Kleinigkeiten von Rockryu (für Kathrin) ================================================================================ Kapitel 2: Gehen ---------------- Der junge Mann kroch die verlassene Landstraße entlang. Es war nicht so, dass er zu schwach zum gehen war, auch wenn er sich müde und ausgelaugt fühlte. Er konnte es einfach nicht mehr. Sein ganzes leben hatte er in einem kleinen Dorf auf dem Land verbracht. Doch als er älter wurde, hatte er begonnen, sich rastlos und unzufrieden zu fühlen. Und eines Tages hörte er von einem Reisenden, dass die Menschen in der großen Stadt viel fortschrittlicher und wacher waren. Dazu fügte er die Vermutung, dass es an der neuen Gangart läge, die die Menschen dort sich angeeignet hatten. Neugierig und in der Hoffnung, die Unruhe in sich zu beruhigen, war der junge Mann losgezogen, um in die große Stadt zu gehen und diese neue Gangart zu lernen. Als er in der Stadt angekommen war, sah er sofort, dass die Leute hier tatsächlich anders gingen, als auf dem Land. So hatte er sich Bücher besorgt und verschiedene Leute um Erklärungen gebeten. Und er hatte es geübt, viele Tage lang. Doch nach einigen Wochen hatte er bemerkt, dass es ihm nicht gelingen wollte. Die neue Gangart blieb ihm verschlossen. Also hatte er wieder auf die alte Weise gehen wollen. Doch auch das gelang ihm nicht mehr, so sehr er es auch versuchte. In seinem Bemühen, die neue Gangart zu lernen, hatte er die Alte verlernt. Doch die Neue hatte er nie gemeistert. Nun konnte er gar nicht mehr gehen. Beschämt und den Tränen nah kroch er die Straße entlang, auf dem Weg nach Hause. Zwar hatte er Angst, was sie dort wohl sagen würden, doch er hatte keinen anderen Platz wo er hin konnte. Seine Knie schmerzten und der Stoff seiner Hose würde nicht mehr lange halten. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Plötzlich hörte er Schritte näher kommen und sah auf. Ein Reisender kam auf ihn zu. Er war groß, aber schmal und obwohl sein Gesicht ebenmäßig und freundlich wirkte, kam er dem jungen Mann seltsam vor. Seine Kleidung war eine Mischung aus städtischer und ländlicher Mode zusammen mit Elementen, die er noch nie gesehen hatte, gleiches galt für seinen Gang, der ruhig und selbstsicher wirkte. Der reisende blieb vor dem jungen Mann stehen und beugte sich zu ihm herunter. Dieser konnte nur in das freundliche Gesicht starren. Es war jung und hübsch, doch in der Abendsonne konnte er eine Narbe erkennen, die sich vom Unterkiefer bis zur Nasenwurzel heraufzog. Zudem hatte er noch nie einen Menschen mit silbrigen Augen und grünem Haar gesehen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte der Fremde. „Mir fehlt nichts. Ich habe nur das Gehen verlernt“, antwortete der junge Mann. „Du hast das Gehen verlernt?“ Der Fremde klang verwundert, doch dann sah er sich kurz um und deutete auf einen Hügel am Wegesrand. „Komm, setzen wir uns dorthin und teilen unser Essen miteinander. Bei einem guten Bissen kann man besser reden.“ Er schritt voran und der junge Mann kroch hinter ihm her. Schließlich saßen sie nebeneinander und sahen auf die untergehende Sonne. Der Fremde holte ein Bündel hervor, das Brot enthielt, das der junge Mann noch nie gesehen hatte, doch die Früchte daneben waren ihm vertraut. Er selbst trug ein wenig Gebäck und Käse aus der Stadt bei sich. Sie teilten schweigend und er merkte schnell, dass das Brot des Fremden zwar fremd, aber sehr gut schmeckte. Auch wenn er so etwas nie geschmeckt hatte, kam es ihm vage vor, als hätte er sich sein ganzes Leben nach diesem Geschmack gesehnt. Doch er tat den Gedanken als unsinnig ab. Als sie gegessen hatte, bat der Fremde ihn, zu erzählen, wie es dazu kam, dass er das Gehen verlernt hatte. Und er erzählte zunächst zögerlich, doch dann immer emotionaler, wie es ihm ergangen war. Stumm hörte der Fremde ihm zu und als er geendet hatte nickte er langsam. „Ich verstehe. Ich habe dergleichen schon gesehen, allerdings kam es nie soweit, dass diese Personen kriechen mussten, da man ihnen Krücken gab. Du hattest wohl niemanden, der dir welche geben würde.“ Der junge Mann senkte traurig den Blick. „Kannst du mir welche geben?“ Der Fremde lachte bitter auf. „Selbst wenn ich welche hätte, wolltest du dein ganzes Leben auf Krücken gehen, obwohl du ganz gesund bist? Niemand von denen ist je glücklich gewesen. Jeder glaubte, dass sie krank seien und irgendwann glaubten sie es selbst. Dadurch wurden sie wirklich krank.“ „Aber… was soll ich jetzt tun?“ „Was hättest du denn getan, wenn du die neue Gangart gelernt hättest?“ Darüber musste er eine Weile nachdenken. „Ich denke, ich wäre zum Meer gewandert. Ich wollte es schon immer mal sehen. Und dann hätte ich mir ein Handwerk gesucht.“ „Das Meer? Ja, das solltest du sehen. Es ist wunderschön, und gleichzeitig beängstigend, als wolle es uns sagen, wie klein und machtlos wir doch sind. Ja, du solltest zum Meer wandern. Und was das Gehen betrifft…“ Der Fremde stand auf und streckte ihm seine rechte Hand hin. „Komm, steh auf.“ Zögerlich ergriff der junge Mann die ihm dargebotene Hand. Immerhin, stehen konnte er noch. „Kümmere dich nicht um irgendwelche Gangarten“, sagte der Fremde. „Setze einfach einen Fuß vor den Anderen. Der Rest wird sich mit der Zeit ergeben.“ Der junge Mann versuchte vorsichtig ein Paar Schritte und strauchelte. Doch der Fremde hielt ihn fest. „Denk nicht so viel. Mach es einfach so, wie es dir in den Sinn kommt. Dann wirst du bald deine eigene Gangart haben. Und die wirst du dann nie mehr verlernen.“ Fest an das Meer denkend versuchte der junge Mann es erneut. Und siehe da, seine Schritte waren etwas wackelig und unsicher, aber sie trugen ihn. Er drehte sich strahlend zu dem Fremden um. „Wie kann ich dir danken?“ „Indem du deinen Weg gehst. Ich brauche nichts von dir.“ „Willst du mich nicht zum Meer begleiten?“ „Nein, mein Ziel liegt in der anderen Richtung.“ „Oh. Was ist dein Ziel?“ „Das werde ich sehen, wenn ich es erreicht habe.“ „Werde ich dich je wieder sehen?“ „Wenn du das willst, dann werden wir uns wiedersehen. Lass uns heute in einem Jahr wieder an dieser Kreuzung zusammenkommen.“ „Ja, lass uns das tun. Viel Glück auf deinem Weg.“ Der Fremde hatte sich bereits abgewandt und ging gemächlich der untergehenden Sonne entgegen. Obwohl er eine Hand zum Abschied gehoben hatte, schaute er nicht zurück. Leise lächelnd sah der junge Mann ihm nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war. Schließlich wand er sich nach Osten und ging mit immer sicherer werden Schritten dem Meer entgegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)