Dunkle Liebe von Raili (Das Mädchen, das der Nacht verfiel) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Meine Mutter erzählte mir oft von der Zeit, in der die Menschen noch glaubten, dass Wesen nur in Geschichten existierten. Man traf sie in Büchern, Filmen und Fernsehserien, auf Musical-, Opern-, und Theater-Bühnen, in Comics und Mangas, Video- und Computerspielen, aber niemals im realen Leben. Doch das änderte sich, als meine Mutter 19 Jahre alt war und ihr Abitur machte. Die Regierungen aller Länder wussten schon lange von der Existenz der Wesen, aber hielten sie über Jahrhunderte hinweg geheim. Doch irgendwann mussten sie der Forderung der Wesen, in die menschliche Gesellschaft integriert zu werden, nachgeben. Natürlich konnte ein Großteil der menschlichen Bevölkerung dies zunächst nicht glauben, es wurde von den meisten für einen Scherz gehalten, bis sie die Beweise sahen und die öffentlichen Reden der Politiker und Wissenschaftler alle Zweifel zerstreut hatten. Es gab - und gibt immer noch - Gruppen von Menschen, die sich für die Wesen einsetzten, für ihre Rechte und ihre Akzeptanz kämpften, andere wiederum wollten, dass die Wesen eingesperrt und vernichtet werden. Auch diese bildeten Organisationen, menschenfreundliche, sowie menschenfeindliche. Meine Mutter gehörte keiner dieser Gruppen an, aber sie traute den Wesen nicht und mied sie, was viele Menschen damals taten. Das Zusammenleben mit den Wesen gestaltete sich auch schwieriger als erwartet: Vampire waren nachtaktiv und konnten nur für eine bestimmte Zeitspanne ins Sonnenlicht, Zentauren und Faunen war es nicht möglich in Städten zu leben, Hexen und Zauberern wurden aufgrund ihrer magischen Fähigkeiten misstraut, Werwölfe lebten größtenteils in ihren Rudeln und Meerjungfrauen und Nixen konnten nur im Wasser überleben. Die einzigen wirklich anpassungsfähigen Wesen, waren die Elben, auch wenn sie als distanziert und arrogant galten. Die Wesen lebten über die Kontinente verteilt, Werwölfe waren hauptsächlich in Nordamerika anzutreffen, die Elben hatten sich größtenteils in Frankreich, Großbritannien, Island und Norwegen niedergelassen, die Zentauren und Faune hatten sich in die dicht bewaldeten Gebiete Russlands zurückgezogen und die Vampire lebten in Osteuropäischen Ländern und Skandinavien. Hexen und Zauberer gab es in jedem Land, Meerjungfrauen lebten in den Ozeanen und Nixen in tiefen Seen. Jede Spezies von ihnen hatte so etwas, wie ihre eigene Regierung. Über die Elben herrschte König Seosaidh II. of Dubhghlas, mit Hauptsitz in Douglas/Schottland, die Zentauren und Faune hatten jeweils ihre beiden Ältesten, die Werwölfe eine Demokratie mit Sitz in Juneau/Alaska, genau wie Hexen und Zauberer, deren Regierungsgebäude in Kapstadt/Südafrika lag, die Meerjungfrauen und Nixen hatten jeweils einen Rat der Weisen, und die Vampire einen Rat der Herrscher in Bukarest/Rumänien, der fast nur aus den ältesten ihrer Art bestand. Innerhalb dieses Rates, gab es auch wieder verschiedene Ränge, an der Spitze stand der höchste aller Herrscher. Das alles musste ich in der Schule lernen. Und obwohl ich so viel über sie wusste, hatte ich in meinen bis dahin 23 Lebensjahren nur so wenig Kontakt zu Wesen gehabt, wie möglich. Doch das sollte sich an einem kalten Wintertag ändern. Das kalte Licht der Neonröhre über meinem Kopf flackerte bedrohlich. Ich sah nach oben, an die weiße, schmutzige Decke. Bald würde sie den Geist ganz aufgeben. Aber es wäre unwahrscheinlich, dass Herr Vihelä sie in nächster Zeit austauschen würde. Ich seufzte und widmete mich wieder meinen Milchtüten. Obwohl es draußen eiskalt war, war es hier im Supermarkt unerträglich heiß. Meine rot-braunen Haare, die ich zu einem lockeren Zopf zurückgebunden hatte, klebten mir im Nacken und ich schwitzte unter dem Sweatshirt und dem dicken Kittel. Plötzlich wurde mir etwas kaltes an den Hals gedrückt. „Hast du heute Abend schon etwas vor, Raili?