemlich oft an. Fast könnte man meinen, er war hinter ihr her. Naomie kratzte sich nachdenklich am Kopf. Sicherlich dachte er, sie war zu feige um über den Kuss zu sprechen, doch das Gegenteil war der Fall. Aber inzwischen waren einige Tage ins Land gezogen und es wurde schwieriger, wie es weiter gehen sollte oder wie sie es ansprechen sollte. Immerhin gab es gerade wichtigeres als dieser belanglose Kuss. Aber der Gedanke daran ließ sie aufseufzen. Sie sollte nicht daran denken. Es war absolut falsch sich jetzt damit auseinander zu setzen. Außerdem wollte er sicherlich nichts Ernstes von ihr und sie hatte nicht vor als irgendein Betthäschen zu enden, das seine Gelüste für eine Nacht stillte. Dabei hatte sich das aber so gut angefühlt, was da passiert war. Allein bei der Erinnerung, wie seine Hände sich auf ihrer Hüfte angefühlt hatten, verließ sie ein weiterer Seufzer. Was sollte sie machen? Sie konnte ihm auch nicht ewig aus dem Weg gehen oder sich nicht mehr melden. Das wäre auch nicht fair. Nicht nachdem er ihr geholfen hatte. Mit Sicherheit hatte das keine Bedeutung für ihn und so beschäftigt wie er war, dachte er auch nicht mehr daran. Seine Nachrichten hatten sicherlich einen anderen Grund als der Kuss. Nur flüchtig hatte sie mitbekommen, dass die KC gerade ein wenig in Verruf gekommen war, wegen einer Spendenaktion. Zu gern hätte sie in ruhe ein wenig im Internet dazu nach gelesen und recherchiert, doch im Haus ihrer Großeltern gab es so etwas nicht. Sie konnte froh sein, wenn sie richtigen Handyempfang hatte, denn auch der war nur schwer zu kriegen. Aber deswegen würde sie sich nicht um ein Gespräch mit ihm drücken. Sie würde es zumindest versuchen und wenn er sie abwies, konnte sie immer noch sagen, dass sie es versucht hatte. Wie schon die Tage davor ging sie auf „Antworten“ und hielt dann inne. Fieberhaft überlegte, was sie schreiben sollte. Sie wusste ja noch nicht mal, ob sie ihn duzen oder siezen sollte. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als eine weitere SMS eintraf. Diesmal von Joey, der sie ebenfalls fragte, was los sei und sich Sorgen machte. Schnell schrieb sie ihm zurück, dass alles ok sei und die nächsten Tage wieder zur Arbeit käme. Merkwürdigerweise fiel ihr das bei ihm recht einfach, aber er hatte auch eine Art und Weise an sich, die man nur als herzlich bezeichnen konnte. Es war amüsierend mit ihm zu arbeiten und die Zeit ging dann auch schneller rum. Naomie richtete sich im Bett auf. Wenn sie Setos SMS ansah, duzte er sie ja auch und hatte vorher nicht gefragt, ob das in Ordnung war. „Ich lebe noch und bin auch nicht entführt worden“, tippte sie in das Feld ein, „Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir. Also keine Sorge.“ Ob das so gut war? Ehe, sie sich um entscheiden konnte, drückte sie schnell auf senden und atmete tief durch. Das wäre geschafft. Naomie sah auf die Uhr. Eigentlich sollte sie lieber schlafen, aber sie würde im Moment kein Auge zu bekommen. Morgen würde sie auch nicht besser aussehen als heute und der ausgelutschte Gummibärchenlook würde sich weiter durch den Tag ziehen. Zum Glück sah Seto sie so nicht. Allein bei dem Gedanken und sie lief hochrot an. Seufzend knipste sie die kleine Lampe an und richtete sich wieder auf. Irgendwas musste sie tun. Diese Ruhelosigkeit würde sie noch wahnsinnig machen. Draußen schneite es wieder und sie konnte sich schon denken, dass ihr Bruder morgen eine Schneeballschlacht veranstalten würde. Es war unglaublich schwer vor ihren jüngeren Geschwistern so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Dabei war es genau das Gegenteil. So wie sie ihre Eltern und ihre Oma kannte, saßen sie im Wohnzimmer und ihre Oma weinte sich grade die Seele aus dem Leib über die Entscheidungen, die nun alle auf sie zukamen und die ihr nicht