Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 32: Wieder auf den Inseln --------------------------------- Kapitel 32 Wieder auf den Inseln Der Winter verlief ab diesem Tag recht eintönig. Die Kälte nahm noch einmal zu, so dass Dhaôma gezwungen war, in der Höhle zu bleiben, und selbst Mimoun nicht gern hinausgehen wollte. Auch der Schnee kam noch einmal zurück, heftiger denn je, bis sie völlig eingeschneit waren. Zum Glück hatten sie genügend Vorräte, um diese Zeit zu überstehen. Sobald es jedoch möglich war, rannte Dhaôma draußen herum und schmolz einige Flächen frei, um dem Wild, das unter der Schneedecke garantiert nichts mehr fand, den Zugang zu Gras zu ermöglichen. Auch zu sehr eingeschneite Bäume befreite er von ihrer Last, damit sie nicht abbrachen. Trotzdem war der Winter ziemlich hart gewesen. Als der Schnee endlich taute, konnte man sehen, dass er vieles einfach erdrückt hatte, Bäume wie Tiere. Auch zog er sich nur widerwillig zurück. Die Kälte kehrte noch einmal mit brutaler Härte zurück, bevor der Frühling sich durchsetzen konnte. Die warme Luft und der unbestechliche Geruch, den der tauende Boden verbreitete, machten Dhaôma kribbelig und hyperaktiv. Wie im letzten Frühjahr auch rannte er draußen herum, ließ Pflanzen wachsen und half den Bäumen beim Treiben. Er drängte darauf, weiterzureisen, endlich den Stillstand hinter sich zu lassen, zu dem er so lange gezwungen worden war. Kaum war auch Mimoun nicht mehr in der Höhle eingeschlossen, zog es ihn in die Lüfte und er durchstreifte in ausgedehnten Flügen das Gebirge. Und immer, wenn sein größter Bewegungsdrang befriedigt war, ließ er sich still in Dhaômas Nähe nieder und beobachtete amüsiert dessen quirliges Verhalten. Aber er verstand seinen Freund. Der Winter musste eine grausame Jahreszeit sein für jemanden, der Pflanzen so über alles liebte. Die Bewegungslosigkeit und das triste Weiß mussten arg an den Nerven des Magiers gezerrt haben. So fiel es dem Geflügelten auch nicht schwer, dem Drängen Dhaômas nachzugeben. Obwohl es schon Nachmittag war, als sie fertig mit Zusammenpacken waren, bestand Dhaôma darauf zu gehen. Die schweren Sachen ließen sie in der Höhle, die er noch versiegelte, um vielleicht irgendwann zurückkehren zu können. Der Frühling war noch nicht wirklich weit außerhalb der Lichtung, die Dhaôma bezaubert hatte, und sie kämen niemals voran, wenn er damit anfangen würde, also marschierten sie stramm, nur unterbrochen von gelegentlichen Pausen, in denen Dhaôma eine Blume entdeckte, die er Mimoun unbedingt zeigen musste. Belustigt ließ Mimoun das Ganze über sich ergehen, freute sich sogar mit seinem Freund. Endlich wurde es wieder wärmer. Die Natur erwachte und nichts zwang den Geflügelten noch irgendwo auszuharren. Zwar blieb er stets in Dhaômas Nähe und Sichtweite, doch ließ Mimoun es sich nicht nehmen frühlingshaft warme Winde zu nutzen. Ihr Weg führte die beiden Freunde in den nächsten Tagen weiter durch das Gebirge, wieder dem Fluss folgend, der ihren Weg bestimmte. Sie mussten vorsichtig sein, konnten sich ihm streckenweise nicht weit nähern, da er durch Schmelzwasser über die Ufer getreten war, aber Dank Mimoun war es nicht schwer, immer wieder zu ihrem Leitfaden zurückzufinden. Je flacher die Landschaft wurde, durch die sie kamen, desto schneller schritt auch der Frühling voran. Bald begannen auch wieder vermehrt Inseln über ihnen zu schweben. So ließ auch die erste Begegnung dieses Jahres mit Geflügelten nicht lange auf sich warten. Mimoun konnte bei einem morgendlichen Rundflug eine relativ kleine Gruppe von Jägern in der Nähe ausmachen. Aus geringer Höhe ließ er sich neben Dhaôma fallen und zeigte aufgeregt in die entsprechende Richtung. „Dort sind Geflügelte.“, erklärte er freudig. „Ich würde mich ihnen gern zur Jagd anschließen und mich nach Neuigkeiten umhören, ist das okay?“ Warum sollte es nicht okay sein? Sie hatten das doch bisher immer so gehalten, dass Mimoun machen konnte, wozu er Lust hatte. Aber wahrscheinlich war es seine unbeholfene Art ihm mitzuteilen, dass er ihn nicht gern allein ließ. „Natürlich. Viel Spaß. Du findest mich irgendwo in der Richtung, falls du mich suchst.“ Er deutete mit dem Zeigefinger geradeaus. Eigentlich würde er gerne mitgehen und sie kennen lernen, aber bei einer Jagd war er überflüssig bis hilflos, deshalb war es besser, wenn er Mimoun alleine gehen ließ. Schließlich fügte er mit einem schalkhaften Grinsen an: „Aber jagt nicht aus Versehen mich, ja? Je nachdem wie gut ihr seid, habe ich vielleicht keine Chance, mich zu heilen.“ Mimoun lachte herzhaft zurück. „Warst du es nicht, der mal gesagt hatte, ich wäre gut in so was? Und dich fang ich schließlich immer wieder ein, wenn du mal ein wenig zu weit von mir weg bist.