Die Zeit deines Lebens von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 15: Perspektivenwechsel. -------------------------------- We can all be loved the way God made us. Nina, X. Ed Sheeran, 2014. 14. Dezember 2009. Odaiba, Japan. Izzys Zimmer. Eine Berührung. So fing alles an. Eine gottverdammte Berührung änderte alles. Es führte sie in eine komplett andere Richtung, mit der sie einfach nicht gerechnet hatten. Dabei waren sie meistens nur zusammen etwas essen gegangen. Mehr nicht. Sie redeten noch nicht mal über tiefgreifende Probleme, die in ihren Herzen verborgen lagen, sondern nur über belanglose Dinge. Nichts Ernstes. Und dann auf einmal änderte sich alles. So als hätte eine höhere Macht einfach andere Pläne für sie gehabt. Es war einer dieser Tage, an dem nichts so wirklich rund lief. Izzy war schon wieder mit dem Ausarbeiten einer neuen Präsentation beschäftigt, bei der Yolei sich abermals bereit erklärt hatte zu helfen. Sie sah es als eine Art Wiedergutmachung an. Neben dem Statistikkurs, konnte sie immer zu ihm kommen, wenn sie irgendwelche technischen Probleme hatte. Von Izzy hatte sie auch schon sehr viel über Computer gelernt, sodass sie regelrecht eine Zeitlang von ihm schwärmte. Anscheinend war Intelligenz das neue Sexy. Sie wusste auch nicht wie, dass alles geschehen konnte. Es ging einfach zu schnell. Beide hatten den halben Abend zusammen gesessen und an seiner Präsentation gearbeitet, während Tai und Matt unbedingt auf den Weihnachtsmarkt gehen wollten. Izzy hatte sogar eine Kleinigkeit für sie gekocht. Nichts Großes. Ein paar Nudeln mit selbstgemachter Bolognesesoße. Danach hatten sie sich ganz auf die Arbeit konzentriert, bis Izzy aufgefallen war, dass Yolei am Mund noch etwas Soße hatte. „Warte du hast da noch was“, sagte er lachend und beugte sich zu ihr rüber. Beide saßen auf seinem Bett und hatten den Laptop und einigen Papierkram ausgebreitet. Yolei beobachtete ihn genau. Er hielt ihr Kinn hoch und rieb mit seinem Daumen den Soßenrest von ihrem Gesicht. Ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen, obwohl es bei ihm noch nie passiert war. Eine Zeitlang dachte die Lilahaarige, dass sie sich auf dem besten Wege war in Ken zu verlieben. Er war immer für sie da gewesen und hörte ihr aufmerksam zu, wenn sie Probleme hatte. Doch er hatte nie irgendwelche Anstalten gemacht, mit ihr auszugehen. Wahrscheinlich wäre es in einer einseitigen Katastrophe geendet, was besonders prekär war, da sie mit ihm zusammen wohnte. Vielleicht hatte sich ihr Herz schon längst um entschieden. Sie hatte es möglicherweise gerade erst realisiert. Der Blick. Die Berührung. Das unsichere Lächeln. Etwas zeigte ihr, das der Moment gekommen war. Der Moment, etwas zu riskieren. Sie starrten sich noch wenige Momente an, bevor sich ihr Verstand verabschiedete und sie nur noch nach Gefühl handelten. Yolei rückte näher an ihn heran und biss sich leicht auf die Unterlippe. Izzy hatte mittlerweile seine Hand zurückgezogen und schaute sie sprachlos an. Ihm fehlten irgendwie die Worte. Er konnte sich noch nicht mal erklären warum. Vor ein paar Minuten, war alles in Ordnung gewesen, doch jetzt herrschte eine Atmosphäre in seinem Zimmer, die ihn dazu veranlasste, Yolei mit anderen Augen zu sehen. Eigentlich war sie immer ein sehr hübsches Mädchen gewesen, das nicht sonderlich aus der Masse herausstach. Und sie waren auch relativ lange befreundet gewesen, dass er sie gar nicht als mögliche Partnerin wahrnahm, obwohl sie alle Attribute einer Frau hatte, mit der er mal zusammen kommen wollte. Sie war hübsch, intelligent und wortgewandt. Okay, vielleicht auch ein bisschen laut, aber Gegensätze zogen sich ja bekanntlich magisch an. Bei ihnen schien es genauso zu sein. Es lief alles wie in einem dieser Kitsch-Filme ab, die Yolei eigentlich hasse. Er rückte noch ein Stückchen näher an sie und streichelte zart ihre Wange. Dann legte er seine Hand in ihren Nacken und zog sie näher an sich heran. Yolei legte ihre Hand sanft aus seine Schulter und schluckte, als er ihr immer näher kam. Dann traf es sie wie ein herrliches Sommergewitter im August. Er legte seine Lippen auf ihre und verstärkte den Druck in ihrem Nackenbereich. Sie schlang daraufhin beide Arme um ihn und drückte ihn noch näher an sich. Er fühlte sich wie im Nebel, auch wenn er ihre Nähe sehr genoss. Sie wusste nicht, was sie überhaupt noch fühlen sollte. Es waren so viele Eindrücke, die über ihr zusammenzubrechen schienen. Dennoch war es richtig. Es war der Beginn von etwas Neuem. 21. Dezember 2009. New York, USA. Studentenwohnheim. Sie standen im Flur des Wohnheimes, als April gerade mit ihrem Koffer vorgerollt kam. „Ich denke ich habe jetzt alles“, meinte sie und schaute zu Kari und den Jungs. Wallace stand an die Wand gelehnt und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er schnaufte erleichtert und bewegte sich leicht. „Zum Glück. Sonst verpassen wir noch unsere Anschlüsse!