leicht fielen. Es war besser, wenn sie morgen wieder nach Hause fuhr. Hier wurde es langsam immer enger und so eng auf einen Haufen, sorgte das früher oder später nur für Streit. Naomie schaltete ihren Laptop ein. Sie musste etwas tun und wenn sie sich nur alte Fotos ansah, aber irgendwas musste sie machen. Während das Gerät hoch fuhr, ging sie noch einmal zur Tür und öffnete sie ein Stückchen. Von unten drang Licht herauf und sie hörte Stimmengemurmel. Ihre Eltern würden also noch lange beschäftigt sein und so schnell nicht wieder hoch kommen. Sie schloss die Tür leise und setzte sich wieder aufs Bett. Schnell steckte sie den Internetstick ein und hoffte, dass es diesmal funktionieren würde. Naomie öffnete das Fenster fürs Internet und wartete auf eine Verbindung. Nichts. Der Empfang war in diesem Haus einfach zu schlecht, als dass sie ins Internet kommen würde. Genervt stöhnte sie und sah auf, als leise die Tür geöffnet wurde. „Naomie?“, fragte die piepsende Stimme von Shun. „Was machst du hier? Du sollst doch schlafen“, sagte sie und stand auf. Shun blieb im Türrahmen stehen und rieb sich müde über die Augen. Im Arm hatte er ein Kissen. „Ich kann nicht schlafen. Kann ich zu dir?“ Naomie drückte Shun etwas an sich. „Aber du bist doch schon groß. Geh wieder nach oben. Dort ist auch Sanya“, sagte sie leise und strich ihm über den Kopf. Wieso musste sie wieder ihren Bruder trösten? Konnte ihr Schwester, die inzwischen auch alt genug war, das nicht tun? „Sanya hat mich zu dir geschickt“, brachte er raus. Naomie seufzte. Das war typisch ihre Schwester. Hauptsache sie hing an ihrem neuesten Handy, scheib mit ihren Freundinnen über Jungs und trug die neuesten Klamotten. Aber wenn es um ihren Bruder ging, war sie sich zu fein dafür und es blieb an ihr hängen. Shun jetzt aber auch abzuweisen und nach unten schicken, konnte Naomie auch nicht. „Schon gut, dann leg dich hin“, sagte sie ergeben und deutete auf das Bett. Wenn ihr Bruder jetzt dort schlafen würde, wäre kein Platz mehr für sie da. Aber gut, dann würde sie es sich in dem Sessel bequem machen oder komplett wach bleiben. Sie sehnte sich nach ihrem Bett oder dem großen Doppelbett bei Kaiba im Gästezimmer. Allein bei dem Gedanken überkam sie wieder die Müdigkeit. Shun kroch in das Bett und sie deckte ihn zu. „So und jetzt schlaf schön“, sagte sie und nahm sich die Wolldecke und ihr Seitenschläferkissen. Den Laptop stellte sie aus und verkroch sich zusammen mit ihrem Handy in den Sessel. Shun war schnell wieder eingeschlafen und Naomie war es gewöhnt, dass er sehr leise atmete, dass man glauben konnte, dass er nicht mehr am leben war. Als sie das erste Mal auf ihn aufgepasst hatte, hatte sie totale Panik gekriegt und ihn wieder geweckt. Doch inzwischen wusste sie es besser. Das einzig nervige war, dass ihre Schwester Sanya von diesen Aufgaben verschont blieb. Dabei hatten die älteren Geschwister immer mit auf die Jüngsten aufgepasst. Das war etwas, was nicht nur Naomie wurmte, sondern auch ihre ältere Schwester Makoto und Takuya. Müde sah sie auf ihr Handy. Eine neue SMS war eingegangen. Diesmal wieder von Seto. Er war aber auch hartnäckig. Naomie schloss die Augen und versuchte es sich im Sessel bequem zu machen. Den Kopf hatte Naomie auf ihre Hand gestützt und langsam sackte er ihr auf die Brust. Das gleichmäßige Rattern der Räder unter ihr, sorgte dafür, dass die Müdigkeit immer mehr Besitz von ihr ergriff. Naomie presste die Beine zusammen, um ihren kleinen Koffer fest zu halten und lehnte sich zur Seite. Sie gähnte und ließ sich Stück für Stück in den Schlaf fallen. Aber nach der Nacht durfte sie auch im Bus schlafen. Nachdem Shun zu ihr gekommen war, hatte sie in dem Sessel kein Auge mehr zu getan. Erst gegen den Morgenstunden hatte sie halbwegs schlafen können, doch ihre Großmutter war pünktlich um acht Uhr wieder auch und fing an herum zu poltern, dass sie glaubte, ein Volk stünde auf. Wie konnten ihre Eltern und Geschwister nur so ruhe finden? Müde hatte sie sich aus dem Sessel gequält und war ins Bad getapst, was besetzt gewesen war. Sie hatte fast dreißig Minuten warten müssen, ehe es frei geworden war. Kaum war sie drin gewesen, war ihre Schwester Sanya angekommen und hatte gegen die Tür geklopft, dass sie sich beeilen sollte. Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, hatte Naomie sich nur schnell die Zähne geputzt und die Haare wieder zu einem Zopf gebunden. Schnell war sie dann wieder in ihrem Zimmer verschwunden und hatte leise ihre Sachen gepackt, um Shun nicht zu wecken. Unten in der Küche hatte ihre Oma den Tisch gedeckt gehabt. Das Poltern war bis ins Zimmer zu hören gewesen. Naomie hatte sich Zeit gelassen bis sie auch ihre Eltern gehört hatte und war dann erst nach unten gegangen. Obwohl der Tisch mit frischem Brot und Wurst gedeckt worden war, saß niemand am Tisch. Ihr Vater war im Wohnzimmer gewesen, während ihre Mutter die Wäsche und ihre Oma den Abwasch gemacht hatte. Freundlich hatten sie Naomie begrüßt gehabt, doch sie hatte gemerkt, dass die Stimmung bedrückt war und Niemand etwas gegessen hatte. Unsicher hatte Naomie sich nur ein Glas Wasser genommen und angefangen zu trinken. Obwohl ihr Hunger groß war, hatte sie wieder das Gefühl gehabt, es wäre falsch und unangebracht. Immerhin war sie nicht Shun, der von all dem gar nichts mitbekam und sich nicht den Appetit verderben ließ. Nachdem sie ihr Glas leer getrunken hatte, war sie unter dem Vorwand spazieren zu gehen, nach draußen verschwunden und hatte sich die Busfahrpläne angeschaut, die zurück nach Domino City führten. Schnell hatte sie sich die Daten ins Handy notiert und war wieder zurück gelaufen. Sie hatte noch Zeit gehabt bis der nächste Bus fuhr und konnte sich in Ruhe fertig machen. Doch mit der Ruhe war es vorbei, sobald sie wieder das Haus betreten hatte. Ihre Schwester Sanya war die Treppe herunter getrampelt und ihre Eltern waren aufbruchsbereit gewesen. Ihre Mutter hatte ihr nur knapp zugerufen, dass sie sich um Sanya und Shun kümmern sollte, wie die anderen Tage auch. Doch diesmal hatte Naomie die Gelegenheit beim Schopf gegriffen und gesagt, dass sie in einer Stunde Heim fahren würde, da ihr Chef sie bräuchte. Es war zwar leicht geflunkert, aber sie musste da raus, ehe es Krieg geben würde. Besonders zwischen ihrer Schwester und ihr, begann es schon seit Tagen zu knistern und Naomie wusste, bald würde einer von ihnen beiden die Bombe hoch gehen lassen. Ihre Eltern waren zwar wenig Begeistert gewesen, dass sie abfuhr, aber hatten es immerhin verstanden, dass sie arbeiten musste. Ihr Vater hatte sie angeboten Heim zu fahren, doch sie brauchte den Abstand, auch wenn sie dadurch fast zwei Stunden mit dem Bus fahren musste. Das war es ihr wert. Leider gab es keinen Bäcker oder dergleichen, so dass sie noch immer Hunger hatte. Aber zumindest fand sie in dem Bus etwas Ruhe. Sie zog den Jackenkragen höher und kuschelte sich soweit es ging in ihre Winterjacke ein. Leider lag ihr roter Schal irgendwo herum. Naomie hatte schon überall nach ihm gesucht, aber vermutlich lag er auf Arbeit oder doch noch in ihrer Wohnung. Seufzend rutschte sie tiefer in den Sitz und ließ ihre Gedanken wieder zu dem Traum schweifen, den sie in der Nacht gehabt hatte, ehe sie brutal heraus gerissen worden war. Ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie an die Wärme dachte, die sie dort gespürt hatte. Fast konnte sie die starken Arme spüren, die sie fest gedrückt hatten. Sie fühlte sich fast an den Morgen mit Seto erinnert und ihr Herz klopfte bei dem Gedanken etwas schneller in ihrer Brust. Es war ein Gefühl, was sie schon lange nicht mehr hatte und bei dem sie gar nicht gewusst hatte, wie sehr sie es vermisste. Sie versank immer mehr in den Gedanken und Gefühlen, die so gut taten und ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gaben. Die Geräusche des Busses kamen nur noch langsam zu ihr heran. Nur hin und wieder fröstelte sie, wenn die Tür aufging und kalte Winterluft herein strömte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war sie endlich zu Hause. Wieder seufzte sie auf bei dem Gedanken, als eine Berührung an der Schulter sie wach werden ließ. Verschlafen blinzelte Naomie und richtete sich im Sitz auf. War sie schon da? Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass sie noch nicht mal Domino erreicht hatten und irgendwo in der Pampa war. Auch die Anzeigentafel im Bus kündigte noch längst nicht die Endhaltestelle an. Müde sah Naomie sich um und entdeckte vor sich einen Jungen mit einer Stachelfrisur, der sie unsicher ansah. Hatte er sie geweckt? Was wollte er denn? Sah er nicht, dass sie total müde und fertig war? „Hei…“, begann er leise und lächelte schwach, „Nicht erschrecken, aber Sie haben schon eine ganze Weile geschlafen und ich wollte nur sicher gehen, dass Sie Ihre Haltestelle nicht verpassen.“ „Oh danke“, nuschelte Naomie und rieb sich über die Augen. Ein herzhaftes Gähnen verließ ihren Mund. Irgendwoher kam ihr der Junge bekannt vor. Sie konnte ihn nur nicht zuordnen. Fieberhaft überlegte sie. „Aber das wäre nicht nötig gewesen. Ich muss erst ganz am Ende raus.“ „Da scheinen wir wohl den selben Weg zu haben“, sagte der Junge freundlich und seine Kleidung raschelte, als er sich ihr gegenüber auf den freien Sitz setzte. Naomie rückte mit ihrem Koffer etwas, damit er Platz hatte und sich nicht eingeengt fühlte. „Sag mal, warst du…“, wollte sie ansetzen, wurde aber von dem Klingeln seines Handys unterbrochen. „Kaiba“, seufzte er leise und dennoch konnte sie es hören. „Du kennst Seto Kaiba?“, entfuhr es Naomie erstaunt und sie sah ihn aus überraschten Augen an. „Ja, mehr oder weniger“, antwortet er und schob sein Telefon wieder in die Hosentasche zurück, „Und kennen Sie ihn?“ Naomie legte den Kopf leicht schief und sah nach draußen, wie die verschneite Landschaft an ihnen vorbei zog. „Etwas“, sagte sie gedehnt langsam und wog sorgfältig ihre Worte ab. Immerhin kannte sie ihn nicht und hatte keine Lust irgendeinem Fremden auf die Nase zu binden, woher sie Seto Kaiba kannte. Aber obwohl sie ihn nicht zuordnen konnte, kam der Junge mit der wilden Frisur ihr bekannt vor. „Also mehr oder weniger…Mokuba war bei dem Weihnachtsmarktstand, wo ich arbeite und da war er auch dabei.“ Naomie glaubte sich zu erinnern, woher sie den Junge kannte. „Sagen Sie, waren Sie auch auf dem Markt? Zusammen mit Joey Wheeler?“ Nachdenklich zog sie die Stirn in Falten. Wenn sie nicht alles täuschte, war er am selben Tag da gewesen, wie Mokuba. Naomie musterte ihn. Seine Hand ging zu der Kette mit dem großen Pyramidenanhänger. „Ja, war ich. Joey arbeitet jetzt dort bei einem Fotostand“, erzählte der Junge. „Ich weiß.“ Naomie grinste ihn an. „Ich arbeite für den Laden, dem der Stand gehört. Ich glaube, wir kennen uns auch.“ „Ja?“, fragte der Junge verwirrt. Naomie nickte und flog kurz vom Sitz hoch, als der Busfahrer einen Hügel zu schnell überfuhr. „Ja, als Joey sich bei uns vorgestellt hat. Ich hab das Gruppenbild von ihm und seinen Freunden gemacht.“ Die Augen des Jungen weiteten sich überrascht. „Ah, Sie sind die Fotografin gewesen! Naomie, richtig?“ „Genau, die bin ich. Scheinbar hat Joey von mir erzählt.“ Sie musste bei der Vorstellung grinsen, was er wohl seinen Freunden erzählt hatte. Sicherlich, dass sie die Belegschaft mit Keksen versorgte und er sich schon die ein oder andere Extrapackung gesichert hatte. „Und du bist?