“, fragte mich meine Freundin und Kollegin Jaana und hielt grinsend einen Joghurt-Becher in der Hand. In gespielter Entrüstung drückte ich meine Handfläche an die Stelle und wandte ihr den Rücken zu. „Jetzt schon“, sagte ich und zwinkerte ihr zu. Sie zog einen Schmollmund und brachte mich zum lachen. „Ja, eigentlich wollte ich mir einen ruhigen Abend mit Colin Firth und Jennifer Ehle in Pride and Prejudice machen.“ Sie sah mich kopfschüttelnd an, während sie die Regale mit Käse füllte. „Ich verstehe nicht, was du an diesen alten Filmen findest. Die neuen sind doch viel cooler.“ „Es ist eine Serie“, erwiderte ich, „und sie ist von 1995. Da hab ich noch ältere. Außerdem schaue ich mir neue Filme an, aber ihnen fehlt dieser gewisse... Charme, verstehst du?“ Sie schnaubte. „Nein. Was hältst du davon, wenn du die alten Knacker in ihrer DVD-Hülle lässt und mit mir tanzen gehst?“ Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und kniff die Augen vor Übelkeit zusammen. „Mir geht es nicht so gut, ich glaub ich werde krank.“ Besorgt sah Jaana mich an. „Dann solltest du lieber nach Hause gehen.“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Wir haben nur noch eine halbe Stunde, das schaff ich schon.“ Wir arbeiteten schweigend weiter, bis wir zur Süßigkeiten-Abteilung kamen. „Was ist eigentlich aus diesem Tammo geworden, den du neulich kennengelernt hast?“, fragte Jaana mit gesenkter Stimme. „Wir hatten gestern Abend ein Date.“ Sie sah mich schmunzelnd an: „Und wie ist es gelaufen?“ Ich verzog den Mund, als ich daran dachte. „Nachher, okay? Herr Vihelä macht gerade seinen Rundgang.“ Lauri Vihelä, ein kleiner Mann in den mittleren Jahren und Leiter dieses Supermarktes war, wie Jaana und ich ein Mensch. Ich hatte hier nur menschliche Kollegen. „Weißt du eigentlich“, raunte mir Jaana zu, „dass Vihelä schon wieder einen Mitarbeiter gefeuert hat. Diese mal hat es Antti erwischt.“ Seit dem ein großes Kaufhaus die Straße runter eröffnet hatte, machte Easy Take immer weniger Gewinn. Vor einem Monat war Mari entlassen worden, jetzt Antti. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, würde ich die nächste sein, die ihren Job verlieren wird. Eine Gruppe Jugendlicher kam herein und brachten ein Schwall eisiger Luft mit sich. Sie steuerten zielstrebig die Süßwaren-Abteilung an, die wir immer noch auffüllten. Sie bewegten sich geschmeidig und schnell und ihre Haare waren alle braun. Ein Mädchen mit hellbraunen Haaren lachte über etwas, was einer der Jungen gesagt hatte und drehte sich so zu mir, dass ich das Halbmond-Abzeichen auf ihrem Mantel erkennen konnte. Werwölfe. Ein Schauer jagte mir über den Rücken und mein Herz pochte. Meine Kehle war staubtrocken. Jaana bemerkte meine Anspannung und drückte meine Hand. Ich versuchte mich auf die Keks-Packungen zu konzentrieren, doch dann stand stand einer der Jungen plötzlich neben mir und betrachtete die verschiedenen Cookie-Sorten. „Was wollt ihr?“, rief er seinen Freunden zu und nahm sich ohne ihre Antwort abzuwarten eine Packung. Ich konnte seine Nähe kaum noch aushalten. Endlich gingen sie weiter und ich atmete tief durch. Alle Werwölfe mussten in einem Institut leben, das in Vollmondnächten absolut ausbruchsicher war. Dort gab es auch eine separate Schule, in der die Werwolf-Kinder neben gewöhnlichen Dingen, wie lesen, rechnen und schreiben, lernten ihre Fähigkeiten einzusetzen und zu kontrollieren. In Finnland gab es nur zwei solcher Einrichtungen, eine hier in Seinäjoki und das andere in Helsinki. Für den Rest meiner Schicht tauchten keine weiteren Wesen auf, worüber ich froh war, aber dafür erwartete mich Jaana auf dem dunklen, verschneiten Parkplatz. Sie hat sich ihren Mantelkragen so weit hochgeschlagen, wie es nur möglich war und ihre, meiner Meinung nach, scheußlich orangene Mütze tief in Gesicht gezogen.. „Wie fühlst du dich? Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte sie und legte mir sanft einen Arm um die Schulter. „Danke, es geht schon. Ein bisschen frische Luft wird mir gut tun.“ Außerdem stinkt dein Auto nach Zigarettenqualm. Sie umarmte mich und wünschte mir Gute Besserung. „Ruf mich an, wenn du zuhause bist, Süße. Und dann erzähl mir von deinem Date!“ Sie winkte mir zum Abschied zu, dann stieg sie in ihre alte, rote Rostlaube und fuhr davon. Das fahle Licht der Straßenlaternen, bot nur eine spärliche Beleuchtung, als ich durch die Pampe aus Schnee und Schlamm stapfte. Niemand außer mir war unterwegs. Ich mochte diese ausgestorbenen Straßen nicht. Besonders nicht, wenn es dunkel war. Plötzlich hörte ich, wie jemand hinter mir ging. Mein Herz schlug schneller und ich beschleunigte meine Schritte. „He! Raili!“ Diese Stimme, kam mir bekannt vor. Ich drehte mich um. „Tammo?“ Mein Date von gestern. Das nach nur einer Stunde besoffen gewesen war. Auch jetzt wirkte er nicht besonders sicher auf seinen Beinen. „H-hey, Raili“; lallte er und umarmte mich unbeholfen. „Mein Gott, du hast wohl wieder zu viel getrunken“, sagte ich und versuchte mich aus seiner Umklammerung zu befreien. „Warum b-bist du den gestern so schnell a-abgehauen, Kleine?“ „Weil du betrunken warst!“ Noch immer hielt er mich fest und obwohl seine Gehirnzellen bestimmt schon einigen Schaden davongetragen hatten, schien es seinen Muskeln prächtig zu gehen. Und er war sehr muskulös. „Weißt du eigentlich, wie scharf du mich machst?“, keuchte er mir mit seinem alkoholgeschwängerten Atem ins Ohr. Ich rümpfte angewidert die Nase. „Lass mich los, Tammo und geh nach Hause. Du brauchst Schlaf und Aspirin.“ Ich war erstaunt darüber, wie ruhig ich klang, dabei hatte ich furchtbare Angst. „Und wenn ich nicht allein schlafen will?“ Ehe ich mich versah, zerrte er mich in eine schmale Seitengasse und presste mich gegen eine harte Steinmauer. „Was tust du da?“, kreischte ich panisch und versuchte mich zu wehren, doch er hielt meine Hände schraubstockartig umklammert über meinen Kopf und lächelte verklärt. Ihm war vielleicht gar nicht bewusst, was er hier tat. Ich kniff meine Augen zusammen. Plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen, feucht, so als wollte er mich verschlingen. Ich fing an zu weinen. Wenn doch nur irgendjemand mir helfen könnte. Er drückte mich so fest an die Wand, das es wehtat und meine Fingerspitzen fingen an zu kribbeln. „Lassen Sie die Frau los!“, sagte eine Männerstimme. Blitzschnell schossen unsere Köpfe in seine Richtung. Er war nicht genau zu erkennen, doch eine Woge der Erleichterung überkam mich. Ich war gerettet. „Was willst du? Du siehst doch, dass wir uns gerade vergnügen“, rief Tammo mit einem aggressiven Unterton und verstärkte seinen Griff. „Für mich sieht das aber nicht so aus.“ Der Man trat in das Licht der Laterne. Er war groß, sogar noch größer als Tammo, mit dunklen Haaren, wie in Marmor gemeißelten, scharfen Gesichtszüge und roten Augen. Ein Vampir. Von allen Wesen machten sie mir am meisten Angst, aber jetzt war mir egal was er war. Tammo ließ mich endlich los und baute sich vor dem Vampir auf, obwohl dieser ihn um einen Kopf überragte. „Suchst du Streit, Blutsauger?“ Der Ausdruck, der sich auf das Gesicht des Vampirs legte, ließ mich schaudern. Auch Tammo schien in sich zusammenzusinken. „Verschwinde“, knurrte das Wesen. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Ohne zu zögern jagte er davon. Meine Beine sackten zusammen und ich sank in den Schnee. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen und bildeten ein starken Kontrast zu der Kälte, die sich in mir ausbreitete. „Sind Sie verletzt?“ Der Vampir kam auf mich zu und ich richtete mich hastig auf. Er sah mich besorgt an. Ich war nicht in der Lage zu sprechen, also schüttelte ich nur den Kopf. Meine Knie fühlten sich wie Pudding an und meine Handgelenke pochten schmerzhaft. Doch das Schlimmste war sich so besudelt, so schmutzig zu fühlen. Ich schluchzte. „Er ist weg, keine Sorge.