Winter Carols von Frigg ================================================================================ Kapitel 1: Türchen 1 - Schnee ----------------------------- Seto Kaiba hasste Schnee. Es war nicht so, dass dieses bisschen gefrorene Wasser ihm jemals etwas getan hatte oder er es mit etwas sentimentalem wie Weihnachten in Verbindung brachte. Es war auch nicht so, dass er Schnee als etwas grundsätzlich Schlechtes betrachtete oder er in jungen Jahren ein Schneetraumata erlitten hatte. Im Gegenteil. Er war sogar recht schön anzusehen, wie er frisch gefallen in seinem Vorgarten lag und die Hecken und Sträucher mit einer weißen Schicht überzog. Es verschaffte ihm sogar eine Art friedliche innere Ruhe, wenn er ihn so betrachtete. Eine Ruhe, die er nur schwer bekam bei seinem stressigen Alltag. Zudem wusste Seto Kaiba, dass der Schnee auch sehr nützlich für die Pflanzen und den Boden war. Es gab also keinen Grund ihn zu hassen. Ja, sogar die freudigen Schreie seines Bruders am morgen sorgten nicht dafür, dass er diese weiße Pampe hasste. Auch die Kälte trug nicht dazu bei, dass er Schnee hasste oder die freudigen Schreie seines Bruders am frühen morgen. Er hasste dieses weiße Zeug einfach deshalb, weil seine Angestellten nun eine nützliche Ausrede bekamen, um morgens länger im Bett zu bleiben und später zur Arbeit zu kommen, wohl wissend, dass er ihnen den Lohn nicht abziehen durfte, da Schnee unter höhere Gewalt zählte. Höhere Gewalt. Das er nicht lachte! Wenn einer von ihnen auch nur ansatzweite Radio oder TV besaß, davon konnte man ausgehen, immerhin waren die Gehälter keine Hungerlöhne, und dieses auch nutzte, würden diese wissen, dass es über Nacht schneien würde. Demnach konnte man doch seinen Wecker stellen und sich ein wenig eher zur Arbeit begeben. Aber scheinbar nicht, denn der plötzliche Wintereinbruch im Dezember erwische seine Angestellten jedes Jahr aufs Neue völlig unvorbereitet. Denn Schnee im Dezember war etwas ganz Fremdes und damit konnte auch keiner rechnen. Seto schüttelte den Kopf und besah sich das weiße Zeug bei seiner Auffahrt, was von seinem Gärtner gerade zur Seite geschaufelt wurde, damit der Wagen wieder dort entlang fahren konnte und sich auch sonst niemand den Hals brach. Zum Glück war er noch in seiner warmen Villa und konnte sich das Schauspiel vom Fenster aus ansehen, ehe es gleich hinaus an die kalte, frische Luft ging. Im August hätte er diese Ausrede ja noch gelten lassen können. Aber so? Für wie dämlich hielten sie ihn? Scheinbar für viel zu naiv und leichtgläubig und er stellte sich schon darauf ein, dass er einige Abmahnungen austeilen würden müssen. Zum Glück hatte er sich dafür inzwischen ein Musterformular angelegt, was das ganze Prozedere verkürzte und nicht den halben Tag in Anspruch nahm, wie der Januar vor zwei Jahren, als die halbe Firma nicht im Haus war. Nun, wo der erste Schnee von mehreren Zentimetern gefallen war, würde er sich auch darauf einstellen müssen. Denn immerhin waren seien Angestellten nicht die einzigen, die mit dem Verkehr zu kämpfen hatten. Ob man es glauben wollte oder nicht, aber auch er stand zu dieser Jahreszeit oft genug im Stau, weil jemand meinte mit den Winterreifen zu geizen und stattdessen versuchte auf Sommerreifen durch die Straßen zu fahren. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren dabei ebenfalls nicht besser bestückt und wenn dann ein Bus vor seinem Bentley her fuhr, war auch bei ihm Verspätung vorprogrammiert. Innerlich speicherte er sich schon mal ab, seiner Sekretärin zu sagen, dass sie mehr Zeit in seinem Kalender für den Weg bei auswertigen Terminen einplanen sollte. Es sah auch so aus, als ob in den nächsten Tagen weiterer Schnee dazu kommen würde, anstatt zu verschwinden. Aber es gab nicht nur den Grund, wieso er den Schnee hasste. Immerhin hasste er Verspätungen grundsätzlich und war selbst darauf bedacht immer pünktlich zu sein. Es war auch nicht der stockende Verkehr. Der Grund, wieso er Schnee hasste, war sein Hund Shadow. Ja, sein Hund Shadow gab ihm den Grund, wieso er diese Jahreszeit hasste. Aber was hatte ein Labrador mit Schnee zu tun? Eigentlich war Shadow ein gut erzogener Hund, aus einer reinrassigen Linie und gehorchte aufs Wort. Oft genügte auch nur eine Geste und er fügte sich dem Willen seines Herrchens. Doch wenn es um dieses gefrorene Wasser ging, schien sein Hund alle Manieren verloren zu haben und Seto spielte ernsthaft mit dem Gedanken ihn in die Hundeschule zu schicken. Damit meinte er aber gewiss nicht einen dieser netten Hundeflüsterer mit Leckerlis, sondern das Hardcore-Hundecamp. Mit einem kühlen Blick und einem missmutigen Brummen beobachtete er den grauen Hund, wie er durch den Schnee sprang, als gäbe es nichts Besseres. Selbst Stöckchen, Leckerlis und sein Lieblingshundeball waren vergessen und total uninteressant geworden. Laut kläffend sprang er von einem Schneehaufen in den Nächsten. Sein Hund hatte offensichtlich Spaß daran sich einzusauen und nachher würde in seinem Eingangsbereich nicht nur nasse Tapsen zu sehen sein, nein, auch dreckige Wasserpfützen würden die Fliesen zieren. Sein Dienstmädchen