“ Ohne auf eine weitere Reaktion Dhaômas zu warten, erhob sich der junge Geflügelte in die Lüfte, strebte der Richtung entgegen, in der er die Jäger entdeckt hatte. Schnell konnte er sie ausfindig machen und landete unweit von ihnen. Sie begrüßten ihn höflich, doch Mimoun spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie wirkten bedrückt. Als er sich dann vorstellte, glitten unsichere Blicke zwischen ihnen hin und her. Leise geflüsterte Worte erklangen, die er nicht ausreichend verstand. Schließlich wagte sich einer von ihnen vor. „Wie viel weißt du bereits von den Geschehnissen der letzten Wochen?“, wollte der Bursche wissen. Mimouns ratloser Blick war ihnen Antwort genug und was sie ihm nach einigem Zögern berichteten, ließ seine gute Laune und die Lust auf eine gemeinsame Jagd schlagartig schwinden. „Wir sollten…“, begann der Bursche erneut, als Mimoun nach Minuten noch immer wortlos in der Gegend stand. Völlig in Gedanken versunken, schreckte dieser durch die Worte auf. Er zwang sich zu einem missglückten Lächeln „Ja.“, murmelte er und trat zögerlich einen Schritt zurück. „Eigentlich… hoffte ich, mich eurer Jagd anzuschließen, aber nun gibt es Wichtigeres.“ Ein verständnisvolles Nicken reichte aus und er flog, so schnell ihn seine Flügel trugen, zu der Stelle, an der er seinen Freund zurückgelassen hatte, und folgte seiner Spur. Dhaôma war nach kurzem Lächeln weitergegangen. Bald fand er eine kleine Blume, die er abbrach und mitnahm. In seiner Hand bildete sie Samen und neue Knospen, die wiederum erblühten. Es war ein wenig Kurzweil und lenkte von der Zeitspanne ab, die sie getrennt sein würden. Es war seltsam, aber da sie einen Großteil des letzten Winters über ununterbrochen zusammen gewesen waren, kam ihm die Zeit, die Mimoun nicht an seiner Seite war, wie eine Ewigkeit vor, als würde etwas fehlen. Es dauerte nicht lange und trotzdem schien es ihm ewig, bis er seinen Freund ausmachen konnte. Nicht gerade sanft ließ er sich vor ihm einfach fallen und nutzte den Schwung, um ein paar Schritte auf ihn zuzugehen. Kaum öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen, da schloss er ihn auch schon wieder. Wie sollte er es ihm denn nun am besten sagen? Darüber hatte er gar nicht nachgedacht. Und so schwieg er erst einmal, das Gesicht von Kummer und Sorge gezeichnet. Der Braunhaarige war mittelmäßig erschrocken, als er seinen Freund so plötzlich wieder sah, obwohl er schon zuvor das unterschwellige Geräusch vernommen hatte, das die Flügel machten, aber die Sorge erschütterte ihn viel mehr. In Sekundenschnelle fielen ihm hundert Möglichkeiten ein, die Mimoun so besorgt machen konnten, und eine davon gefiel ihm gar nicht. „Ist was mit deiner Mutter?“ Mimoun starrte ihn kurz an, bevor sich sein noch immer sorgenvolles Gesicht ein wenig mit tiefer Zuneigung aufhellte. „Ich weiß nicht, wie es ihr momentan geht. Ich hoffe doch, gut.“ Kurz druckste er herum. „Nein. Es ist wegen Addar. Schon als ich Anfang des Winters bei ihnen war, wirkte er leicht angeschlagen. Und nun… Er wurde schon seit Wochen nicht mehr außerhalb seiner Hütte gesehen und Asam sagt immer nur, dass es ihm gut ginge und er sich von den Strapazen des Winters erholen müsse. Aber die Geflügelten glauben ihm nicht. Sie befürchten, dass Addar nicht mehr lange hat.“ Tief seufzte Mimoun auf. Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen einen Baum. „Und die Magier. Es kam früher als sonst zu Kämpfen. Mein Volk hatte noch nicht ausreichend Möglichkeiten seine Nahrungsreserven wieder aufzufüllen. Es klang so, als hätte sich unser Jagdgebiet deutlich verkleinert.“ War schon bei den ersten Worten Sorge in ihm erwacht, war Dhaôma nun regelrecht entsetzt. „Sie kämpfen?“, fragte er zittrig. „Warum? Es ist doch noch Winter! Und... Sie gehen doch sonst selten auf die Ebenen. Das ist doch unmöglich! Wie sollen wir die Kämpfe denn noch stoppen, wenn sie schon kämpfen?“ Seine Gedanken überschlugen sich vor Angst, was mit den Geflügelten geschehen mochte, sollten die Magier ihre Strategie verändert haben. Oder was mit den Magiern geschehen würde, wenn die Hanebito zurückschlugen. „Warum mussten sie schon anfangen?“ Und das ausgerechnet, wenn es Addar nicht gut ging. Er war es doch, der das letzte bisschen Rationalität darstellte, eine kleine Stimme der Vernunft und... „Mimoun, bring mich zu Addar! Ich kann der Magier wegen nichts tun, aber vielleicht kann ich wenigstens für ihn etwas tun! Und vielleicht kann er uns einen Rat geben, was wir tun können.“ „Es wird Tage dauern, bis wir bei ihm sind.“, wandte Mimoun ein. „Und dann müsste ich dich noch tragen. Unsere Sachen lassen wir einfach in dem Dorf hier in der Nähe, aber du bist kein Fliegengewicht.“ Er lief einige Schritte auf und ab. „Wenn wir unterwegs jemanden finden, der dich streckenweise tragen würde... Kleine Umwege fliegen, gezielt Dörfer anfliegen und sie um Hilfe bitten. Aber dennoch dauert es Tage.“ „Was sollen wir sonst tun? Ich kann das doch nicht ignorieren!“ Flehend blickte Dhaôma den Schwarzhaarigen an. Dann seufzte er. Man hatte ihm schon oft gesagt, dass er zu überstürzt handelte. „Wie es aussieht, bleibt uns keine Zeit, die Drachen zu finden. Vielleicht solltest du mich nach Hause bringen. Auch wenn das Tage dauert, vielleicht kann ich ja doch irgendetwas erreichen.“ Auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich war. Als ob sie auf jemanden wie ihn hören würden. „Vielleicht kann ich sie daran hindern, weiter zu kämpfen...“, suggerierte er leise mit hoffnungslosem Tonfall. Mimoun hielt in seinen Schritten inne, sah seinen Freund lange und schweigend an. „Du weißt schon, dass das auch nicht viel kürzer ist? Und außerdem ist Addar da die angenehmere Anlaufstelle.“ Dann begann er zögerlich zu lächeln. Er trat auf Dhaôma zu und streckte seine Hände nach dessen Sachen aus. „Ich schau mal, ob ich jemanden für den ersten Teil der Strecke als Hilfe auftreiben kann.“ Dhaôma blickte ihn wortlos an und presste die Lippen aufeinander. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Warum musste seine Rasse eine so unangenehme sein? „Mimoun?“ Unbewusst hatte er nach seinem Hemd gegriffen und hielt ihn fest. „Ich... Es tut mir Leid. Ich konnte das nicht wissen, sonst hätte ich mir nicht so viel Zeit gelassen.“ Mimoun ließ die Sachen achtlos fallen und zog den Jungen an sich, führte mit einer Hand den Kopf so, dass er auf der Schulter des Geflügelten zur Ruhe kam. Er kraulte beruhigend den Nacken, während die andere über den Rücken strich. „Es ist okay. Niemand konnte das voraussehen. Niemand trägt die Schuld hierfür. Du am allerwenigsten.“ Er lehnte sein Kinn gegen Dhaômas Kopf und atmete einmal tief durch. „Sehen wir jetzt einfach zu, dass wir Schadensbegrenzung betreiben, okay?“ Schweigend nickte Dhaôma. Es beruhigte ihn, dass Mimoun ihm nicht die Schuld gab. Ob das die anderen auch nicht tun würden, musste er abwarten. Zu oft hatte er unbegründete Anschuldigungen gehört. Wenn sie die Drachen schon gefunden hätten, dann wäre das alles leichter. Wenn er die Hanebito bloß dazu bringen könnte, noch ein wenig zu warten, den Kampf noch ein wenig zu meiden, vielleicht könnten sie dann die verlorene Zeit aufholen, vielleicht würden die Geflügelten dann länger überleben… Mit einem schwachen Lächeln winkte er Mimoun nach, als dieser losflog, um ihre Sachen zu der Insel hochzubringen. Dann setzte er sich auf den kalten Boden. Nur kurze Zeit darauf sprang er auf und lief ein wenig herum. Seine Gedanken rasten, suchten Möglichkeiten durch, die ihm blieben. Dann wieder blieb er stehen. „Verdammt!“, brüllte er und ein paar Vögel stoben erschrocken davon. Das brachte sein neues Leben völlig aus den Fugen! „Ich hasse euch! Warum könnt ihr mich nicht einfach leben lassen?! Warum könnt ihr euch nicht einfach benehmen?!“ Dem Geflügelten passte es gar nicht, den Magier in dieser Situation allein zu lassen. Zwar hatte er Dhaôma gesagt, dass er keine Schuld hatte, doch ob er es selbst glaubte, war da noch eine andere Sache. Mit einem raschen Kopfschütteln versuchte er lästige und sorgenvolle Gedanken zu vertreiben und sich auf seine vorliegende Aufgabe zu konzentrieren. Das einfachste dürfte sein, die Jäger wieder aufzuspüren und diese um Hilfe zu bitten. Am Ende stellte sich das als schwieriger heraus als angenommen. So lange war es doch noch nicht her, seit er sich von ihnen getrennt hatte. Dennoch dauerte es ihm zu lange und er schraubte sich bis zu den Inseln empor und hielt selbst nach dem Dorf Ausschau. Was dann nicht ganz so schwierig wurde, wie anfangs vermutet. Kaum gelandet, hielt sich Mimoun nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln und Vorstellungen auf, sondern kam ohne Umschweife zu dem Grund seiner Anwesenheit. In möglichst kurzen Sätzen schilderte er ihr Vorhaben und schnell erklärten sich die Dorfbewohner bereit, die Habseligkeiten für die zwei Reisenden zu verstauen, aber da der Winter sich dem Ende zuneigte, wurden alle Hände benötigt. Es war enttäuschend, ließ sich jedoch nicht ändern. Nach einem kurzen Gruß trat er den Rückweg an. Da würde er wohl auf die Heilfähigkeiten seines Magiers vertrauen müssen. Diesen fand er an der Stelle, an der er ihn zurück gelassen hatte. „Sie verwahren unsere Sachen, anderweitig können sie uns nicht helfen. Trotzdem hoffen sie, dass du es schaffst, und wünschen dir viel Glück.“ Das war beruhigend, stellte Dhaôma für sich fest, und zauberte ein kleines, erleichtertes Lächeln auf sein Gesicht. Weich legte er die Arme um seinen Freund. „Dann müssen wir es auch schaffen, nicht wahr?“ „Von nichts anderem gehe ich aus.“, erwiderte Mimoun und stieß sich ab. Der Flug wurde hart. Wann immer seine Flügel sie nicht mehr trugen, bestand Mimoun aufs Laufen. Er wollte Dhaômas Kräfte so gut es ging schonen, damit er nicht so wie bei Leoni zusammenbrach. Natürlich ließ es sich nicht immer vermeiden, wollten sie schnell vorwärts kommen. Wie von Mimoun in Betracht gezogen, flogen sie gezielt Dorf für Dorf an. In einigen ließ sich Hilfe finden, die sie bis zum nächsten unterstützten. Von anderen wurden sie, weil sie sonst nicht helfen konnten, mit Nahrung versorgt. Da auf den Inseln oben noch kältere Temperaturen herrschten, beschränkten sich die Besuche des Magiers auf ein zeitliches Minimum. Geflogen wurde immer in tieferen Luftschichten, doch auch das war für Dhaôma nicht einfach. Als nach drei