Broken Genius von caladriuss ================================================================================ Prolog: -------- Verdammt, ich konnte ihn nicht abhängen! Ich rannte schon so schnell ich konnte, und das war keineswegs langsam. Aber Kato blieb immer dicht hinter mir, legte für jemanden, der aussah wie ein Troll, ein erstaunliches Tempo an den Tag. Vielleicht, weil ich ihm genau das ins Gesicht gesagt hatte: dass er ein verblödeter, hässlicher Troll war. Aber wenn es doch stimmte? „Bleib stehen, Wheeler!“, schrie er hinter mir. Na ganz bestimmt! Kato war kein großer Redner, der ließ lieber seine Fäuste sprechen. Ein ganz übler Schläger, der dummerweise nur zu gerne mit seinen Gorillafreunden auf dem Spielplatz in meinem Wohnviertel herumlungerte. Normalerweise tat er mir nichts. Wir waren uns schon in der Schule nie grün gewesen, allerdings mischte er da lieber die Schwächeren auf, anstatt sich mit mir anzulegen und zumindest ein blaues Auge zu riskieren. Meine Lungen brannten und meine Beine wurden immer schwerer. Lange konnte ich nicht mehr aushalten. Der gigantische Klotz hinter mir schien dagegen viel zu betrunken, um zu merken, dass auch ihm endlich mal die Puste ausgehen sollte. Mist, wenn er mich erwischte, würde er mich grün und blau schlagen. Könnte es denn nicht mal so auf die Schnelle ein kleines Wunder geben, dass mich rettete? Nein? War ja klar! Vor meinen Augen begann schon die Luft zu flimmern, als ich vor mir die Schule entdeckte. Treffer! Dort müsste ich sicher sein. Kato war nämlich vor gut einem Jahr von der Schule geflogen, weil er einem Siebtklässler, der ihm nicht sein Essensgeld geben wollte, den Arm gebrochen hatte. Und jetzt hatte dieser Prügelproll Hausverbot für das gesamte Gelände. Ich raffte all meine verbliebene Kraft zusammen und sprintete über den Schulhof ins Gebäude rein. Puh geschafft! Noch einige Sekunden fürchtete ich, er könnte mir doch gefolgt sein, doch niemand kam. Alles still. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und atmete durch. Das war ja nochmal gut gegangen. Nur weil ich mal wieder meine dumme Klappe nicht halten konnte! Ich wusste, dass es dumm war, sich von Kato provozieren zu lassen und normalerweise ignorierte ich ihn und seine kleinen Pavianfreunde, wenn sie mir dumme Sprüche hinterherriefen. Aber diesmal hatten sie wohl ein paar Bier zu viel getankt und meinten, es wäre lustig, mir meine Einkäufe aus der Hand zu schlagen. Ich hatte wahrlich nicht so viel Geld, dass ich darüber lachen konnte, meine gesamten Besorgungen für eine Woche auf dem Asphalt verteilt zu sehen. Ich fand, es war nur verständlich, dass ich Kato dafür mit allen Beleidigungen, die mir einfielen, bedachte. Vielleicht war es unüberlegt gewesen, ihm dann noch in den Magen zu boxen, anschließend an ihm vorbeizurennen und dem gesamten Biervorrat des Trios das gleiche Schicksal zukommen zu lassen wie meinem Einkauf. Aber gut, jetzt war es auch zu spät. Ich vernahm in den Etagen über mir Stimmen und Schritte. Dabei war es schon fast 21.00 Uhr. Richtig, heute war die Lehrerjahresversammlung gewesen, in der besprochen wurde, ob Schüler versetzungsgefährdet waren. So ein Glück, mir war gar nicht in den Sinn gekommen, dass das Schulgelände andernfalls ja bereits verschlossen und ich aufgeschmissen gewesen wäre. Ein Hoch auf die Lehrer. Trotzdem sollte ich mich nicht erwischen lassen. Ich verzog mich hastig ins Jungenklo und verharrte dort. Vielleicht wartete Kato noch draußen, aber wenn er die ganzen Lehrer sah, würde er bestimmt aufgeben und abhauen. Ich lauschte auf die Schritte im Flur. Erst als ich sicher war, keine mehr zu hören, trat ich wieder auf den Korridor und wandte mich dem Hintereingang des Schulgebäudes zu. Sollte Kato meinetwegen vor dem Haupteingang warten, bis er schwarz wurde – falls er nicht schon längst aufgegeben hatte. Von wegen! Gerade als ich die Tür aufstieß und ins Freie treten wollte, grinste mir der Raufbold entgegen. Seit wann war der so berechnend, mir am Hintereingang aufzulauern? Und auch noch so dreist, trotz Hausverbot hier zu warten? „Wolltest dich davonschleichen wie ein feiges, kleines Schweinchen, was Wheeler?“, schnarrte er. Verdammt! Was jetzt? Der Typ war heute wirklich auf Krawall aus. Hastig machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte wieder in die Schule. „Ja lauf, kleines Schweinchen. Ich krieg dich ja doch“, brüllte er. „Und dann prügel ich dich, bis du quiekst“ Er lachte, als er mir nachsetzte. Das durfte doch nicht wahr sein! Wieso nur ließ er nicht locker? Ich spürte Panik in mir aufsteigen, als ich zurück zum Haupteingang sprintete. Doch als ich die Tür aufstieß, wurde es nur noch schlimmer. Ich erkannte viel zu spät, dass jemand direkt dahinter stand und stieß schwungvoll mit der Person zusammen. Geistesgegenwärtig realisierte ich noch, dass mein Gegenüber durch meinen Schwung gefährlich nah am Treppenabsatz um sein Gleichgewicht rang und packte zu. Ich umfasste die schlanke Hüfte und riss ihn zurück. „Wheeler!“ Oh nein, Kaiba! Allein die Aussprache meines Namens ließ mich erkennen, wem ich da quasi in den Rücken gesprungen war. Mit einer in dieser Situation völlig unpassenden Eleganz wirbelte er herum und starrte mich wutentbrannt an. Diese kalten blauen Augen konnten mich dermaßen feindselig ansehen, dass ich glatt vergaß, weiter wegzurennen. „Was suchst du hier, du dämliche Töle?“, fauchte Kaiba sichtlich erbost. Das könnte ich ihn auch fragen. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, kam die Antwort schon aus der Schule gepoltert. Auch Kato blieb beim Anblick dieser eiskalten Augen erst mal irritiert stehen und stierte Kaiba irritiert an. Hey, vielleicht war das gar nicht schlecht. Mich hatte Kato zu Schulzeiten in Ruhe gelassen, aber Kaiba regelrecht gemieden. Vielleicht könnte mein Erzrivale in diesem Fall mein Verbündeter sein. Schnell wich ich an Kaibas Seite zurück. „Du hast hier auf dem Schulgelände erst recht nichts zu suchen“ Jetzt klang Kaibas Stimme dunkel und knurrig, fast schon angsteinflößend. Schien Kato nicht so zu sehen. „Geh zur Seite, du reiche Kröte! Das hier geht dich nichts an!“, schnarrte er. Im selben Moment sprang er ohne Vorwarnung nach vorn und stieß Kaiba gegen die Brust. Dieser wirkte darüber mindestens genauso überrascht wie ich. Und zu seinem Pech stand er immer noch so nah am Treppenabsatz. Ich hielt vor Schreck den Atem an, als die acht Stufen runterfiel. Reflexartig versuchte Kaiba, den Sturz mit einer Drehung und dem Fuß auf einer Stufe abzufangen, doch er knickte weg, konnte sich erst mit dem zweiten Fuß und der Hand auf dem Boden abfangen. Oha! Er war zwar nicht mit dem Körper auf dem Boden aufgeschlagen, aber der erste Rettungsversuch hatte schmerzhaft ausgesehen. Hastig sprang ich die Stufen runter an seine Seite. „Alles klar?“ Ich wollte ihm aus seiner hockenden Position aufhelfen, aber er schlug meine Hand weg, kam zum Glück selbst wieder auf die Beine. Und jetzt war er wirklich sauer. „Hast du sie noch alle?“, rief er wütend. „Das wird ein Nachspiel haben!“ Kato lachte, als er die Stufen hinunter kam. „Dann muss ich mich ja nicht mehr zurückhalten. Ich mach euch beide platt!“ Oh nein, jetzt hatte er es auch noch durch mein Verschulden auf Kaiba abgesehen. Auch wenn ich für ihn keine Sympathien hegte, konnte ich doch nicht einfach zulassen, dass er meinetwegen verprügelt wurde! Ich wollte schon dazwischen gehen, als Kato erneut auf Kaiba zustürmte, doch dieser schien sich sehr wohl verteidigen zu können. Als Kato nach ihm schlug, wich Kaiba unfassbar elegant aus und rammte dem Koloss seinerseits sein Knie in den Bauch. Als dieser sich deswegen zusammenkrümmte, schlug ihm der Firmenchef kraftvoll mit dem Ellbogen in den Nacken. Musste ja äußerst effektiv sein, denn Kato fiel wie ein Müllsack einfach um, brachte nicht mal den Willen auf, den Sturz mit den Händen abzufangen. Ich wusste schon, warum ich mich nie mit Kaiba prügelte. Auch wenn der Typ zwar groß, aber körperlich unscheinbar wirkte, hatte er diese fiesen Kampfsportarten drauf. „Du hast die Chance, jetzt zu verschwinden, bevor ich dich richtig in den Boden massierte“, knurrte Kaiba dunkel. Er sprach nicht laut, und genau das machte seine Worte noch furchteinflößender. Obwohl ich ihm seine Androhung glaubte, klang eine Anspannung in seiner Stimme mit, die ich nicht ganz deuten konnte. Ob Kato das auch hörte? Hoffentlich nicht. Hoffentlich verschwand er endlich. Nur mühsam und sichtlich mit Schwierigkeiten kam er langsam und taumelnd wieder auf die Beine. Ihm stand die Fassungslosigkeit über Kaibas Überlegenheit deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber war es wirklich schon vorbei? Sollte Kaiba wirklich mein Retter sein? Er stand da wie ein Fels in der Brandung, strahlte solche Kraft und Autorität aus. „Verschwinde!“, Kaibas Stimme klang ruhig, aber dermaßen kalt, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Selbst mein Verfolger, Raufbold der Extraklasse, der sich sonst von niemandem etwas sagen ließ, reagierte darauf. Unschlüssig, ob er erneut angreifen oder wirklich abhauen sollte, wankte er, stierte dabei zwischen Kaiba und mir hin und her. „VERPISS DICH!“, setzte Kaiba nach, dieses Mal keineswegs mehr ruhig. Da kuschte Kato. Wie ein geprügelter Hund buckelte er und torkelte davon. Wow… damit hatte Kaiba mich wohl wirklich gerettet. Sonst hätte mir Kato vermutlich die Seele aus dem Leib geprügelt. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Kaiba mir mal helfen würde. Zögerlich trat ich an seine Seite. „D-danke“, murmelte ich. Er gab nur ein unwilliges Schnaufen von sich, blickte stur meinem Verfolger hinterher, der durch die Dunkelheit wankte. „Du hast mich gerettet“, ich war mir nicht sicher, dass er mir überhaupt zuhörte. Sein Blick ging einfach nur stur geradeaus. „Ich revanchiere mich, wenn ich kann. Wenn ich mal etwas für dich tun kann, sag mir Bescheid.“ „Das kannst du“, seine Stimme klang jetzt monoton, fast ein bisschen kraftlos. „Und was?“, fragte ich überrascht. Was konnte ich denn für jemanden tun, der sich alles leisten konnte? „Ruf einen Krankenwagen“ „W-was?“ Was war das denn für eine merkwürdige Bitte? „Wozu denn?“ Sein Blick richtete sich weiter stur geradeaus. „Weil ich mir den Knöchel gebrochen habe“ Kapitel 1: Diagnose ------------------- >>Weil ich mir den Knöchel gebrochen habe« Sollte das ein Witz sein? Kaiba stand doch auf sicheren Beinen und seine Stimme war vollkommen ruhig. Skeptisch glitt mein Blick über seine Beine, ziemlich schöne lange Beine wohlgemerkt. Er trug seine üblichen schwarzen Stiefel und in der Dunkelheit war nichts Ungewöhnliches auszumachen. Aber wenn er meinte… Kopfschüttelnd entfernte ich mich einige Meter und rief per Handy einen Krankenwagen. Auch wenn ich bezweifelte, dass er wirklich einen brauchte. Zugegeben, als Kato ihn vorhin angegriffen hatte, hatte ich wirklich befürchtet, er könnte sich etwas getan haben. Aber er war so schnell wieder auf die Füße gekommen, dass er unmöglich einen gebrochenen Knöchel haben konnte. Er stand doch auf beiden Beinen. Als ich mich wieder umdrehte und zu Kaiba zurückging, hatte er sich auf die Treppen vor dem Eingang gesetzt, das eine Bein auf der gleichen Stufe, auf der er saß, von sich gestreckt. Wortlos setzte ich mich neben ihn und musterte ihn kritisch. Sein Blick war seltsam glasig und im fahlen Mondlicht wirkte er blass. Wenn sein Knöchel gebrochen war, müsste er doch ziemlich starke Schmerzen haben, oder nicht? Aber dafür war er doch ziemlich ruhig und gefasst. „Kann ich irgendetwas tun?“, fragte ich vorsichtig. Nach wie vor sah er mich nicht an. Vielleicht wollte er nicht, dass ich in seinen Augen erkennen konnte, wie schlimm die Schmerzen wirklich waren. Inzwischen glaubte ich ihm zumindest, dass sein Knöchel wehtat. Er versuchte nämlich, sein Bein so ruhig wie möglich zu halten, obwohl die Position ziemlich unbequem aussah, und seine Hände zitterten stark. „Geh nach Hause, Wheeler.“ Ganz bestimmt nicht. „Ich bleibe“, sagte ich fest. Er ballte die linke Hand zur Faust, bohrte die Fingernägel in die Handflächen. Er hatte eindeutig Schmerzen. Und ich konnte ihm dabei nicht helfen. Was sollte ich schon groß tun? Pusten? „Tut mir Leid“, murmelte ich nach einigen Minuten betreten. „Was denn?“, fragte er tonlos. „Das mit deinem Fuß. Hätte ich nicht so mein Maul aufgerissen, dann wäre das nicht passiert“ Insgeheim hoffte ich, dass er mir sagen würde, es wäre ja gar nicht so schlimm und auch nicht meine Schuld, aber den Gefallen tat er mir nicht. Er schwieg einfach zu dem Thema. Stattdessen fragte er nur: „Hast du Zigaretten dabei?“ „Klar“, ich überschlug mich fast, als ich hastig nach der Schachtel kramte und sie ihm hinhielt. Wortlos zog er eine Zigarette heraus und ließ sich von mir Feuer geben. Rauchen war eine gute Idee. Normalerweise tat ich das nur auf Partys, aber diese Situation erlaubte eine Ausnahme. Ich zündete mir ebenfalls eine an. „Ich wusste nicht, dass du rauchst“, merkte ich an. Wenn ich ihn in ein Gespräch verwickelte, überbrückte ihm das die Zeit, bis der Krankenwagen eintraf, vielleicht leichter. „Tu ich auch nicht“ Ja, das sah man daran, wie er die Zigarette hielt und an die Lippen führte. Keineswegs eine eingeübte Geste. Vielleicht wollte er sich dadurch auch nur ablenken. Ich fragte ihn danach, aber er ging darauf nicht ein, sondern schwieg mich beharrlich an. Kaiba schien im Moment eh nicht sonderlich kommunikativ zu sein. Also saßen wir schweigend da, rauchten und hangen unseren Gedanken nach. Fieberhaft überlegte ich, was ich nun tun sollte. Kaiba hatte mich zwar erfolgreich vor Kato gerettet, aber damit war die Situation noch lange nicht aus der Welt geschafft. Kato war ziemlich nachtragend und Kaiba würde nicht immer da sein, um mich zu beschützen. Um genau zu sein… wenn sein Fuß tatsächlich gebrochen war, würde er für Wochen ausfallen. Nur wegen meiner Dummheit. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als er neben mir die Zigarette ausdrückte. Seine Hand zitterte fürchterlich. Überhaupt war ihm der Schmerz jetzt deutlich anzusehen. Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet, aber trotzdem schien er zu frieren. Dabei war es diese Nacht gar nicht mal kalt. Fröstelnd zog er den Mantel enger um die Schultern, zitterte leicht. Und sein Blick wurde immer glasiger. Verdammt, wo blieb nur dieser blöde Krankenwagen? Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich vor dem Schultor anhielt und zwei Sanitäter heraussprangen. Ich rannte ihnen schnell entgegen, denn in der Dunkelheit würden sie uns sonst womöglich noch übersehen. Während ich sie zu Kaiba geleitete, erzählte ich ihnen, was passiert war. Aus mir sprudelte einfach alles heraus und ich wiederholte vermutlich an die tausend Mal, dass alles meine Schuld war. Aber sobald wir bei Kaiba ankamen, unterbrachen sie mich barsch. Sie sprachen wohl lieber mit dem Patienten selbst. „Also, was haben wir denn?“, fragte der eine Sanitäter. Er war etwas dicker und schon älter. Mühsam ging er vor Kaiba in die Hocke. „Ist es dieses Bein?“ Kaiba nickte nur. Entweder benebelte der Schmerz seine Sinne oder ihn interessierte das alles nicht. Teilnahmslos sah er zu, wie ihm der Sanitäter vorsichtig den Stiefel auszog, sich dabei bemühte, das Bein so wenig wie möglich zu bewegen. Trotzdem zuckte Kaiba kurz zusammen. Ich sah, wie er fest die Zähne zusammenbiss, aber es kam kein Laut des Schmerzes über seine Lippen. Sie schnitten die Hose bis zum Knie auf. Als der Knöchel freigelegt war, kam zum Vorschein, dass er wirklich ganz schön geschwollen und seltsam verfärbt war. Ja, ich konnte mir vorstellen, dass das wahrlich wehtun musste. Der alte Sanitäter tastete die Stelle äußerst behutsam ab, aber trotzdem sah man Kaiba an, wie unangenehm es war. „Das ist definitiv kaputt“, er bemerkte das so nebenbei, als würde er übers Wetter reden. „Wir nehmen Sie mit ins Krankenhaus. Dort wird Ihr Bein geröntgt und dann kann entschieden werden, wie es weiter geht. Es muss zumindest stabilisiert werden“ Na klang ja herrlich! Dann hatte sich Kaiba dank mir wirklich den Knöchel gebrochen. Und er wirkte über die Diagnose keinesfalls überrascht. Der alte Sanitäter winkte seinen Kollegen herbei, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte. „Wir tragen Sie jetzt zum Krankenwagen und dann stellen wir Ihr Bein erst mal ruhig.“ Die beiden Sanitäter wollten Kaiba scheinbar anheben, aber er kam ihnen zuvor. Mit einem Mal stand er einfach auf. „Ich gehe selbst“, meinte er kühl. Dann lief er langsam und ziemlich wackelig auf den Krankenwagen zu. Was… sollte denn das? Tat das denn nicht weh? Wie konnte er überhaupt laufen, wenn sein Knöchel doch angeblich gebrochen war? Ich fragte die Sanitäter danach. „Laufen kann man schon“, meinte der Ältere, „Es tut nur höllisch weh. Hängt aber auch davon ab, ob es überhaupt ein Bruch ist und wie der nun genau aussieht. Ich zumindest würde nicht damit laufen wollen, aber wenn er meint…“ „Also muss er vielleicht gar nicht gebrochen sein?“, fragte ich hoffnungsvoll. Der Sanitäter schnalzte mit der Zunge. „Lässt sich ohne Röntgengerät nicht sagen. Vielleicht ist es gebrochen, vielleicht nur angebrochen, vielleicht ist das Sprunggelenk in Mitleidenschaft gezogen oder die Sehnen und Bänder. Sicher ist nur, dass der Fuß verletzt ist“ Mein Mut sank wieder. Also folgten wir Kaiba schweigend in leichtem Abstand. So besonders toll lief es sich für ihn anscheinend wirklich nicht, denn ich sah, wie er beim Auftreten immer zögerlicher wurde. Aber warum hatte er dann abgelehnt? Wahrscheinlich weil er meinte, es würde seine Autorität untergraben, sich tragen zu lassen. Das war typisch für ihn. Kopfschüttelnd schloss ich zu ihm auf. Ich schnappte mir seinen Arm und legte ihn um meine Schulter, stütze ihn damit soweit, dass er mit dem linken Bein nicht mehr auftreten musste. Vermutlich hätte er normalerweise dagegen protestiert, aber jetzt schien ihn der Schmerz genug zermürbt zu haben, so dass er es einfach zuließ. Beim Krankenwagen half ich ihm, ihn auf eine Trage zu setzen. Die Sanitäter legten ihm eine Schiene an, die seinen Knöchel ruhig stellen sollte. Ich wollte ebenfalls in den Krankenwagen klettern, doch der junge Sanitäter hielt mich zurück. „Solange du kein Familienmitglied bist, darfst du auch nicht mitfahren“ „A-aber ich muss mit!“, ich konnte Kaiba doch jetzt nicht allein lassen. „Du kannst hier nicht mitfahren. Aber du kannst nachkommen. Das ist erlaubt“ „Oh, okay“, dann müsste ich ihnen eben folgen. Ich rannte schnell zur nächsten Bushaltestelle und machte mich auf den Weg zum Krankenhaus, auch wenn es umständlich war. Ich musste zweimal umsteigen und eine halbe Ewigkeit auf die Busse warten, aber das war es wert. Als ich endlich im Krankenhaus ankam und mich zu Kaiba durchgefragt hatte, entdeckte ich ihn in einem Behandlungszimmer. Er saß auf dem Behandlungstisch und starrte lethargisch vor sich hin. Sein Bein war nach wie vor geschient und ein Eispack lag auf seinem Knöchel. „Hey“, vorsichtig ging ich näher. Er sah wirklich total fertig aus. Seine Haut war so blass… Nur langsam richtete sich sein Blick auf mich, musterte mich abwesend. „Was machst du hier?“, fragte er leise. „Dir Gesellschaft leisten, bis du weißt, was nun ist“, ich versuchte, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, aber irgendwie gelang es mir nicht. Es war furchtbar, Kaiba so zu sehen. Er war sonst immer so stark und unnachgiebig. Aber jetzt sah er eher aus wie ein Häufchen Elend. „Tut es schlimm weh?“, ich setzte mich auf einen kleinen Stuhl neben dem Tisch. Er schüttelte nur träge den Kopf. „Schmerzmittel“ Stimmt, er sah irgendwie ein bisschen benebelt aus, als hätten sie ihn auf einen Trip geschickt. Aber wenn er dadurch keine Schmerzen hatte, war es vermutlich gar nicht so schlecht. „Woher wusstest du, dass der Knöchel gebrochen ist?“, fragte ich vorsichtig. „Er hätte ja auch nur verstaucht sein können“ Er musterte mich versonnen. Sein Blick war viel weicher als sonst. Vielleicht sollte man ihn öfter mal unter Drogen setzen, denn dann waren seine Augen erstaunlich schön. Ein weiches leuchtendes Blau, das mich ein wenig an… ja an was? Das Wasser im Swimmingpool sah immer so aus. Der Vergleich kam mir selber total blöde vor, aber mir fiel kein besserer ein. „Es hat sich angefühlt, als würde etwas in meinem Knöchel wegbrechen“, abwesend wanderte sein Blick durch den kahlen Raum. „Tatsächlich?“ Aber dafür war er wirklich schnell wieder auf die Beine gekommen. „Fühlt sich ziemlich eklig an. Als würde der Knochen aus dem Bein springen wollen“, murmelte er. „Und außerdem wird einem schlecht, wenn man sich etwas bricht.“ „Wirklich?“, das war mir neu. „Also war dir schlecht und deshalb wusstest du es?“ Er nickte nur. Interessant. Davon hatte ich noch nie gehört, aber ich hatte mir auch noch nie etwas gebrochen. „Woher weißt du das?“ Er wiegte den Kopf hin und her. „Hab mir vor ein paar Jahren das Handgelenk gebrochen. Da war es auch so.“ Hey, Kaiba antwortete tatsächlich auf meine Fragen. Ein Wunder, wir konnten uns tatsächlich normal unterhalten. „Wie hast du dir denn das Handgelenk gebrochen?“, fragte ich neugierig. Er zuckte leicht mit den Schultern, betrachtete kritisch seinen eingeschienten Fuß. „Gosaburo hat es mir gebrochen“ Bitte was? Wie konnte er das so leichtfertig erzählen? Das war ja furchtbar! „W-wieso das?“ Er rollte mit den Augen, als fände er die Frage doof. Was auch immer die Ärzte ihm gegeben hatten, es schien ziemlich stark dosiert zu sein. „Na, weil ich ihm einen Zahn ausgeschlagen habe“ „W-wie jetzt?“ „Na ganz einfach. Wir haben uns gestritten, ich habe ihn beleidigt, daraufhin hat er mir eine gescheuert und ich hab ihm dann eine reingehauen. Er hat dabei einen Zahn verloren und das machte ihn so wütend, dass er mir das Handgelenk gebrochen hat“ Das… okay, das war total krank! „H-habt ihr euch öfter so heftig gestritten?“ Er schüttelte vage den Kopf. „Eigentlich nicht“ Ich wollte noch viel mehr fragen, aber da kam der Arzt ins Zimmer. Er pappte zwei Röntgenaufnahmen an die Lichttafel. Sie zeigten wohl Kaibas Knöchel, aber ich konnte darauf nicht wirklich etwas Sinnvolles erkennen. Der Arzt deutete auf eine Stelle, an der das weiße Ding, was wohl irgendein Knochen oder so war, aussah, als wäre ein Riss darin. „Wirklich ein schöner Bruch“, sinnierte er. „Danke“ Dachte Kaiba etwa, das wäre ein Kompliment gewesen. Obwohl… so wie er aussah, schien er gar nichts mehr zu denken. „Damit es zu keinen Unklarheiten kommt, es ist nur angebrochen, das wird Sie sicherlich freuen“ Kaiba nickte, aber ich bezweifelte, dass er überhaupt verstand, was der Typ da sagte. Ich konnte aber erleichtert aufatmen. Das klang so, als wäre es nicht ganz so schlimm wie befürchtet. „Die Außenbänder sind überdehnt, aber da Sie ja im Moment eh nicht laufen können, ist das egal“ „Was genau heißt das jetzt?“, fragte ich gezwungen ruhig. „Die Behandlung wird langwierig, aber trotzdem angenehmer als bei einem Bruch, ganz klar.“ Das »langwierig« gefiel mir gar nicht. „Ich würde dafür plädieren, die Fraktur mit einer OP zu stabilisieren. Wir fixieren das mit ein paar Schrauben und dann wächst das auch wieder vernünftig zusammen“ Oh, Gott! Das klang wirklich übel. Aber Kaiba realisierte das dank seinem Trip scheinbar nicht oder er fand es nicht so schlimm. Ungläubig starrte ich den Arzt an. „Operieren?“ Der Arzt nickte nur. „Aber erst morgen. Ihr Knöchel ist noch zu geschwollen, da ist die Gefahr einer Infektion zu groß“, erstmals wandte er sich Kaiba zu und lächelte ihn groß an. „Jetzt gipsen wir Ihren Fuß erst einmal ein und gleich morgen früh operieren wir. Bis dahin dürfte die Schwellung zurückgegangen sein“ Oh Gott, wegen mir wollten sie ihn aufschlitzen! Was hatte ich nur angerichtet? Dass war alles so furchtbar. Nur Kaiba sah das gelassen. Er zeigte nur ein Däumchen hoch und murmelte: „Super“ Man, ich wollte auch was von dem Zeug, das ihn dermaßen entspannt gemacht hatte. „Gibt es denn keine Alternative?“, fragte ich panisch. „Naja…“, der Arzt musterte den Bruch erneut eingehend. „Man könnte den Knöchel auch ohne OP behandeln, aber ich persönlich halte die operative Methode für die beste.“ Ohne OP klang doch viel besser. „Ich halte von solch laschen Behandlungen nichts. Eine gute altbewährte Operation ist der sicherste Weg“ „Aber nicht notwendig!“ Er warf mir einen strengen Blick zu. „Das haben nicht Sie sondern der Patient zu entscheiden. Und ich rate wirklich zu der Operation“ Das würde Kaiba doch nicht machen lassen! Wer ließ sich denn freiwillig das Bein aufschlitzen? Aber dem schien das ganz egal zu sein. „Von mir aus“, murmelte er nur und starrte abwesend die Deckenleuchte an. „Großartig“, der Arzt strahlte richtig. „Dann gipsen wir Ihr Bein erst einmal ein und morgen operieren wir dann.“ Ich hatte geduldig gewartet, während Kaiba versorgt wurde. Erst, als er in sein Zimmer gebracht wurde, durfte ich wieder zu ihm. Er lag auf dem Bett und betrachtete skeptisch seinen frisch eingegipsten Fuß. Der Gips ging bis zur Mitte des Schienbeins und ließ nur die Zehen ausgespart. „Wie fühlst du dich?“, fragte ich vorsichtig. Er sah kritisch zu mir auf. „Du bist ja immer noch da“ „Sieht so aus“, ich setzte mich an sein Bett. Er schien immer noch unter dem Einfluss der Medikamente zu stehen und zusätzlich auch noch müde zu werden. „Hast du Angst vor der Operation?“ „Warum?“, er legte den Kopf schief, als verstünde er nicht, was daran denn besorgniserregend sein könnte. Scheinbar war er wirklich noch ziemlich benebelt. „Ach nichts, es wird schon alles gut gehen“, ich schenkte ihm ein Lächeln. Irgendwie sah er im Moment ja schon süß aus. Seine blauen Augen waren wirklich bezaubernd. Vorher war mir seine Augenfarbe nie wirklich aufgefallen, aber jetzt konnte ich nicht umhin, zu erkennen, dass seine Augen der absolute Wahnsinn waren. Er gähnte verhalten, wobei er mich aber weiter beobachtete. „Ich will schlafen“, nuschelte er. Ich verstand den Wink. „Dann lasse ich dich wohl besser allein, was?“, seufzend stand ich auf. „Dann schlaf gut. Ich komme dich morgen wieder besuchen, ja?“ Es war ein Reflex. Ich wusste nicht, wieso ich es tat, aber während ich sprach, streckte ich meine Hand aus und streichelte ihm durchs Haar, wie man es bei einem Kind tat, um es zu trösten. Nicht, dass es ihn gestört hätte, dafür bekam er sowieso zu wenig mit, aber ich erschrak über mich selbst. Ich vergaß, wer da vor mir saß. Auch wenn er benebelt irgendwie niedlich aussah, das war immer noch Seto Kaiba, ein eiskalter Geschäftsmann. Aber man musste mir zugutehalten, dass er im Moment keineswegs eiskalt wirkte. Ich konnte einfach nicht anders. Vorsichtig zog ich ihn in eine Umarmung, hielt ihn fest bei mir, während ich weiter tröstend über sein Haar strich. „Es wird alles wieder gut“, wisperte ich in sein Ohr. „Wir schaffen das schon und ich helfe dir, wo ich nur kann“ Das war ja auch das Mindeste! Trotzdem sollte ich ihn wohl langsam mal wieder loslassen, auch wenn er gerade so niedlich war und äußerst angenehm roch. Ich musste mich geradezu von ihm abstoßen. Hastig trat ich ein paar Schritte zurück. Er sah mich nur unverwandt an, blinzelte ein wenig verwirrt. Aber seine Augen beherbergten nach wie vor dieses irritierend schöne Blau. „Wir sehen uns morgen“, ich winkte ihm zum Abschied und stürmte dann aus dem Zimmer. Was zum Teufel war das nur gewesen? Es war, als hätte er mich magnetisch angezogen. Ich hatte mich dem gar nicht widersetzten können, ich musste ihn einfach in den Arm nehmen. Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg nach Hause. Das lag bestimmt nur an dieser merkwürdigen Situation. Kaiba mal ganz anders als sonst und dazu die irrsinnigen Schuldgefühle. Das konnte einen schon aus der Bahn werfen. Morgen würde das sicher wieder in Ordnung sein. Kapitel 2: Krankenhaus ---------------------- Ich hatte kaum geschlafen, denn jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Kaiba wieder vor mir, wie er auf dem Bett saß und mich mit seinen großen blauen Augen ansah. Ich hatte zwar versprochen, Kaiba zu besuchen, aber irgendwie schaffte ich es einfach nicht. Gestern hatten ihn erst die Schmerzen und dann die Schmerzmittel ziemlich zuträglich gemacht. Aber wie sollte es heute sein? Wenn er wieder bei klarem Verstand war, würde er mich wahrscheinlich sowieso nur anschreien und mir die Schuld an allem geben. Und wenn er, wie wegen der Operation nicht anders zu erwarten war, wieder unter Schmerzmitteln stand, würde er mich wirklich wieder mit diesen blauen Augen anschauen. Es machte mich nervös, wenn er mich so ansah. Den ganzen Tag lang versuchte ich mir einzureden, dass es ihm sowieso nicht auffallen würde, ob ich kam oder nicht. Dass es ihm egal wäre. Wäre die Situation umgekehrt gewesen und ich hätte mir seinetwegen den Knöchel gebrochen, würde ich ihn bestimmt nicht sehen wollen. So gesehen lief es gar nicht so schlecht. Ich stürzte mich in Hausarbeit, ging einkaufen, machte Hausaufgaben für die vermutlich nächsten Hundert Jahre… Aber irgendwann war einfach nichts mehr zu tun. Also ging ich spazieren, um mich abzulenken. Kaiba wollte mich garantiert nicht sehen. Inzwischen war später Nachmittag. Sie würden mittlerweile sein Bein aufgeschlitzt und Schrauben reingedreht haben. Also würde er bestimmt alles andere als gut auf mich zu sprechen sein. Außerdem war Mokuba bestimmt bei ihm. Das alles klang recht überzeugend in meinen Ohren. Doch als ich aus meinen Gedanken hochschreckte, hatten mich meine Füße zielsicher zum Krankenhaus getragen. Verdammte Füße! Da nützte alles nichts mehr. Wenn ich schon da war, konnte ich Kaiba auch besuchen. Ich würde nur schnell Hallo sagen und dann wieder verschwinden. Dann würde mein Gewissen endlich Ruhe geben. Ich rechnete mit allem, als ich ins Zimmer trat. Ein tobender Kaiba, ein benebelter Kaiba… Doch als ich eintrat, schlief er. Großartig. Dann hatte ich meine Pflicht, nach ihm zu schauen erfüllt und kam trotzdem fein aus der Sache heraus. Mokuba saß an seinem Bett und las scheinbar ein Buch. Als ich gerade wieder gehen wollte, blickte er auf. Er lächelte mich an, deutete mir näher zu kommen. Musste das sein? Unwillig trat ich näher. Ich versuchte, mich auf Mokuba zu konzentrieren, doch meine verräterischen Augen, wanderten immer wieder zu Kaiba. Seine Haare waren ganz verwuschelt, umrahmten die entspannten Gesichtszüge. Seine Hände ruhten auf der weißen Bettdecke, wirkten darauf irgendwie zerbrechlich. „Haben sie schon operiert?“, fragte ich leise. Mokuba schüttelte den Kopf. „Als sie ihn in den OP schieben wollten, hat er entschieden, doch lieber die alternative Methode zu versuchen.“ Ein Glück! Wenigstens heute Morgen schien er klar genug im Kopf gewesen zu sein, um sich nicht aufschlitzen zu lassen. „Und was haben Sie gemacht?“ „Ein Spezialist hat sich der Sache angenommen und wird sich jetzt um die Therapie kümmern“, er betrachtete seinen Bruder nachdenklich. „Er muss noch einen Tag hierbleiben, aber danach kann er nach Hause“ Der Kleine grinste leicht. „Aber er spricht ein bisschen zu stark auf die Schmerzmittel an.“ „Wieso?“ Hatte er Mokuba auch mit diesen großen blauen Augen und diesem niedlichen Blick hypnotisiert? „Weil er von dem Zeug irgendwie high wird. Er hat vorhin die ganze Zeit den Gips angestarrt und irgendwie nicht ganz verstanden, wo der eigentlich herkam.“ Haha, lustig! Armer Kaiba. Die Ärzte setzten ihn unter Drogen und er konnte nichts dagegen tun. „Sie haben die Dosis jetzt ein wenig gesenkt.“, versicherte er schnell „Sie meinten, dass er so heftig darauf reagiert, könnte daran liegen, dass er überhaupt keine Medikamente gewohnt ist. Er nimmt normalerweise nie Tabletten“ Das wunderte mich doch. „Ich dachte, er hat öfter mal Kopfschmerzen“ „Ja, aber nicht so schlimm, dass er Tabletten deswegen nehmen würde. Er meint immer, die Dinger machen ihn so furchtbar müde“, bedauernd schüttelte Mokuba den Kopf. „Kann auch sein, dass er einfach den Wirkstoff der Schmerzmittel nicht verträgt. Aber ich glaube, er verträgt generell einfach nichts“ Aber war das denn nicht gut? War es nicht besser, Medikamente schlugen stärker an als gedacht, als gar nicht? Armer Kaiba. Wenn er die Schmerzmittel kaum vertrug, wie sollte das dann werden? Würde er lieber die Schmerzen in Kauf nehmen, als Gefahr zu laufen, sich selbst auszuknocken? Das würde zumindest zu ihm passen. „Ist er narkotisiert?“, fragte ich vorsichtig. Mokuba schüttelte den Kopf. „Wovon denn? Er schläft nur. Die Medikamente machen ihn müde.“ „Dann sollte ich wieder gehen“ Ich hatte meine Pflicht getan und ihn besucht. Jetzt wusste ich, dass es ihm soweit gut ging. Und ich war tierisch erleichtert, dass er die Operation nicht durchgezogen hatte. „Wollen wir nicht vorher in der Cafeteria noch etwas zusammen essen?“, Mokuba sah mich hoffnungsvoll an. „Es ist so langweilig, hier allein zu warten. Ich lade dich auch ein“ „Na schön“ Also begleitete ich den Kleinen in die Cafeteria. Mokuba war ja ziemlich gut drauf. Mich wunderte es ein wenig, dass er auf mich nicht sauer war, obwohl Kaiba sich den Knöchel doch wegen mir gebrochen hatte. Aber vielleicht wusste er das ja gar nicht. Ich traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Wir unterhielten uns nur über Belangloses. Mokuba kaute mir bald ein Ohr ab, mit seinen Geschichten über die Schule und seine Freunde. Nur über seinen Bruder redete er nicht. Aber die Zeit verstrich überraschend schnell. Ehe ich mich versah, war es draußen bereits dunkel. „Du solltest langsam zu deinem Bruder zurück und ich nach Hause“, meinte ich. Der Kleine nickte nur. „Mal sehen, ob er jetzt wach ist.“ Eigentlich wollte ich mich aus dem Staub machen, aber Mokuba ließ mir gar keine Wahl. Er packte meine Hand und zerrte mich mit ins Krankenzimmer. Innerlich betete ich, dass Kaiba noch schlief. Ich wollte jetzt keine Konfrontation mit ihm. Doch den Gefallen tat er mir natürlich nicht. Als wir eintraten, saß er auf dem Bett, den Gips auf mehreren weichen Kissen gebettet. Er lauschte aufmerksam einem Arzt. „Das ist der Spezialist, Dr. Hikawe“, raunte mir Mokuba zu. „… Sie werden die ersten zwei Wochen nicht auftreten können. Aber danach legen wir Ihnen einen Gehgips an“ Kaiba nickte nur. Er wirkte jetzt nicht mehr so benebelt wie gestern, sondern wach und aufmerksam. „Kann ich damit dann wieder normal laufen?“ Der Arzt lächelte, als hätte er etwas Dummes gesagt. „Natürlich nicht. Aber Sie können wieder auftreten und darüber sollten Sie schon zufrieden sein. Sie haben großes Glück, dass der Knöchel »nur« angebrochen ist.“ Kaiba wirkte davon allerdings nicht begeistert. „Aber ich muss trotzdem einen Gips tragen“ „Ja, zwei Wochen und schon danach kriegen Sie einen Gehgips. Bei einem richtigen Bruch, wäre das Ganze noch langwieriger. Sie werden merken, dass dieser kleine Unterschied auch schon etwas wert ist. Aber die nächsten sieben Wochen werden die Krücken Ihre ständigen Begleiter sein“ Das schien Kaiba nicht zu gefallen. Er knirschte leicht mit den Zähnen. „Und wann entlassen Sie mich?“ „Vermutlich morgen. Wir schauen uns noch an, ob der Bruch stabilisiert ist und dann können Sie nach Hause. Die Sommerferien beginnen in fünf Wochen, nicht wahr? Ich werde Sie bis dahin krankschreiben.“ Also fiel er den Rest des Schuljahres aus. Naja, konnte ihm ja egal sein. Seinen Notenschnitt von 1,0 hatte er sicher schon in der Tasche. „Ich schaue Morgen noch einmal nach Ihnen“ Der Arzt nickte Kaiba zum Abschied noch einmal zu und verließ dann das Zimmer. Mokuba sprang aufs Bett und sah seinen Bruder aus großen Augen an. „Du hast es gut“, er lächelte breit. „Fünf Wochen schulfrei. Sowas hätte ich auch mal gern“ „Wir können ja tauschen“ Kaiba konnte bei solchen Vorschlägen nur mit den Augen rollen, die dank seinem eiskalten Blick nicht mehr so hypnotisierend wie gestern waren. Interessant. Vielleicht schaute er deswegen immer so finster drein. Mokuba zog eine Grimasse. „Lieber nicht, ich will nicht so einen blöden Gips tragen“ „Vielen Dank auch!“, missmutig betrachtete Kaiba sein Bein. „Sieben Wochen… Das ist grausam!“ „Tja das kommt davon, wenn man nicht laufen kann“, feixte Mokuba, der sofort von einem vernichtenden Blick seines Bruders getroffen wurde. Also hatte er es ihm wirklich nicht gesagt. Sein Blick richtete sich auf mich. „Was willst du, Wheeler?“ „Nach dir schauen?“, vielleicht erinnerte er sich ja gar nicht mehr an gestern, an mein Versprechen, ihn zu besuchen. „Wozu?“, sein Blick war richtig misstrauisch. Irgendwie ärgerte mich das. Ich hatte den ganzen Tag damit gehadert, ihn zu besuchen, weil ich es ihm ja versprochen hatte, und er erinnerte sich nicht mal mehr daran. „Weil ich gesagt habe, dass ich nach dir schaue. Deswegen! Ich halte meine Versprechen“ Er neigte den Kopf etwas, betrachtete mich äußerst kritisch. „Das hast du ja jetzt gemacht. Also kannst du auch wieder gehen.“ „Werde ich auch!“ Was sollte ich noch länger hierbleiben? Wenn ich blieb, würde das zu einem Streit ausarten und das wollte ich einfach nicht. Auch wenn er jetzt nicht mehr so fertig wie gestern war, an dem angebrochenen Knöchel würde er noch eine ganze Weile zu knabbern haben. Ich wollte mich gerade der Tür zuwenden, als mein Blick auf seine Hand fiel. Er hatte sie krampfhaft zur Faust geballt. Warum? Misstrauisch musterte ich ihn. Sein ganzer Körper war angespannt und sein Blick war wieder ein wenig glasig geworden, wenn auch nicht so schlimm wie gestern. Und da war es wieder, mein schlechtes Gewissen. „Es tut weh, oder?“ Er knurrte leise. „Was geht dich das an?“ Ja, er hatte Schmerzen. Aber zugeben würde er das nie. „Soll ich den Arzt holen?“ fragte Mokuba besorgt. Aber der Sturkopf von Kaiba schüttelte nur den Kopf. „So schlimm ist es nicht“ Irgendwie glaubte ich ihm das nicht. Vermutlich könnte man vor seinen Augen ein Messer in sein Bein stechen und er würde trotzdem nicht zugeben, dass es wehtat. Selbst Mokuba fiel auf Kaibas hartes Getue nicht herein. „Ich geh den Arzt holen“, murmelte er und verschwand nach draußen. Kaiba seufzte nur schwer. „Wieso musstest du ihm das sagen?“ Sein Blick war vorwurfsvoll und er tendiert schon wieder dazu, viel zu blau zu werden. „Damit dir jemand hilft.“, vorsichtig ging ich näher ans Bett. „Du solltest die Schmerzen nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Er schnaubte nur. „Das mache ich auch nicht! Aber ich kann auch nichts dagegen tun, also was solls“ „Du könntest Schmerzmittel nehmen.“ „ich könnte es auch lassen“, zischte er giftig. Das brachte nichts. Der Arzt konnte ja gleich entscheiden, wie es weiterging. Mich interessierte vielmehr etwas anderes. „Warum hast du Mokuba nicht gesagt, dass es meine Schuld war?“ „Würde das etwas ändern?“ „Weiß nicht… würde es?“ Er musterte mich kritisch mit diesen immer blauer werdenden Augen. Hastig senkte ich den Blick. „Es würde gar nichts ändern. Mein Knöchel wäre nach wie vor gebrochen.“ „Angebrochen“, warf ich ein. Wir wollten ja nicht übertreiben. Aber er ließ sich nicht davon beirren. „Nur Mokuba würde dich dann hassen, aber davon habe ich nichts.“ Überrascht sah ich doch wieder auf. „Wieso nicht? Ich dachte immer, du kannst es nicht leiden, dass er mit uns rumhängt.“ „Kann ich auch nicht.“, er bewegte sein Bein nur ein winziges Stück, aber es reichte aus, um ihn zusammenzucken zu lassen. Oh Gott, so schlimm war es schon? Er tat mir so schrecklich leid, dass er solchen Schmerzen hatte. „Aber wenigstens weiß ich bei euch, dass ihr ihn nicht dazu anstiftet, zu rauchen oder Drogen zu nehmen“, fuhr er fort. Seine Stimme klang ein wenig gepresster als zuvor. Also vertraute er uns quasi seinen Bruder an, weil er wusste, dass wir gut auf ihn aufpassten. Er vertraute uns. Wahnsinn. Das hätte ich wirklich nie von ihm gedacht. Endlich kam Mokuba wieder, mit dem Arzt im Schlepptau. Hikawe trat an das Bett heran. „Sie haben also Schmerzen“ Vorsichtig strich er über den Gips. „Ist es ein Druckgefühl?“ Kaiba schüttelte den Kopf, beobachtete ihn verbissen. „Gut. Dann sitzt der Gips wenigstens richtig. Wenn er zu eng wäre, wäre das wirklich schlecht.“ Trotzdem drückte er weiter darauf herum, auch am Knöchel. „Wichtig ist, dass der Knöchel wirklich fixiert ist.“ Aber erst als er sich der Fußsohle widmete, zuckte Kaiba zusammen. Und dann kam etwas, dass einem wirklich das Herz brechen konnte. Ein leises klägliches Wimmern drang über Kaibas Lippen. In seinen Augen war der Schmerz so deutlich zu erkennen. Ich biss die Zähne zusammen. Wenn er so litt, erwachte mir ein seltsamer Beschützerinstinkt. Ich wollte ihn an mich ziehen und vor allem Übel beschützen. Ich wollte durch sein Haar streicheln und ihm ins Ohr flüstern, dass alles gut werden würde. „Ein bisschen Schmerz ist normal. Das lässt sich nicht vermeiden.“ Hikawe bettete Kaibas Bein wieder vorsichtig auf den Kissen. „Viele Möglichkeiten bleiben uns nicht. Wir können die Schmerzen mit Schmerzmitteln behandeln.“ Kaibas Blick zufolge begeisterte ihn das nicht sonderlich. Klar, er war ja auch ein Kontrollfreak und fand es bestimmt nicht toll, von Medikamenten ausgeknockt zu werden. Doch der Arzt lächelte nur verständnisvoll. „Wir haben Ihr Blut untersucht. Bei ihnen liegt eine Unverträglichkeit gegen die anderen Medikamente vor. Deswegen haben die zu stark gewirkt. Aber jetzt geben wir Ihnen andere. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Die werden Sie besser vertragen.“ Kaibas Blick war misstrauisch. „Ansonsten helfen nur Ruhe und kühlen. Ich werde veranlassen, dass Ihnen eine Schwester das Schmerzmittel verabreicht“, Hikawes Blick war warm, „Das wird schon wieder“ Damit ging er hinaus. Kaum fünf Minuten später kam eine Schwester und verabreichte ihm das Mittel. Kaiba wirkte nicht sonderlich begeistert, aber er ließ es zu. Zum Glück schien es schnell zu wirken, denn seine Augen waren so furchtbar blau, dass mir davon schwindelig wurde. Aber dank dem Mittel wurden sie schnell wieder dunkler. „Ist es jetzt besser, großer Bruder?“, Mokuba sah ihn erwartungsvoll an. Er nickte nur. „Du solltest jetzt nach Hause gehen“ „A-aber-“ „Mach dir keine Sorgen, ich komme morgen nach Hause, okay?“, Kaiba wuschelte dem Kleinen durch die Haare. „Also geh schon“ Er wollte seine Ruhe. „Ich werde ihn bringen“, meinte ich fest. Wenigstens wenn ich ihm Ruhe verschaffte, konnte ich ihm helfen. „Komm, Mokuba“ Ich packte den Kleinen an der Hand und zog ihn nach draußen. Er schaffte es gerade noch, seinem Bruder zu winken, bevor wir draußen waren. „Wieso bringst du mich?“, fragte Mokuba, als wir uns auf den Weg machten, „Du wohnst doch in der anderen Richtung“ Ich seufzte schwer. „Weil ich dir etwas gestehen muss“ Hoffentlich hasste er mich danach nicht. War ja nett, dass Kaiba nichts gesagt hatte, aber ich wollte Mokuba nicht belügen. „Dein Bruder ist nicht einfach gestolpert. Er wurde gestoßen“ Abrupt hielt er inne. Aus immer größeren Augen starrte er mich an. „Du hast ihn geschupst?“, fragte er fassungslos. „Nein, nein wirklich nicht“ abwehrend hob ich die Hände. Also erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Als ich geendet hatte, nickte Mokuba nur andächtig. „Verstehe…“ Er schien einen Augenblick angestrengt nachzudenken. Dann drehte er sich plötzlich um und lief schnellen Schrittes die Straße entlang. „W-warte“, ich musste rennen, um ihn wieder einzuholen. „Bist du jetzt sauer auf mich?