Sieben Tage von Flordelis (Custos Mortis reminiscentia) ================================================================================ 2. – Tag I: Isolation --------------------- Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Bestimmt nicht, dass ganz Cherrygrove tagelang um ihn trauerte, dass die Kirschblüten sich weiß färbten oder dass eine der Personen, die ihn gekannt hatte, immer noch weinend zusammenbrach, wenn sie an ihn dachte. Das alles hatte er nicht erwartet – und doch war er enttäuscht. Das Leben in Cherrygrove ging seinen gewöhnlichen Gang. Man traf sich auf der Straße und unterhielt sich lachend miteinander, nur freute man sich gerade nicht darüber, dass Landis und Nolan nichts anstellten. Sobald das Thema auf die beiden kam, wurden die Gesichter für einen Moment ernst und verschlossen, bevor einer der Gesprächspartner rasch, mit einem falschen Lachen, wieder das Thema wechselte. Frau Foster, die einen kleinen Bauernhof betrieb, auf dem Kieran oft ausgeholfen hatte, um Geld zu verdienen, scheuchte inzwischen eine neue Aushilfe umher, einen jungen Mann, den Kieran nicht kannte, der ihn aber auch nicht weiter interessierte. Joshua und Faren gingen ungetrübt ihrer Arbeit nach, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Als Jugendliche mochten sie einmal Freunde gewesen sein, aber in den letzten Jahren waren sie sich immer fremder geworden, nicht zuletzt, weil Kieran es bevorzugt hatte, sich von anderen fernzuhalten. Er war der Überzeugung gewesen, wie so viele Lazari, dass andere Menschen die Verzweiflung nur vorantreiben würden, dass man als Lazarus irgendwann gar nicht anders könnte, als nachzugeben und zu einem Dämon zu werden, wenn man sich mit Leuten umgab, die den eigenen Schmerz nicht verstehen konnten. Kieran bereute nicht, es getan zu haben. Er war sogar froh darum. Es lag nicht daran, dass er Joshua und Faren nicht gemocht hatte, sondern weil er glaubte, den beiden damit zumindest die Trauer um seinen Tod erspart zu haben. Auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass es nicht zu seinem Wunsch passte, dass irgendetwas doch verändert sein musste, da er nun fort war. Vielleicht hatte er auch noch nicht lange genug beobachtet. Aber eigentlich wollte er das auch gar nicht, er wusste nur nicht, was er sonst tun sollte. Also saß er auf dem Ast eines Kirschbaums, unweit von Allegras Haus, den Rücken gegen den Stamm gelehnt und beobachtete das alltägliche Treiben in Cherrygrove, das keinerlei Notiz von seinem Tod zu nehmen schien und ihm damit vor Augen führte, wie ersetzbar er in dieser Gesellschaft gewesen war. Die Lazari hatten ihn nicht einmal gehen lassen wollen, hatten ihn Jahr um Jahr angefleht, wieder zu ihnen zurückzukommen, aber unter den Menschen war er nur einer von vielen, ein Tod, der keine weitreichende Bedeutung hatte, den man einfach vergessen und dann weiterleben konnte. Für einen Moment fragte er sich, warum er einem von ihnen überhaupt noch helfen sollte. Er sollte zulassen, dass Dämonen Nolan verschlangen und dann sollten die Menschen selbst zusehen, wie sie nun zurechtkommen würden. Ohne jemanden, der ihnen beständig die Kastanien aus dem Feuer holte. In Gedanken schalt er sich selbst für diese furchtbaren Überlegungen, die er da anstellte. Es sollte ihm vollkommen gleichgültig sein, wer um ihn trauerte und warum, stattdessen sollte er sich lieber auf die Suche nach dem Dämon machen und nach der Person, die ihn sehen könnte. Aber es gelang ihm einfach nicht, die erforderliche Kraft dazu aufzubringen. Sein Ehrgeiz und sein Ziel schienen mit der Erkenntnis, dass er wirklich tot war, verschwunden zu sein und weigerten sich, zu ihm zurückzukommen. Nach Teyra und Aria, den beiden überirdischen Wesen, die in Cherrygrove hausten, hatte er erst gar nicht gesucht. Hier, ganz allein in der Baumkrone, gefiel es ihm wesentlich besser, als unter irgendwelchen Menschen, die ihn nicht sehen konnten oder in Begleitung zweier Wesen, die wie kleine Mädchen anmuteten. Am Liebsten wäre er einfach verschwunden, endgültig ins Jenseits, Hauptsache er hätte hier nicht beobachten müssen, wie alle einfach so weiterlebten. Die Stimme eines Mädchens lenkte seine Aufmerksamkeit auf diese. Als er den Kopf wandte, entdeckte er Oriana, die Tochter von Joshua und Bellinda. Mit einem genervten Seufzen strich sie sich durch das lange schwarze Haar und schüttelte dann den Kopf. „Oh Lan … ich habe dir gesagt, dass ich heute etwas mit Frediano unternehme.“ Ihr gegenüber stand tatsächlich Landis, eine Hand in die Hüfte gestützt, während er die andere einfach hängen ließ. Er blickte ein wenig leidend, weswegen Kieran nicht sofort vom Baum herabsprang, um ihn anzugreifen – außerdem konnte er keinerlei Dämon in Landis spüren. Der Junge war vollkommen er selbst, es gab keinen Grund, einzugreifen. „Ich werde Fredi auch nichts tun“, sagte er, fast schon flehend, „ und auch nichts sagen. Ich will doch nur ein wenig bei dir sein.