würde sich darauf einstellen müssen mehrfach am Tag den Wischmopp schwingen zu dürfen. Seto beobachtete, wie sein Hund sich die Nässe aus dem Fell schüttelte, nur um wenige Sekunden später einer aufwirbelnden Schneeflocke zu folgen, danach zu schnappen und in den nächsten Berg zu springen, damit das Spiel von neuem beginnen konnte. Das ging schon den ganzen Morgen so. Kaum hatte Mokuba die Tür geöffnet und war hinaus in den unberührten Schnee gelaufen, um die ersten Spuren darin zu versenken, war ihm Shadow mit kräftigem Schwanzwedeln gefolgt und seitdem tobten beide durch die Kälte. Wenigstens würde sein Hund heute richtig ausgelastet sein und auch genug Bewegung haben, ehe er über die Festtage fett und faul wurde. Auch wenn seine Angestellten es nicht glaubten, bekam er doch mit, dass sie seinem Hund hier und da Leckerlis gaben. Besonders über die Feiertage waren sie besonders Spendabel. Aber was sie in ihrer Nettigkeit nicht bedachten, war, dass es genauso wie beim Menschen ungesund für das Tier war, wenn es Übergewicht bekam und er wäre derjenige, der seinen Hund dann zu mehr Sport antreiben und auch auf Diät setzten musste. Seto schüttelte den Gedanken ab und öffnete die Haustür. Kalter, eisiger Wind schlug ihm entgegen und drang durch den dicken Rollkragenpullover zu ihm auf die Haut durch, während sein Rücken von der warmen Heizungsluft gewärmt wurde und sich mit der kalten Luft mischte. Leicht fröstelte Kaiba und ein Schauer jagte ihm über die Arme, doch er ließ sich nichts anmerken. Kurz beobachtete er, wie Mokuba einen Schneeball in die Luft war und Shadow ihn in der Luft schnappte. Der Ball zerfiel in kleine Schneebrocken und sein Hund guckte seinen kleinen Bruder verwirrt an, als würde er sich fragen, was mit dem tollen weißen Spielball passiert war. Der graue Labrador steckte die Nase in den Schnee und schnüffelte, als er könnte er so das verlorene Spielzeug finden. So süß dieser Anblick auch war und er Mokuba nur ungerne seinen Spielkameraden nahm, so war es Zeit für die tägliche Gassirunde mit dem Hund. Außerdem wollte Kaiba nicht, dass Shadow seine Bedürfnisse in seinem Vorgarten hinterließ. Ausgenommen waren die immer wieder kehrenden Bewässerungen der Büsche, die sein Hund durchführte, aber größere Dinge, sollten gar nicht erst eingeführt werden. Am Ende ging keiner mehr mit dem Hund raus und alles landete in seinem Garten. Nein, soweit würde es nicht erst kommen. Kaiba pfiff laut nach dem Hund. „Shadow, bei Fuß!“, rief er streng und wartete. Sein Hund horchte auch auf und sah ihn an, als würde er eine Belohnung für die Aufmerksamkeit erwarten. Doch das konnte er sich abschminken! Aus der Zeit war er raus. Streng deutete Seto mit einem Finger an seine Seite, doch der Labrador wandte sich wieder den interessanteren Dingen zu, wie den herunterfallenden Schneeflocken aus den kahlen Ästen zu jagen. Seto wartete einen Moment und seufzte leise. Shadow ignorierte ihn gekonnt und schnappte grade verzweifelt nach der nächsten Flocke. Dabei hieß es, Labradore seien intelligente Hunde. Wenn er sich das so ansah, zweifelte er eher an der Intelligenz und fragte sich, ob Shadow nicht beim Schneeflocken jagen gewesen war als das Hirn verteilt wurde. So versessen konnte doch kein Hund sein. Aber scheinbar doch. Wieder pfiff Seto. „Shadow!“, rief er nachdrücklich und der Hund lief zu ihm, nicht ohne dabei durch jeden Schneehaufen zu rennen, der ihm dabei unter die Pfoten kam. Geduldig wartete er bis sein Hund vor ihm war und sich ausgiebig geschüttelt hatte. Ein weiterer Punkt fügte sich auf seine Liste hinzu, wieso er Schnee hasste. Shadow hatte das unverwechselbare Talent ihn mit halb geschmolzenen Schneebröckchen zu bespritzen, so dass seine Hose schon leicht nass wurde, ehe er auch nur einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte. Erwartungsvoll sah er ihn aus den braunen Augen an, als würde er sagen wollen: „Du hast mich gerufen. Was ist jetzt? Was ist los? Sag schon? Gehen wir Gassi? Bekomme ich ein Leckerli als Belohnung?“ Seto ignorierte diesen treuen Blick. Stumm wickelte er sich den Schal um und knöpfte seinen Mantel zu, während nun auch Mokuba zurück in die Villa kam. Seine Wangen waren vor Kälte ganz gerötet und der Schnee begann in seinen Haaren zu schmelzen. Sein kleiner Bruder gab dem Hund einen kleinen Schubs, so dass dieser nicht mehr nur untätig in der Tür stand, sondern sich an ihm vorbei in den Flur drängte. „Geh dich umziehen“, sagte Seto mit monotoner Stimme und nahm seinem Bruder den Schal und Handschuhe ab. „Im Esszimmer steht Frühstück und heißer Kakao für dich.“ Mokuba nickte freudestrahlend und so schnell, wie er aus den nassen Winterstiefeln geschlüpft war und den klammen Wintermantel abgelegt hatte, konnte Seto kaum gucken. Doch anstatt nach oben, lief sein kleiner Bruder direkt in das Esszimmer. Wenn es um heißen Kakao in der Winterzeit ging, gab es für den kleinen Wirbelwind kein halten mehr. Seto wandte sich wieder dem Hund zu. „Shadow, komm her!