“ „Ja tut mir leid“, sagte die Blonde entschuldigend, „ich habe wirklich gedacht, dass mein Pass in meiner Handtasche ist“. „Schon gut, das Taxi kommt ja erst in zwanzig Minuten“, erwiderte Wallace ruhig und schaute zu Peter, der damit beschäftigt war, April heimlich anzustarren. Er konnte wirklich nicht verstehen, warum er einfach nicht den ersten Schritt machte. Die beiden würden sicher ein super Paar abgeben. Seltsam und Schräg – das passte doch wie die Faust auf Auge. Der Blonde musste leicht grinsen, als er sich die beiden küssend und sich zueinander ihre Liebe säuselnd vorstellte. Letztendlich würde er sowieso nachhelfen müssen. „Ich gehe gerade noch mal zur Toilette. Hältst du kurz meine Tasche, Kari?“ „Ja klar, geh nur“, antwortete die junge Yagami und nahm ihr die Tasche ab. Danach verschwand sie nochmals im Zimmer. „Und was machst du an Weihnachten so?“, fragte Peter interessiert und legte den Kopf schief. Von Wallace wusste er bereits, dass sie nicht nach Hause fliegen würde. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, dass Hikari alleine Weihnachten hier im tristen Wohnheim feiern würde. „Mimi hat mich eingeladen. Wir verbringen die Feiertage bei ihr“. „Cool. Kannst ihr ja einen lieben Gruß ausrichten“. Peter lächelte leicht, während Kari zurückhaltend nickte. „Man wo bleibt sie nur?“ Wallace wurde allmählich ungeduldig und stapfte wütend mit dem Fuß auf. „Beruhig dich mal“, tadelte Peter ihn und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Du willst doch nur nicht diesem komischen Weihnachtsmann von gestern begegnen!“ „Red‘ keinen Quatsch!“, zischte er zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Welcher Weihnachtsmann?“, wollte Kari wissen und runzelte die Stirn. Peter deutete nach draußen und erzählte von dem Mann, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte, um Spenden für obdachlose Kinder zu sammeln. Er hatte sich direkt vor dem Campusgelände niedergelassen und kam immer kurz vor vier am Haupteingang vorbei. „Weißt du, Wallace hat Probleme mit Menschen, die sich verkleiden“, ergänzte Peter schelmisch grinsend. „So ein Quatsch. Ich mag nur keine Clowns“, korrigierte der Blonde und wurde leicht rot um die Nase. „Clowns?“, wiederholte Kari irritiert. „Ja, er hasst Clowns. Und gestern dachte er, dass der Weihnachtsmann einer wäre, weil seine Schminke verlaufen war“. „Jaja. Er sah aber auch verdächtig danach aus“, pflichtete er dramatisch hinzu. „Außerdem war es schon dunkel und jeder kann sich mal irren“. „Und warum magst du keine Clowns?“, erkundigte sich die Brünette interessiert und musterte ihn skeptisch. Wallace hasste Clowns? Das war das erste, was sie hörte. Vielleicht kannte sie ihn doch nicht so gut, wie sie dachte oder es war ihm einfach nur peinlich. Wer gab schon gerne eine Abneigung gegenüber Clowns zu? Klang ja auch sehr suspekt. Wallaces Blick richtete sich zu Boden, um den Blicken der anderen beiden auszuweichen. „Sagen wir es mal so, ich hatte in meiner Kindheit ein unschönes Erlebnis mit einem Clown“. Kari wirkte jedoch nur noch verwirrter als vorher und warf einen fragenden Blick zu Peter, der immer noch bis über beide Ohren grinste. „An seinem Geburtstag wäre mal ein Clown beinahe abgenibbelt. Das war anscheinend sehr traumatisch für unseren lieben Wallace“, erklärte er und tätschelte ihm den Hinterkopf. Wallace ging ruckartig zurück und schenkte ihm einen bösen Blick. „Dir erzähle ich auch nichts mehr“, knurrte er und zog die Augen zu Schlitzen. Warum musste Peter ihn ausgerechnet vor Kari blamieren? War er lebensmüde geworden? Oder hatte er einen Adrenalinkick, weil er sich gleich mit April ein Taxi teilen durfte? Wallace schnaubte nur. Er hatte wirklich den längsten Weg von allen, abgesehen von Hikari, die jedoch hier in New York bleiben würde. Er hatte zwar einen Direktflug, aber trotzdem würde er fast sechs Stunden alleine in einem Flieger sitzen. Sowohl Peter als auch April hatten es nicht soweit. Er hatte die sogenannte Arsch-Karte gezogen und musste wohl in den sauren Apfel beißen. Peter und er wollten zu Silvester wieder in New York sein. April wusste noch nicht, ob sie es bis dahin schaffte. Kari wollte solange bei Mimi wohnen. „So bin jetzt fertig“. „Endlich“, atmete Wallace erleichtert aus. „Aber dein Cello lässt du hoffentlich hier. Ich trag das Ding nicht“. April wank lachend ab. „Ich habe noch eins zuhause. Das haben mir meine Eltern extra fürs Studium gekauft“. „Ach wenn das so ist, dann sollten wir jetzt gehen“, bestand Wallace und lotste sie zum Ausgang. Peter war so frei und rollte seinen und Aprils Koffer bis vor zum Taxi, während Wallace nur den Kopf schüttelte. Man sah ihm das „Hoffnungslos Verliebt sein“ bereits an. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich vollkommen zum Elch machte. Er war einfach liebestollwütig. Aber das war nicht sein Problem. Er fragte sich mittlerweile, ob er Hikari einfach aus seinem Herzen verbannen sollte. Sie hatte ihm deutliche Signale gesendet. Sie wollte nicht mehr als Freundschaft. Da konnte er sich auf den Kopf stellen und mit dem Hintern wackeln und ihre Gefühle würden sich in hundert Jahren nicht ändern. Vielleicht brauchte er diesen Abstand, um sich klar zu machen, wo er sich befand. Als Freundin wollte er sie sicher nicht verlieren, dafür war sie ihm einfach zu wichtig geworden. Alles was er brauchte war Zeit. „Okay, wir sehen uns dann irgendwann nach Weihnachten“, sagte Hikari und drückte zuerst April, dann Peter und zum Schluss Wallace. „Ich wünsche ich schöne Feiertage!