“ Er schüttelte nur den Kopf, lief stur weiter. „Danke, dass du mir das gesagt hast. Geh nach Hause, ich muss noch etwas erledigen“ „A-aber…“ Erneut blieb er stehen, sah mich groß an. „Kommst du meinen Bruder morgen wieder besuchen?“ „S-sollte ich?“ Mokuba nickte. „Das wäre gut, denke ich.“, er lächelte mich groß an. „Also bis morgen“, damit rannte er davon. Sowas… Was erhoffte er sich denn davon, wenn ich Kaiba weiter besuchte? Ich hatte es sowieso vorgehabt, auch wenn ich mir nicht sicher war, dass Kaiba darüber wirklich erfreut war. Außerdem machten mich seine Augen wahnsinnig. Jedes Mal, wenn sie so hell wurden, hatte ich das Gefühl, davon absorbiert zu werden. Das war ziemlich beunruhigend, aber gut. Dann würde ich ihn halt besuchen. Kapitel 3: Anzeige ------------------ Das tat ich auch. Am nächsten Tag ging ich ihn pünktlich zur Mittagszeit besuchen. Überraschenderweise war das Essen in der Krankenhauscafeteria nämlich ausgezeichnet. Also verleibte ich mir erst einmal einen Burger ein. Vielleicht sollte ich Kaiba auch etwas mitbringen. Im Vergleich zum Essen in der Cafeteria sah das Krankenhausessen nicht ganz so lecker aus. Aber was aß der Kerl eigentlich? So schlank wie der war bestimmt nur Salat. Also brachte ich ihm Salat mit. Als ich eintrat, standen Kaiba und der Arzt in der Mitte des Raumes. Naja, der Arzt stand. Kaiba hingegen schien wohl gerade Bekanntschaft mit seinen Krücken zu machen. Etwas unbeholfen stützte er sich damit, darauf bedacht, mit dem Gips nicht den Boden zu berühren. „Das klappt doch schon wunderbar“, lobte Hikawe, „Anfangs wird Ihnen das Laufen damit vielleicht schwer erscheinen, aber Sie gewöhnen sich sicherlich schnell daran.“ Kaiba bedachte die Krücken nur mit einem misstrauischen Blick. Er mochte die Dinger nicht. Aber was trug er da eigentlich? Kein Krankenhauspyjama mehr, aber auch nicht sein typisches Geschäftsmannoutfit. Nein er trug eine schwarze Jogginghose und ein weißes Hemd. Allein die Kombination sah schon seltsam aus, aber Kaiba in so einer Hose war einfach zum Brüllen komisch. „Nettes Outfit“, ich grinste ihn unverschämt an, als er mir einen finsteren Blick zuwarf. „Spotten Sie nicht!“, fuhr mich Hikawe streng an. „Schon gut“, abwehrend hob ich die Hände. „Schon mal probiert, mit einem Gips in normale Hosen zu kommen?“, knurrte Kaiba. Er starrte mich immer noch böse an, nahm mir den Spruch wohl wirklich übel. Kein Wunder. Normalerweise war er ja schon fast krankhaft auf sein Äußeres fixiert und nun wurde er zu Schlabberhosen verdammt. Ich sollte ihn lieber ablenken, bevor er mich mit seinem Blick erdolchte. „Salat“, triumphierend hielt ich mein Mitbringsel hoch. „Ich habe dir Salat mitgebracht“ „Oh Salat, wirklich?“, fragte er gespielt begeistert. „Na wenn ich Salat habe, ist ja alles wieder gut. Da sieht die Welt doch gleich anders aus!“ Ich blinzelte verwirrt. „I-ist das sarkastisch gemeint?“ Schnaufend humpelte er zum Bett und sank darauf nieder, wobei er mich mit einem vernichtenden Blick bedachte. „Rate doch mal“ „Vermutlich schon, ja“ „Darf ich bitten?“ Hikawe sah uns beide strafend an. Dabei hatte ich ja gar nichts gemacht. „Also um fortzufahren. An das Laufen mit den Krücken werden Sie sich schon gewöhnen. Denken Sie daran, den Fuß die ersten Tage immer schön hochzulegen und nicht aufzutreten. Am besten halten Sie das ganze Bein so ruhig wie möglich.“ Kaiba nickte. „Schon klar!“ „Über die Medikamente wissen Sie auch Bescheid…“, er nickte zufrieden. „Sobald Ihr Bruder da ist, können Sie gehen – also mit den Krücken meine ich. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie jederzeit anrufen. Und wenn nicht, sehen wir uns in zwei Wochen“ Kaiba nickte nur leicht. Hikawe lächelte zum Abschied noch einmal, dann ging er hinaus. Hatte ich das richtig verstanden? Kaiba war entlassen? Ich fragte ihn danach. „Was kümmert es dich?“, fragte er nur mürrisch. „Ich wollte es nur wissen.“ Seufzend stellte ich den Salat auf den Nachttisch. Er warf einen neugierigen Blick darauf, aber was er sah, schien ihn nicht zu begeistern. Dabei war der Salat gar nicht schlecht. Gurke, Tomate, Salat Möhren, Mais… Alles, was gut und lecker war. Doch Kaiba verschmähte ihn, ja er warf ihm sogar einen geradezu feindseligen Blick zu. „Sehe ich aus wie ein Hase, oder was?“, zischte er giftig. „Ich hab es doch nur gut gemeint!“ Was hatte der Kerl denn für miese Laune? Sollte er doch froh sein, dass er nach Hause konnte. „Wann kommt Mokuba denn?“ „Sobald er fertig ist!“, raunte er. Er startete einen neuen Versuch, aufzustehen. Dabei sah es ziemlich wackelig aus, als er sich aufstützte. Gekonnt war anders. Und so ganz vertraute Kaiba seinem eigenen Können mit den Stützen wohl auch nicht, denn er verharrte auf einer Stelle. „Willst du denn nicht versuchen, zu laufen?“, fragte ich. Er sah missmutig auf. Seit wann war er denn so zögerlich? Als hätte Angst vor dem ersten Schritt. Ich versuchte es ein wenig einfühlsamer. „Soll ich dich stützen? Dann geht es bestimmt leichter.“ Seine Augen flackerten leicht zwischen diesem wahnsinnigen Blau und seinem eiskalten Blick hin und her. Ohne auf eine Antwort zu warten ging ich näher an ihn heran. Ich legte meinen Arm um seine Taille. Dann nahm ich ihm vorsichtig die linke Krücke weg und legte seinen linken Arm um meine Schultern. „Versuch, zu laufen. Wenn du fällst, werde ich dich schon halten, keine Sorge.“ Ich mochte es nicht, wenn ihm etwas Angst machte. Kaiba war immer stolz und stark gewesen und das sollte er nicht meinetwegen verlieren. Er sah mich fast schon schockiert darüber an, dass ich es wagte, ihn so zu bevormunden. Aber das war mir egal. So nah hatte ich seine Augen noch nie gesehen. Dieses Blau war aus der Nähe noch viel unglaublicher als sowieso schon. So Blau, als könnte man darin ertrinken. Unwillig schüttelte ich den Kopf, konzentrierte mich darauf, ihn dazu zu bewegen, zu laufen. Ich musste ihn fast schon ziehen, damit er gezwungen war, den anderen Fuß und die Krücke nachzuziehen. Er knurrte leicht, ganz und gar nicht begeistert. „Komm schon“, meinte ich sanft. „Das wird schon. Du musst nur ein bisschen üben“ Ich umfasste seine Taille noch ein bisschen fester, übte leichten Druck darauf aus, damit er sich endlich in Bewegung setzte. Und es funktionierte. Er schob die Krücke ein Stück vor, ehe er sehr zögerlich den gesunden Fuß vom Boden löste und einen Schritt machte. Er stützte sich dabei auf der Krücke und mir auf und seine Finger krallten sich fast schon schmerzhaft in meine Schulter. „Siehst du? Das geht doch ganz gut.“, ermutigend lächelte ich ihn an. „Komm, noch ein paar Schritte, ja?“ Er nickte zögerlich. Und so drehten wir eine kleine Runde durch das Zimmer. Von Schritt zu Schritt wurde er sicherer. „Und jetzt versuch es, mit beiden Krücken“ Er drehte noch eine weitere Runde mit beiden Krücken. Langsam kam er damit zurecht, auch wenn er immer noch ziemlich langsam ging. „Das ist anstrengend“, schnaufend ließ er sich wieder aufs Bett fallen. Ich setzte mich neben ihn. „Die ersten Tage sollst du ja sowieso lieber stillhalten Und immerhin kannst du jetzt damit laufen“ Seine Augen richteten sich auf mich, musterten mich nachdenklich. „Wieso hilfst du mir?“ „Damit du zurechtkommst“ Er nickte „Also willst du dein Gewissen beruhigen“ „Was? Das ist nicht wahr!“, fuhr ich hoch. Okay, vielleicht war das ein minimaler Grund, aber inzwischen kümmerte ich mich sogar fast schon gerne um ihn. Es war irgendwie aufregend und ich fand es toll, wenn er handzahm wie gerade beim Laufen wurde. Ich musste ihn mal Fragen, welches Aftershave er benutzte. Sein Geruch war nämlich ziemlich betörend. „Ich denke, ich will dir einfach nur helfen, damit du schnell wieder zu deiner alten Form findest.“, meinte ich nachdenklich. Ich grinste ihn frech an. „Ich kann mich ja nicht mit einem Krüppel streiten. Das wäre doch unfair.“ „Zu freundlich“, er schnaubte leicht. Endlich kam Mokuba. Er hatte die Limousine vorfahren lassen, damit Kaiba auch wirklich keinen Schritt zu viel machen musste. Trotzdem blieb ich lieber dicht an seiner Seite, falls er fiel. Zum Glück gab es im Krankenhaus Fahrstühle, denn ich bezweifelte, dass Kaiba schon in der Lage war, Treppen zu steigen. Als er ziemlich unbeholfen darum bemüht war, in die Limo zu steigen, fragte ich mich, wie er eigentlich in sein Zimmer kommen wollte. Ich war nur einmal zu Mokubas Geburtstag in der Villa gewesen, aber wenn ich mich richtig erinnerte, lag Kaibas Zimmer in der oberen Etage im linken Seitenflügel. Absolute Sperrzone für Besucher. Nur wie wollte er die elendig lange Treppe erklimmen? Eigentlich war das ja nicht mehr mein Problem. Zuhause hatte Kaiba genug Angestellte, die sich um ihn kümmern konnten. Da würde er meine Hilfe bestimmt nicht mehr wollen. Aber noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, packte mich Mokuba einfach an der Hand und zerrte mich in die Limousine. Ich wollte protestieren, doch da fuhren wir auch schon los. Und dann musste ich auch noch rückwärts sitzen. Während Mokuba und ich entgegengesetzt der Fahrtrichtung saßen, hatte Kaiba auf der anderen Bank sein Bein hochgelegt und musterte mich skeptisch. „Gibt es einen Grund dafür, dass du mitfährst?“, fragte er argwöhnisch. „Wüsste ich auch gern“ Überrascht hob er eine Augenbraue. „Wie soll ich das verstehen?“ „Wir brauchen ihn noch“, warf Mokuba ein. „Wofür? Als Wachhund?“ „Du bist so reizend, Kaiba“ „Ich weiß“ Wir warfen uns während der restlichen Fahrt giftige Blicke zu, und ich genoss es. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal seine Sticheleien vermissen würde. Aber es zeigte mir, dass er langsam wieder zu seiner alten Form zurückfand. Stark und arrogant, so kannte ich ihn. Als die Limousine vor der Villa hielt, war ich sogar so freundlich, Kaiba galant meine Hand zu reichen und ihm aus dem Wagen zu helfen. Erstaunlicherweise schien er mir in der Hinsicht zu vertrauen. Er war nicht misstrauisch und hatte auch keine Angst, wenn ich ihn hielt. Und er ließ sich auch ohne zu zögern von mit stützen, während der Chauffeur die Krücken aus dem Kofferraum holte. Mir war das nur recht. Mir gefiel der Gedanke, dass er meine Nähe nicht scheute. Mokuba rannte schon vor, während ich bei Kaiba blieb, der im Schneckentempo in die Villa humpelte. Obwohl ich schon mal zu Besuch gewesen war, erschlug mich diese gigantische Vorhalle fast. Staunend lief ich Kaiba hinterher. Er humpelte in ein großes gemütlich aussehendes Wohnzimmer und ließ sich auf eine große rote Couch fallen. Der kurze Weg schien ihn bereits angestrengt zu haben, denn er sah ein wenig erschöpft aus. Da kam Mokuba wieder. Er warf Kaiba ein schwarzes T-Shirt zu. Als dieser fragend aufsah, meinte der Kleine nur streng. „Entweder leger oder elegant. Aber der Mix sieht total dämlich aus.“ Kaiba warf ihm einen finsteren Blick zu. „Wen kümmert das schon?“ „Wir kriegen gleich Besuch. Also zieh dich um“ „Besuch? Wen?“ „Wirst du ja dann sehen“, damit rannte Mokuba schon wieder weg. Der Junge war ein wahrer Wirbelwind. Seufzend zog Kaiba das blütenweiße Hemd aus und dafür das T-Shirt an. Netter Oberkörper. Wirklich äußerst nett. Er war überraschenderweise gar nicht so schlaksig wie ich immer gedacht hatte, sondern doch recht gut definiert. Nein wirklich, seine Muskeln wirkten sehr filigran und doch gut ausgeprägt. Besonders sein Bauch war äußerst ansprechend. Flach, mit durchschimmernden Bauchmuskeln und einem ziemlich niedlichen Bauchnabel. Die Haut sah champagnerfarben, warm und weich aus. War es verrückt, dass ich Kaiba schön fand? Das war er wirklich. Ich hätte immer gedacht, dass sein Körper noch recht knabenhaft sein würde, vielleicht sogar mit Hühnerbrust. Aber er war doch angenehm gut entwickelt. Ich hätte immer gedacht, er würde keinen Sport treiben, aber bei dem Anblick den er bot, musste er doch irgendetwas machen. Unwillig schüttelte ich den Kopf. Ja, er war schön, aber das war nichts, worüber ich nachdenken sollte. Mokuba kam wieder. Und diesmal hatte er zwei Polizisten im Schlepptau. Eine noch recht junge Frau vielleicht Mitte zwanzig und ein älterer Kollege. Nicht nur ich staunte nicht schlecht, auch Kaiba wirkte vollkommen perplex. Wie aus einem Reflex stand er auf. Anscheinend fiel ihm zu spät ein, dass er mit dem linken Fuß besser nicht auftreten sollte, aber da stand er schon. Er sog scharf die Luft ein vor Schmerz, blieb jedoch stehen, um sich keine Blöße zu geben. Ich sah, wie er den Gips ganz leicht wieder vom Boden löste, wenige Zentimeter darüber schweben ließ. In diesem Fall war Kaibas krankhafter Stolz für ihn wohl ziemlich schmerzhaft. Aber er überspielte es gut. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er kühl. „Wir sind hier, um Ihnen zu helfen“, erwiderte der eine Polizist freundlich. Mokuba wies ihnen zwei Sessel zu. „Setzen Sie sich doch“ Dann ging er um den Glastisch, der zwischen den Sitzmöbeln stand, herum, stieß seinen Bruder unsanft zurück auf die Couch und verschwand erneut. Irritiert sah Kaiba ihm nach. Scheinbar verstand er die Welt nicht mehr. Sein sonst so lieber kleiner Bruder hetzte ihm nicht nur die Polizei auf den Hals, nein, er schubste ihn auch noch um. Seufzend zog er sein lädiertes Bein auf die Couch. An seinen Augen sah ich, dass es wohl doch noch vom Auftreten wehtat. Selber Schuld! „Also wieso sind Sie hier?“, fragte er geschlagen. „Ihr Bruder erzählte uns, dass Sie Anzeige erstatten möchten“, erklärte der Mann. Er deutete auf Kaibas Gips. „Deswegen“ Sofort wanderte sein Blick zu mir. Er starrte mich durchdringend an und das mit diesen vor Schmerz hellblauen Augen. Wie hypnotisiert starrte ich zurück. Wollte er etwa, dass ich mich äußerte? Dann sollte er gefälligst wegschauen! Ich konnte nicht denken, wenn mir seine Augen das Gehirn einfroren. Auch Kaiba erkannte, dass er von mir gerade nichts erwarten konnte. Seufzend wandte er sich wieder den Beamten zu. „Und jetzt möchten Sie, dass ich eine Aussage machte“ „So richtig. Wir bräuchten Ihre Aussage und die von Mr. Wheeler auch, da er ja wohl Zeuge ist“ „Und wenn ich nicht will?“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Dann gibt es auch keine Anzeige.“ Mokuba kam wieder. Er trug ein Tablett mit Kaffee. Vor jedem von uns stellte er eine Tasse ab, ehe er sich zu Kaiba auf die Couch setzte. „Mein Bruder möchte aber aussagen“, sagte er bestimmt. „Möchte ich?