Wochen endlich Addars Heimatinsel in Sicht kam, atmeten beide erleichtert auf. Mimoun, momentan ohne Unterstützung und schon gut erschöpft, legte noch einmal an Tempo zu, holte alles an Kraftreserven, die er noch hatte, hervor. Er konnte schon jetzt sagen, dass die Landung wieder einmal nicht gerade weich ausfallen würde. Das würde er in Kauf nehmen. Dhaôma ließ ihn machen. Sie hatten das durchdiskutiert, dass er seine Kräfte für Addar aufsparen sollte und nur dann half, wenn Mimoun ihn darum bat. Dennoch wünschte er sich, er hätte etwas gesagt, denn Mimoun stolperte bei der Landung so hart, dass sie beide auf dem harten, vereisten Stein landeten. Die neugierigen Leute kamen Mimoun zu Hilfe, andere begrüßten ihn. Und Amar fiel ihm jubelnd um den Hals. Natürlich war längst bekannt geworden, dass sie kamen und er hatte lange gewartet und Ausschau nach ihnen gehalten. Jetzt lachte er und flatterte aufgeregt mit den Flügeln, bis er Dhaôma wieder von den Beinen holte. Lachend blieb der Magier liegen. „Lass mich am Leben, Amar!“, rief er. Und der Junge hüpfte von ihm runter. „Komm mit! Du musst Seren sehen! Sie ist schon ganz groß geworden und kann krabbeln!“ Mimoun spürte zwar die Hände, die ihm hilfsbereit aufhelfen wollten, doch er wischte nur träge mit der Hand in der Luft herum und rollte sich auf die Seite. Er war müde und völlig ausgelaugt. Schlafen war eine gute Möglichkeit, um Kräfte zu regenerieren. Und das würde er tun. Hier und Jetzt. Ohne Wenn und Aber. Da störte noch nicht einmal der Terz, den der Urenkel Addars veranstaltete. Lächelnd ließ sich Dhaôma hochziehen. Ein Blick auf Mimoun reichte, um ihn ruhiger werden zu lassen. „Kann mir einer helfen, ihn in ein Bett zu bringen? Er war wirklich fleißig, da er die ganze Strecke seit dem vorletzten Dorf mit mir geflogen ist.“ Wie selbstverständlich kamen zwei Hanebito und hoben Mimoun hoch, der davon nicht mal aufwachte. Sie folgten dem drängelnden Amar zur Hütte des Ältesten und übergaben den jungen Mann Asam, der sich diebisch darüber freute. Nur dank Dhaôma ließ er Mimoun schlafen. Stattdessen belagerte er ihn. „Ich bin so froh, dass ihr da seid.“ Er zog den Magier zu seiner Frau, die in dicke Decken eingewickelt gerade das Kind säugte. Strahlend ließ er sich vor ihr in die Hocke gleiten. „Ist sie nicht wunderschön?“ Dhaôma ging das Herz auf. So ein schönes Bild. „Ist sie. Hallo, Leoni.“ „Hallo.“, gab sie warm zurück. „Schön, dass du da bist. Wie geht es dir?“ „Gut.“ Er zögerte. „Gut genug. Es ist kalt hier oben, trotz der warmen Felle.“ Dann lachte er, als sie ihm eine ihrer Decken anbieten wollte und lehnte ab. „Ich will nach Addar sehen. Ich komme später zu euch, ja?“ Sie nickte und schickte ihrem Mann einen warnenden Blick, so dass dieser sich genötigt fühlte, ihn zu führen. Eine Lederhaut weiter traf Dhaôma auf Addar und seine älteste Enkelin, die dabei war, ihn zum Essen zu überreden. Er wehrte sich erfolglos, als der Gast sich neben ihnen niederließ. Nach nur einem belustigtem Blick von dem Heiler begann er zu essen. „Ihr seht gut aus, Addar.“, meinte Dhaôma leise. „Ich hatte Schlimmeres befürchtet.“ „Ich bin alt, nicht krank.“ „Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass Ihr das Alter nicht so sehr spürt, ist das okay?“ Addar betrachtete ihn. „Wie willst du das machen?“ „Das kommt darauf an, was Euer Leiden hervorruft.“, erwiderte der Braunhaarige und lächelte. „Vielleicht vertreibe ich auch nur die Kälte aus Euren Knochen.“ „Das könntest du viel eher brauchen.“, murrte der Alte, aber er klang nicht wirklich abgeneigt. „Vielleicht. Aber bei mir ist es eine andere Art von Kälte.“ Er wartete ab, bis Addar einen weiteren Bissen genommen hatte, bevor er fragte: „Wie schlimm ist es? Die Sache mit den Magiern? Und was kann ich tun, um zu helfen?“ „Was kann ein Kind tun, um den Streit Erwachsener zu beenden?“, fragte Addar wie zu sich selbst, musterte aber den Magier vor sich. „Gar nichts.“, beantwortete er seine Frage selbst. „Nicht mit den wenigen Möglichkeiten, die sich dir bieten. Bau dir erst eine solide Grundlage und Rückendeckung auf, bevor du dich in diesen Krieg stürzt. Überlege dir deine Schritte genau. Plane voraus. Wäge die Handlungsmöglichkeiten deiner Gegner ab. Mache dich mit ihren Stärken und Schwächen vertraut.“ Das war gar nicht so leicht getan, denn wer waren die Gegner? Er wollte keinen Krieg, er wollte keine Gegner. Und er hielt nichts davon, Schwächen auszunutzen. „Aber dann werden weiter Menschen sterben, nicht wahr?“ Er senkte den Kopf. „Aber Ihr habt Recht. Ich kann nichts tun. Meine Magie ist nicht die des Kampfes. Und sie wäre auch zu wenig, um das Kämpfen zu verhindern.“ „Würdest du dir denn wünschen, dass sie das ist?“ Erneut zwang er sich einen Bissen runter, denn seine Enkelin ließ ihm da nicht wirklich eine andere Wahl. „Ich finde es gut so. Du wärst nicht hier, all das wäre nicht passiert, wenn es anders wäre. Sei stolz auf dich. Auf das, was du bist, und auf das, was du bisher vollbracht hast. Du hast so viel bewirkt bei uns. Warum sollte es dir nicht auch bei deinesgleichen gelingen? Doch so was braucht Zeit. Überstürze nichts. Versuche nicht, mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen. Das verschlimmert manche Situationen nur.