“ „Wir dir auch“, riefen sie im Chor und beluden das Taxi. Es dauerte einige Minuten, dann stiegen sie ein. Wallace nahm neben dem Fahrer Platz, während sich April und Peter auf die Rückbank verzogen. Alle drei wanken Hikari zum Abschied zu, bis sie nicht mehr in Sichtweite war. Die Brünette stand am Haupteingang und blickte ihren Freunden eine Zeitlang wehmütig nach. Auch wenn es schwer war, hatte sie in ihnen Freunde gefunden, denen sie vertrauen konnte. Und jetzt hieß es vorerst, ohne sie zurechtzukommen. „Ach ich liebe Weihnachten ja, hab ich das schon erzählt?“, fragte Yolei, die auf dem Sessel saß und eine volle Teetasse in der Hand hielt. „Ja hast du. Schon gefühlte zweihundert Mal“, murrte Davis augenverdrehend und lümmelte sich mit Takeru auf der Couch herum. Ken saß auf dem anderen Sessel. „Man Davis du hast vielleicht eine miese Laune. Iss mal mehr Schokolade, das macht glücklich“. „Und fett“, ergänzte er und grummelte laut vor sich hin. „Du bist heute wirklich mies drauf. Was ist los?“, wollte Takeru wissen und sah ihn besorgt an. Davis schüttelte nur den Kopf und setzte sich leicht auf. „Nichts. Ich habe nur keine Lust mit meinen Eltern und meiner dummen Vorzeige-Schwester Weihnachten zu feiern. Die machen dich doch eh nur alle über meine Träume lustig“, stellte er resigniert fest. Egal was er auch vor hatte, seine Eltern schienen in ihm das schwarze Schaf zu sehen, dass einfach mit Jun nicht mithalten konnte. Es nervte ihn daher, immer mit ihr verglichen zu werden. Er war eben nicht sie. Aber er war auch nicht schlechter. Er war eben anders. Auch Takerus Laune schien sich umgeschlagen zu haben. Seine Mutter war schwanger und hatte ihn, seinen Vater und Matt zum Weihnachtsessen eingeladen, um die Familie auf den Neuankömmling vorzubereiten. Während Takeru immer noch Kontakt zu seinen Eltern hatte, ging ihm Matts Trotzverhalten immer mehr auf den Senkel. Er hatte sich weder bei seinem Vater, noch bei seiner Mutter gemeldet. Wahrscheinlich würde er zu Weihnachten mit Abwesenheit glänzen. Er ignorierte die Tatsache, dass sich bald etwas verändern würde. Sie hatten bald einen Bruder oder eine Schwester, die sie beschützen mussten. Jedenfalls sah Takeru es so. Doch Matt war alles egal geworden. Er wollte nichts mit seiner Familie zu tun haben, geschweige denn ihnen eine zweite Chance geben. Ken hingehen freute sich auf das Weihnachtfest mit seinen Eltern, auch wenn sie jedes Jahr, das Gleiche machten. Zuerst besuchten sie Sammy auf dem Friedhof, dann gingen sie gemeinsam, etwas bei ihrem Lieblingsitaliener essen. Und später sahen sie sich alte Schwarz-Weiß-Schinken im Fernsehen an, die Ken und sein Vater so sehr liebten. Das einzige was ihn zurzeit störte, war seine Feigheit. Noch immer sah er Yolei mit diesem begehrenswerten und gleichzeitig hoffnungslosen Blick an, da er genau wusste, dass Davis ihm an die Gurgel springen würde, wenn er sie um ein Date bat. Nur Yoleis Laune schien einigermaßen stabil zu sein, auch wenn sie sich innerlich immer noch ein einem Gefühlschaos befand. Seit dem Kuss mit Izzy, war sie verwirrt. Sie wusste nicht was sie fühlen oder denken sollte. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er ihr aus dem Weg ging. Nicht mit ihr darüber reden wollte. Auch den Drang ihm eine ellenlange SMS zu schreiben, hatte sie bisher unterdrücken können, sie fragte sie nur für wie lange. Sie wollte wissen, ob etwas aus ihnen werden könnte. Sie hatte sehr wohl, etwas bei ihrem Kuss empfunden und wollte mehr. Doch sie wollte ihn auch nicht verschrecken, da sie mit ihrer impulsiven Art, auf viele Männer eher abschreckend wirkte, statt betörend. Nichts desto trotz wollte sie Antworten. Sie wollte Klarheit. 24. Dezember 2009. New York, USA. Haus der Tachikawas. „We wish you a Merry Christmas and a happy New Year“, sangen sie im Chor und Kari klatschte vor Begeisterung. Mimi setzte sich neben sie, während ihre Eltern das Essen und Getränke aus der Küche holten. Kari beugte sich zu Mimi rüber und tippte ihr auf die Schulter. „Macht ihr das an Weihnachten immer so?“ „Was? Das Gesinge?“ Die junge Yagami nickte. „Ja, ist so eine Art Tradition bei uns“, erklärte die Brünette lachend. „Meine Mutter will besonders an Weihnachten gemeinsame Aktivitäten fördern.“ „Also wir machen an Weihnachten immer dasselbe“, knurrte Kari und verschränkte die Arme vor der Brust. „Letztes Jahr war Tai ganze fünf Minuten da. Danach ist er mit Matt in irgendeinen Club gegangen“. „Ohje und Sora hatte nichts dagegen?“, fragte sie und rümpfte die Nase. Sie kannte ihre ehemals beste Freundin. Ihr war es sicher nicht recht, dass Tai alleine mit Matt irgendwo herumtingelte. Yamato war eben ein Aufreißer und hatte nicht unbedingt den besten Einfluss auf Tai. „Sora war damals mitgegangen soweit ich das noch weiß. Izzy war auch dabei“. „Ach so“, erwiderte sie knapp und schaute zur Küche, um festzustellen, dass ihre Eltern immer noch beschäftigt waren. „Mit wem hast du denn noch Kontakt?