“, fragte Naomie neugierig. Der Junge schaute sich kurz um, ob jemand in der Nähe war, ehe er die Stimme senkte und sich etwas zu ihr nach vorne beugte. „Yugi Muto“, flüsterte er und sie hatte Mühe ihn über den Lärm des Motors zu verstehen. Naomie streckte ihm die Hand freundschaftlich entgegen. „Freut mich“, sagte sie und fragte sich dabei, wieso er die Stimme senkte bei seinem Namen. War er berühmt sie Seto oder wieso tat er es? „Was dagegen, wenn wir uns duzen?“ Yugi nahm ihre Hand entgegen und drückte sie kurz. Im selben Moment gab ihr Magen ein verräterisches Knurren von sich. „Tut mir leid“, murmelte Naomie verlegen und merkte, wie eine leichte Röte in ihr Gesicht stieg. Ein Gähnen entfuhr ihr. Sie musste wirklich dringend nach Hause und Schlaf und Essen nach holen. „Das erinnert mich an Joey“, lachte Yugi leise. „Stimmt. Er kann wirklich viel essen“, sagte sie und konnte das nächste Knurren richtig spüren. Zum Glück war es diesmal aber nicht so laut, dass ihr gegenüber es hören konnte. Dennoch begann Yugi in seinem Rucksack zu wühlen und hielt ihr einen Müsliriegel hin. „Es ist nicht viel, aber es hilft vielleicht“, sagte er unsicher. „Danke“, sagte sie erleichtert und wickelte das Papier von der Süßigkeit ab. Naomie nahm einen Bissen und kaute genüsslich auf der klebrigen Massen herum. Nachdem sie die letzten Tage nichts zwischen die Zähen bekommen hatte, tat dieser Riegel einfach gut und bis sie zu Hause war, musste es reichen. Auch wenn ihr Blutzucker im Keller war und sie eigentlich eine richtige Mahlzeit bräuchte. Noch nie hatte so etwas zuckriges, so gut geschmeckt und Naomie verkniff sich ein wohliges aufstöhnen. Immerhin wollte sie nicht, dass Yugi einen falschen Eindruck von ihr bekam. Es reichte, wenn Seto den von ihr hatte. Naomie biss ein weiteres Stück ab und sah sich die verschneiten Bäume an. Ob Kaiba auch nur eine Sekunde daran dachte, was hätte sein können? Bereute er es vielleicht oder war er mit seinen Gedanken schon längst woanders? Wenn sie aber an die vielen SMS und Anrufe dachte, schien er weniger woanders zu sein. Naomie fragte sich, wie es gewesen wäre, wenn sie das Gespräch wirklich noch geführt hätten oder wenn sie nicht eingeschlafen wäre. Hätte sie mit ihm geschlafen? Mit Sicherheit. In dem Moment hatte sie ihn gewollt, war bereit gewesen sich fallen zu lassen und sich den lustvollen Gefühlen hin zu geben. Dabei war sie nicht so drauf, dass sie einfach so mit jemanden ins Bett sprang und wild herum knutschte. Doch schon am Nachmittag hatte sie diese Spannung gespürt, der sie fast zu einem Kuss geführt hätte, wären sie nicht unterbrochen worden. Ob er sie wegen ihrem Geschenk hatte küssen wollen? War das seine Art gewesen zu sagen, wie sehr es ihn berührt hatte? Naomie schluckte bei dem Gedanken. Dabei hatte das gar keine große Bedeutung. Sie hatte nur nach etwas gesucht, was nicht mit Geld zu kaufen war. Immerhin besaß er genug, was den Wert von einigen Geschenken mindern würde. Aftershaves und dergleichen waren auch zu einfallslos. Naomie hatte nur etwas einfallsreiches finden wollen. Sie dankte der Homepage, die sie auf den Gedanken gebracht hatte, immer noch im stillen für diesen Einfall. Immerhin waren konservierte Schneeflocken wirklich etwas einzigartiges und besonderes. Kaiba konnte ihr auch nicht erzählen, dass er sich sowas mit Geld kaufen konnte. Natürlich könnte er sich durch seine Leute jederzeit sowas im Winter erstellen lassen, aber war es dann noch etwas Besonderes, wenn man dafür bezahlte? Bestimmt nicht und das musste auch er einsehen. Zudem erinnerte sie die kalten Flocken ein wenig an Seto. Joey hatte ihr gesagt, dass er ein Eisklotz sei und Naomie konnte ihm nur bedingt zustimmen. Seto wirkte nach außen hin wirklich kühl, aber wenn sie an die Nacht und den Morgen dachte, war das alles andere als