Das Rotkäppchen-Experiment von Jadis ================================================================================ Kapitel 1: Vor dem Spiel ------------------------ 2 ¨¯¯¨˜“ª¤.¸°¸.¤ª“˜¨¨¯¯¨ Vor dem Spiel //Ein paar Monate früher// Ich lese den Straßennamen auf dem Schild des mehrstöckigen Ziegelsteingebäudes und biege, ohne die Änderung meiner Fahrtrichtung anzuzeigen, in die Baker Street ein. Irgend so ein blödes Taxi hupt mich an, weil ich ihm auf der falschen Seite entgegen komme. Verdammt. Ich habe mich noch immer nicht an den Linksverkehr gewöhnt. Ich trete nun langsamer in die Pedalen meines 29er Cube Aim, welches stilecht in rot gehalten ist und somit wunderbar zur Farbe meiner Haare passt, und halte nach den Hausnummern Ausschau. Auf Höhe einer Sandwich- und Cafébar steige ich vom Rad und betrete den Fußweg. Mein Blick schweift über die ausladende Markise des Cafés und ich bekomme just Hunger auf Pasta, schiebe mein Fahrzeug jedoch weiter neben mir her und lehne es einen Hauseingang weiter gegen einen gusseisernen, schwarzen Gartenzaun. Ich zerre meine wetterfeste Umhängetasche von meiner Schulter und krame darin nach dem letzten Einschreiben, welches ich heute noch austragen muss. Ein kurzer vergleichender Blick auf die Adresse des Briefes und die goldene Hausnummer auf der grünen Eingangstür vor mir zeigt, dass ich hier richtig bin. 221B Baker Street. Mein linker Fuß tritt auf die erste kleine Stufe, während meine Augen die Fassade nach einer Klingel absuchen. Zeitgleich hole ich meinen Quittungsblock heraus und halte einen Stift bereit. Schließlich drückt mein Zeigefinger auf einen kleinen runden Türsummer und ich wundere mich, dass gar kein Widerstand zu spüren ist. Auch von innen ist kein entsprechendes Geräusch zu vernehmen. Hm, vielleicht kaputt. Ohne noch lange zu warten, entschließe ich mich, den Türklopfer zu benutzen. Das Geräusch hallt durch das Gebäude und die dicke Tür erzittert unter der Wucht der Schläge. Ich atme abwartend aus, während mir der Duft von Pasta asciutta in die Nase steigt. Gemein. Die Sekunden verstreichen, ohne dass sich etwas rührt und ich trete ein paar Schritte zurück, um an der Fassade nach oben zu blicken. War da gerade eine Bewegung am Fenster? Entschlossen schreite ich wieder zur Tür und hämmere gegen das massive Holz, diesmal ohne den Türklopfer zu benutzen. Ich bin nicht von den Zeugen Jehovas und ich will auch nichts verkaufen. Ich bin einfach nur Kurierfahrer. Himmelherrgott. Ich bekomme Kopfschmerzen von dem blöden Sturzhelm und will mir gerade, mehr schlecht als recht die Stirn massieren, als ich höre wie jemand eine Treppe herunter gepoltert kommt. Na endlich. Sogleich lege ich mir meinen Text zurecht und hole Luft, um diesen auch in einem Atemzug über die Lippen zu bekommen, als die Haustür aufgerissen wird. Ich will wirklich etwas sagen, aber in diesem Augenblick verschlägt es mir kurzzeitig doch tatsächlich die Sprache. Ich habe ja wirklich schon viel gesehen. Kotzende Pferde zum Beispiel. Ein halbnackter, nur in ein Laken gewickelter Mann sollte dem wirklich nicht die Krone aufsetzen, aber irgendwie bin ich trotzdem kurz aus der Fassung gebracht, als dieser in der Eingangstür erscheint und auf mich herab blickt. »Ihre Klingel funktioniert nicht«, sage ich daher einfach, während mich helle Augen mustern. »Die ist im Gefrierfach«, antwortet mir mein Gegenüber mit unerwartet tiefer Stimme und ich versuche, dieser Aussage einen Sinn zu geben, kann ihn aber irgendwie nicht erkennen. Ich bemerke erst, dass meine Stirn sich in Falten legt und ich ihn unhöflich anstarre, als mein Gehirn mich daran erinnert, Luft zu holen. Ich blinzele und werde mir wieder des Umschlags in meiner Hand bewusst. »Einschreiben für Mr...«, ich werfe noch einmal einen schnelle Blick auf die Adresse. »Holmes.« Abwartend halte ich Quittungsblock und Kugelschreiber unter die Nase des Lakenträgers, während dieser mich immer noch mustert. Langsam fühle ich mich etwas unbehaglich in meiner Haut, lasse mir jedoch nichts anmerken. Ich bin hier gleich wieder weg, denke ich und setze ein Lächeln auf. »Dürfte ich Ihren Ausweis sehen?« Mein Lächeln verschwindet. Ausweis? Das ist mir ja in meiner ganzen Karriere als Kurierfahrer noch nicht untergekommen. Gut, ich bin auch erst zwei Wochen dabei, aber das tut jetzt einmal gar nichts zur Sache. »Natürlich«, sage ich einfach nur und schiebe meine Hand umständlich in eine Brusttasche meiner Allwetterjacke, um den Ausweis ans Tageslicht zu befördern, der mich als Mitarbeiterin von GLH ausweist. »Hier.