“ Erschöpft ließ sich der alte Mann in die Decken zurücksinken. Das viele Reden strengte an. „Ja. Ihr habt Recht.“ Dhaôma ließ sich auf seine Fersen sinken und lächelte. Obwohl er es vorher gewusst hatte, erleichterte es ihn, dass er es einmal hören durfte. Es bestätigte ihn auch. Janna seufzte tief. „Du solltest lieber essen, Großvater, anstatt so viel kluges Wissen zu erzählen.“ Die Schale auf ihrem Schoß war nicht einmal halb leer. Und was er essen musste: gelagertes Fleisch, das wahrscheinlich schwer zu kauen war, und ein paar trockene Äpfel vom letzten Jahr. Offenbar waren die Jäger nicht sehr erfolgreich gewesen. „Wenn Ihr erlaubt, werde ich mich jetzt gleich um Euch kümmern. Mimoun hat mir verboten, ihn zu unterstützen, damit ich mich ganz Eurer Probleme widmen kann. Vielleicht fällt es Euch danach leichter, zu essen.“ Mit einem kurzen Nicken stimmte Janna zu und ein scharfer Blick zu ihrem Großvater warnte diesen davor, dieses Angebot abzulehnen. Addar lächelte und nickte. „Er ist ein guter Junge.“ Dhaôma stimmte dem stumm zu, während er näher trat. Kurz informierte er Addar Maral darüber, dass er ihn jetzt berühren würde, bevor er seine Finger sanft an dessen Schläfen legte. Die Linien in seinem Gesicht begannen immer wieder schwach zu leuchten, während er seine Finger langsam den Körper entlang nach unten wandern ließ. Addar war alt geworden. Sein Körper war längst im Verfall begriffen und es gab eine Menge Schäden in seinen Knochen und Gelenken. Auch einige der inneren Organe waren schwach, aber sein Herz kräftig wie eh und je. Er würde etwas tun können, den Verfall aufhalten und rückgängig machen. Und danach würde er der Familie beibringen, wie man altersgerechte Nahrung zubereitete. „Ich fange an.“, merkte er kurz an, bevor die Linien heller glühten. Addar hatte das Gefühl, als würden die Finger des Jungen wärmer, dann spürte er die Wirkung dieser unglaublichen Macht. Eine seltsame Hitze in seiner Brust schien seine Lungen zu belüften und plötzlich ging das Atmen leichter. Die eine Hand wanderte zu seinem Bauch und unter das Hemd, bis sie flach auf seiner Haut lag. Auch dort wurde es warm und genießend schloss er die Augen. Was war es, das nun besser funktionierte? Die Mattigkeit der letzten Monate war verschwunden, die unterschwellige Übelkeit gegangen, selbst sein Magen meldete zum ersten Mal seit langer Zeit Hunger an! Von Dhaôma kam ein leises Seufzen, als er kurz durchatmete. Dann waren die Hände auf seinen Oberschenkeln und auch dort floss diese angenehme Wärme, während er plötzlich wieder etwas in den Füßen spürte. Sie kribbelten, fühlten sich lebendig an. Dhaôma zog seine Hände zurück. „Ich bin noch nicht fertig, aber Mimoun wird böse werden, wenn ich hier zusammenbreche, deswegen werde ich erst morgen weitermachen, ist das in Ordnung?“ „Er ist ein guter Junge.“, merkte der Alte erneut an. „Er macht sich immer zuerst um andere Sorgen.“ Probeweise streckte er seine Beine, zog sie wieder an, streckte sie erneut, bevor er zu strahlen begann. „Das ist großartig!“ Mit Schwung erhob er sich und musste sich kurz an der Wand abstützen. Zu lange hatte er nun schon gesessen. Seine Enkelin war ebenfalls aufgestanden und streckte einen Arm nach ihm aus. Die Sorge stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. „Ein wenig Sonne und frische Luft wird mir sicher nicht schaden. Den Rest werde ich draußen essen.“, merkte er an und nahm ihr die Schüssel aus der Hand. „Übertreibt es aber nicht, Addar. Ihr hattet wenig Übung in letzter Zeit.“ Im Grunde war Dhaôma froh, dass er ihm nicht sagen musste, dass er jetzt täglich einige Zeit spazieren gehen sollte. Solange jemand laufen wollte, war alles okay. Lächelnd erhob auch er sich, während Janna ihrem Großvater hinterher ging. Ihre Stirn hatte sich geglättet, die Sorgenfalte war gegangen. „Großvater!“, erklang von draußen Asams Stimme. „Du bist ja auf!“ Neugierig folgte nun auch Dhaôma. Er wollte sich die kleine Seren eh ansehen, da konnte er auch das nette Wiedersehen beobachten. „Ja. Dank unserem jungen Freund geht es mir sehr gut.“ Er ließ es zu, als sein Enkel ihn erleichtert umarmte. „Aber nach seinen Worten zu urteilen, hab ich es noch nicht vollständig überstanden.“ Sofort ließ Asam den Älteren wieder los, betrachtete ihn einmal von oben bis unten, was dieser lachend über sich ergehen ließ. „Ich wollte mich ein wenig in die Sonne setzen und draußen etwas essen. Leistet ihr mir Gesellschaft?“ Asam nickte sofort und wandte sich dann mit einem Ruck zu dem Magier um. Er ließ diesem kaum eine Chance für eine Reaktion und zog ihn in eine heftige Umarmung. „Danke. Du bist einfach der Beste.