“, sagte er und nahm den kleinen Beutel mit Leckerlis zusammen mit der Leine aus der Flurkommode. Normalerweise brauchte er seinen Hund gar nicht rufen, denn sobald er das Geschirr klappern hörte und das Rascheln der Knusperstücke in dem Beutel, kam er sofort schwanzwedelnd zu ihm gelaufen und konnte es kaum abwarten vor die Tür zu kommen. Doch als Kaiba zu seinem Hund sah, war dieser damit beschäftigt sein Spiegelbild in einer Christbaumkugel, die an einer Girlande hing, anzuknurren und anzugucken. Sobald er knurrte, hörte er auf und winselte. Sein Spiegelbild tat es ihm gleich und sofort knurrte er von neuem los. „Shadow, das ist nur dein Spiegelbild. Komm jetzt her, wir wollen los!“, sagte er streng und wartete. Sein Hund sah ihn fragend an. Er nickte mit dem Kopf in seine Richtung. Nur langsam löste sich der Labrador und tapste unsicher auf sein Herrchen zu und Seto konnte ihm endlich das Geschirr mit der Leine anlegen. Wenn sein Hund weiterhin diesen Reizen ausgesetzt war, würde er bald durchdrehen. Innerlich seufzte er schon über diesen Spaziergang und hielt die Leine schon vorsorglich fester. Doch Seto war froh aus seiner Villa heraus zu kommen. Lieber ging er in die Kälte als weiterhin in diesem bunten Haus zu bleiben. Wenn es nach ihm ginge, wäre kein bisschen Weihnachtsdekoration in die Villa gekommen und alles was auch nur annähernd mit Weihnachten zu tun hatte. Nur zu gut erinnerte sich Seto an letztes Jahr, als er von einer Geschäftsreise wieder gekommen war und die ganze Villa war geputzt und gebohnert worden. Zu seinem Leidwesen obendrein dekoriert mit allem erdenklichen Weihnachtsschnickschnack. Selbst vor seinen heiligen Weiße Drachen Figuren hatte sein kleiner Bruder keinen Halt gemacht und ihnen große rote Bänder mit einem Glöckchen umgebunden mit dazu passender Weihnachtsmannmütze. Woher er diese aufgetrieben hatte, war ihm bisher immer noch ein Rätsel und er hatte das Gefühl, dass die Rechnung für die Sonderanfertigung zufällig im Papiereimer oder im Kamin gelandet war, um alle Beweise über den Preis und Hersteller verschwinden zu lassen. Erfolgreich hatte er nach dem Fest die Dekoration auf den Speicher gebracht und ein gutes Versteck gefunden. Aber scheinbar nicht gut genug. Denn Ende November, eine Woche vor dem ersten Advent, war Mokuba zu ihm gekommen und hatte darum gebettelt, dass sie endlich die Villa schmücken dürften. Natürlich hatte er abgelehnt und alle erdenklichen Argumente aufgefahren, um den Wirbelwind davon abzuhalten. Angefangen bei, er müsse auf seinen Ruf achten bis hin zu er würde das Fest doch eh nicht feiern, hatte er alles versucht. Doch der traurige Blick und das Argument, er habe ja die zehn Kisten mit Dekozeug vom Speicher schon geholt, ließen ihn weich werden. Unter der Vereinbarung, dass dieses Jahr seine Drachen verschont blieben, durfte Mokuba mit dem Hauspersonal die Villa unsicher machen. Seto wusste, es war ein Fehler gewesen und er hatte ihn bereut. Und wie er ihn bereut hatte! Die laute Weihnachtsmusik drang bis in sein Arbeitszimmer. Gut und schön. Damit konnte er ja eigentlich noch leben. Wenn da nicht die schiefen Töne von Roland und seinem Bruder waren, die dem Lied jegliche Stimmung raubten. Besonders angetan schien sein Bruder vom dem Lind „Jingle Bell Rock“ gewesen, denn so oft wie an diesem Tag, hatte Seto es in seinem ganzen Leben noch nicht gehört und er konnte sich nicht entsinnen, dass es früher auch schon so gewesen wäre. Aber lieber dieser Song als das alljährliche „Last Christmas“, was die Radiomoderatoren schon Mitte November ausgruben und die Hörer damit gefühlte hundert Mal am Tag beschallten. Aber damit ließe sich leben, wäre da nicht der Punkt gewesen, als Mokuba mit einem breiten Grinsen in sein Arbeitszimmer gekommen war. In den Armen hatte er eine viel zu große Kiste gehabt, aus der Lametta, Kunsttannengirlande, Lichterketten, Perlenschmuck und anderes Zeug raus geguckt hatte. Seto wusste, was kommen würde und er hatte abgelehnt. Doch auch hier hatte Mokuba seinen Willen bekommen und ihn, Seto Kaiba, aus seinem eigenen Arbeitszimmer geworfen. Das schlagende Argument war gewesen, dass er ihm erlaubt hätte die Villa zu schmücken und das Arbeitszimmer gehöre zur Villa dazu und er hätte ja nichts davon gesagt, dass ein Zimmer Tabu wäre, nur seine Drachen. Widerwillig hatte er also den Platz geräumt. Nicht, dass es noch geheißen hätte, er würde Versprechen nicht halten. In diesem Moment war Seto gleichzeitig stolz, als auch so ziemlich sauer auf seinen Bruder und er wusste nicht, welches Gefühl überwog, dass er ihn so reingelegt hatte. Während er aus seinem Zimmer geworfen worden war, hatte er die Zeit genutzt und sich die Villa angeschaut. Zusammen gefasst konnte man sagen, dass seine Villa bunt war, kitschig und viele Kerzen, Lichterketten, Girlanden und anderer unnützes Zeug die Räume und Zimmer zierte. Als er fertig war, war Seto mehr als erleichtert gewesen, dass Mokuba wenigstens sein Schlafzimmer soweit dekorationsfrei gelassen hatte, wie es ging. Lediglich eine kleine Schneekugel hatte sich auf seinen Nachttisch verirrt. Immerhin war es das kleinste Übel und um seinen Bruder nicht zu enttäuschen, ließ er diese auch an Ort und Stelle stehen. Dagegen sah es in Mokubas Zimmer ganz anders