“ Vorsichtig berührte er mich an der Schulter. Ich zuckte zurück. „Verzeihung“, murmelte er. Ich senkte meinen Blick, konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie machten mir Angst. „Ich sollte Sie zur Polizei bringen.“ „Nein, das ist nicht nötigt“, wehrte ich ab, „ Sie sind zum Glück noch rechtzeitig gekommen. Danke.“ Ich stockte. Sein Blick wanderte über mein verweintes Gesicht bis zu meinen geröteten Handgelenken. Meine Haut begann unter seinen glühenden Augen zu kribbeln. „Sie sollten wirklich...“ „Bitte … Ich … ich will es einfach nur vergessen“, unterbrach ich ihn. Er seufzte. „Dann lassen Sie mich Sie wenigstens nach Hause begleiten.“ Ich stimme dankend zu. Allein würde ich es nicht schaffen, zumal die Übelkeit und die Hitze wieder zurückkehrten. „Sie sehen krank aus“, bemerkte er nach einigen Minuten drückender Stille. „Es ist bestimmt nur eine Erkältung.“ Wir verfielen wieder in Schweigen. Ich musterte ihn verstohlen aus den Augenwinkeln. Er trug einen eleganten, schwarzen Mantel mit hohem Kragen und dunkle Lederhandschuhe. Alles an ihm wirkte vornehm, sein Gang, seine Bewegungen, sein Gesicht. Als ob ihn die Tatsache, dass er ein Vampir war, nicht schon genug einschüchternd machte. Aber er hatte mich gerettet. Das brachte mich aus dem Konzept. Meine Mutter hatte mich immer davor gewarnt, Vertrauen zu den Wesen zu fassen und ich habe immer daran geglaubt. Doch nun hatte mich ein Mensch angegriffen und ein Vampir mir geholfen. Endlich erreichten wir meinen Wohnblock. „Überlegen Sie sich bitte, ob Sie wirklich auf eine Anzeige verzichten wollen.“ Er stand, die Hände in den Taschen, vor mir und blickte mich mit seinen roten Augen eindringlich an. „Ich brauch ein bisschen Zeit, um damit fertig zu werden“, sagte ich leise. Er reichte mir einen Zettel. „Rufen Sie mich an, falls er Sie noch einmal belästigen sollte. Und... sprechen Sie mit jemanden darüber.“ Ich nickte. „Danke für alles. Ich kann ihnen gar nicht genug danken.“ Er neigte leicht seinen Kopf und verabschiedete sich. Kaum, dass er sich umgedreht hatte, schloss ich rasch die Haustür auf und schlug sie sofort hinter mir zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete ich nach oben in den dritten Stock und wiederholte den Vorgang bei meiner Wohnungstür. Ohne meine Sachen abzulegen, schmiss ich mich auf das alte, braune Sofa und fing wieder an zu weinen. Ich war sauer auf mich, weil ich so schwach war, auf Tammo, weil er ein riesen Arschloch war und auf den Vampir, weil er was? Weil er mir geholfen hatte? Weil er nett war? Obwohl er ein Wesen ist? Ich setzte mich auf und wischte mir über das nasse Gesicht. Ich kannte noch nicht einmal seinen Namen. Da fiel mir der Zettel ein. Vielleicht stand dort sein Name. Aufgeregt kramte ich ihn hervor und faltete ihn auseinander. Dort stand nur eine Handy-Nummer. Kein Name. Überrascht über meine Enttäuschung, zog ich langsam meine Jacke und meine Schuhe aus und ging zum Fenster. Es schneite wieder. Ich begann einen Vampir zu akzeptieren, eine Sache die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich schloss meine Augen. Fühlte wieder, wie Tammo mich küsste. Nein, küssen war etwas angenehmes, das, was er gemacht hatte, war einfach nur schrecklich. Ich musste raus aus diesen Sachen, am liebsten raus aus meiner Haut. Nachdem ich eine Stunde lang geduscht hatte, fühlte ich mich immer noch dreckig. In meinem, kuscheligen und total unsexien Schlafanzug legte ich mich aufs Bett. Ich hatte keine Kraft mehr, um Jaana anzurufen, ich wollte nur noch schlafen. Während mein Kopf voll von ruhigen, roten Augen waren, die mich beschützten, entspannte ich mich allmählich und verlor mich in der Welt der Träume. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)