“ Kari überlegte kurz und zählte die Personen mit den Fingern auf. „Also mit Yolei, TK und Tai halte ich unregelmäßigen E-Mail-Kontakt. Meine Mutter ruft mich alle drei Tage an oder spricht mit mir über Skype“. Sie hielt kurz inne. „Und ab und zu hatte ich noch mit Sora geschrieben, aber seit der Trennung eher seltener“. Mimis Augen weiteten sich. Seit der Trennung? Hatte sie gerade richtig gehört? Sora und Tai waren kein Paar mehr? Das konnte sie wirklich nicht fassen. „Tai und Sora sind getrennt?“ „Ja. Das müsste ich dir aber erzählt haben“, antwortete die junge Yagami skeptisch. „Wirklich? Das habe ich dann wieder vergessen“. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie in ihrer eigenen Beziehung genug eigene Probleme hatte. Seit sie in Amerika lebte, bekam sie nur selten etwas von ihren Freunden aus Japan mit. Anfangs hatte sie auch versucht, E-Mail-Kontakt zu halten, doch er schlief mit der Zeit immer mehr ein. Sie hatten alle ihre eigenen Probleme und sahen sich auch nicht mehr so oft. Mimi erinnerte sich noch gut an die Silvesterparty, auf die Sora sie mitgeschleppt hatte, nachdem sie sich von ihrem ersten Freund getrennt hatte. Es war das letzte Mal, dass sie mit ihren alten Freunden etwas gemeinsam feierte, abgesehen vom ersten August. Dieser war er zum ersten Mal vollkommen ignoriert worden. Keine machte Anstalten, sich um etwas zu kümmern. Und so entschlossen sie, diesen besonderen Tag einfach ausfallen zu lassen. Sie hatte ihre Freunde schon über ein Jahr nicht mehr gesehen. Auch wenn sie es nicht zugeben würde, vermisste sie alle sehr – selbst Tai, der sie seit der Sache an Silvester komisch behandelte. „Ist alles gut bei dir? Du siehst so nachdenklich aus“, stellte Hikari fest und berührte ihre Schulter. Mimi wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen und schüttelte den Kopf. „Es ist alles super. Ich frage mich nur, was meine Mutter wieder gekocht hat“, redete sie sich raus und sah übertrieben zur Küche, aus der ihre Eltern gerade kamen. Ihre Mutter hatte ein Brathähnchen gemacht, ganz traditionell mit Gemüse und leckerer Soße. Manchmal vermisste Mimi ihre außergewöhnlichen Rezepte, wie Reis mit Erdbeeren. Sie hatte das Gefühl, dass nichts nur sie sich angepasst hatte, sondern auch ihre Eltern, auch wenn ihre verrückte Seite ab und zu noch herauskam. Ihr Vater brachte verschiedene Sorten von Limonade an den Tisch und öffnete gleich eine Flasche. Er schenkte Kari und Mimi etwas in die Gläser und setzte sich wieder. Ihre Mutter schnitt das Fleisch und verteilte es auf die Teller. „Oh steht mal, es schneit“, sagte sie und schaute zum Fenster. Mimi und Kari streckten sich und sahen tatsächlich zarte kleine Flocken in der Abenddämmerung. „Vielleicht können wir heute noch eine Schneeballschlacht machen“, schlug die junge Tachikawa begeistert vor. „Bist du dafür nicht schon ein bisschen zu alt?“ Ihr Vater musterte sie und zog die Augenbraue nach oben. „Für sowas ist man nie zu alt“, kommentierte sie und biss ein bisschen Fleisch von ihrem Hähnchenflügel. „Lass sie doch“, meinte Satoe zu ihrem Mann. „Kommt Michael eigentlich auch später vorbei?“ „Nein“, zischte die Brünette kratzbürstig und konzentrierte sich voll und ganz auf ihr Essen. Auch Kari hielt sich bedeckt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Mimi immer noch wegen der Abfüllsache so sauer auf ihn war. Es war schon ganze zwei Monate her. Doch bei ihnen war mittlerweile nichts mehr rosig und unkompliziert. Mittlerweile stritten sie sich fast jeden Tag. Kari beobachtete sie von der Seite und erkannte, dass ihre Augen ganz wässerig wurden. Wahrscheinlich war etwas vorgefallen, von dem sie noch nichts wusste. Mimi plauderte generell nicht gerne aus dem Nähkästchen, besonders nicht bei negativen Angelegenheiten. Es waren die Gerüchte, die ihr so zusetzten, auch wenn Michael immer das Gegenteil behauptete. Kurz nach der Sache mit Kari wurden mehrere Stimmen laut, die behaupteten Michael mit mehreren Mädchen gesehen zu haben. Er hatte sie bereits betrogen, deswegen beobachtete sie ihn immer mit Argusaugen. Doch sie konnte nicht alles sehen, besonders wenn er abends mit seinen Jungs wegging. Bisher konnte er ihr immer glaubhaft versichern, dass es nicht stimmte. Allerdings blieben die Restzweifel weiterhin bestehen. Tief im Inneren wusste sie, dass es schon lange zwischen ihnen nicht mehr stimmte. Doch verlieren wollte sie ihn trotzdem nicht. Sie hatte große Angst vor dem Alleinsein. Außerdem wusste Mimi, dass sie nicht gerade einfach war. Wahrscheinlich hielten es die meisten Männer mit ihr keinen Monat aus, ohne danach die Flucht zu ergreifen. Michael hingegen ertrug ihre Marotten, aber auch nur weil er genug Eigene hatte. Und Mimi wollte nicht allein sein. Sie brauchte Liebe und Geborgenheit, um sich wohlzufühlen. Vielleicht steckten sie im Moment nur in einer schwierigen Phase, die irgendwann wieder vorbei ging. Sie wollte einfach noch nicht aufgeben. Sie wollte kämpfen, auch wenn sie wusste, dass der Kampf schon längst verloren war. „Fröhliche Weihnachten“, meinte er sarkastisch und hob die Bierflasche. „Haben deine Eltern dich nicht eingeladen?“, fragte sein brünetter Freund und erntete von ihm einen wütenden Blick. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich zu so einem Mist hingehe“, antwortete Matt bissig und trank einen Schluck. „Auf so eine Pseudo-Familien-Kacke habe ich wirklich keine Lust“. „Wow du bist ganz schön dramatisch“, stellte Taichi fest und setzte sich auf die Couch. Izzy war der Einzige der WG, der zuhause bei seinen Eltern feierte. Tai glänzte schon bei der letzten Familienweihnachtsfeier mit Abwesenheit, da er lieber Zeit mit seinen Freunden verbringen wollte. Natürlich wäre er hingegangen, wenn seine Schwester aus den USA gekommen wäre. Doch das hatte sich erledigt, nachdem sie kein Geld für das Flugticket übrig hatte. „Ich bin nicht dramatisch. Ich sehe es nur realistisch“, konterte er und setzte sich ebenfalls. Tai konnte ihn langsam wirklich nicht mehr verstehen. Seine Eltern bekamen ein Baby und seit er es wusste, war seine Laune eindeutig im Keller. TK versuchte sich mit der Situation zu arrangieren und hatte schon oft versucht mit Matt ins Gespräch zu kommen. Doch alles endete in einem riesen Streit. Matt wollte und konnte es nicht akzeptieren. Deswegen feierte er nur mit Tai, der ebenfalls angeschlagen war, da seine Schwester sie nicht besuchen kommen konnte. Auch wenn er oft sagte, dass Hikari ihn nervte, vermisste er sie ständig. Und auch der Kontakt zu ihr, schien von Mal zu Mal weniger zu werden – so als würde er sie allmählich an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten verlieren. Er hoffte, dass sie nach den vier Jahren immer noch die Person war, die er liebte und schätzte. Doch manchmal war so eine große Möglichkeit, auch ein Todesurteil für die Persönlichkeit. Er wollte sicherlich keine zweite Mimi bei sich zu Hause sitzen haben. „Ich bin froh, wenn das Jahr vorbei ist“, grummelte der Brünette und ließ den Kopf hängen. „Das nächste Jahr wird sicherlich auch nicht besser“. „Vielleicht erleben wir ja noch eine Überraschung“, meinte er und stupste Matt leicht an, „du verliebst dich irgendwann und ich…ich werde es vielleicht schaffen, Kari endgültig loszulassen“. „Du vermisst sie sicher sehr, oder?“, erkundigte sich der Blonde und schenkte ihm einen vielsagenden Blick. Er wusste, dass Tai sehr sensibel war. Deswegen kaufte er ihm anfangs die reibungslose Trennung von Sora nicht ab, auch wenn er beiden mittlerweile glaubte. Er wusste, dass sein bester Freund viele Dinge, die ihn beschäftigten, zu lange für sich behielt. Er wollte eben keinem zur Last fallen, auch wenn er sich damit alleine herumquälen musste. Kari war das beste Beispiel dafür gewesen. Tai wollte nicht, dass sie nach Amerika ging. Sie waren nie länger als zwei, drei Wochen voneinander getrennt gewesen. Schon als kleiner Junge wollte er sie immer beschützen und behüten. Natürlich konnte er das nicht mehr, nachdem sie gegangen war. Und es machte ihm mehr zu schaffen, als er eigentlich zugab. Matt wusste selbst nicht, wie er reagieren würde. Auch er hing an seinem Bruder und würde es sicher nicht verkraften, wenn er das Land verlassen würde – auch wenn sie im Moment nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Er konnte Tai schon verstehen. Dennoch war besonders die Familie vergänglich. Seine Eltern bekamen zwar ein Baby, aber trotzdem würde es nicht garantieren, dass sie wieder ein Paar werden würden. Es war eben eine beschissene Situation. Eine Situation, auf die Matt gerne verzichtet hätte. TK sah traurig zu seinen Eltern, die bis zur letzten Sekunde gehofft hatten, dass Matt noch auftauchen würde. Nichts dergleichen geschah. Er kam einfach nicht. Ignorierte die Einladung seiner Mutter, die sich mit dem Essen so viel Mühe gegeben hatte. Sie war den Tränen nah und verschwand in die Küche. Von der Seite erkannte man allmählich eine deutliche Wölbung, die auf die Ankunft seines baldigen Geschwisterchens schloss. Als Natsuko außer Hörweite war, beugte sich sein Vater leicht zum ihm. „Matt hat sich bei dir auch nicht mehr gemeldet oder?“ „Nein. Wir haben uns in letzter Zeit öfters gestritten“, gab er zu und sah in das sorgenvolle Gesicht seines Vaters. „Ihr geht es nicht gut“, eröffnete er seinem Sohn und blickte zu seiner Ex-Frau. „Sie hat mich öfters angerufen und geweint“. „Was? Mir erzählt sie sowas gar nicht“, sagte er schockiert und hielt sich die Hand vor den Mund. „Ach…ich hätte es dir auch nicht erzählen dürfen“, murmelte er und schüttelte den Kopf. „Ich mache mir nur Sorgen um sie und das Baby“. Takeru nickte nur. Er wusste, dass es sich bei seiner Mutter um eine sogenannte Risikoschwangerschaft handelte. Sie war bereits über vierzig und hatte einen nicht ganz so stressfreien Beruf. Und dann war da noch die Sache mit Matt, die ihr zu schaffen machte. Sein Vater hatte wohl Angst, dass sie das Kind noch verlieren könnte. „Hat der Arzt denn irgendetwas Beunruhigendes gesagt?“, hakte er nach. „Nein, aber ich denke wir können dir schon etwas verraten“, meinte er grinsend und rief Natsuko zu sich. Sie hielt sich den Bauch und musste ebenfalls leicht lächelnd. „Wir wissen mittlerweile, was es wird“, begann sie und versuchte ihre Freude noch ein wenig zu unterdrücken. TK saß gespannt auf seinem Stuhl und sah seine Eltern mit großen Augen an. „Der Arzt ist sich ziemlich sicher, dass es ein Mädchen wird“. „Ein Mädchen? Ich bekomme also eine Schwester?