aus. Bunte Fensterbilder waren an den geputzten Scheiben geklebt worden, am Fensterrahmen hatte er mit Rolands Hilfe eine bunte Lichterkette befestigt und auf den Fenstersims stand ein Lichterbogen, umgeben von Kerzen, Grünzeug, Zimtstangen und Tannenzapfen. Auf dem Schrank hatte er eine Schneekugel und eine Kerze in Form eines Schneemanns hingestellt. Sogar ein künstlicher, kleiner Tannenbaum mit Schleifen und künstlichen Christbaumkugeln hatte sich auf den Tisch verirrt. Dazu stand eine nelkenbestickte Orange, die ihren Duft verströmte hatte. Das bunte Weihnachtstischtuch hatte ihn sofort an die Verspieltheit seines Bruders erinnert und es hatte einfach in dieses Zimmer gehört. Auf dem Sofa in der Ecke hatte der alte abgenutzt Teddybär im Weihnachtsmannkostüm gelegen, der jedes Jahr zur Weihnachtszeit den Weg aus den Kartons fand und in einer Ecke saß und nach dem Fest auch wieder in die Karton verbannt wurde für den Rest des Jahres. Ein kleines Überbleibsel ihrer Kindheitstage, als ihre Eltern noch am Leben gewesen waren. Seto hatte das nur ein kleines Schmunzeln entlockt. Dass Mokuba den Bären noch immer hatte, zeigte nur, wie viel dieses abgenutzte Tier ihm bedeutete und Seto hütete sich auch davor, es zu entsorgen. Wie jedes Jahr war auch das abgenutzte Geschichtenbuch mit Adventsgeschichten rausgesucht worden und lag auf Mokubas Nachttisch. An der Innenseite der Tür war eine riesengroße Nikolaussocke gehängt worden, die förmlich danach schrie: Los, befüll mich, aber randvoll, wenn ich bitten darf! Doch Seto hatte sich auch gewundert und sich noch einmal im Zimmer umgesehen. Alles war bunt, leuchtend und schrie nach der Weihnachtszeit. Dennoch kam es ihm so vor, als würde etwas fehlen. Erst als er ins Esszimmer gegangen war, dass nicht minder mit Weihnachtsklimbim befüllt war, war ihm eingefallen, was in Mokubas Zimmer gefehlt hatte. Der Adventskalender! Doch sein Bruder wäre nicht sein Bruder, wenn er den Kalender vergessen hätte, der jedes Jahr aufs Neue befüllt werden musste. Eine weitere Tradition, die Seto schon längst abgeschafft hätte, wäre sein kleiner Bruder nicht so hartnäckig. Doch war ein zweiter dazu gekommen und trug Setos Namen. Natürlich hatte sein Bruder schon jedes einzelne Säckchen ordentlich befüllt gehabt, so dass es prall an der Wand hing und nur darauf wartete von seinem Besitzer geöffnet zu werden. Es war eine süße Geste von seinem Bruder gewesen und Seto hatte leicht schmunzeln müssen. Dabei war ihm wieder aufgefallen, dass sein Bruder viel zu gut Bescheid wusste, wie er ihn um den Finger wickeln konnte. Als er zurück in sein Arbeitszimmer gedurft hatte, hatte ihn fast der Schlag getroffen. Was hatten Mokuba und Roland eine knappe Stunde dort getan? Seto hatte seinen Augen nicht getraut. Sofort fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Auf diesem war ein kitschiger Minikunsttannenbaum hingestellt worden, der eher danach aussah, als würde er noch wachsen müssen. Die bunten Kugeln hatten ihm entgegen gefunkelt. Daneben war auch eine kleine Schneekugel hingestellt worden mit einer Miniversion einer Stadt darin, die berieselt werden konnte. Seto hatte sich weiter umgesehen. Doch das war es gewesen. Mehr hatte Mokuba mit seinem Arbeitszimmer nicht angestellt. Nichts. Keine blinkenden Fenstergirlanden, keine kitschigen und quietschbunten Fensterbilder, keine Orange mit Nelken, kein Nussknacker, kein Weihrauchmännchen oder anderer unnützer Dekofirlefanz. Fast schon erleichtert hatte Seto aufgeatmet. Was hatte Mokuba mit Roland hier dann fast eine Stunde getan? Hatten sie den Song „Rocking around the christmas tree” zu wörtlich genommen und waren um den Baum herum getanzt? Zumindest war das Lied während seiner Abwesenheit mehrfach gespielt worden. Was hatte in diesem Zimmer eine Stunde gedauert? Baum und Schneekugel aus dem Karton fischen, abstauben, hinstellen, fertig. Nichts hatte die eine Stunde gerechtfertigt, in der er seine Arbeit vernachlässigt hatte! Jede Sekunde des Tages hatte er damit noch zugebracht zu bangen, dass Mokuba ihm einen riesen Weihnachtsmann dahin stellen würde oder einen riesigen Engel oder… Seto hatte selbst nicht gewusst, mit was er gerechnet hatte, aber es war tatsächlich bis zum heutigen Tag nur bei diesen zwei Dingen geblieben. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken los zu werden und leinte Shadow an, um endlich aus dem Haus zu kommen, dass immer noch nach Nelken, Orange und Weihrauch roch. Wobei er sogar zugeben musste, dass der Orangeduft gar nicht so übel war. Wieder einmal fragte er sich, was sein Bruder an diesem Fest so toll fand. Immerhin war es eines der heuchlerischsten Tage des Jahres. Alle taten so, wie ach so lieb sie sich doch hatten und wünschten ihren Mitmenschen alles Gute und sprachen Komplimente aus, obwohl sie denen im Rest des Jahres nicht einmal mehr die Luft zum atmen gönnten. Wenn Weihnachten eines war, dann das Fest der großen heuchlerischen Liebe! Seto trat hinaus in die Kalte Luft des Tages und zog prompt den Kragen seines Mantels ein Stückchen höher. Ein kleines Atemwölkchen entwich seinen Lippen und er streifte sich