“, Kaiba sah den Kleinen böse an. „Wann wolltest du mir das mitteilen?“ „Jetzt“, der Junge erwiderte den Blick, der ihn scheinbar im Gegensatz zu mir vollkommen kalt ließ. „Wenn du keine Anzeige erstattest, kommt der Typ einfach so davon. Das ist nicht fair!“ „Und wenn ich Anzeige erstatte, passierte ihm auch nicht viel mehr. Dann wird er eine Strafe zahlen müssen, aber eingesperrt wird er dafür sowieso nicht!“ „Das ist so nicht richtig“, warf die junge Polizistin ein. Ihre Stimme war hell und nicht sehr autoritär, aber ziemlich angenehm. „Der Tatverdächtige hat bereits ein langes Vorstrafenregister. Ihre Anzeige könnte ausreichen, um ihn in Jugendarrest zu schicken“, sie lächelte Kaiba freundlich an. Ein bisschen zu freundlich für meinen Geschmack. „Außerdem können Sie Ihre Schadensansprüche geltend machen. Die Behandlung eines gebrochenen Knöchels kann schnell mal 10.000-20.000 Dollar kosten.“ „Sehe ich aus, als wäre ich auf sein Geld angewiesen?“, fragte Kaiba grimmig. Mokuba stieß ihm den Ellbogen in die Seite. „Für dich mag es nicht viel sein, aber für den Typen schon. Mit der Anzeige kannst du ihn ordentlich einseifen“ Er grummelte leicht, aber schließlich gab er Mokubas forderndem Blick nach. „In Ordnung“, murmelte er nur. „Sehr schön“, die Polizistin lächelte erfreut. „Dann werde ich Ihre Aussage aufnehmen und mein Kollege befragt Mr. Wheeler“ Getrennte Befragung, war ja klar. Im Prinzip hatte ich ja auch nichts dagegen, aber die Frau schien ein bisschen zu begeistert darüber, Kaiba befragen zu dürfen. Kopfschüttelnd folgte ich dem älteren Kollegen in ein Nachbarzimmer. Ich erzählte ihm, was sich an dem Abend zugetragen hatte. Er fragte immer mal wieder nach Kleinigkeiten, die mir gar nicht so wichtig schienen, für ihn aber wohl doch von Belang waren. Der Mann war wirklich geduldig dabei. Wenn ich zu schnell wurde, bat er mich höflich, zu wiederholen. Ich sah ihm an, dass mein diffuser Gedankengang ihm missfiel, aber er blieb trotzdem höflich, schaffte es sogar, meine Gedanken in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Er schrieb meine Aussage fein säuberlich auf und ließ sie mich unterschreiben. „Das war es schon“, er lächelte mich freundlich an, erleichtert darüber, dass wir doch noch eine vernünftige Aussage zustande gebracht hatten. Wir gingen zurück in das große Wohnzimmer. Kaiba war scheinbar auch schon fertig. Auf dem Tisch lag seine Aussage. Ich wollte einen Blick darauf werfen, aber die Polizistin zog das Schriftstück schnell an sich. „Das wärs dann soweit von uns.“, erklärte der Ältere. „Wir leiten alles Weitere in die Wege“ Kaiba wollte aufstehen, um die Polizisten zu verabschieden, doch der Mann drückte ihn wieder auf die Couch, bevor er überhaupt die Chance erhielt, wieder mit dem lädierten Fuß aufzutreten. „Bleiben Sie ruhig sitzen. Wir finden den Weg schon selbst.“ Kaiba nickte nur matt. Er sah ein wenig erschöpft aus. „Gute Besserung“, die junge Polizistin zwinkerte ihm nochmal zu, dann gingen sie. Ich geleitete sie zur Tür, einfach nur der Höflichkeit halber. Aber sie achteten gar nicht wirklich auf mich, also taperte ich nur hinterher. „Man könnte meinen, du hättest mit dem Jungen geflirtet“, neckte der Ältere seine Kollegin. „Ist ja auch ein hübsches Kerlchen“, sie stritt es nicht mal ab. „So schöne blaue Augen… hach, wenn ich nochmal siebzehn wäre…“ „Dann heirate ihn doch, wenn du ihn so toll findest. Ein schlechter Fang ist er ja nicht, wenn ich mir die Bude so anschaue“ Sie lachte glockenhell. „Klar, dann hätte ich ausgesorgt. Aber er ist mir zu jung und ein bisschen wortkarg.“ „Schade. Ich dachte, ich könnte dich dann besuchen und diesen riesigen Swimmingpool benutzen“ War ja schön, dass die das alles so unbekümmert sahen. Seufzend schlug ich die Tür hinter ihnen zu. Das wäre erledigt. Die zwei waren zwar erstaunlich nett gewesen, aber irgendwie vermittelte mir Polizei immer ein seltsames Gefühl. Ich schleppte mich wieder zurück ins Wohnzimmer und ließ mich in einen Sessel sinken. Kaiba saß nach wie vor auf der Couch und starrte finster vor sich hin. „Alles deine schuld!“, murrte er. „Dass die Polizei hier war?“ „Alles!“ „Was alles?“, was meinte er denn? „Einfach alles Schlechte, was diesen Planeten jemals heimgesucht hat!“ Er wirkte irgendwie ziemlich beleidigt. Dabei hatte ich ihm gar nichts getan. Vielleicht war er auch nur schlecht drauf, weil sein Knöchel wehtat. Aber dafür konnte ich ebenfalls nichts. Er hätte ja damit nicht auftreten müssen. „Schon klar!“ Sollte er mir doch die Schuld an allem geben, wenn es ihm half. „Wenn dir das so klar ist, dann verschwinde!“, raunte er. „Bitte?“ Den Zusammenhang verstand ich jetzt nicht. Aber vielleicht hatte er auch nicht mehr die Energie, logisch zu denken. „Geh nach Hause!“, er zog den Fuß wieder aufs Sofa, betrachtete den Gips. „Ich brauche keinen Babysitter“ Vielleicht hatte er recht. Es wäre ziemlich schwachsinnig, ihn auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Er musste auch allein zurechtkommen. „In Ordnung“, langsam stand ich auf. „Dann lasse ich dich in Ruhe.“ Er nickte, sah mich abwartend an. „Dann schon dich die nächsten Tage. Ich bringe dir dann die Hausaufgaben“ Er wollte protestieren, aber bevor er dazu kam, verließ ich zügig die Villa. Mir war klar, dass das ziemlich unsinnig war, da er vor den Sommerferien eh nicht wiederkommen würde. Aber so hatte ich wenigstens einen Vorsatz, ihn bald wieder zu besuchen. Kapitel 4: Rückschritt ---------------------- Es war schwer, durchzuhalten, ohne Kaiba zu besuchen. Aber wenn ich ihn nicht nerven wollte, musste ich ihn auch mal ein paar Tage in Ruhe lassen. Mein Plan sah vor, die ersten drei Wochen gar nichts zu unternehmen. Danach würde Kaiba bestimmt wesentlich zugänglicher sein. Dann könnte er nämlich schon wieder auftreten und wunderbar zurechtkommen. Doch Kaiba, dieser elende Sturkopf, machte mir einen Strich durch die Rechnung. Es waren gerade mal zwei Wochen vergangen, als mich Mokuba am Montag in der Mittagspause vom Schulhof direkt in die Limousine zerrte. Was zum-? Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als wir uns auch schon in Bewegung setzten. „Wohin fahren wir?“ „Ins Krankenhaus“, der Kleine sah irgendwie ziemlich verärgert aus. „Wieso? Ist etwas passiert? Hat es mit Kaibas Knöchel zu tun?“ Hoffentlich war es nichts Schlimmes. „So in der Art“, Mokuba sah mir direkt in die Augen. „Du kennst meinen Bruder, du weißt, dass er stur ist“ Ich nickte, aber worauf wollte er hinaus? „Nun, sagen wir, er hat diese verordnete Ruhe nicht ganz so ernst genommen?“ während er sprach, verfinsterte sich Mokubas Blick. „Soll heißen?“ „Der Idiot ließ sich nicht davon abhalten, weiter täglich in die Firma zu humpeln.“ Oha. Wieso überraschte mich das eigentlich? Er war doch mit Abstand der sturste Kerl, den ich kannte. War doch klar, dass er sich von einem angebrochenen Knöchel nicht von seiner Arbeit abhalten ließ. „Und jetzt ist es schlimmer geworden?“, fragte ich besorgt. „Keine Ahnung. Das wird ja gleich der Arzt feststellen. Eigentlich soll er ja heute den Gehgips bekommen“ Stimmt, zwei Wochen waren um. „Aber wozu brauchst du jetzt mich?“ Der Kleine sah mich irgendwie seltsam an. „Ich denke, wenn du ihn deswegen anpfeifst, wird er eher darauf hören, als auf mich“ „W-was? Warum sollte er?“ Kaiba sollte auf mich hören? Na klar, weil wir uns sonst ja auch so gut verstanden! „Seto meinte, du hast ihm geholfen, mit den Krücken umzugehen. Dich lässt er also an sich heran“, fuhr Mokuba fort. „Ich denke, bezüglich dieses Themas vertraut er dir“ Kaiba… vertraute mir? Wow, das machte mich echt sprachlos. Und stolz. Der kleine Sturkopf ließ sich also tatsächlich etwas von mir sagen. Bei dem Gedanken musste ich grinsen. „Jeden anderen hätte er garantiert weggestoßen, aber von dir ließ er sich sogar bedenkenlos festhalten, als er damals bei der Villa aus der Limousine gestiegen ist“ „Also mag er mich irgendwo doch“ Irgendwie ließ diese Erkenntnis innerlich einen kleinen Freudenhüpfer machen. „Mögen, naja…“ Mokuba wiegte den Kopf hin und her. „Ich bin zwar sein Bruder, aber auch ich weiß nie genau, was Seto denkt. Er ist nicht gerade der Typ, der sein Herz auf der Zunge trägt“ So hätte ich ihn auch nicht eingeschätzt. Unterkühlt und distanziert war Kaiba schon immer gewesen. Aber ich war mir trotzdem fast sicher, dass er zumindest eine minimale Sympathie für mich hegte. Sonst hätte er mich wahrscheinlich schon weggestoßen, als ich ihm im Krankenhaus mit den Krücken geholfen hatte. Wir wurden vor dem Krankenhaus abgesetzt. Ich wollte reingehen, aber Mokuba hielt mich zurück. „Er müsste gleich kommen.“ Tatsächlich fuhr wenige Minuten später eine weitere Limousine vor und Kaiba stieg in Begleitung von Roland, seinem PA, aus. Sie waren beide pikfein angezogen. Roland stand der schwarze Anzug ja schon gut, aber bei Kaiba saß er wirklich wie angegossen. Er schmiegte sich perfekt an seine breiten Schultern und unterstrich seine schlanke Statur, zeigte dabei aber nicht, dass er durchaus gut trainiert war. Die schwarzen Hosen schmeichelten seinen langen Beinen ohne sie aber zu lang und schlaksig wirken zu lassen. War bestimmt eine Maßanfertigung. Er trug einen schwarzen auf Glanz polierten Lederschuh und die Haare waren ordentlich zu einem Seitenscheitel gekämmt. Sein ganzes Outfit wirkte unendlich elegant, selbst der Gipsfuß änderte nichts daran. Aber als Roland ihm die Krücken reichte, wurde es doch ein klein wenig lächerlich. Da stand er, von oben bis unten gestriegelt und dann kamen dazu diese albernen Krücken. Ohne auf Mokubas bösen Blick zu achten, humpelte er voran. Mich beachtete er nicht einmal. Also folgten wir ihm nur schweigend. Mir fiel auf, dass er inzwischen wirklich sicher mit den Krücken laufen konnte. Er war viel schneller als noch vor zwei Wochen. So eine wichtige Person wie Kaiba kam natürlich auch sofort ran. Doktor Hikawe schnitt den Gips auf und untersuchte das Bein. Es war gar nicht mehr so geschwollen wie direkt nach dem Unfall. Eigentlich sah sein Knöchel fast normal aus. „Gab es irgendwelche Probleme?“, fragte er, während er langsam vom Knöchel zur Fußsohle glitt. „Alles Bestens“, Kaibas Antwort kam viel zu schnell. Als Hikawe leichten Druck auf die Fußsohle ausübte, verspannte sich sein ganzer Körper. Es tat anscheinend weh. Wieso log er? Der Arzt schien es zumindest nicht zu bemerken. „Dann röntgen wir das mal“ Während Kaiba brav sein Beinchen röntgen ließ, wandte Mokuba sich an mich. „Ist dir etwas aufgefallen?“ Was sollte mir aufgefallen sein? Dass er in diesem Anzug ziemlich gut aussah? Dass die zum Seitenscheitel gekämmten Haare seinem Gesicht unglaublich schmeichelten? Nein, er meinte bestimmt etwas anderes. „Dass er Schmerzen hatte, als Hikawe Druck auf seine Fußsohle ausgeübt hat?“ Mokuba nickte. „Eigentlich dürfte es nicht mehr so schlimm sein. Er sollte ja heute den Gehgips kriegen“ „Aber warum ist es denn noch so schlimm?“ „Kannst du dir das nicht denken?“, verärgert wandte sich der Kleine Roland zu, der sich bis jetzt seelenruhig im Hintergrund gehalten hatte, wahrscheinlich nur wartete, bis Kaiba fertig war und wieder zur Firma wollte. „Wenn Sie ihm nicht geholfen hätten, hätte er das nie durchziehen können!“, fauchte Mokuba. Roland rückte ungerührt seine Sonnenbrille zurecht. „Mr. Kaiba ist mein Chef. Ich habe zu tun, was er von mir verlangt.“ „Aber nicht, wenn es ihm schadet!“ „Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass ich sein Vorhaben nicht unterstützen kann. Aber davon wollte er nichts hören. Er hat mir sogar gedroht, mich zu entlassen, wenn ich mich da einmische“ Mokuba schnaubte. „Typisch! Ab sofort werden Sie keine Befehle mehr von ihm entgegen nehmen! Mein Bruder ist krankgeschrieben. Er darf gar nicht arbeiten!“ „A-aber“ „Nichts aber! Warten Sie bei der Limousine. Ich komme gleich nach und dann regeln wir alles“ Erstaunlicherweise kuschte Roland tatsächlich. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Behandlungszimmer. „Was war das?“, fragte ich verwirrt. Mir erschien das alles ziemlich merkwürdig. „Mein Bruder hätte es nie geschafft, das alles durchzuziehen, wenn Roland ihm nicht geholfen hätte. Er hat ihn herumchauffiert, ihm geholfen unauffällig durch den Hintereingang in die Firma zu kommen und alles so arrangiert, dass er alle Geschäftsmeetings in seinem Büro abhalten konnte.“ Ah ja… Das klang ganz nach Kaiba. Aber das mit dem hereinschleichen verstand ich nicht. Ich fragte Mokuba danach. Er verdrehte die Augen. „Mein Bruder ist dermaßen eitel! Er wollte nicht, dass seine Angestellten oder seine Geschäftspartner sehen, dass er einen Gips tragen muss.“ „Ist das denn keinem aufgefallen?“ „Von der Tiefgarage aus führt ein Fahrstuhl, den nur mein Bruder benutzen kann, bis in die Chefetage. Seinen Sekretärinnen hat er frei gegeben, also war er da ganz allein.“, der Kleine seufzte. „Und sein Schreibtisch hat eine Rückwand, also kann niemand sein Bein sehen, wenn er sich dahinter befindet.“ Für mich klang das ziemlich ausgeklügelt. Aber wo war da das Problem? Bei der Arbeit saß er doch eh nur herum. „Aber bei der Arbeit kann er sein Bein ja nicht hochlegen. Und um dahin zu kommen, muss er ja auch ziemlich durch die Gegend hüpfen.“, erklärte Mokuba. „Außerdem hast du doch gesehen, was er macht, wenn andere den Raum betreten“ Was denn? Ich dachte an die Polizisten. „Er steht auf“ Mokuba nickte. Als der Kleine sie hereingeführt hatte, war Kaiba ganz automatisch aufgestanden. Dann würde er das wohl auch machen, wenn er seine Geschäftspartner empfing. Sein Stolz ließ es wohl wirklich nicht zu, dass er sich die Blöße gab, seine Verletzung zuzugeben. Dann musste es ihm vermutlich ziemlich gegen den Strich gehen, dass ich davon wusste. Endlich kam Kaiba wieder. Zielsicher humpelte er zum Behandlungstisch und setzte sich darauf. „Wo ist Roland?“ „Ich habe ihm gesagt, dass er, solange du krankgeschrieben bist, nicht mehr unter deiner Leitung arbeitet.“, murrte Mokuba. Kaiba schien das alles andere als lustig zu finden. „Bitte was? Was denkst du dir dabei!“ „Dass du deinen Fuß nicht schonst, wenn man dich nicht dazu zwingt!“ Kaiba wollte etwas erwidern, aber der Arzt kam ihm zuvor. Er hielt das Röntgenbild hoch, als er eintrat. „Das sehe ich genauso“, bemerkte er. „Der Heilungsprozess ist nicht so fortgeschritten, wie er sein sollte.“ „Da siehst du es!