Kalt. Im Gegenteil, es war so warm gewesen, dass sie es fast wieder spüren konnte, wenn sie nur daran dachte. Naomie knüllte das Müslipapier zusammen und stopfte es in ihre Tasche. Ihr Magen brummte unruhig und forderte mehr, aber es gab nichts mehr. Yugi sah aus dem Fenster und sie tat es ihm gleich. Immerhin konnte sie ihren Gedanken nach hängen. Naomie spürte die Wärme der Heizung an ihrem Bein und schloss kurz die Augen. Wenn Kaiba sie an Eis und Schnee erinnerte, bedeutete das nicht auch, dass er genauso leicht bei Wärme dahin schmolz? Hieß es nicht auch, dass er seinen Zustand ändern konnte? Der Gedanke war ein wenig befremdlich, aber er kam ihr nicht zum ersten Mal. Schon als sie die Fotos von den Seifenblasen gemacht hatte, hatte sie dabei an ihn denken müssen. Diese kalte, dünne Membran der Blasen war so empfindlich, dass sie bei der kleinsten Berührung brüchig wurden. Ob es bei Kaiba ähnlich war? War seine kalte Schale auch so empfindlich? Die Vorstellung, dass sie irgendwelche Dinge bei ihm auslöste, war merkwürdig und Naomie wusste nicht, ob es ihr gefiel. Lediglich ihr Herz pochte bei dem Gedanken, dass er grade bei ihr seine kalte Schale ablegte. Ob das Geschenk wirklich so eine gute Idee gewesen war? Immerhin schenkte man sowas nicht irgendwem. „Möchtest du noch einen?“ „Wie?“, fragte Naomie überrascht und sah wieder Yugi an, der ihr einen weiteren Müsliriegel hin hielt. „Ich fragte, ob du noch einen willst. Dein Magen hat wieder geknurrt.“ „Gern, danke“, sagte sie und wickelte auch diesen Riegel schnell aus, „Ich hab irgendwie die letzten Tage kaum was gegessen. Ich bin froh, wenn ich zu Hause bin und etwas richtiges zwischen die Zähne kriege.“ Naomie schob sich eine Strähne unter die Mütze, die ihre ungepflegten Haare verbargen. Sie nahm einen weiteren Bissen. „Das klingt nicht gut, aber wir sind bald in Domino.“ Naomie nickte. „Gott sei Dank. Ich will nur noch ins Bett, ein Bad und was essen.“ „Du hast wohl viel erlebt die Tage, was?“ „Familienkriese der obersten Güte“, nuschelte sie zwischen den Bissen. Leider war der Riegel auch schnell verputzt und das Papier wanderte ebenfalls in ihre Tasche. Wenigstens hatten die Riegel genug Zucker, damit ihr Kreislauf in Schwung kam. Der Busfahrer bremste und sie rutschte auf dem Sitz etwas nach vorne. Schnell setzte sie sich wieder richtig hin, als er anfuhr, ehe sie beim nächsten Mal auf Yugi fliegen würde. „Das tut mir leid. Dann solltest du dich lieber nachher ausruhen“, sagte ihr Gegenüber. Naomie nickte. „Um ehrlich zu sein, ich hab die Flucht ergriffen, weil ich nicht mehr konnte“, seufzte sie und bekam ein schlechtes Gewissen. Allein bei dem Gedanken brannten ihre Augen, doch sie hatte nicht vor in der Öffentlichkeit los zu weinen. Um sich schnell abzulenken, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Seitdem sie Seto zurück geschrieben hatte, war es ruhig und er hatte auch nicht mehr angerufen oder ihr geschrieben. „Außerdem scheint Kaiba etwas mit mir besprechen zu wollen.“ „Kaiba hat dich angerufen?“, fragte Yugi überrascht und Naomie rutschte wieder ein wenig nach vorne im Sitz. Wo hatte der Busfahrer nur Fahren gelernt? „Ja, nicht nur einmal.“ „Dann scheint es wirklich dringend zu sein.“ Naomie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Er sagt nur, es sei wichtig.“ Nachdenklich rieb sich Yugi über das Kinn. „Das sieht ihm nicht besonders ähnlich. Hast du denn geschäftlich mit ihm zu tun?“ Auf die Frage wusste sie auch keine Antwort. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bisher nur privat mit ihm zu tun gehabt. Nachdenklich verzog sie das Gesicht. „Naja….eher weniger. Eigentlich bisher nur mit Mokuba“, langsam sagt, „Bei Kaiba selbst hatte ich dann nur kurz zu tun.“ „Habt ihr denn privaten Kontakt?