« Mein Gegenüber wirft nur einen kurzen Blick darauf, dann wandert dieser ein Stück weiter nach oben zu meinem Haaransatz. »Sie haben rotes Haar«, bemerkt er völlig aus dem Zusammenhang gerissen und rückt sein Laken etwas zurecht. Ich hoffe nur, dass er wenigstens noch etwas drunter trägt. »Das haben Sie sehr gut beobachtet«, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen und versuche erneut ihn dazu zu bewegen, die Quittung zu unterschreiben. »Wenn Sie bitte hier-« »Das hat nichts mit Beobachtung zu tun. Das war eine Feststellung, ein Teilprozess des Soll-Ist-Vergleichs im Rahmen einer Prüfung, der der vertrauenswürdigen Ermittlung gegebener Sachverhalte dient.« »Aha«, mache ich nur und beginne mich langsam zu fragen, ob meine neuen Kollegen sich vielleicht einen üblen Scherz mit mir erlauben und dieser Kunde gar kein richtiger Kunde ist. »Beobachtung würde mir sagen, dass Englisch nicht Ihre Muttersprache ist und Sie demnach noch nicht lange in England sind. Ihr Fahrrad ist neu und nach der ausgebesserten Seriennummer zu urteilen, vermutlich Hehlerware. Es ist kein Eingangrad oder gar ein Bahnrad mit starrem Gang und ohne Bremse. Dies und die Tatsache, dass Sie das Einschreiben sehr spät ausliefern bedeutet, dass Sie noch keine Erfahrung als Fahrradkurier haben. Ganz nebenbei bemerkt war der letzte Fahrradkurier, der hier seinen Zustellbereich hatte ein lustiger Inder mit Sprechfehler. Der kleine Rückspiegel auf der linken Seite des Lenkers lässt den Schluss zu, dass Sie Rechtsverkehr gewöhnt sind. Außerdem haben Sie ein Rückenleiden und versuchen Ihre Schulter zu entlasten, indem Sie die Tragetasche... Nein, halt... Es ist der Nacken. Sie entlasten den Nacken, indem Sie-« »Unterschreiben Sie hier«, verlange ich und habe jede höfliche Tonlage aus meiner Stimmer verbannt. Der Kerl ist gruselig und ich will hier weg. Das leise Lächeln, welches sich während seiner Ausführungen auf sein Gesicht gestohlen hat, verschwindet wieder und es entsteht eine kurze Pause, in der wir uns abwartend mustern und ich mir alle Mühe gebe, nicht als erster zu blinzeln. Meine Arme werden langsam schwer, weil ich noch immer Block und Stift auf Armlänge von mir halte und hoffe, dass ich endlich diese verdammte Unterschrift bekomme. »Haben Sie Samstagabend bereits etwas vor?« »Wie bitte?« Ich habe mich wohl verhört. Ich muss mich verhört haben. »Londons High Society trifft sich diesen Samstag zu einer Benefizgala. Es ist mir vergönnt, im Besitz einer Einladung zu diesem Event zu sein, jedoch ist es von äußerster Wichtigkeit, dass mich eine rothaarige Frau begleitet.« Von äußerster Wichtigkeit, dass mich eine rothaarige Frau begleitet, hallen seine Worte in meinem Kopf nach. Wenn ich so darüber nachdenke, klingt das Wort »rothaarig« aus seinem Mund wie ein Schimpfwort. Wie Ungetier, was man am liebsten nur mit spitzen Fingern anfasst und ganz schnell vor die Tür befördert. »Sie wollen, dass ich mit Ihnen auf diese Gala gehe, nur weil ich rote Haare habe?«, frage ich vorsichtshalber noch einmal nach, nur um jedes etwaige Missverständnis ausschließen zu können. Mr. Holmes' Kopf huscht kurz zur Seite, dann wieder zurück, wobei ihm dunkle Locken in die Augen fallen. Ob er gerade begreift wir unfassbar unsinnig sein Ersuchen ist? »Ja«, meint er schließlich nickend und ich frage mich, wieso er nicht andere mit dieser Bitte konfrontiert. Freunde, Verwandte, irgendeine Crack-Hure aus der Londoner Unterwelt. Noch ehe ich beginne, ernsthaft darüber nachzudenken, erschrecke ich, weil er sich schlagartig zu mir hinab beugt, um einen genaueren Blick unter meinen Fahrradhelm werfen zu können. »Oh, gefärbt«, stellt er dann fest und richtet seinen schlanken Körper wieder zu voller Größe auf, was dazu führt, dass ich meinen Kopf in den Nacken werfen muss, um in sein Gesicht sehen zu können. Ich fühle mich ertappt, bin jedoch heilfroh, als er endlich den Stift ergreift und ohne hinzusehen, sein unleserliches Signum an die entsprechende Stelle setzt. Ich reiche ihm den gepolsterten Umschlag, an dem er sogleich riecht, auf dem Absatz kehrt macht und mir, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Tür vor der Nase zuschlägt. Ich starre perplex auf die goldenen Letter auf der grünen Tür, muss noch verarbeiten, dass ich gerade freie Sicht auf seine blanken vier Buchstaben hatte und unternehme schon gar keine Anstrengung mehr, meine Fassung wiederzuerlangen. In ein paar aufeinanderfolgenden Momenten der Unkonzentriertheit, schaffe ich es trotzdem irgendwie, meine Tasche wieder zu schultern, mich auf mein Rad zu schwingen und die Heimreise anzutreten. Ein Wagen streift mich, als ich psychedelisch auf die Straße fahre und ich kann einen Sturz nur durch eine heldenhafte Anstrengung verhindern. Ich hasse diese Taxis! Blöder Linksverkehr. Nur eine Sache schießt mir durch den Kopf, als ich mich langsam in den Verkehr einfädele und dem Feierabend entgegen fahre: Nie wieder Baker Street. Oh, nein, da ist noch etwas... Hehlerware?!?!?! ~ Ende des 2. Kapitels ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)