“, jubelte er ihm ins Ohr, während sich die restlichen Familienmitglieder um Addar sammelten. Dhaôma hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass Asam so schnell war, deshalb befand er sich ein Mal mehr in dessen schraubstockartigem Griff. Leise ächzte er, doch er konnte ihm nicht böse sein. Dieser Mann war einfach der Inbegriff an einem schmusebedürftigen Wesen. Irgendwann wurde er losgelassen. „Mit Mimoun hat man da mehr Spaß.“, erklärte der Mann ein wenig enttäuscht. „Er wehrt sich wenigstens.“ Unglücklich lächelte Dhaôma. „Warum? Es ist doch nett gemeint.“ „Trotzdem.“ Die Enttäuschung schlug schnell wieder um. „Los, komm, wir gehen raus, dann kannst du was essen und endlich Seren sehen. Sie kann schon krabbeln, weißt du?“ „Amar hat es erwähnt.“, lachte Dhaôma, ließ sich aber mitziehen. Diesen Einwand überhörte der junge Mann dezent und begann jede Einzelheit aus ihrem Leben, die er für erwähnenswert hielt, bis ins kleinste Detail zu schildern. Das hieß also, alles. Derweil hatte sich der Rest der Familie bereits nach draußen begeben und ein Fleckchen in der Sonne gesucht. Um Addar auch weiterhin zu schonen, wurde für ihn extra ein Fell draußen ausgebreitet und ein weiteres um seine Schultern gelegt. Es dauerte auch nicht lange, bis sich das ganze Dorf zusammengefunden hatte und sich nach seinem Befinden erkundigte. Schon wenige Minuten später stoben mehrere Geflügelte in alle Himmelsrichtungen davon und trugen die Kunde von der Tat des Magiers und der Genesung Addars in die benachbarten Dörfer, von denen die Nachricht weiterverbreitet werden würde. Es dauerte nicht lange, bis Dhaôma etwas gegessen hatte und dann Seren auf dem Schoß sitzen hatte. Die kleine Hanebito starrte ihn wie hypnotisiert an. Ihre Augen waren blau und ihre Hand klammerte sich um seinen Finger. Neben ihm redete Asam, aber die Worte wuschen nur über ihn hinweg. Sie war interessanter. Und vollkommen gesund. „Du bist wirklich erstaunlich.“, bemerkte Leoni irgendwann und strich ihrer Tochter über den Kopf. „Sie hat noch nie so lange bei jemandem ausgehalten, ohne zu weinen.“ Janna hatte da eine einfache Erklärung. „Vielleicht kennt sie ihn noch. Immerhin hat er euch beiden geholfen.“ „Das wird es wohl sein.“ Dhaôma kicherte, als sie mit ihrem Sabber kleine Bläschen produzierte. Sie hatte das Interesse an seinem Gesicht verloren, losgelassen hatte sie aber nicht. „Dhaôma?“ Er sah auf. Amar stand vor ihm. „Spielst du mit mir?“ „Was möchtest du denn spielen?“ Der Junge grinste über das ganze Gesicht. „Ich habe trainiert. Ich werde dich sicher schlagen, diesmal.“ Schlagen? Wobei denn? Aber ihm dämmerte, dass er einmal mit ihm um die Wette gelaufen war. Meinte er das? „Und du glaubst, dass es eine gute Idee ist, das bei vereistem Stein zu machen? Wenn wir dabei ins Rutschen geraten ist keinem geholfen. Und ich kann nicht fliegen, wenn ich über den Rand falle.“ Betroffen sah er ihn an. „Das ist ja doof.“ Er sah ein, dass es bisweilen glatt war. „Aber wenn du ein oder zwei Tage wartest, dann mache ich das Eis weg und wir können laufen.“ „Das kannst du?“ „Ja.“ Dann zuckte er zusammen, als etwas Warmes an seinem Finger kitzelte. Die kleine Seren nuckelte an ihm. „Hast du Hunger?“ „Nee.“ Amar schüttelte den Kopf. „Die sabbert alles an, was ihr unter die Augen fällt.“ Leoni lachte. „Wenn es dich stört, dann nehme ich sie weg.“ „Es stört mich nicht.“ Dhaôma lächelte und kitzelte die kleine Maus am Bauch. „Du würdest Mimoun auch gefallen. Und ich bin mir sicher, du wirst Amar mal richtig fertig machen.“ „Was meinst du damit?“ „Dass sie sicher eine wundervolle Schwester für dich ist. Glaub mir, du wirst alle Hände voll zu tun haben, sie beschäftigt zu halten. Frag mal Mimoun.“ Er wirkte irritiert. „Spielen wir jetzt?“ „Sicher.“ Er hob Seren von seinem Schoß und gab sie Leoni zurück. Dann erhob er sich und sah Amar abwartend an. „Schneeballschlacht?“ Und keine Minute später hatte Dhaôma die Hälfte der Kinder gegen sich, während er lachend davonlief und auswich. Dafür schlug sich Amar auf seine Seite und irgendwann verschanzten sie sich gegen den Rest. Die Hanebito, die von diesem Magier ja schon einiges gewöhnt waren, beobachteten das fassungslos. Wie hatten sie je denken können, dass dieser Junge gefährlich war? Selbst wenn sie ihn alle auf einmal angriffen, wehrte er sich maximal mit einer Kitzelattacke. Addar hatte wirklich gar nicht übertrieben, als er davon erzählt hatte, dass die Kinder bei diesem Jungen besser aufgehoben waren als bei vielen anderen. Am Ende waren sie alle nass und kalt und müde. Aber gleichzeitig auch furchtbar glücklich. Amar beschloss, diese Nacht bei Dhaôma und Mimoun zu verbringen, und obwohl seine Mutter ihn daran hindern wollte, hatte sie gegen die beiden keine Chance. Der müde Kleine schlief noch in Dhaômas Armen ein und er versprach, gut auf ihn aufzupassen. Später schlief er an Dhaôma gekuschelt, welcher wiederum Mimoun im Rücken hatte und mit sich völlig zufrieden war. Nie hätte er gedacht, dass er menschliche Gesellschaft so sehr genießen könnte wie heute. Es war angenehm und bequem, als er erwachte. Mimoun wusste nicht, warum sich gerade dieser Eindruck als erstes bei ihm bemerkbar machte, aber da schien etwas gewesen