“ triumphierend zeigte Mokuba auf die Aufnahme, auch wenn ich mir sicher war, dass er darauf genauso wenig erkannte wie ich. „Ich hab dir gesagt, dass es nicht besser wird, wenn du das alles auf die leichte Schulter nimmst!“ Brühwarm erzählte er dem Arzt alles über Kaibas Arbeitswahn. „Ist doch kein Wunder, dass das nicht heilt!“ endete er. Hikawe starrte Kaiba missbilligend an. „Mir scheint, Ihnen ist nicht ganz klar, was Sie da tun. Die Krankschreibung gilt nicht nur für die Schule sondern auch für Ihre Arbeit.“ „Das ist doch alles total übertrieben!“, knurrte Kaiba. Wenn Blicke töten könnten, wäre Mokuba vermutlich tot umgefallen. Hikawe verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie viele Geschäftsmeetings hatten Sie denn?“ „Nicht viele. Fünf. Alles nicht so schlimm“ „Und bei allen fünf Treffen sind Sie aufgestanden und haben den angebrochenen Knöchel belastet, nicht wahr?“ Der Arzt hob herausfordernd eine Augenbraue. Doch Kaiba schien das immer noch nicht allzu tragisch zu sehen. „Ist ja nicht so, als hätte ich stundenlang darauf gestanden.“ „Und bei der Arbeit konnten Sie den Fuß nicht hochlegen. Wie lange haben Sie denn gearbeitet?“ „10 Stunden am Tag“, warf Mokuba ein. Das schien den Arzt noch weniger zu begeistern. „Wissen Sie eigentlich, dass Sie großes Glück gehabt haben, dass sich der Bruch nicht verschlimmert hat? Der Knochen ist verdammt instabil, er hätte auch brechen können. Dann müssten wir nämlich doch operieren. Das Ganze wirft Sie um mindestens eine Woche im Heilungsprozess zurück.“ Okay… das machte Kaiba doch ein wenig sprachlos. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn jedoch schnell wieder, ohne einen Ton herausgebracht zu haben. „Dann gipsen wir Ihr Bein mal wieder ein“ „Gehgips?“, fragte Kaiba vorsichtig. Der böse Blick, den Hikawe ihm zuwarf, ließ ihn vollends verstummen. Er sagte keinen einzigen Ton mehr, während Hikawe ihm einen neuen Gips anlegte. Mokuba bombardierte ihn regelrecht weiter mit Vorwürfen. Selbst mir wurde das zu viel, vor allem, weil Kaiba keine Anstalten mehr machte, sich auch nur ansatzweise zu verteidigen. Also schob ich den Kleinen mit Nachdruck vor die Tür und wies ihn darauf hin, dass Roland auf ihn wartete. „Na schön“, murrte er. „Kannst du ihn dann zur Villa begleiten und aufpassen, bis ich wiederkomme?“ Ich bezweifelte zwar, dass Kaiba einen Babysitter brauchte, aber ich nickte brav. Hauptsache der Kleine hörte endlich auf, ihn so anzugreifen. Dass Kaiba das nämlich doch an die Nieren ging, zeigte sein Blick so deutlich. Seine Augen waren irgendwie matt und hatten einen Ausdruck der Resignation angenommen. „Ich empfehle Ihnen wirklich, alles ein bisschen ruhiger anzugehen.“, sagte Hikawe, als er fertig war. „Schonen Sie sich, legen Sie das Bein hoch.“ Kaiba nickte nur schwach, nicht mehr gewillt, gegen irgendetwas zu protestieren. „Ich rate Ihnen wirklich, diesmal meine Anweisungen zu befolgen. Sollte nämlich bis nächste Woche wieder keine Besserung eingetreten sein, werde ich doch dafür plädieren, den Bruch mit Schrauben zu fixieren. Und dann gipse ich Ihr Bein bis zum Oberschenkel ein.“ Der Arzt sagte es ruhig, aber ich sah, dass es bei Kaiba Panik auslöste. Er hatte Angst vor einer Operation. Konnte ich nachvollziehen. „Es wird nächste Woche besser sein!“, sagte ich bestimmt. Beide sahen mich überrascht an. Was denn? Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, um ihm die Operation zu ersparen. Reichte ja schon, dass er den Gips noch eine Woche länger würde tragen müssen. Hikawe nickte nur. „Das hoffe ich doch“ Nur Kaiba schien dem ganzen nicht so ganz zu glauben. Er sah mich nur unverwandt an, als zweifle er an meinem Verstand. „Komm schon“, ich drückte ihm seine Krücken in die Hand. „Bringen wir dich nach Hause“ Wortlos folgte er mir. Unten stand die Limousine, mit der Mokuba mich abgeholt hatte. Die andere war schon weg. Vermutlich regelte der Kleine gerade die Firmenangelegenheiten. Ich half Kaiba beim Einsteigen und kletterte dann schnell hinterher. Irrte ich mich oder war er seit der Ansage des Arztes wesentlich zögerlicher? Er bettete sein Bein so vorsichtig auf der Rückbank, als wäre es aus Glas. Scheinbar hatte ihn Hikawe wirklich verschreckt. Dass ich mitfuhr, hinterfragte er nicht einmal mehr. Fast als hätte er seine Stimme verschluckt. Unentschlossen rang ich mit den Händen. Ich wusste nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, wenn er so ruhig war. Sollte er mich meinetwegen anschreien, in Grund und Boden brüllen. Das wäre mir tausendmal lieber als seine jetzige Zurückhaltung. „Netter Gips“ Okay, das war blöd. Aber ich musste einfach irgendetwas sagen, um diese Stille zu durchbrechen. Ich hätte gedacht, dass er darauf anspringen und wütend reagieren würde. Aber er nickte nur vage. Ich schnaubte genervt. „Nun komm schon! Tu tust so, als würde die Welt untergehen.“ Aber auch darauf reagierte er nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken. „Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird keine Operation geben, dafür werde ich schon sorgen“ Da sah er doch auf. Wieder dieser kritische Blick. „Wie soll das gehen?“ „Ganz einfach. Ich werde einfach aufpassen, dass du dein Füßchen schonst“ ich sagte das mit einem Brustton der Überzeugung, der ihn zu verblüffen schien. Er neigte den Kopf etwas. „Warum?“ „Weil du das ja scheinbar nicht kannst“, ich grinste ihn unverschämt an. „Eigentlich sollte es niemanden überraschen, dass du das nicht geschafft hast. Jeder hätte wissen müssen, dass du das unterschätzt und dich wieder in die Arbeit stürzt“ Er schien einen Moment darüber nachzudenken. Aber dann nickte er. „Stimmt, es ist alles eure Schuld“ „Unsere?“ „Ihr hättet mit meiner Sturheit rechnen und mich abhalten müssen“, er nickte bekräftigend, bedachte mich mit einem fast schon vorwurfsvollen Blick. Er brachte das dermaßen überzeugt rüber, dass ich lachen musste. Immerhin gewann er langsam wieder seinen Biss. Und er schien optimistischer zu werden. „Wieso bist du eigentlich so herausgeputzt?“, fragte ich interessiert. Er sah wirklich umwerfend in diesem Anzug aus, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er immer so zur Arbeit ging. „Geschäftsmeeting mit Franzosen“ „Wichtige Kunden?“ Er nickte. „Sehr wichtig.“ „Und deswegen bist du so aufgebrezelt? Wolltest du die mit dem Outfit und Augenaufschlag bezirzen oder was?“ Da wurde sein Blick schlagartig eisig und kalte Wut glomm darin. „Du denkst tatsächlich, ich würde versuchen, mir durch mein Aussehen Vorteile zu verschaffen?“ Oh, das nahm er mir wirklich übel. „Ich bin nicht so ein abgewrackter Stricher wie du!“, knurrte er. Na Wahnsinn, jetzt wurde er auch noch beleidigend. Wer hätte gedacht, dass er darauf so empfindlich reagierte? „Krieg dich mal wieder ein!“, raunte ich. „Meine Firma ist die erfolgreichste in ganz Asien.“, zischte er. „Und sie ist es, weil ich mir diesen Erfolg hart erarbeitet habe. Ich habe die besten Aufträge und Verträge, weil ich der Beste bin und nicht, weil ich mir durch mein Aussehen Vorteile verschafft habe! Ich würde nie meinen Körper verkaufen!“ Argh! Das wollte ich doch gar nicht sagen. Ich würde nie auch nur auf die Idee kommen. Es gab auf der ganzen Welt keinen Menschen, der mehr Stolz besaß als Seto Kaiba. „Das meinte ich auch gar nicht!“ „Was dann?“ Man, der konnte wirklich furchteinflößend knurren. „Ich wollte nur wissen, warum du dich so fein machen musst, nur wegen ein paar Franzosen“ Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben und nicht ebenso beleidigend wie er zu werden. Aber dann hätte er mich vielleicht aus der Limousine gekickt und ich hätte nicht mehr dafür sorgen können, dass er sich schont. Womöglich hätte er dann doch die Operation ertragen müssen und das wollte ich einfach nicht. Also versuchte ich, ruhig zu bleiben. „Es geht um Seriosität, Wheeler“, er schnaubte, „Aber davon verstehst du nichts“ „Dann erkläre es mir“ Er musterte mich skeptisch, als wüsste er nicht, ob er mich ernstnehmen sollte, ob es mich tatsächlich interessierte. Tat es nicht, aber wenn er von seiner Arbeit sprach, regte er sich dabei vielleicht wieder ab. „Es ist schwer, in der Geschäftswelt ernstgenommen zu werden, wenn man jung ist. Schon Geschäftsmänner unter 40 werden als noch grün hinter den Ohren und unerfahren eingestuft. Aber ich bin gerade mal 18. Da ist es schwer, sich Respekt zu verschaffen“, er beobachtete mich kritisch, genau darauf achtend, ob ich überhaupt zuhörte. Das tat ich. Also fuhr er fort. „Viele glauben, Sie könnten mich übers Ohr hauen oder für dumm verkaufen. Deswegen ist das Auftreten entscheidend. Verstehst du das?“ Ich nickte. Mit diesem Anzug sah er aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, autoritär und vermögend. Aber auch wie ein gebildeter Mann, nicht wie ein dummer Teenager. Ich zumindest würde mir nicht zutrauen, ihn überlisten zu können. Sein Erscheinungsbild schien nämlich zu sagen: »Mach mit mir Geschäfte und du wirst ein reicher Mann. Aber versuchst du, mich zu verarschen, wachst du morgen mit Betonschuhen auf« „Also vermittelt dein Aufzug Kompetenz und Erfolg“, schlussfolgerte ich. Er nickte, scheinbar milde davon angetan, dass ich es tatsächlich verstand. Ich begriff ja, was er mir damit sagen wollte, aber nutzte er denn so nicht auch sein Äußeres zu seinem Vorteil? Kompetenz und Erfolg schön und gut, aber was ihn in jedem Look ausmachte, waren diese blauen Augen und seine schlanke gazellengleiche Gestalt. Der Anzug schmeichelte ihm zwar, aber wäre er klein und dick, könnte der das auch nicht retten. Ich meine, Nachteile hatte er durch sein Aussehen ganz bestimmt nicht. Besser, ich fragte nicht danach. Vielleicht zählte das auch zu dem ganz normalen Alphamännchengehabe der Geschäftswelt. Schließlich liefen alle Geschäftsmänner in Anzügen herum. Nur keinem stand er so gut wie Kaiba. „Aber es geht nicht nur um das Erscheinungsbild, sondern auch um das Auftreten“, fuhr er fort. „Der erste Eindruck ist entscheidend. Sobald dein Verhandlungspartner den Raum betritt, musst du ihm also den Eindruck vermitteln, den er von dir haben soll.“ „Und der wäre?“ „Wenn jemand in mein Büro kommt, muss ihm gleich klar werden, dass das mein Revier ist und meine Regeln gelten. Also muss ich die Zügel in der Hand behalten“ „Und wie?“ „Durch Präsenz“, er sah nachdenklich aus dem Fenster. „Du bestimmst die Herzlichkeit der Begrüßung und damit auch gleich den Ton, in dem das Gespräch verläuft. Bist du reserviert, aber höflich, signalisierst du, dass es knallharte Verhandlungen werden und du keine Kompromisse eingehst. Bist du freundlicher, zum Beispiel bei jahrelangen Vertragspartnern, wird auch das Gespräch lockerer.“ „Und du stehst beim Eintreten eines Geschäftspartners auf, damit ihr ebenbürtig seid“ „Exakt“, er sah mich überrascht an, als hätte er nicht gedacht, dass ich etwas verstand. „Wenn du deinem Gegenüber nicht auf Augenhöhe begegnest, signalisiert ihm das unterbewusst, dass er über dir steht“ Klang irgendwie wie ein Spiel. „ Aber egal ob locker oder knallhart, du darfst nie die Kontrolle verlieren. Du begrüßt den anderen zuerst, bevor er zu Wort kommt, du forderst ihn auf, näher zu kommen, bevor er selbst auch nur einen Schritt auf dich zu macht. Und du bietest ihm einen Sitzplatz an, bevor er sich selbst setzen kann. Damit bestimmst du, wo er sitzt, du weist ihm seinen Platz zu.“ „Okay…“, das klang irgendwie merkwürdig. Diese Kleinigkeiten sollten über ein Geschäft entscheiden? „Du agierst und zwingst ihn dazu, zu reagieren. So stellst du sicher, dass alles nach deinen Vorstellungen verläuft.“ Man, Kaiba hatte das alles so verdammt gut durchdacht. Wenn man das so hörte, könnte man meinen, er hätte jedes Geschäft schon nach der Begrüßung in der Tasche. „Aber wird dein Gegenüber dann nicht dasselbe versuchen?“ „Natürlich“, er nickte, als wäre das ein bedeutungsvoller Aspekt. „Wenn man sich zu Verhandlungen trifft, dann wissen beide Parteien, dass sie von der Zusammenarbeit profitieren. Aber wer am Ende mehr profitiert, entscheidet sich dadurch, wer die Verhandlungen dominiert.“ Er machte eine kurze Pause, als gäbe er mir Zeit, um das Gesagte zu begreifen, ehe er fortfuhr. „Um die Kontrolle über den Verlauf zu bekommen, wird dein Gegenüber versuchen, zu demonstrieren, dass er besser ist. Indem er dir seine Erfolge und seine Stärken aufweist oder versucht, bei dir Schwachstellen zu finden.“ „Und dann?“ „Dann musst du gegenhalten, zeigen, dass du in dem Gebiet viel erfolgreicher bist und solltest du das nicht sein, musst du ihn eben anders unten halten. Indem du ihm deine Erfolge und deinen Einfluss um die Ohren haust, oder seine Firma in Grund und Boden kritisierst. Egal wie, Hauptsache, du bleibst oben“ Ich nickte. „Verbaler Schwanzvergleich also“ Kaiba sah mich schief an, als missfiele ihm meine Auslegung. Aber dann nickte er langsam. „So… könnte man es auch sagen“ „Dann sind Verhandlungen also nur ein Machtspiel“ „Im Prinzip schon. Die wirklichen Verhandlungen sind dann nur noch reine Formalität“ Ich musste grinsen. „Das klingt wirklich nach verbalem Schwanzvergleich“ „Schon möglich“ „Und hast du den Schwanzvergleich mit den Franzosen gewonnen?“ Auf seinen Lippen zeichnete sich ein schwaches Lächeln ab. Sah irgendwie süß aus. „Kann man so sagen“ „Und was bringt dir das jetzt? Macht? Expandierst du jetzt nach Frankreich?“ „Würde ich in jedes Land expandieren, mit dem ich Geschäfte mache, würde ich mein ganzes Leben nur noch in Flugzeugen und Hotels verbringen.“, er verdrehte die Augen, als wäre meine Aussage das dümmste, was er je gehört hatte. „Es bringt Geld. Und auch Kontakte und neue technische Möglichkeiten, aber vor allem Geld“ „Wie viel denn?“ Er warf mir einen tadelnden Blick zu. „Darüber redet man nicht. Sagen wir einfach… mehr als du, deine Freunde, deine Familie und deine Klassenkameraden zusammen jemals verdienen werden“ Das… war mal eine ordentliche Summe. Und er hatte sie an einem Tag verdient. Verdammt, dieser Kerl war wirklich unverschämt reich! Wir erreichten die Villa. Während ich Kaiba folgte, grübelte ich darüber nach, wie ungerecht die Welt doch manchmal war. Kaiba hatte absolut alles. Ein riesiges Haus, eine eigene Firma, Macht, Ansehen und dazu noch gutes Aussehen. Ich hingegen musste mir meine Miete eisern zusammenkratzen. Als wir die Eingangshalle passiert hatten, sah ich irritiert auf. Kaiba manövrierte wieder das Wohnzimmer an. „Warum gehst du nicht in dein Zimmer?