“, fragte er und presste die Lippen aufeinander. Erst als sie erneut nickten, sprang er auf und umarmte seine Mutter stürmisch. „Das ist wirklich toll, Mama“, flüsterte er in ihr Ohr. „Es freut mich, dass du dich wenigstens ein bisschen auf das Baby freust“, antwortete sie und drückte ihren Sohn etwas näher an sich. Sie hatte sich schon immer eine kleine Tochter gewünscht, auch wenn sie ihre beiden Jungs über alles liebte. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass sich ein Traum von ihr erfüllte. Auch wenn es für Matt eher ein Alptraum war. Doch auch für TK war es ein schönes Erlebnis, mit seinen Eltern gemeinsam Weihnachten zu feiern. An das letzte Mal erinnerte er sich schon gar nicht mehr. Wie auch, er war damals drei. Seine Eltern hatten sich kurz vor Weihnachten getrennt. Irgendwann Ende November. Komischerweise erinnerte er sich an dieses Weihnachten genau. Er war vier und hatte mit seiner Mutter eine kleine Wohnung bezogen. Damals hatten sie noch nicht mal Geld für einen Weihnachtsbaum. Seine Mutter hatte den gesamten Heiligabend geweint, während er mit einem Feuerwehrauto spielte, dass ihm sein Großvater aus Frankreich zugeschickt hatte. Dennoch bemerkte er, wie unglücklich seine Mutter war und immer wenn er fragte, wann Matt und Papa kämen, verschlimmerte sich ihre Stimmung. Im Moment weinte sie ebenfalls. Jedoch nicht weil sie traurig war, sondern weil sie sich auf das kleine Wesen freute, dass in ihrem Bauch heranwuchs. Und auch Matt müsste es eines Tages akzeptieren, dass sie noch eine Schwester bekamen. Es war nun mal nicht einfach. Aber welches Leben verlief immer nur gradlinig und hatte keine Höhen und Tiefen? Richtig. Keines. Es war normal, auch mal schlechte Zeiten zu durchleben. Und Takeru wusste, dass sie für seine Familie endlich vorbei waren. Weihnachten. Die beste Möglichkeit Zeit mit der Familie zu verbringen und sich den Bauch vollzuschlagen. Auch Joe saß gemeinsam mit seinen Eltern am Tisch. Hinter ihnen stand ein großer geschmückter Baum, dessen Lichterketten bunt leuchteten. Seine Geschwister würden erst morgen eintreffen. „Das ist wirklich lecker, Mama“, lobte er das Essen seiner Mutter, die zufrieden lächelte. Doch irgendwie wurde ihm von Mal zu Mal schlechter. Er hatte das Gefühl sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Dabei hatte er doch nur eine Entscheidung getroffen. Nichts Verwerfliches. Er wusste nur nicht, wie er es seinen Eltern schonend beibringen wollte. Joe hatte sich vorgenommen nächstes Semester komplett frei zu nehmen, um herauszufinden, was er eigentlich wollte. Shin hatte ihm die Idee geliefert, bei einem Trip von Tokyo bis Nagoya mitzumachen. Er musste zwar noch schauen, wie er es finanzieren sollte, aber die Idee seines Bruders beflügelte ihn regelrecht. Es war etwas ganz Neues, dass er sich sonst sicher nicht getraut hätte. Er wollte sein Leben leben. Er wollte auch Fehler machen dürfen. Er wollte er selbst sein. „Mama, Papa, ich würde gerne mit euch etwas besprechen!“ Sein Vater musterte ihn argwöhnisch. Er war immer noch sauer, weil er seine Hausarbeit nicht korrigiert hatte und demnach durchgefallen war. „Ich hoffe du willst mir sagen, dass du schon das Thema für deinen zweiten Versuch rausgesucht hast“, knurrte er angesäuert. Joe schüttelte nur mit dem Kopf. „Nein, aber es hat auch etwas mit dem Studium zu tun“, erklärte er knapp. „Na dann bin ich mal gespannt“. „Ich werde mir eine Auszeit nehmen!“ Stille kehrte ein. Das Klappern der Gabeln verstummte und die Gesichter seiner Eltern entgleisten. „Wie bitte?“, fragte sein Vater und legte das Besteck bei Seite. „Du hast schon richtig gehört. Ich habe gemerkt, dass das Medizinstudium nichts für mich…“. „Wage es ja nicht diesen Satz auszusprechen“, drohte er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Mutter erschrak und auch Joe fuhr kurz zusammen. „Papa ich will das nicht mehr machen“, klärte er auf und sah ihn dringlich an. Doch er ignorierte die hilfesuchenden Blicke seines Sohnes schon seit Monaten. „Das ist doch Schwachsinn, was willst du sonst machen?“ „Das weiß ich noch nicht“. „Na ganz toll“, maulte er und fuhr sich durch die kurzen Haare. „Daran ist nur deine lasche Erziehung Schuld“. Er warf einen Blick zu seiner Frau, die den Kopf schuldbewusst senkte. Joe stand plötzlich auf und ergriff Partei für seine Mutter. „Sie hat damit nichts zu tun. Ich will das so. Und damit ich mir klar werde, was ich wirklich will, werde ich eine Reise unternehmen“. „Eine Reise?“, wiederholte er fragwürdig. „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ „Papa, du hast immer die Entscheidungen für mich getroffen. Jetzt bin ich an der Reihe meine eigenen zu treffen“. „Also eine Reise? Und wie willst du die bitte schön finanzieren? Ich werde deine Flausen ganz sicher nicht fördern“, geiferte er und setzte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und blickte finster. „Ich habe mir einen Job gesucht!“ „Einen Job? Als was?“ „Ich werde dreimal die Woche Regale auffüllen und mache ein paar HiWi-Arbeiten für einen meiner Dozenten“. „Ich fasse es nicht. Da bietet man seinem Sohn die bestmögliche Ausbildungsmöglichkeit an und er tritt alles mit Füßen.