zu sein. Träge sah der junge Geflügelte sich im Dunkeln um, so gut es ging. Bei den Sichtverhältnissen musste noch Nacht sein. Er konnte einen Körper neben sich ausmachen, von dem etwas Vertrautes ausging. Als er sich über die Person beugte, erkannte er Dhaôma, in dessen Armen ein Kind schlief. Amar, wie der Geflügelte nach kurzer Zeit feststellte. Da fiel ihm auch wieder ein, wo er war und warum seine Muskeln schon bei dem bisschen Bewegung aufbegehrten. Die letzte Etappe war eine ziemlich lange Strecke gewesen. Und die Landung war nicht die beste gewesen - mal wieder. Während Mimoun sich die letzten Ereignisse ins Bewusstsein rief, spürte er wieder, warum er überhaupt erwacht war. Missmutig ächzte er. Seine Unlust, sich bewegen zu müssen, überwog fast sein Bedürfnis. Dennoch zwang er sich, sich zu erheben und über den Magier hinweg zu kriechen. Auf Händen und Knien, bemüht kein Geräusch zu machen, schlich er sich aus dem Raum. Auch hier war es dunkel. Eine Lederbahn vor dem Eingang verhinderte das Eindringen der winterlich-kalten Winde, ebenso drang auch kein Sternenlicht herein. Vorsichtig erhob er sich und schlich an der Wand entlang, da er nicht bestimmen konnte, ob auch hier jemand lag und atmete erst durch, als er draußen war. „Ist es nicht noch ein wenig früh zum Aufstehen?“ Mimoun wirbelte erschreckt herum. Auf der vom Mond beschienenen Insel konnte er unweit von sich entfernt Addar ausmachen. Dieser lehnte in Felle gewickelt an der Hauswand. „Sollte ich nicht besser Euch die Frage stellen? Was tut Ihr hier draußen?“ Flink trat er einige Schritte auf den Ältesten zu und kniete sich vor ihn. „Wie fühlt Ihr Euch? Geht es Euch besser?“ Addar nickte. Eine Hand schob sich aus den Decken und klopfte neben sich auf die Erde. „Wo du schon mal wach bist, leiste mir doch ein wenig Gesellschaft.“ Er musste Mimouns unglücklichen Gesichtsausdruck wohl richtig gedeutet haben, denn er lachte verhalten. „Sobald du zurück bist, natürlich.“ Als dieser nach etwa fünf Minuten zurückkehrte, bedurfte es keiner erneuten Einladung Addars, damit der junge Mann sich neben ihn setzte. Da Mimoun nicht wusste, worüber sie reden sollten, schwiegen sie eine Zeit lang. „Eine schöne Nacht, nicht wahr?“, brach der Älteste schließlich die Stille. Mimoun, dessen Augen gedankenverloren in die Ferne sahen, richtete seinen Blick nun auf den Himmel. Kaum eine Wolke schob sich zwischen sie und den Mond. „Mhm.“, stimmte er deshalb zu. „Warum seid ihr zurückgekommen?“ Mimoun fuhr herum. „Das ist doch klar. Es ging Euch schlecht. Und Dhaôma war der einzige, der Euch helfen konnte.“ Addar, dessen Blick bis eben auf dem Jungen gelegen hatte, sah nun ebenfalls zu den Sternen. „Ich bin alt.“, brach er nach einigen Minuten wieder die Stille. „Älter als Geflügelte im Allgemeinen werden. Auch meine Zeit wird bald kommen. Zwar hat der Magier es ein wenig hinausgezögert, doch ich weiß, dass ich nicht mehr lange habe.“ Er hob eine Hand, als Mimoun etwas einwenden wollte. „Ich bin ihm dankbar für seine Hilfe. Sehr sogar. Durch ihn wurden mir noch weitere Wochen und Monate geschenkt, in der ich die Kleine wachsen sehen kann. Dennoch, er muss sich klar darüber werden, was er will.“ Wieder richtete sich der Blick des Alten auf Mimoun. „Du musst ihm helfen. Er sollte seinen Weg zielstrebig gehen, wenn er sein Ziel erreichen will, trotzdem weicht er immer wieder davon ab. Sein Ziel war es, Drachen zu finden und doch kehrt er zurück, um einem alten Narren ein wenig Wärme und Zeit zu schenken.“ „Egal wie sehr er behauptet, Drachen zu finden wäre sein größter Wunsch, ich glaube eher, dass es Frieden ist, nachdem er sich am meisten sehnt.“, wandte Mimoun ein. „Und es macht ihm sehr zu schaffen, dass die Magier bereits so früh mit den Kämpfen begonnen haben.“ Addar kicherte. „Ja. Wenn man das mit den Ohren eines unerfahrenen Jungen hört, klingt das sicher furchtbar.“ Erneut unterband er einen Einwurf Mimouns mit einer Handbewegung. „Der Winter ist noch nicht völlig vorüber und auch sie werden sich noch nicht von den Strapazen erholt haben. Dadurch, dass sie ihre sowieso noch schwachen Kräfte für die Angriffe nutzen, werden sie sich früher oder später ins eigene Fleisch schneiden. Wenn wir nur geduldig sind und ihre hartnäckigsten Angriffe abwehren, sind wir bald in einem strategischen Vorteil. Er braucht sich um uns also erst einmal keine Sorgen zu machen.“ Es beruhigte Mimoun dies zu hören. Auch wenn die Situation sicher nicht halb so harmlos war, wie gerade von Addar geschildert. „Ihr sagtet, Dhaôma hätte einem alten Narren ein wenig Wärme geschenkt.“ Mimoun schnaubte belustigt. „Ob ich dem alten Narren sagen darf, dass er das Geschenk nicht hier draußen in der Kälte vergeuden sollte? Der Magier würde sich nur wieder Sorgen um ihn machen, wenn er davon erführe.“ Es vergingen einige Augenblicke in Stille, bis Addar erst schallend, dann schnell hinter vorgehaltener Hand zu lachen begann. „Ja. Du hast wahrscheinlich Recht. Wir sollten wieder hineingehen und noch ein wenig Schlaf suchen. Ich kann mir vorstellen, dass ihr nicht sehr lange bleiben werdet. Schont euch.