“, fragte ich verwundert. „Weil die Treppe verdammt viele Stufen hat“ er ließ sich auf die Couch sinken und legte sofort das Bein hoch. Anscheinend war er jetzt wirklich darauf bedacht, seinen Knöchel so wenig wie möglich zu belasten. „Ich könnte dich hinauftragen, wenn das das einzige Problem ist“ Da warf er mir einen finsteren Blick zu, scheinbar nicht sehr angetan von der Idee. „Oder auch nicht“, seufzend sank ich auf einem Sessel nieder. Derweil zog Kaiba einen Laptop unter der Couch hervor. „Was wird das?“, fragte ich skeptisch. „Ich schaue nur nach meinen Bilanzen“, murmelte er. Konzentriert tippte er auf der Tastatur herum. War ja furchtbar spannend! „Könnte es sein, dass du ein Workaholic bist?“, fragte ich gelangweilt. Ihm beim Tippen zuzuschauen war alles andere als aufregend. „Na und? Dafür bin ich reich. Also quatsch mich nicht voll!“ Touché. Er hackte weiter auf der Tastatur herum, aber irgendetwas schien nicht zu stimmen. Aber es war interessant seine Mimik dabei zu beobachten. Erst war es nur ein Stirnrunzeln. Doch dann fing seine linke Augenbraue an, verdächtig zu zucken und er rammte seinen Eckzahn in die Unterlippe. Dann entkam ein dunkles Knurren seiner Kehle. „Dieser Mistkerl“, zischte er. „Was ist los?“ „Mokuba hat meinen Zugriff auf den Firmenserver blockiert“ Oh… der Kleine meinte es wohl ernst, wenn er sagte, Kaiba solle nicht arbeiten. Er nahm ihm jede Möglichkeit. „Wir müssen in die Firma!“ Was? Kaiba sprang auf. Wieder trat er mit dem Gips auf, aber anscheinend versuchte er, den Schmerz zu ignorieren. So ein Idiot! „Müssen wir nicht!“, ich baute mich schnell vor ihm auf und stieß ihn zurück auf die Couch. „Du musst dich ausruhen, mehr nicht! Mokuba wird das alles schon im Griff haben, also entspann dich“ „Was weißt du schon?“, knurrte er. Seufzend ließ ich mich auf die Armlehne der Couch sinken, zog vorsichtig sein Bein wieder darauf. „Ich weiß, dass du dein Bein wirklich schonen solltest. Sonst wird es nicht besser und du musst es doch operieren lassen“ Das löschte seinen Tatendrang tatsächlich aus. Ermattet ließ er sich gegen die Lehne sinken und resignierte. „Ich bin zur Untätigkeit verdammt“, nuschelte er. „Dann nutz die Zeit und entspann dich mal. Sieh es als Urlaub an“ Er schnaubte nur und gab sich seinem Selbstmitleid hin. Es passte ihm gar nicht, jeder Kontrolle enthoben worden zu sein, aber vermutlich war es so am besten. Wenn man Kaiba nicht zur Ruhe zwang, hielt er sie auch nicht ein. „Kaum passt man eine Sekunde nicht auf und bricht sich was, wird man einfach aus allem rausgeworfen, wie ein kaputtes Teil einfach ersetzt“, er seufzte schwer. „Das ist so unfair“ Also ein bisschen übertrieb er jetzt doch. Schwerfällig stand er auf, diesmal wesentlich vorsichtiger. Er angelte nach den Krücken und humpelte in Richtung Eingangshalle. „Wo willst du denn hin?“ verwundert lief ich hinterher. „Nach oben“ Inzwischen hatte er die Treppen erreicht. Etwas unbeholfen umfasste er das Geländer und erklomm mithilfe einer Krücke die ersten Stufen. Ich nahm ihm schnell die Zweite ab, die ihn zu hindern schien. „Was willst du oben?“ „Schlafen“, murmelte er. Schlafen? Ich sah auf die Uhr. „Es ist gerade mal 17Uhr“ „Und? Wozu soll ich wachbleiben? Kann ja eh nichts tun“ Innerlich verdrehte ich die Augen. Wenn er sich im Moment selbst leidtun wollte, dann sollte er doch. Wenigstens rannte er dann nicht durch die Gegend. Es dauerte eine Weile, bis wir endlich die Treppen erklommen hatten und Kaiba wirkte doch ein wenig erschöpft danach. Aber immerhin hatte er es ohne Hilfe geschafft. Und dass er dabei wirklich vorsichtig gewesen war, bewies doch, dass er jetzt tatsächlich mehr auf sich achten würde, oder? Er nahm die zweite Krücke wieder an sich, suchte sicheren Stand und humpelte weiter. Kopfschüttelnd folgte ich ihm. Doch plötzlich hielt er inne. Was war denn nun schon wieder? Er drehte sich zu mir um und sah mich kritisch an. „Gibt es einen Grund dafür, dass du mir immer noch folgst?“ Gute Frage. „Um zu gewährleisten, dass du dich schonst?“ „Ich gehe sowieso gleich schlafen, also kannst du ruhigen Gewissens nach Hause gehen“ Auf einmal so abweisend? Bis gerade eben hatte ihn meine Anwesenheit nicht gestört. Aber dann fiel mir ein, wohin wir liefen. Zu seinem Zimmer, seinem privaten Reich. Er wollte nicht, dass ich seinen privaten Bereich betrat. Das konnte ich verstehen. Immerhin fände ich es auch nicht sonderlich toll, wenn er einfach so in mein Zimmer latschen würde. „In Ordnung“, ich nickte geschlagen. „Dann komme ich morgen nach der Schule wieder und sehe nach dem Rechten, in Ordnung?“ Er murrte leise. „Mach was du willst“ Dann humpelte er weiter seiner Wege. Kapitel 5: Krankenbesuch ------------------------ Ich musste sagen, die nächsten Tage waren alles andere als aufregend. Nach der Schule fuhr ich zu Kaiba, um nach ihm zu schauen, aber jedes Mal erhielt ich die Antwort, er wäre in seinem Zimmer und schlief. Am ersten Tag hatte ich dafür noch tiefstes Verständnis. Sollte er sich ruhig ausschlafen, dann schonte er sich wenigstens. Ich respektierte seine Privatsphäre, also ging ich wieder nach Hause. Sein Zimmer wollte ich ohne seine Zustimmung lieber nicht betreten. Am zweiten Tag fand ich es allerdings schon merkwürdig und am dritten einfach nur lächerlich. So viel konnte doch kein Mensch schlafen! Entweder er wollte mich einfach nur abwimmeln oder er war zum Murmeltier mutiert. Als ich am Freitag zu ihm ging, hatte er sich wieder in seinem Zimmer verschanzt. Aber anstatt wie all die anderen Tage einfach wieder zu gehen, setzte ich mich diesmal ins Wohnzimmer und wartete. Spätestens wenn Mokuba heimkam, würde Kaiba ja wohl ein Lebenszeichen von sich geben, oder? Es war sterbenslangweilig. Wenn das hier ein Wohnzimmer war, wieso gab es dann keinen Fernseher? War doch zum Kotzen! Es war schon weit nach sieben, als Mokuba endlich mal aufschlug. Irgendwie sah er ziemlich genervt aus. Ob er die Firma jetzt leitete? Man, dann brachte der Kleine ein ganz schönes Opfer, um Kaiba zu schützen. So einen kleinen Bruder hätte ich auch gern. Als er mich sah, runzelte er verwundert die Stirn. „Was machst du denn hier?“ „Ich wollte nach Kaiba sehen, aber er ist in seinem Zimmer, wie die letzten Tage auch schon.“ „Na und? Dann geh doch hoch.“ Das sagte er so einfach. „Ich kann doch nicht einfach in sein Zimmer platzen, wenn er das nicht will!“ Der Kleine verdrehte die Augen. „Seto hat da im Moment nicht wirklich mitzureden. Was seine Gesundheit angeht, ist er kein wirklich logisch denkendes Wesen.“ Kopfschüttelnd bedeutete er mir, ihm zu folgen. „Wieso? Schont er sich etwa doch nicht? Ich dachte, er ist nur in seinem Zimmer.“ „Doch… weil er schmollt.“ Ich musste grinsen. Er schmollte immer noch? Der konnte vielleicht lange eingeschnappt sein. „Und was soll ich dagegen machen?“ „In deiner Gegenwart wird er sich bestimmt nicht so hängen lassen wollen. Das würde zu stark an seinem Ego kratzen.“ Ich nickte verstehend. „Also willst du, dass ich ihn dazu bringe, sich nicht völlig hängen zu lassen, aber gleichzeitig darauf achte, dass er sich trotzdem schont?“ „Genau.“ Engagierte mich der Zwerg gerade als Babysitter für Seto Kaiba, den mächtigsten Mann Japans? Das klang irgendwie krank. Mokuba ging in Kaibas Zimmer, ohne auch nur zu klopfen. Obwohl mir das wirklich unhöflich vorkam, folgte ich ihm einfach mal. Wow… das Zimmer war wirklich riesig. Und schön. Es gab ein riesiges Panoramafenster. Davor stand ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Rechts neben der Tür gab es eine Sitzecke, eine große weiße Couch und davor einen Holztisch. Es gab sogar eine kleine Minibar und gegenüber war ein großer Fernseher in eine Bücherwand eingebaut, die natürlich auch aus dunklem Holz bestand. Am Ende des Raumes befand sich ein Bett, so groß wie eine Spielwiese und mit schwarzer Seidenbettwäsche. Rechts ging eine weitere Tür ab, vermutlich ein Badezimmer und links neben dem Bett führte eine Glastür auf eine schöne Terrasse. Wahnsinn… ich hätte es nicht gedacht, aber Kaiba hatte echt Geschmack. Das Zimmer wirkte warm und einladend durch den roten Teppich. An den Wänden hingen Bilder. Die meisten zeigten schöne Landschaften, aber einige auch merkwürdige Darstellungen, wie ein Saxophon. Vielleicht spielte er ja ein Instrument. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich ein Klavier. Es stand links neben der Tür ganz unscheinbar in der Ecke. Benommen schüttelte ich den Kopf. Dieses Zimmer war wirklich umwerfend, aber deswegen war ich ja nicht hier. Kaiba saß auf diesem gigantischen Bett, scheinbar nicht sonderlich begeistert von unserem Erscheinen. Zumindest wenn man danach ging, dass er versuchte, mich mit seinem Blick aufzuspießen. „Ich verschwinde dann mal.“, meinte Mokuba. Die kleine Kröte ließ mich tatsächlich mit ihm allein? Was sollte ich denn sagen? Kaiba sah nicht so aus, als wäre er sonderlich erfreut. Die ersten Minuten waren ziemlich unangenehm, denn er starrte mich die ganze Zeit durchdringend an. Aber dann konnte ich die Zeit auch nutzen, ihn ausführlich zu mustern. Er trug ein normales T-Shirt, weder zu weit noch zu figurbetont, und eine dunkelblaue Jeans, die in der Mitte des Schienbeins endete. An der Hüfte lag sie eng am Körper, aber nach unten hin wurde sie weiter, so dass sie ein bisschen um seine Beine schlackerte. Vermutlich, damit der Gips genug Platz hatte. Seine Haare waren nicht wie üblich gekämmt und gestriegelt sondern fielen ganz natürlich, umrahmten sein Gesicht. Er sah aus… wie ein ganz normaler Jugendlicher. Unruhig trat ich von einem Bein aufs andere, nicht genau wissend, was ich hier eigentlich sollte. Ich wollte ja aufpassen, dass er sich schonte, aber Mokuba meinte, er würde das Zimmer nicht verlassen. Und im Moment hatte er den Gips auf einem weichen Kissen auf dem Bett abgelegt. Also schien er doch gut aufzupassen. „Wie geht’s denn so?“, fragte ich lahm. Mir fiel nichts Besseres ein. „Was willst du?“, er klang ziemlich genervt. „Nach dir schauen? Du hast dich ja die ganze Woche in deinem Zimmer verschanzt, da wollte ich sehen, ob es dir gut geht.“ Er runzelte die Stirn. „Wenn ich durch die Gegend springe und arbeite ist euch das nicht recht und wenn ich mich schone auch nicht?“ „Du sollst dich ja schonen.“, vorsichtig ging ich näher heran. „Aber das heißt nicht, dass du hier versauern musst.“ „Tue ich nicht!“ „Ach nein?“, ich kam vor dem Bett zum stehen. Wirklich eine große Spielwiese. Ob er hier schon mal mit jemandem gespielt hatte? „Was hast du die letzten Tage gemacht?“ Er neigte den Kopf etwas, musterte mich so intensiv als wollte er mit seinem Blick mein Gehirn röntgen. Aber ich blieb cool. „Hast du überhaupt etwas anderes gemacht, als dazuliegen und dir selbst leidzutun?“ „Natürlich!“, er zog einen Zauberwürfel hinter seinem Rücken hervor. „Ich hab den gelöst.“ Ein Zauberwürfel? Wie langweilig musste einem denn sein, um sich mit sowas zu beschäftigen? Trotzdem beeindruckend, wenn er es wirklich schaffte, die Dinger zu knacken. Vorsichtig nahm ich den Würfel entgegen. Tatsächlich, alle Farben waren richtig gedreht. Beeindruckend. „Aber für ein Genie wie dich ist das vermutlich keine große Herausforderung.“ Er hob missbilligend eine Augenbraue. „I-ich meine ja nicht, dass das nicht trotzdem bestimmt schwer war. Ich könnte so ein Ding nie lösen, dafür fehlt mir die räumliche Vorstellungskraft.“ „Meinst du also?“ Seine Augen blitzten spöttisch. Machte er sich über mich lustig? Konnte ja nicht jeder so schlau sein wie er. „Dann verdreh ihn doch!“ Na wenn er das wollte… ich drehte so lange an dem Würfel herum, bis ich der Ansicht war, so viel Chaos wie möglich herbeigeführt zu haben. Dann reichte ich ihm das Ding. Sollte er doch mal zeigen, wie schlau er war.. Er brauchte nicht mal zwei Minuten. Mit flinken Fingern drehte er an dem Würfel herum, ordnete zielsicher wieder alle Farben. Irre! Herausfordernd hielt er mir den perfekten Würfel hin. „Ich kann das nicht.“, abwehrend hob ich die Hände. „Dafür muss man doch sowieso ein verdammtes Genie sein!“ „Und wenn ich dir sage, dass ich es dir in einer halben Stunde beibringen könnte?“ Das wollte er mir beibringen? Nie im Leben! Als er meinen fassungslosen Gesichtsausdruck sah, schnalzte er leicht mit der Zunge. „Sagen wir lieber eine Stunde. Du scheinst schwer von Begriff zu sein.“ Grrr! „Na schön!“ Wenn er meinte, dass er mir das beibringen könnte, dann sollte er sein Glück versuchen. Aber wenn er mir mit irgendwelchen physikalischen Formeln kam, knallte ich ihm den Würfel an den Kopf! Ich setzte mich auf die Bettkannte und lauschte aufmerksam seinen Anweisungen. Okay, er hatte recht. Dieser Würfel war ein riesen Schwindel, den selbst ich in einer Stunde lernen konnte. Es waren immer die gleichen Schritte, die man abhandeln musste. Erst musste man eine Fläche fertig kriegen und von da aus war es dasselbe. Innerlich fragte ich mich, warum er mir das überhaupt zeigen wollte. Er war nie für seine Geduld oder seine Lust am Lehren bekannt gewesen. Vermutlich war ihm wirklich einfach tödlich langweilig. Aber egal, ich genoss es einfach, so ruhig mit Kaiba zusammenzusitzen und zuzuschauen, wie geschickt seine schlanken Finger mit dem Würfel hantierten. Auch wenn ich mich ein wenig wunderte, dass er mir tatsächlich mit Engelsgeduld etwas beibrachte, anstatt mich einfach rauszuwerfen. Und dass er mich dabei auch noch auf seinem Bett sitzen ließ. Fast als wären wir beide alte Freunde. „Und das hast du die letzten Tage die ganze Zeit gemacht?“, fragte ich skeptisch. Es dauerte ja nicht lange, das zu lernen und den Würfel zu lösen, schaffte man auch innerhalb weniger Minuten. „Die letzte halbe Stunde, bevor ihr gekommen seid.“ „Und davor?“ „Was davor?“, konzentriert starrte er auf den Würfel, als versuche er, meinem Blick auszuweichen. „Was hast du die restliche Zeit gemacht?“ „Meinen Knöchel geschont.“, meinte er knapp. „Und wie? Scheinbar hast du dein Zimmer gar nicht verlassen.“ „Genau so. Indem ich mein Zimmer nicht verlassen habe!“, er grummelte leicht. „Was ist falsch daran?“ „Nichts, nichts.“, beschwichtigend hob ich die Arme. „Ich meine… dein Zimmer ist echt cool.“, ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. „Besonders der Fernseher.“ Er verdrehte die Augen. „Siehst du gerne fern?“ „Nein.“, seufzend warf er den Würfel aufs Bett. „Ist mir zu blöd.“ Bitte? „Heißt das, du hast in der Zeit nicht mal ferngesehen?