noch schnell die Handschuhe über, ehe er mit Shadow seine Gassirunde durch den Park absolvierte. Die Tannengirlande an den Türsäulen ignorierte er dabei und schenkte dem nur einen abwertenden Blick. Dieses Grünzeug hatte es nur seinem Bruder zu verdanken, dass es dort noch hängen durfte. Doch davon wollte sich Seto nicht den Tag vermiesen lassen. Genauso wenig wollte er weiter über diesen Dekorationsquatsch nachdenken. Denn heute war einer der wenigen freien Tage, die er sich mal im Jahr gönnte und die er nicht in der Firma verbrachte oder in seinem Arbeitszimmer. Daher war es schon etwas Besonderes und da wollte er nicht über irgendwelche störenden Dinge nachdenken. Obwohl die Zusammensetzung Seto Kaiba und Entspannung so unterschiedlich wie Tomate und trockenes Toast waren. „Seto!“, rief Mokuba ihm nach. Seto hielt inne, während Shadow seine Nase in einen Schneehaufen grub. „Was denn?“, rief er zurück. „Du hast dein Adventssäckchen noch nicht geöffnet!“ Seto schüttelte den Kopf. „Später!“, war alles, was er seinem Bruder zurief, eher er leicht an der Leine zog und Shadow damit deutete aus dem Haufen zu kommen. Zielstrebig ging er mit dem Hund die Auffahrt lang und durch das große Tor. Während sie noch durch die Straßen liefen, hielt er den Hund näher bei sich. Man wusste ja immerhin nie, wer auf die Idee kam ihn einfach so zu streicheln oder ob nicht einer dieser verwöhnten Oma-Hunde auf ihn losgehen würde und dann gäbe es Krieg, dass sein Hund ja ach so gefährlich wäre. Etwas, worauf Seto absolut keine Lust hatte. Langsam bahnte er sich einen Weg durch den schmalen Weg, der freigeschaufelt war und ignorierte die anderen geschmückten Häuser, um sich herum. Ebenso das laute Kinderlachen aus einem der Gärten. Stumm ging er die Straße entlang, beobachtete, wie Shadow ungeduldig an der Leine zog und hier und da stehen blieb, um an ein paar Ecken zu schnuppern. Natürlich musste auch jeder Schneehaufen mitgenommen werden und am besten wurde das Herrchen direkt mit hinein gezogen, aber zum Glück konnte Kaiba seinen Hund grade so davon abhalten ihn in einen matschigen Schneeberg zu werfen. Sie gingen weiter und bogen an der nächsten Ecke ab. Der junge Firmenchef wusste genau zu welchem Park er wollte. Die Worte seines Bruders hallten in ihm nach und Seto war sich sicher, dass aus dem später nie werden würde und sein Gewissen versetzte im prompt darauf einen Stich, dass er diese niedliche Geste eines unschuldigen Kindes, seines Bruders, nicht so ignorieren durfte. Selbstverständlich hatte Seto den Kalender von Mokuba mit allerlei Süßkram befüllt. So untypisch das auch für ihn war und so gern er Roland die Arbeit aufgebrummt hätte, wusste er doch, dass es dem kleinen Wirbelwind, aus ihm unklaren Gründen, wichtig war, dass er es tat. Doch erstmal war der graue Labrador dran, der ausgeführt werden wollte und es war an der Zeit, dass Seto anfing diesen freien Tag zu genießen, ehe die Pflichten wieder auf ihn einbrachen und seine Gedanken einnahmen. Denn leider gab es in seinem Leben kaum einen Tag, an dem er nicht bis spät in die Nacht arbeitete und ein Termin den nächsten jagte. Nicht, dass es ihn störte so viel zu arbeiten. Immerhin leitete er einen internationalen Spielekonzern und da war es nun mal seine Pflicht als Chef so viel Energie und Zeit wie möglich in sein Lebenswerk zu stecken. Auch, wenn das hieß, dass er dafür seine private Zeit zurückstecken musste. Aber was war schon ein Jahr voller Termine in seinem Leben, die viele in seinem Alter für hirnlose Partys und Flatratesaufen vergeudeten, wenn er dafür ein gewisses Maß an Lebensstandard erreichte? Doch wäre da nicht sein kleiner Bruder, der ihn hin und wieder brauchte, würde er wohl gar nicht mehr aus der Firma kommen und direkt in der obersten Etage einziehen. Würde Mokuba also nicht hin und wieder darauf bestehen, dass er sich Zeit für sich nahm, würde er heute zum Beispiel auch keinen freien Tag haben und stattdessen im Büro sitzen und mit den Fingern auf der Laptoptastatur einhaken. Es war nicht so, dass der Begriff „Freizeit“ ein Fremdwort in seinem Wortschatz war oder er nichts mit seiner freien Zeit anzufangen wusste, als mit seinem Hund durch den Park zu gehen. Natürlich fielen ihm allerhand andere Dinge ein, die er heute noch machen konnte, wie zum Beispiel…. Ja, was? Seto musste überlegen und zog Shadow von einem Laternenpfahl fort, den er seit gefühlte fünf Minuten beschnupperte und sich scheinbar nicht entscheiden konnte ihn zu markieren oder nicht. „Komm schon“, sagte er leise und streng und der Hund löste sich widerwillig von dieser Fährte. Ja, was konnte er heute noch machen? Aber war das nicht egal? Er musste schließlich niemandem eine Rechtfertigung darüber abgeben, dass er grade nicht wusste, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Außerdem hieß das nicht, dass er vor lauter Arbeit nicht wusste, was er tun sollte, wenn er mal nichts zu tun hatte. „Bleib“, befahl er in einem kühlen Ton an der Straße und sein Hund blieb brav neben ihm stehen. Seto zog die Leine noch ein wenig näher zu sich und wartete bis das Auto an ihnen vorbei gefahren war. Erst dann