“ Doch Oriana blieb unerbittlich, selbst der bittende Blick seiner grünen Augen wirkte nicht auf sie. „Warum gehst du nicht lieber zu Nolan? Er kann dich viel mehr brauchen.“ Zwischen ihren Worten glaubte Kieran, etwas heraushören zu können, etwas, das sie niemals aussprechen würde, aber er war zu unerfahren im Umgang mit Menschen und zu unkonzentriert im Moment, um wirklich sagen zu können, worum es sich dabei handelte. Ein wenig frustriert, so schien es, trat Landis in den Staub. „No möchte seine Ruhe. Er meinte, er will ein wenig allein sein, um nachzudenken. Uuuund seltsamerweise schließt mich das diesmal auch mit ein.“ Er seufzte laut auf. Kieran verstand, dass ihn das deprimierte. Wenn Nolan normalerweise von allein sprach, war Landis damit nie gemeint gewesen. Sein bester Freund schien für ihn quasi einfach nur eine Erweiterung seines eigenen Körpers gewesen und hatte immer bei ihm sein dürfen. Es war so schlimm gewesen, dass Kieran und Richard irgendwann sogar erlaubt hatten, dass die beiden auch zusammen den Hausarrest absitzen durften. Dass Nolan aber gerade jetzt wirklich allein sein wollte, musste Landis natürlich treffen und sorgte dafür, dass Kieran sich fragte, was Nolan wohl in jener Nacht beobachten konnte. Wusste er, dass Landis im Haus gewesen war? Hatte er irgendetwas gesagt? Nein, in einem solchen Fall würde Landis sicher nicht hier herumlaufen und Oriana würde ihn nun nicht anlächeln. „Davon lässt du dich abhalten?“, fragte sie lächelnd. „Du weißt doch, dass Nolan dich früher oder später trotzdem brauchen wird. Also solltest du dich lieber in seiner Nähe aufhalten.“ Darüber dachte er tatsächlich eine Weile nach, dann hellte sein Gesicht sich merklich auf. „Du hast recht! Wie konnte ich nur so dämlich sein? Danke, Ria!“ Damit hob er die Hand und lief eilig in Richtung von Nolans Haus davon. Kieran wusste genau, dass er sich dort neben die Tür sitzen und so lange warten würde, bis sein Freund endlich wieder herauskam, nur damit er sofort für ihn da sein konnte. Sein ganzes Verhalten sprach noch einmal dafür, dass er von einem Dämon besessen gewesen war, immerhin schien er nicht einmal mehr zu wissen, dass er der Grund war, wegen dem Nolan gerade litt. Ansonsten wäre er gänzlich anders in seinem Verhalten, da war Kieran sich sicher. Ich habe viel zu viel Zeit mit diesen Kindern verbracht, wenn ich sogar das weiß. Orianas Gesicht hatte sich derweil verfinstert. Sie murmelte etwas, das Kieran von seiner Position aus nicht hören konnte und wandte sich dann ab, um weiterzugehen. Weit kam sie allerdings nicht. Die Tür des Hauses der Caulfields öffnete sich und ein deutlich missgelaunter Frediano trat heraus. Seine Stirn war gerunzelt, die Augenbrauen zusammengezogen und seine Hände sogar zu Fäusten geballt. Hinter ihm folgte Allegra, die vermutlich auch der Grund für seinen Ärger war. Sie blickte allerdings so desinteressiert wie eh und je in die Welt, einen Wäschekorb in den Händen, mit dem sie direkt auf die gespannten Leinen zusteuerte. „Alles in Ordnung?“, fragte Oriana. Statt einer Antwort nahm Frediano sie an der Hand und zog sie mit sich, fort von Allegra, dem Haus und auch dem Kirschbaum, auf dem Kieran saß. Er konnte ihnen nur hinterhersehen, bis er nicht einmal mehr Fredianos weißes Haar ausmachen konnte. Er wusste von Allegra, dass sie sich oft stritten, meist aufgrund der seltsamsten Dinge, die eigentlich keine Auseinandersetzungen bewirken sollten. Aber sie war der Überzeugung, dass es etwas an Frediano gab, das sie wahnsinnig machte und umgekehrt galt für ihn bei ihr dasselbe. Was genau das allerdings sei, konnte sie nicht sagen. Kieran entfuhr ein Seufzen, als ihm bewusst wurde, dass es ihm im Moment fehlte, mit Allegra reden zu können. Was auch immer die anderen von ihr hielten, ihm hatten die Gespräche oft geholfen, auf Dinge zu kommen, die ihm sonst nicht einmal eingefallen wären. Aber nun war es sicher nicht möglich, immerhin- Ihr plötzliches Stutzen, nachdem sie den Wäschekorb abgestellt hatte, ließ nicht zu, dass er den Gedanken beendete. Sie starrte direkt zu ihm herüber, als wäre es ihr wirklich möglich, ihn sehen zu können, obwohl er bezweifelte, dass das funktionierte. Als sie sich auch noch in Bewegung setzte und auf ihn zukam, wollte er instinktiv den Atem anhalten, was aber natürlich sinnlos war, da er ohnehin nicht mehr atmete. Unterhalb des Baumes blieb sie stehen und sah immer noch zu ihm herauf. Aus dieser Entfernung war es ihm möglich, ihre rot-braunen Augen zu sehen, die ihn mit viel zu großer Neugierde musterten. Schließlich verzogen sich ihre Lippen zu einem fröhlichen Lächeln und in diesem Moment wusste er ganz sicher, dass sie ihn sehen konnte – nicht zuletzt durch ihre folgenden Worte: „Ich dachte mir doch, dass du nicht einfach friedlich sterben würdest, Kieran. Willkommen zurück.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)