“, fragte ich fassungslos. „Was hast du denn die ganze Zeit getrieben? Auf dem Bett sitzen und Löcher in die Luft starren?“ „Ich weiß nicht, ob du schon mal davon gehört hast, aber es gibt so komische Dinge. Die haben Seiten und auf denen stehen Worte.“ Ich seufzte. „Du hast gelesen, schon verstanden. Bist ja eine richtige Spaßkanone.“ „Stimmt, ich sollte lieber eine Runde joggen gehen.“, er sah mich abschätzig an. „Du hättest Filme schauen können. Oder…“ Mein Blick fiel wieder auf die Zeichnung des Saxophons und dann aufs Klavier. „… ein Instrument spielen.“ Er sah ebenfalls zum Klavier. „Beim Klavierspielen kann ich das Bein nicht hochlegen.“ „Stimmt…“, ich überlegte einen Moment. „Aber du kannst es spielen?“ Er nickte nur. „Spiel doch mal was vor.“ Da sah er mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich dabei mein Bein nicht schonen kann.“ Richtig… Aber es interessierte mich schon, ob er nur ein bisschen klimpern oder wirklich gut spielen konnte. „Wie lange spielst du schon?“ „Seit ich vier bin.“ „V-vier?“ Das waren ja 14 Jahre! Leichtfertig zuckte er mit den Schultern. „Mein Vater war fest davon überzeugt, dass das Lernen eines Instrumentes förderlich für die Entwicklung eines Kindes ist.“ „Also hat er dich gezwungen?“ „Natürlich nicht!“, er schnaufte verächtlich. „Ich habe es freiwillig gelernt.“ Dann musste er wirklich richtig gut sein. Vielleicht würde er mir ja mal etwas vorspielen, wenn sein Knöchel soweit verheilt war, dass er auftreten konnte. „Und das Saxophon? Wie lange spielst du das schon?“ „Saxophon?“, er runzelte die Stirn. „Ich kann nicht Saxophon spielen.“ „Aber warum hängt dann da ein Bild davon?“ „Weil ich den Aufbau interessant finde. Es ist aus Blech, zählt aber trotzdem zu den Holzblasinstrumenten.“ „Warum?“ „Weil der Ton durch ein Rohrblatt erzeugt wird. Wenn man hineinbläst, beginnt es zu schwingen und dadurch entsteht der Ton.“ Andächtig strich er sich durchs Haar, „Ich glaube, ich müsste sogar noch eines haben.“ „Wozu, wenn du es doch nicht spielst?“ „Als Inspiration. Es sieht so kompliziert aus, obwohl es beim genaueren Hinsehen doch recht simpel ist. Und dabei ist es vom Aufbau her einfach genial. Wusstest du, dass man damit vier Oktaven spielen kann?“ Ich wusste nicht mal, was eine Oktave war, aber gut. „Und wozu inspiriert dich das?“ „Wenn ich etwas entwickle erinnert es mich daran, dass nichts so kompliziert ist, wie es von außen scheint.“ Nachdenklich betrachtete er die Zeichnung. „Vielleicht werde ich irgendwann mal lernen, es zu spielen.“ „Wieso nicht jetzt?“ Er sah mich verwundert an. „Was?“ „Lern es doch jetzt.“ Ich wandte mich ihm mehr zu, selbst ganz begeistert von der Idee. „Du hast doch eh nichts Besseres zu tun.“ „Weil ein Instrument lernen ja auch so einfach ist!“ „Du bist ein Genie, also wo ist das Problem?“ Resignierend massierte er sich die Nasenwurzel. „Besser, als gar nichts zu tun, oder?“ „Ich weiß ja nicht mal sicher, ob ich irgendwo ein Saxophon hab.“, knurrte er. „Und wenn, ist es eh im Keller.“ „Na dann holst du es eben rauf.“ Jetzt sah er mich wirklich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. „Die Treppen im Foyer sind dir schon aufgefallen, oder? Und weißt du, was zum Keller führt? Eine weitere Treppe!“ „Und wenn schon.“, ich verdrehte die Augen. „Letzte Woche hat es dich auch nicht gestört, quer durch die Stadt zu jetten.“ „Ich muss die Konsequenzen tragen, nicht du!“, zischte er böse. Anscheinend nahm er sich die Worte des Arztes wirklich sehr zu Herzen. Und eigentlich war das ja auch genau richtig so. Ich war so begeistert von dem Saxophon gewesen, dass ich vollkommen vergessen hatte, was wirklich wichtig war. Nämlich dass sein Knöchel wieder verheilte. „Tut mir leid.“, murmelte ich. „Verschieben wir das lieber, bis du wieder halbwegs laufen kannst.“ Er schnaufte gereizt. „Geh nach Hause, Wheeler! Ich brauche keinen Aufpasser.“ „W-was?“ „Lass mich in Ruhe!“, er sah mich dermaßen feindselig an, dass ich seiner Aufforderung lieber nachkam. Was hatte ihn denn gebissen? Verstand mal einer diesen Kerl! Erst erklärte er mir geduldig diesen blöden Würfel und jetzt wurde er meiner überdrüssig? Fein! Sollte er sehen, wo er blieb! Wütend ging ich nach Hause. Kapitel 6: Zauberhände ---------------------- Die ganze Nacht hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was es mit Kaibas Verhalten auf sich hatte. Die ganze Zeit war er zugänglich gewesen, hatte nichts dagegen gesagt, dass ich auf seinem Bett gesessen hatte und er hatte mir mit Engelsgeduld den Zauberwürfel erklärt. Alles war gut gewesen. Aber ein Spruch und er warf mich raus. Sollte einer das verstehen! Wenn ich wenigstens wüsste, warum er meine Nähe überhaupt duldete. Normalerweise gifteten wir uns immer nur an, aber auf einmal konnten wir ganz normal miteinander reden. Ich war ja eigentlich schuld an seinem angebrochenen Knöchel, doch er warf es mir nicht mal vor. Wie sollte ich daraus denn schlau werden? Ich brauchte mal Pause von ihm. Sein seltsames Gehabe ging mir auf den Geist. Zugegeben, er war umgänglicher als sonst, aber diese Stimmungsschwankungen nervten mich. Sollte er doch sehen, wie er das Wochenende klarkam! Wenn er seinen Gehgips bekam, würde ich dabei sein, das nahm ich mir fest vor. Aber bis dahin sollte er eben allein zurechtkommen. Stattdessen traf ich mich lieber mal wieder mit Yugi. Seit er mit Tea zusammen war, bekam ich ihn kaum noch zu Gesicht. Die Zwei waren ja nicht in meiner Klasse. Zum Glück. Wenn ich die beiden turteln sah, wurde mir schlecht. Aber heute trafen wir uns mal wieder zu zweit. Wir gingen in unsere Lieblingspizzeria und spielten Duell Monsters gegeneinander. Wie in guten alten Zeiten. Dank Tea verstaubten Yugis Karten nämlich, denn sie fand das Spiel doof. Alles war gut. Ich konnte endlich mal wieder den Kopf frei bekommen. Aber dann musste Aber dann musste Yugi alles mit einer Frage kaputt machen. „Stimmt es, dass sich Kaiba wegen dir den Fuß gebrochen hat?“, er fragte es ruhig, aber mir drehte sich davon der Magen um. „W-wegen mir?“ Die ganze Schule wusste, dass Kaiba sich etwas gebrochen hatte. Aber dass sie auch noch wussten, dass es meine Schuld war… das war mir neu. „Alle reden darüber“, Yugi starrte konzentriert auf seine Karten. „Sie sagen, dass einer eurer Streits ausgeufert ist und du durchgedreht bist.“ Das… erklärte zumindest die Tuscheleien in den letzten Wochen. Mir war schon aufgefallen, dass hinter meinem Rücken über mich geredet wurde, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm war. Yugi legte seine Karten zur Seite, sah mich jetzt doch besorgt an. „Hast du das wirklich getan, Joey? Ich verstehe ja, dass ihr eure Probleme miteinander habt, aber musste das sein?“ Selbst Yugi glaubte das? „Wir haben uns nicht gestritten und ich bin auch nicht schuld gewesen! Zumindest nicht direkt.“ „Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein, Joey. Ich weiß ja, wie beleidigend Kaiba dir gegenüber werden kann.“ „Aber so war es nicht!“ Ich erzählte ihm, was sich wirklich zugetragen hatte. Wenigstens mein bester Freund musste mir doch glauben. Klar, Kaiba und ich hatten uns schon öfter dermaßen in die Haare gekriegt, dass wir uns fast geprügelt hätten. Aber es war nie dazu gekommen. Irgendwie war da noch eine magische Grenze, die uns daran gehindert hatte, handgreiflich zu werden. Und seit ich Kaibas Oberkörper gesehen hatte, war ich wirklich froh darüber. Vermutlich hätte er mir den Arsch versohlt. „Kato?“, fragte er überrascht. „Der Schläger, der letztes Jahr von der Schule geflogen ist?“ Ich nickte düster. „Und Kaiba hat dir geholfen?“ Ich nickte erneut. „Das ist doch sonst nicht seine Art.“ Yugi lächelte. „Aber ich habe euch ja immer gesagt, dass er gar kein so schlechter Kerl ist.“ „Hätte er mir nicht geholfen, hätte er sich auch nicht den Knöchel angebrochen.“ Ich seufzte schwer. Eigentlich wollte ich heute nicht über ihn nachdenken, aber Yugi zwang mich dazu. Und er ließ mein schlechtes Gewissen wieder auf Hochtouren laufen, wo ich es doch gerade erst zum Schweigen gebracht hatte. „Aber dann hätte dich Kato vermutlich krankenhausreif geprügelt. Wäre das besser gewesen?“ „Wahrscheinlich. Dann hätte ich nicht so ein schlechtes Gewissen.“ Ich musste wieder daran denken, wie Kaiba damals so blass vor Schmerz auf der Treppe gesessen hatte. Und daran, wie schwer er sich mit dem Gips tat. „Er wird schon zurechtkommen.“, meinte Yugi sanft. „Kaiba ist stur und er muss den Gips doch nur sieben Wochen tragen. Danach wird er wieder ganz der Alte sein.“ „Ja, schon möglich.“ Aber mir gefiel nicht, dass er sich so aufgab. Außerdem musste er den Gips noch eine Woche länger tragen, was zwar seine eigene Schuld war, aber… Moment! Es war seine Schuld! Das war es! Er war gestern sauer geworden, als ich darauf zu sprechen kam. Na klar, er der unfehlbare Seto Kaiba, zu stolz um Fehler zuzugeben, fühlte sich angegriffen. Nur weil er zu stur gewesen war, sich ein wenig zurückzuschrauben, war sein Bein noch nicht besser geworden, und er wusste das. Er wusste, dass es seine Schuld war und er sie niemand anderem in die Schuhe schieben konnte. Das nagte an ihm, kränkte seinen Stolz, da er ja sonst so perfekt war. Und deswegen hatte er gestern so angepisst reagiert. Weil ich ihm seinen Fehler wieder vorgeworfen hatte. So langsam verstand ich es. Er duldete mich, warum auch immer, aber nur solange er sich nicht angegriffen fühlte. So ein Feigling! „Entschuldige mich, ich muss los.“ Ich sprang auf und rannte nach draußen. Klar, es war unhöflich, Yugi einfach sitzen zu lassen, aber ich musste Kaiba den Kopf waschen gehen. Entschlossen lief ich durch die Villa und stürmte sein Zimmer. Oh ja, ich würde ihm die Meinung geigen! Als ich reinstürmte und seinen Namen brüllte, lag er quer auf dem Bett und warf Smarties in die Luft, um sie mit dem Mund zu fangen. Mein Ansturm erschreckte ihn wohl so, dass er sich an einer Schokolinse verschluckte. Fast schon panisch setzte er sich auf, rang nach Luft und hustete verzweifelt. Ups. Das war nicht gut. Ich wollte ihm den Kopf waschen und ihn nicht umbringen! Schnellte eilte ich zu ihm und klopfte ihm mit der Faust auf den Rücken. Scheinbar half ihm das, die Linse wieder rauszuwürgen. Gierig schnappte er nach Luft. Glück gehabt. Ich atmete erleichtert auf. Zornig fuhr er zu mir herum. „Willst du mich umbringen?!“ „Kann ich wissen, dass du Smarties durch die Luft wirfst?“ Er knurrte böse. „Wieso fällst du wie eine Horde Barbaren in mein Zimmer ein? Ich hab gesagt, ich brauche keinen Aufpasser!“ „Nein, du brauchst jemanden, der dir einen Tritt in den Arsch verpasst!“ Er kniff die Augen zusammen, starrte mich finster an. „Der Seto Kaiba, den ich kenne, würde sich nie so hängen lassen!“ „Was weißt du schon?“, er schnaufte. Ich baute mich vor ihm auf, sah streng auf ihn herab. „Ich weiß, dass du langsam mal anfangen musst, dich mit deiner Situation zu arrangieren und aufzuhören, die Schuld herumzuschieben.“ „Ich habe mich arrangiert!“ „Indem du Smarties durch die Luft wirfst? Der Wahnsinn!“ Er grummelte leicht. „Du bist selbst schuld, dass du den Gips länger tragen musst.“ Da wurden seine Augen wieder dunkel vor Zorn. Das war wirklich der Knackpunkt. Sobald man ihn mit seinen Fehlern konfrontierte, rastete er aus. Ich fuhr schnell fort, ehe er mich erneut rauswerfen konnte. „Aber ich bin schuld daran, dass du dir überhaupt den Knöchel angebrochen hast.“ Ich senkte meine Stimme. Bis jetzt hatten wir nicht darüber gesprochen. Wir beide wussten, dass es ohne mich nie passiert wäre, er hatte es jedoch nie erwähnt. „Aber es ist doch egal, wer an was schuld hat. Wichtig ist nur das hier und jetzt.“ „Was soll das werden?“, fragte er kritisch. „Du kannst nicht ändern, was passiert ist, du kannst nur das Beste daraus machen.“ Er starrte mich durchdringend an. Und das ziemlich lange, als wöge er ab, wie er meine Worte auffassen sollte. Glaubte er mir? „Und was soll ich deiner Meinung nach machen?“, fragte er gepresst. „Nutz die Zeit und such dir eine Beschäftigung. Du kannst zwar nicht laufen, aber deine Hände sind gesund.“ „Und was?“ „Wie wäre es mit malen?“ „Ich kann nicht malen!“, murrte er. „Hast du es mal probiert?“ „Wozu? Ich kann es einfach nicht.“ Ich seufzte. „Wenn du nächste Woche deinen Gehgips kriegst, hast du auch viel mehr Möglichkeiten als heute.“ „Ich will aber nicht malen!“ er reagierte wie ein bockiges kleines Kind. „Dann irgendwas anderes.“ „Lesen zählt nicht, oder wie?“ „Nein! Dabei bewegt man sich doch nicht.“ „Aber beim Malen, ist klar!“ Er verdrehte genervt die Augen, sichtlich nicht angetan von meinen Vorschlägen. „Naja… nicht direkt.“ Das war ein schlagendes Argument. „Aber wenigstens machst du dann was Nützliches.“ „Lesen ist also sinnlos?“ „Es ist mal etwas anderes. Du kannst ja nicht nur die ganze Zeit lesen!“ „Aber ich kann ja nichts anderes machen!“ „Du versuchst es doch nicht mal!“ Beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust. „Was weißt du schon? Du hast doch keine Ahnung. Und du hast mir erst recht nichts zu sagen!“ Ich seufzte genervt. Der Kerl war wirklich stur und verdammt uneinsichtig. Am liebsten hätte ich ihn gepackt und kräftig durchgeschüttelt, damit er wieder zur Vernunft kam. Aber dann kam mir eine viel bessere Idee. Er würde sich aufraffen, oh ja! „Wenn du die nächsten Wochen nur auf deinem Bett sitzen und schmollen willst, dann viel Spaß!“, schnaufend verschränkte ich die Arme vor der Brust, „Aber heul nicht, wenn du danach dick und fett bist!“ „Wie Bitte?“, er sah mich ungläubig an. „Was denn? Denkst du, du kannst sechs Wochen auf deinem Arsch sitzen, ohne dabei wie ein Hefekloß aufzuquellen?“ Treffer! Das saß. Ich sah an seinen immer größer werdenden Augen, dass ihn das traf. Kaiba war eitel und krankhaft auf sein Äußeres bedacht. Die Aussicht, seinen perfekten Körper zu verlieren, schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen. Innerlich lachte ich mir ins Fäustchen. Man musste nur wissen, wie man Kaiba händeln musste. Ich sah, wie in seinen Augen ein entschlossener Ausdruck aufleuchtete. Jetzt würde er sich garantiert nicht mehr so gehen lassen. „Und was schlägst du vor? Außer malen?“ „Wir könnten auch Duell Monsters gegeneinander spielen.“ Er verdrehte die Augen. „Da ist ja selbst Malen anspruchsvoller.“ „Klar, weil du es nicht kannst.“ Er knurrte leise. „Dann nicht. Aber du kannst dich nicht weiter wie Gollum in deiner Höhle verkriechen.“ „Wer?“ „Gollum. Du weißt schon. Der aus >Herr der Ringe