ging er mit Shadow über die Straße. Er wollte einfach verhindern, dass der Hund ohne weiteres auf die Straße lief und vom nächstbesten Auto angefahren wurde. Außerdem hatte er keine Lust ungelenk nach vorne zu stolpern und durch die Gegend gezerrt zu werden. So unschuldig Shadow als grauer Labrador auch aussah, war die Kraft hinter seinen Muskeln nicht zu unterschätzen. Zum Glück war der Park nicht soweit entfernt, als dass er hätte mehrere Stunden durch die Kälte und den matschigen Eiswasser hätte laufen müssen. Im Gegenteil, er war nur ein paar Straßen von seinem zu Hause entfernt, so dass der Fußweg sogar ganz angenehm war. Shadow zog erneut an der Leine, um sich auf den nächsten Haufen zu stürzen, doch Seto zerrte ihn weiter. Es sah brutaler aus, als es war. Doch eine herunterrieselnde Schneeflocke von einem Ast brachte den Hund dazu wie wild in der Luft zu springen und danach zu schnappen. Heute hatte Shadow sich dazu entschlossen ihn zu blamieren. Konnte das sein? Aber zum Glück waren sie bald im Park angelangt, so dass er seinen Hund frei laufen lassen konnte und dieser herumtollen konnte. Seto kannte den Park und er wusste, wieso er ihn so schätzte. Er war abgelegen von der Stadtmitte und war eben im Villenviertel. Ein Grund, wieso nicht viele der normale verdienenden Leute dorthin gingen. Demnach waren dort kaum Besucher unterwegs. Erst recht keine penetranten Radfahrer, die ihn fast über den Haufen fuhren noch nervige, kleine Kinder, die sofort auf seinen Hund zuliefen und ihn betatschen wollten. Allein bei dem Gedanken verzog Seto das Gesicht und brummte missmutig. Wenn er außer dem Schnee und Weihnachtskitsch noch etwas nicht leiden konnte, dann waren es fremde Leute, die seinen Hund streichelten ohne seine Erlaubnis. Als der Park in Sicht kam, zog Shadow stärker an der Leine und Seto musste mehrfach stehen bleiben und ihn zur Ruhe rufen, ehe sie weiter gehen konnten. Kaiba konnte die Ungeduld des Tieres spüren und auch die Art, wie freudig Shadow mit dem Schwanz wedelte, zeigte ihm, dass er es kaum abwarten konnte. Also beschleunigte er seinen Schritt etwas, damit sein Hund endlich in den Park und frei loslaufen konnte. Shadow begann auch zu winseln und versuchte sich los zu reißen, damit er sich endlich bewegen konnte, sobald er mit ihm die ersten Schritte in den Park gemacht hatte. Aber so schnell kam sein Hund nicht frei und Seto führte ihn weiter an der Leine. Auch wenn sein Hund sein Ziel bereits vor Augen hatte, zog er ihn weiter den Weg entlang bis die Straße außer Hör- und Sichtweite war und sein Hund Gefahr lief, unbedacht vor ein Auto zu rennen. Seto blieb stehen. „Shadow, sitz!“, befahl er ihm und der Hund sah ihn kurz fragend an. „Lass mich schon gehen. Muss das jetzt sein?“, sagten seine treuen braunen Augen, doch zum Glück war er als Herrchen immun gegen diesen Blick. Nur scheinbar widerwillig fügte sich der Hund dem Befehl und Seto streich ihm kurz über das Fell zur Belohnung, ehe er die Leine löste und dem Labrador die gewünschte Freiheit verschaffte. Sein Hund blieb jedoch sitzen. Seto entwich ein Seufzen, was sich als Atemwölkchen sichtbar machte. Manchmal verstand er das Tier wirklich nicht. Wenn er gehorchen sollte, zerrte er und schien gar nicht schnell genug weglaufen zu können und wenn er los laufen konnte, blieb er sitzen. „Na los, lauf schon“, sagte er und nickte dem Hund zu. Erst zögerlich erhob sich Shadow und als er merkte, dass sein Herrchen keinen Widerspruch erhob, rannte er wie der Teufel los. Seto konnte kaum so schnell gucken, wie sein Hund sich im Schnee wälzte und freudig kläffte. Aber untätig rumstehen wollte er nicht. Also ging er gemächlichen Schrittes des Weg weiter entlang, während sein Hund in großen Bögen um ihn herum lief und immer wieder bellte. „Nicht kläffen“, brummte Kaiba und verdrehte über diesen übertriebenen Spieltrieb die Augen. So wie Shadow sich benahm, glich er mehr dem blonden Straßenköter als einem reinrassigen Zuchthund. Seto beobachtete ihn aus scharfen Augen. „Shadow, bleib stehen!“, rief er scharf, als sein Hund drohte aus seinem Blickwinkel zu verschwinden. Doch dieser Befehl stieß auf taube Ohren. „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“, knurrte er leise, „Shadow! Bei Fuß!“ Auch dieses Kommando ignorierte sein Hund und jagte weiterhin fröhlich die Flocken, die wieder vom Himmel fielen und sich auf die weiße Decke legten. Seto beschleunigte seinen Schritt, um seinen Hund halbwegs einzuholen und hörte einen jähen Aufschrei einer Frau. „Shadow“, brummte er und lief zu der Stelle von wo der Schrei zu hören gewesen war. In seinem Kopf spielten sich mehrere Horrorszenarien ab. Eine junge Frau, die Shadow angefallen hatte und wie sie verletzt am Boden lag, wobei er das seinem Hund kaum zutraute. Eine junge Frau, die an einer Hundephobie litt oder sogar eine schlimme Allergie gegen Hunde hatte und drohte an Atemnot zu ersticken. Eine Frau mit einem Kind, das jetzt schluchzend in ihren Armen hing. Eine Frau, die in den Ententeich gefallen war vor Schreck und drohte zu ertrinken. Seto hörte seinen Hund bellen und beeilte sich weiter. Schnell bog er um die Ecke und lief zu dem großen Teich, der durch die Temperaturen gefroren war. Egal, welches Szenario ihm durch den Kopf ging, am Ende hatte er den schwarzen Peter. Doch als er am Rande des Teiches angekommen, sah er Shadow, aber keine Frau. Panik stieg in ihm auf. „Shadow!