“ Yugi konnte echt gute Fragen stellen. Konnte man diese vielen SMS und Anrufe privat nennen? Den Kuss in jedem Fall, aber das würde sie ihm nicht auf die Nase binden. „Eher weniger“, sagte sie gedehnt, „Wir laufen uns einfach nur ständig über den Weg.“ „Oh dann hat Kaiba wohl irgendwas an dir gefressen. Er gibt sich nämlich sonst keine Mühe, wenn er nicht grade ein Duell haben will.“ Naomie schluckte und sah kurz aus dem Fenster. Der Busfahrer hielt erneut mit einem Ruck und wartete an der Ampel bis der Autofahrer es endlich geschafft hatte auf der glatten Straße vorwärts zu kommen. Ein kurzes Lachen entkam ihrer Kehle. „Soll mir das dann was sagen, dass ich fast zwanzigverpasste Anrufe und knapp dreißig SMS bekommen habe?“ Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. „Oder dass er mir neulich geholfen hat?“ Yugis Augen weiteten sich und Naomie fragte sich, ob sie nicht zu viel erzählt hatte. „Das ist wirklich verwunderlich. Normalerweise meldet sich Kaiba nicht sehr oft bei Menschen. Erst recht nicht mit so vielen Anrufen.“ Naomie schluckte und ihr Herz begann zu klopfen. Wieso machte er bei ihr so eine Ausnahme. War das wirklich nur wegen dieser Nacht gewesen? Ihr Herz schlug kräftiger in ihrer Brust und pumpte das Blut mit einem affenzahn durch ihre Venen. „Ich glaube, Kaiba würde vielleicht drei Nachrichten hinterlassen und dann war es das.“ „Das…gibt mir jetzt doch zu denken“, sagte sie leise und vergrub sich halb im Kragen ihrer Jacke. Naomie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. „Du kannst ihn ja anrufen, sobald du zu Hause bist. Dann wird sich das schon klären“, sagte Yugi optimistisch und grinste etwas. „Was denkst du denn, wieso er so oft angerufen hat?“ Scheinbar schien der Junge Kaiba sogar recht gut zu kennen, wenn er ihn einschätzen konnte. Ob die zwei sich gut kannten? „Ich bin mir nicht sicher. Aber irgendwas muss ihn Sorgen machen, sonst würde er dich nicht so oft anrufen.“ Bei den Worten weiteten sich kurz ihre Augen. Machte sich Seto wirklich solche Gedanken um sie, weil sie abgehauen war, dass er sie deshalb so oft angerufen hatte? Aus seinen SMS hatte sie ja schon ein wenig Sorge lesen können, aber nicht so ernst genommen. Immerhin hatte er eher betont, dass er etwas wichtiges mit ihr besprechen musste. Das so vor Augen geführt zu bekommen, dass er sich scheinbar riesige Sorgen machte, war dann doch etwas anderes. Naomie schluckte und wurde wieder im Sitz nach vorn gerissen. Wenn der Busfahrer so weiter machte, würde ihr Mageninhalt bald den Sitz verzieren. Mit einem Blick auf die Anzeige stellte sie fest, dass es noch fast zehn Stationen waren. Dieses Stop and Go bekam ihr überhaupt nicht. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Yugi besorgt, „Du bist mit einem Mal so blass.“ Naomie nickte schwach. „Der Fahrstil des Busfahrers bekommt mir grade nicht“, nuschelte sie und legte die Hand leicht an die Lippen, als könnte es das flaue Gefühl vertreiben. Wieder sah sie zur Anzeige und versuchte sich selbst gut zuzureden, dass dieses Schaukeln gleich vorbei sein würde. Denn statt besser wurde es schlimmer. Der Busfahrer fluchte vorne und drückte auf die Hupe, dann auf das Gaspedal, so dass sie einen weiteren Satz Richtung Yugi machte. Naomie drückte den Knopf zum Halten und erhob sich wankend in ihrem Sitz. „Musst du nicht auch am Ende erst raus?“, fragte Yugi überrascht, als sie ihren kleinen Rollkoffer und die Tasche nahm. „Doch, aber ich kann nicht mehr. Mir ist schlecht“, brachte sie raus und ging zur Tür. Mit festen Griff hielt sie sich an der Haltestange fest und wurde gegen die Sicherheitsscheibe gedrückt, als der Bus zum Stehen kam. Schnell ging sie hinaus und atmete die kalte Luft ein, die ihr ins Gesicht schlug. Sofort war die warme Luft der Heizung verschwunden und kroch ihr unter die Hosenbeine. „Geht’s wieder?