“ Er schüttelte den Kopf und massierte sich danach die Schärfen. „Man Papa! Wenn es doch nicht das ist was ich will! Willst du mich im ernst dazu zwingen?“ „Ich weiß, was für dich am besten ist! Also setz dich gefälligst hin und such‘ dir lieber ein neues Thema für deine Hausarbeit aus, als so einem Schwachsinn hinterher zu träumen“. „Das ist kein Schwachsinn“, sagte er diesmal energischer. „Setz dich! Ich will nichts mehr hören“. Joe sah ihn ungläubig an und richtete seinen Blick kurzzeitig zu seiner Mutter, die sich mal wieder nur heraushielt. Sie hatte noch nie etwas gesagt, auch wenn sie ihn verstehen konnte. Sie wollte einfach dem Stress mit ihrem Mann aus dem Weg gehen. „Das werde ich nicht Vater! Ich bin bereit meine eigenen Entscheidungen zu treffen und jetzt fange ich damit an“, blaffte er zurück und verließ das Szenario. Er hörte noch wie sein Vater ihm etwas hinterher brüllte, doch es war Joe egal. Er schnappte sich seine Jacke, öffnete die Tür und schlug sie hinter sich zu. Er lief aus dem Gebäude, in dem sich die Wohnung seiner Eltern befand. Eine kühle Brise kam ihm entgegen, als er nach draußen kam. Joe war richtig stolz auf sich. Er hatte endlich zu seiner Meinung gestanden und hoffte, dass sich auch bei seinen Eltern ein Perspektivenwechsel einstellte. Sie konnten ihn doch nicht ernsthaft in sein Unglück laufen lassen wollen. Er war endlich bereit seine eigenen Entscheidungen zu treffen, auch wenn Shin ihm zuvor ins Gewissen reden musste. Sein Bruder hatte aber recht. Er musste sein Leben in den Griff bekommen, und konnte demnach seinem Vater nicht ständig gefallen. Das würde ihn auf Dauer kaputt machen. Und er wollte endlich anfangen zu leben. 04. Juni 2010. Nagoya, Japan. Autobahn. Er schreckte auf. Verrückt, dass er ausgerechnet jetzt diesen Traum hatte. Er lehnte sich zurück und spürte das Polster seines Sitzes im Rücken. Er sah nach draußen und erkannte wie, viele Lichter an ihm vorbei zogen. Es war schon Abend geworden und die Gruppe war vor ungefähr einer halben Stunde von Nagoya weggefahren. Ein Lächeln bildete sich auf Joes Lippen. Er war wahrhaftig glücklich. Alles war gut und ein wohliges Gefühl machte sich in ihm breit. Es war das Gefühl der Erfüllung – so als hätte er das erste Mal in seinem Leben etwas Sinnvolles getan. Er war seinem Herzen gefolgt. Viele Eindrücke und Bilder der vergangenen Tage holten ihn auf einmal ein und ließen ihn schmunzeln. Er erinnerte sich wie er auf den Berg Ena hochwanderte, auf seinem Gipfel stand und die Unendlichkeit vor sich sah. Die Luft war sauber und vertrieb diesen Dauernebel, der sich in seinem Kopf befand. Er sah die Landschaft, die Tiere und die Menschen, die er in den letzten Tagen sehr lieb gewonnen hatte. Ein bisschen Wehmut vermischte sich unter die große Freude, die er fühlte. Es war vorbei. Jetzt würde es wieder nach Hause gehen. Doch er fühlte sich praktisch wie ein neuer Mensch, der das Leben nun mit anderen Augen sah. Er dachte an das Musikfestival, das ihn anfangs so fürchterlich deprimierte, da er kurzzeitig wieder all den Stress der Vergangenheit vor seinem inneren Auge wahrnahm. Er hatte wirklich, dass Gefühl zu ersticken. Doch dann hörte er eine Melodie, die ihn aus seinem ewigen Trübsal erweckte und neu belebte. Er tanzte die halbe Nacht mit Asuka und den beiden anderen Studenten. Er lachte und erschreckte sich gleichzeitig, da er vollkommen vergessen hatte, wie es sich anfühlte glücklich zu sein. Er sah Städte, die er zuvor noch nie gesehen hatte, da er bisher nie über den Tellerrand schaute. Und selbst in Tokyo hatte er all die Schönheit, die sich an den einfachsten Plätzen befand, einfach ignoriert. Joe erinnerte sich an die Seen, die vor dem Fuji entlang plätscherten und ihn immer wieder aufs Neue beruhigten. Er sah aus dem Fenster und ließ die gesamte Reise noch einmal Revue passieren. Er spürte plötzlich die frische Luft des Fujis, die seine Nase kitzelte. Das kühle Nass der Seen war immer noch allgegenwärtig. Er erinnerte sich, wie er seine Hände in einen der Seen eintauchte und sein Gesicht damit erfrischte. Beinahe wäre er sogar komplett hineingefallen. Zum Glück brachte Asuka ihn noch zum Stehen. Ein Teil von ihm, wünschte sich, dass diese Reise noch nicht zu Ende war. Vor seinem inneren Auge, sah er die Stadt Hamamatsu, die sich vor ihm erstreckte. Er sah den Hafen und die unzähligen Boote, die quasi auf den nächsten Einsatz warteten. Auch das Musikfest war ihm in guter Erinnerung geblieben. Früher hatte er sich nie wirklich für Musik interessiert, auch wenn er ab und zu auf Matts Konzerten war. Musik war einfach da. Es war nichts Besonderes für ihn. Dabei war Musik einfach ein Wunder. Sie hatte so viel Einfluss auf die Stimmung der Menschen, sodass er sich schon selbst etwas erschreckte. Es beflügelte ihn, etwas zu hören, dass seine Stimmung zu 180 Grad wendete. Es fühlte sich magisch an. Und keiner konnte ihm diesen Moment noch nehmen. Auch seine Zeit in Nagoya würde immer ihm gehörten. Er dachte an die Stadtrundfahrt, die sie am ersten Tag machten. Er sah alte Temple und einige Museen, die ihn allein schon von der Architektur sehr begeisterten. Sein persönliches Highlight war definitiv die Besteigung des Ena. Er fand es schon sehr traurig, dass der Fuji zurzeit keine Klettersaison hatte, aber das Erlebnis machte es wieder gut. Wahrscheinlich hätte er es eh nicht auf den Fuji geschafft, ohne sich gewaltig etwas zu zerren. Körperliche Bewegung war er einfach nicht gewöhnt gewesen. Doch als er es geschafft hatte, strömte eine ungewöhnliche Energie durch seinen Körper. Seine innere Stimme wurde laut und sagte immer wieder: „Du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst. Trau dich einfach!