“, rief er laut und sein Hund sah auf, doch zu ihm kommen, wollte er nicht. Stattdessen schien etwas Interessantes auf dem Boden zu sein, was er schwanzwedelnd beschnupperte, ankläffte und sogar ableckte. Doch wo war die Frau? Suchend sah er sich um und hörte im nächsten Moment ein mechanisches Klicken, gefolgt von einem Kichern. Der junge Firmenchef trat näher heran und konnte es kaum fassen, was ihm sich bot. Sein sonst so gehorsamer Hund hatte eine junge Frau umgeworfen. Diese lag nun im Schnee, hielt ihre Kamera fest umklammert und kicherte, wenn Shadow ihr kleine Schneebrocken aus dem Gesicht leckte. Sie schob seinen Hund immer wieder leicht von sich und versuchte aufzustehen, doch aufgrund der Tatsache, dass er seine Vorderpfoten auf ihre Brust abgestützte hatte, verhinderte er, dass sie flüchten konnte. So wie sein Hund da stand, schien er auch nicht so schnell zu ihm kommen zu wollen. „Kommst du her!“, rief er nachdrücklich und sein Tonfall gewann an Schärfe. Shadow schaute kurz der Frau, klaute sich noch einen weiteren Schneeklumpen aus ihren blonden Haaren und rannte zu ihm. Als wäre er die Unschuld vom Lande saß er vor ihm, hechelte und schaute ihn aus treuen Augen an. Aber so nicht! Streng und mit einem kalten Blick bedachte er den Labrador und dieser schien zu merken, dass er einen Fehler begangen hatte. Die Rute hörte auf freudig zu wedeln und der Blick wurde demütig. Seto packte das Halsband und nahm ihn wieder an die Leine. Erst dann wandte er sich der Fremden zu und reichte ihr die Hand, um ihr auf zu helfen. Keuchend erhob sie sich. „Danke“, brachte sie hervor und klopfte sich sofort den Schnee von ihrem roten Mantel und den schwarzen Schal. Ihre blonden Haare waren nass geworden und feine Schneeflocken begannen darin zu schmelzen. Eine landete direkt auf ihrer Nase. Stumm nickte Seto und beobachtete, wie sich immer mehr Flocken in ihren Haaren sammelten. „Ist das Ihr Hund?“, fragte sie und deutete auf den Labrador. Natürlich war es seiner. Warum sonst sollte er mit einer Leine durch die Gegend spazieren? Aber auch diesmal nickte er nur. „Ein schönes Tier, aber auch schwer“, fuhr sie fort und lächelte dem Tier zu, als wäre das alles nur halb so schlimm gewesen. Sie klopfte sich den Schnee von ihrem Po und nahm die herunter gefallene Tasche wieder an sich. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er und sah dabei auf die teuer aussehende Kamera. Seto wusste schon, wenn damit etwas passiert war, würde er für den Schaden aufkommen müssen. Was stand sie auch dumm in der Gegend herum? Wahrscheinlich hatte sie nur irgendwelchen halb aufgetauten Schnee fotografiert oder den Matsch am Ufer des Sees! Wenn die junge Frau vor ihm aber doch zu einen der Journalisten zählte, die er so hasste, dann konnte er schon die Schlagzeile der „Zeitenschau“ sehen. Eine Zeitung, die aus jedem noch so kleinen Dilemma einen Elefanten baute. Schlimmer wäre noch, wenn sie sogar für diese Zeitung arbeitete. Ob er sie fragen sollte? Oder war sie vielleicht gar nicht zufällig mit ihrer Kamera hier, sondern hatte ihn heimlich beobachtet und war ihm von zu Hause aus hierhin gefolgt und Shadow hatte sie aufgespürt? Musste er dieser gehörlosen Tomate am Ende sogar noch dankbar sein? „Mir geht es gut“, sagte sie mit einer fröhlichen und gut gelaunten Stimme. Sie bückte sich und sammelte ihr schwarzes Strickcappi auf. Schnell klopfte sie auch dieses von Schnee frei und setzte es sich wieder auf. „Was ist mit Ihrer Kamera?“, fragte er und nickte zu dem Gerät, das sie um den Hals trug. „Alles ok“, sagte sie mit einem Lächeln. Warum lächelte sie so? Sein Hund hatte sie grade umgeworfen und es gab keinen Grund darüber froh gestimmt zu sein. Doch ihre Laune war ausgelassen und steckte eigentlich nur dazu an mit zulachen und gut gelaunt zu sein. Diese Frau war eine reine Frohnatur. Oder lag an den bevorstehenden Feiertagen? Denn diese Laune erinnerte ihn ganz verdächtig an Mokubas Vorfeiertagsstimmung. „Sicher?“, hakte er nach. „Ja, alles in Ordnung. Es ist nichts kaputt gegangen.“ Seto nickte und griff gekonnt in seine Manteltasche und zog eine Visitenkarte heraus. „Falls doch etwas sein sollte, schicken Sie die Rechnung und ihre Versicherungsdaten an meine Firma. Oder sollten sie sich doch bei dem Sturz verletzt haben. Alles weitere macht dann die Buchhaltung.“ Etwas verwirrt nahm sie ihm die Visitenkarte ab und steckte sie ein. Niemand sollte sagen, er würde nicht dazu stehen, wenn sein Hund Schaden anrichtete. „Warum sind Sie so gut drauf?“, fragte er plötzlich. Eigentlich war Seto kein Mensch, der Small Talk hielt, dennoch interessierte es ihn, wieso sie nicht sauer wurde, sondern ihre Stimmung scheinbar richtig nach oben ging. Sie lachte hell auf. Hatte er etwas falsches gesagt? „Ihr Hund hat mir ein wunderbares Motiv geboten“, erklärte sie, „Es sind wunderbare Motive geworden. Wunderschön!