“ Naomie wirbelte herum und sah Yugi hinter sich. „Wieso bist du nicht im Bus geblieben?“, fragte sie überrascht und richtete ihre Mütze. „Ich hab gedacht, es ist besser, wenn ich mit dir mit gehe.“ Er zuckte mit den Schultern. Sie nickte und setzte sich in das Wartehäuschen des Bushaltestelle. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre eine dicke Schicht Zuckerwatte darin gelandet. Jeder Gedanke fühlte sich zäh und quälend an. Tief atmete sie die kalte Luft ein und rieb sich über die Stirn. „Ist es noch weit bis zu dir?“, fragte Yugi und berührte vorsichtig ihre Schulter. „Etwas“, murmelte sie, „Von hier etwa vierzig Minuten zu Fuß.“ Der Junge gab ein nachdenkliches Brummen von sich. „Es geht gleich wieder“, brachte sie raus und sah die Straße entlang. Naomie erhob sich von der Bank und hängte sich ihre Tasche wieder um. Der Spaziergang würde gut tun und vielleicht auch die Übelkeit vertreiben. Auch, wenn der nächste Bus gleich kommen würde, war das grade keine gute Idee mit dem mitzufahren. Gegenüber auf der anderen Straßenseite öffneten sich die Schiebetüren des Luxushotels. Das bellende Lachen eines Mannes drang bis zu ihr herüber und ließ sie aufsehen. Sie zuckte zusammen und senkte schnell wieder den Blick, ehe Kaiba sie entdecken würde. Das Schicksal schien irgendwas gegen sie zu haben, dass sie ausgerechnet ihm jetzt begegnen musste! Vorsichtig schielte sie herüber und sah, wie er dem Mann, der gerade so laut gelacht hatte, ihm die Hand schüttelte und sich verabschiedete. Ganz geschäftsmäßig trug er einen langen Mantel und den Aktenkoffer bei sich. Seine Meine war ausdruckslos und Naomie konnte nicht sagen, was in ihm vorging und ob er nicht sogar sauer war. Kaiba wandte sich ab und stieg in den schwarzen Bentley, der vor dem Hotel hielt. Erleichtert atmete sie auf und ihr Herz begann wieder zu schlagen. So wie sie gerade aussah, wollte Naomie ihm in keinem Fall begegnen oder sich mit ihm auseinander setzen müssen. Erst nach einer gesunden Portion Schlaf, Essen und einer Dusche würde sie sich darum Gedanken machen, wie sie das Gespräch mit ihm anstellte. Naomie zog die Mütze etwas tiefer in ihr Gesicht, als der Wagen in einem großen Bogen wendete und an ihr vorbei fuhr. Für einen Moment glaubte sie, dass Kaiba sie beide entdeckt hatte, doch der Wagen fuhr bis zur Ampel weiter und hielt dort. Naomie sah kurz auf die Heckscheibe und hatte Mühe ihren Blick los zu reißen. Der Wagen fuhr an, als die Ampel auf Grün umschaltete und der Blinker wurde nach wenigen Metern gesetzt. Wieder hielt der Wagen und Naomie sah auf die Straße. „Geht es?“, fragte Yugi besorgt und dachte scheinbar, dass sie nach unten schauten, weil ihre Übelkeit schlimmer geworden war. Sie hörte die Autotür zuschlagen und Schritte knirschten im Schnee. Ihr Herz schlug mit jedem näher kommenden Schritt schneller. Wieso musste er jetzt herkommen? Konnte er nicht einfach weiter fahren? Sie sah doch absolut schrecklich aus, als dass man sie ernst nehmen konnte und er würde mit Sicherheit irgendeinen dämlichen Spruch ablassen. Ihr Herz schlug inzwischen bis zum Hals. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er stehen blieb. „Yugi“, sagte er mit kalter Stimme und Naomie zuckte dabei zusammen. So kalt hatte sie ihn noch nie gehört. „Kaiba, ich habe keine Zeit für ein Duell!“, sagte ihr Sitznachbar mit entschlossener Stimme. Vorsichtig sah Naomie auf und begegnete Kaibas blauen Augen. Kurz weiteten sich seine Pupillen und sein Blick heftete sich auf sie. Naomie schluckte unter den prüfenden Augen. „Na sieh mal einer an, Alice ist aus dem Wunderland zurück“, sagte er kühl und mit leicht spöttischer Stimme. Kaiba verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie nicht aus den Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)