“ Er wusste was sie damit sagen wollte. Nur weil Medizin nicht sein Ding war, hieß es noch lange nicht, dass er ein Versager war. Er musste eben noch ein wenig suchen, bevor er wusste, was er wollte. Doch er würde nicht aufgeben. Egal was ihn zu Hause erwartete. Er war stark und bereit. Er war bereit, für das Leben, das er wollte zu kämpfen. Mimi lag ausgestreckt auf ihrem Bett und starrte die Decke an. Das Date mit Matt war bereits einen Tag her und sie wusste langsam wirklich nicht mehr, wie sie seine Nachrichten ignorieren sollte. Das Geständnis, dass ihr Tai an diesem Tag gemacht hatte, hatte sie sehr schockiert und auch teilweise an ihren Qualitäten als Freundin zweifeln lassen. Sora war in Matt verliebt und sie hatte rein gar nichts gemerkt. Nein sie hatte sogar noch eins draufgesetzt und war mit ihm ausgegangen. Sie fühlte sich einfach nur schlecht. Nachdem sie mit Tai gesprochen hatte, war sie einfach nach Hause gegangen, ohne Matt Bescheid zu geben. Sie konnte da nicht mehr rein, ihr schlechtes Gewissen schlug zu große Wellen. Taichi hatte sie sogar noch zum Hotel gebracht und immer wieder betont, dass sie zu Sora nichts sagen sollte. Vor allem aber nicht zu Matt. Dennoch wusste sie nicht, was richtig und was falsch war. Sora würde auf Dauer gesehen immer unglücklicher werden, wenn sie nicht langsam etwas in die Gänge käme. Tai konnte sicher nicht jedes Mädchen von ihm fern halten. Tai. Wie er wohl die ganze Sache fand? Schließlich war Sora jahrelang seine Freundin gewesen und Matt war sein bester Freund. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass alles so spurlos an ihm vorbei ging. Vielleicht sollte sie ihm demnächst mal auf den Zahn fühlen. Aber Sora stand an oberster Priorität – auch wenn Tai von ihr verlangte sich nicht einzumischen. Er kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie eben nicht Nichtstun konnte. Sora brauchte einfach nur einen Stups in die richtige Richtung. „Kari bist du im Bad bald fertig?“, hörte sie die Stimme ihrer besten Freundin. Sie erschrak kurz, wusch sich die aufkommenden Tränen aus dem Gesicht und antwortete, in der Hoffnung sich nicht vollkommen verheult an zu hören. „Bin gleich fertig“. Das letzte Wort brach fast ab, da ihr wieder die Tränen kamen. Sie war nackt und hatte sich in der Dusche zusammengekauert, während das Wasser auf ihren Kopf und Rücken plätscherte. Sie umschlang mit den Armen ihre Beine und legte den Kopf auf ihre Oberschenkel. Wieder traf sie eine Welle des Schmerzes. Die Tränen liefen ihr unkontrolliert die Wange hinunter, während sie sich mit den Fingernägeln in die Haut ihres Oberschenkels krallte. Sie wollte einen anderen Schmerz fühlen. Sie wollte am liebsten alles vergessen. Sie wollte die Zeit zurückdrehen. Doch sie wusste, dass sie es nicht mehr konnte. Ihr Leben war vorbei. Wahrscheinlich würde sie nie wieder so werden, wie sie einmal war. Ihre Vergangenheit belastete sie zu sehr. Seit sie bei Takeru war und er ihr sagte, dass sie eines Tages eine gute Mutter sein würde, hatte sie nur noch geweint. Gestern lief sie den halben Tag orientierungslos durch die Straßen Tokios. Einmal hatte sie sich sogar eingebildet ihren Vater gesehen zu haben, was sich Gott sei Dank nicht bestätigte. Sie hätte keine Ahnung gehabt, wie sie ihm die ganze Heulerei hätte erklären sollen. Erst gegen Abend hatte sie sich wieder allmählich beruhigt und konnte zum Hotel zurück. Mimi fiel es zum Glück nicht auf, dass sie sich recht seltsam verhielt. Irgendetwas anderes schien sie zu beschäftigen. Kari glaubte, dass es mit Matt zusammenhängen könnte, doch traute sich nicht sie danach zu fragen. Kurz danach verschwand sie auch schon ins Bett. Der nächste Morgen war genauso schwer für sie. Als sie aufwachte wollte sie am liebsten gleich wieder weinen, doch sie riss sich zusammen und ging mit Mimi ein bisschen einkaufen. Es lenkte sie zwar ab, doch jetzt saß sie bereits seit über einer Stunde im Bad und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Sie sollte Mimi alles sagen. Wirklich alles. Die Wahrheit über den Vater. Die Wahrheit über das Baby. Die Wahrheit über sie. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie wollte nicht mehr das schwache, zerbrechliche Mädchen von damals sein. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als Wallace, Peter und April sie in ihrem Zimmer fanden und sie vollkommen geistesabwesend wirkte. Dieser Tag veränderte alles. Der Rest von der „Alten Kari“ wurde komplett eliminiert. Zurück blieb das Häufchen Elend, dass jetzt in der Dusche saß und sich bereits blutig gekratzt hatte. Sie hielt es nicht mehr lange aus. Sie brauchte etwas, dass sie endlich vergessen ließ. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)