“ Da war also der Grund für ihre gute Laune. Sein Hund hatte ihr also das Motiv gerettet. Shadow kläffte kurz auf, als wäre er selbst sehr stolz auf sich für diese Leistung. Doch der mahnende Blick seines Herrchens, ließ ihn direkt wieder verstummen. „Darf ich ihn mal streicheln?“, fragte sie und deutete auf Shadow. Kaiba nickte und sofort kniete sie sich zu dem Labrador nieder. Dieser legte ihr treuherzig eine Pfote aufs Knie ab und ließ sich nur bereitwillig von ihr streicheln, als würde Mokuba ihn nicht täglich durchknuddeln. „Möchten Sie die Fotos von Ihrem Hund haben? Ich kann Sie ihnen fertig machen und gern auch als Weihnachtskarte“, sagte sie und sah von unten zu ihm herauf. „Oh…ich hab mich gar nicht vorgestellt“, sagte sie erschrocken und stand schnell auf, eher er ihr eine Antwort geben konnte. „Ich bin Naomie Kuzuki.“ Sie reichte ihm die Hand und nur aus Höflichkeit schüttelte er sie kurz. Seto hielt es nicht nötig sich vorzustellen. Wenn sie einen Blick auf die Visitenkarte warf, würde sie seinen Namen von alleine sehen, außerdem war er durch die Medien eh bekannt wie ein bunter Hund. Doch der eigentliche Grund war, dass er keinen Sinn darin sah, sich einer fremden Person gegenüber vorzustellen, die er nie wieder sehen würde. Selbst wenn noch etwas kommen würde, wegen seines Hundes, was er bezweifelte, da sie selbst sagte, alles sei ok, würden seine Rechts- und Buchhaltungsabteilung sich damit befassen und nicht er. Sie würde also nur eine von vielen Menschen in seinem Leben sein und da sie auch nicht vorhatten zukünftig miteinander ein Geschäft abzuwickeln, brauchte er sich auch nicht ihren Namen merken. Aus ihrer Kameratasche zog sie ein silbernes Etui hervor und öffnete es. Darin lagen ein paar Visitenkarten und ehe Kaiba es sich versah, hatte sie ihm eine in die Hand gedrückt. Ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, schob er sie in seine Manteltasche. „Ich brauche keine Fotos von meinem Hund. Danke“, sagte er kurz angebunden, „Ebenso wenig brauche ich Weihnachtskarten davon.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann nicht.“ Der kalte und ablehnende Tonfall schien dieser Kuzuki, wenn das überhaupt ihr richtiger Name war, nicht im geringsten etwas aus zu machen. Andere waren schon längst kleinlaut zusammen gezuckt und suchten das Weite. Die blonde junge Frau ihm gegenüber allerdings nicht. Wie selbstverständlich stand sie vor ihm, richtete ihre Kamera wieder her und putzte die Linse. Bereit die nächsten Fotos zu machen. „Wir müssen gehen“, sagte er und zog Shadow an der Leine. Der Hund bellte auf, als wollte er sich verabschieden und Kuzuki verstand den Wink, streichelte ihn zum Abschied. „War mir ein Vergnügen Sie kennen zu lernen. Einen schönen Tag noch“, sagte sie freudestrahlend und sah sich nach dem nächsten Motiv um. Seto brummte nur und drehte sich ebenfalls um. Sein Hund folgte ihm. Scheinbar hatte Shadow seine Manieren im Schnee wieder gefunden, denn weder zog er an der Leine, noch versuchte er sich mit gefrorenem Wasser einzusauen noch danach zu schnappen, trotz der Tatsache, dass der Schneefall immer dichter geworden war und ihre Spuren vom Hinweg schon fast überdeckt hatten. Kaiba drehte sich noch mal kurz um und sie schaute zu ihnen herüber. Ihre Mütze und Schultern waren mit Schnee bedeckt und wäre da nicht der rote Mantel gewesen, hätte er sie vielleicht kaum noch erkennen können. Als sie seinen Blick bemerkte, winkte sie und missmutig wandte er sich ab, schob die freie Hand in die Manteltasche, um sie zu wärmen. Doch seine Finger umfassten ein Stück Papier. Seto blieb stehen. Es war ihre Visitenkarte. Das Logo vom Studio „Dreamland“ bildete die Überschrift. Darunter war ihr Name zu lesen mit dem sie sich auch vorgestellt hatte, dann folgte Anschrift, Telefon, Mail und Öffnungszeiten des Fotostudios. Sie war also Portraitfotografin. Doch das war nicht das Einzige, was sie ihm hatte zukommen lassen. Hinter der Visitenkarte steckte eine zweite Karte. Diese war von diesjährigen Weihnachtsmarkt, wo das Studio einen Stand bezog für Fotoschlüsselanhänger, Schneekugeln, Fotoketten und was es nicht alles gab. Bei Vorlage dieser Karte gab es 15% Rabatt. So konnte man auch Werbung machen. Er schob beides wieder in seinen Mantel und lief weiter, ehe die dicken Flocken noch größer und kräftiger wurden und er gar nicht mehr mit seinem Hund nach Hause fand. Dieser war schon nicht mehr grau, sondern fast weiß. War es eigentlich schon die ganze Zeit so kalt oder kam es ihm nur so vor, dass die Temperatur sank? Seto zog die Schultern etwas höher und richtete den Schal, ehe er nach Hause ging. Das Papier konnte er weiterhin an seinen Fingern spüren und erinnerte ihn an die junge Frau Fotografin und daran, dass er einen Rabattgutschein für einen Weihnachtsmarktstand in der Tasche hatte. Ein gefundenes Fressen für Mokuba ihn dann auch auf eben diesen zu Schleifen. „Als ob ich jemals dahin gehe…“, murmelte der junge Firmenchef schlecht gelaunt und stampfte weiter durch den Schnee, der unter seinen Füßen knirschte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)