“ Der junge Geflügelte nickte und erhob sich. Anschließend half er dem Ältesten auf die Beine. Als er die Lederplane am Eingang für ihn aufhielt, konnte er erkennen, dass niemand im Eingangsbereich lag und so konnte er schnell wieder in den Raum mit Dhaôma huschen. Als die Plane hinter ihm zu glitt, blieb er erst einmal mit angehaltenem Atem stehen, um zu lauschen, ob er jemanden geweckt hatte. „Mimoun?“ Dhaôma sah seinem Schatten entgegen. Er war vor einiger Zeit aufgewacht und hatte seinen Freund und dessen Wärme vermisst. Sein Verstand vermittelte ihm, dass er nur warten brauchte, aber die Zeit wurde irgendwie länger und wäre es draußen nicht so kalt gewesen, hätte er sich sicher auf die Suche gemacht. Aber da er jetzt wieder da war, breitete sich die Ruhe wieder in ihm aus. „Ist alles in Ordnung?“ Mit einem Seufzen entließ er die angehaltene Luft aus seinen Lungen. Also hatte er Dhaôma doch geweckt. Dabei hatte er sich doch Mühe gegeben. „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht wecken.“, flüsterte er, damit wenigstens das Kind in Ruhe weiterschlafen konnte. Er kniete sich vor seinen Freund und zupfte leicht an dessen Haaren herum. „Es ist alles in Ordnung. Schlaf ruhig weiter.“ „Kommst du auch?“ Einladend hob der Braunhaarige seine Felle etwas an. „Du riechst nach Winterkälte.“ Seine Reaktion war Antwort genug. Rasch schlüpfte er mit unter die Felle und widerstand dem Drang, seine kalten Finger unter Dhaômas Hemd zu schieben. Auch wenn es verlockend war. Erneut strich er über die Haare seines Freundes. „Wie geht es dir?“, wollte er leise wissen. Vertrauensvoll lehnte sich Dhaôma in das Streicheln. „Ich habe nachgedacht. Dass wir so viel Zeit verlieren, liegt in erster Linie an meinem kindischen Wunsch, es aus eigener Kraft schaffen zu wollen, aber es steht viel zu viel auf dem Spiel, um daran festzuhalten.“ Er drückte seine Nase gegen Mimouns kühle Haut am Hals. Er roch wirklich nach Winter und Schnee. „Vielleicht sollten wir doch fliegen. Selbst wenn wir uns Zeit lassen, dauert es bei weitem nicht so lange, wie wenn ich laufe.“ „Warum ist es ein kindischer Wunsch, es alleine schaffen zu wollen?“ Seine Finger begnügten sich nun nicht mehr damit, nur den Kopf zu streicheln, sondern fuhren den ganzen Rücken hinunter und wieder hinauf. Der warme Atem an seinem Hals kitzelte ein wenig, doch er hielt still. „Ich finde es großartig, etwas aus eigener Kraft schaffen zu wollen und andere nicht ständig dafür auszunutzen.“ „Aber es gefährdet andere. Und die Wünsche anderer.“ Zum Beispiel Addars, der gerne noch den Frieden erleben würde. Oder Silias, die ihren Bruder bei sich haben wollte. Oder Asams, der Frieden für seine Familie wollte. „Vielleicht wenn die, die mir wichtig sind, in Sicherheit sind. Nein, ich kann ein andermal aus eigener Kraft ans Große Wasser gelangen, jetzt zählt erstmal, dass wir… äh… eine solide Grundlage und Rückendeckung aufbauen.“ „Natürlich sind die Wünsche anderer wichtig. Und es ist schön, dass du auf alle Rücksicht nehmen willst. Aber zählen deine Wünsche denn gar nichts?“ Nach kurzem Überlegen kicherte Mimoun. Irgendwie waren sie wieder am Anfang ihrer Diskussionen angelangt. Der Magier sollte sich nicht ständig zurücknehmen. „Okay, okay.“, lenkte er ein, bevor das Ganze wieder ausufern konnte. „Und wie wollen wir uns eine Grundlage und - was? - Rückendeckung aufbauen? Was mich zu der Frage bringt, wie du nun auf so was kommst.“ „Addar hat so was gesagt.“, zuckte der braunhaarige Magier mit den Achseln. „Und ich denke, die Rückendeckung und Grundlage sind die Drachen, die uns den Frieden bringen können. Wie in den Legenden: Drachenreiter bringen Frieden. Und wenn ich einer bin, bin ich stark genug, um alle in Sicherheit zu bringen und danach zu tun und zu lassen, was ich will.“ Mimoun spürte es, er konnte es dennoch weder vermeiden noch unterdrücken. Er gähnte herzhaft. „Tust du doch jetzt schon. Du suchst Drachen. Du streifst mit einem Geflügelten durch die Welt. Und da lässt du dir von niemandem etwas sagen, oder hab ich da etwas nicht ganz mitbekommen?“ Ein erneutes Gähnen unterbrach ihn. „Außerdem bist du schon stark. Auch so eine Sache, die du dir nicht sagen lassen willst.“ „Doch, doch, ich habe es begriffen.“ Dhaôma kicherte. „Und du bist müde und musst jetzt schlafen. Wir reden morgen weiter, ja?“ Er bekam das seltsame Gefühl, dass sich Mimoun gar nicht beeilen wollte. Und dazu zwingen wollte er ihn auch nicht. Aber er verstand es auch nicht. Oder vielleicht doch, denn die Arbeit würde an Mimoun hängen bleiben, wenn sie flogen. Und nachdem sie jetzt so lange gebraucht hatten, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt waren, würde es noch mal doppelt so lange dauern, bis sie wieder zum Großen Wasser kamen. Das erste Mal, das er auf einer Insel gewesen war, hatte er es sehen können, aber offenbar waren die Inseln weiter gezogen, hatten ihre Position verändert und nun konnte man es nicht mehr sehen. Er hatte gestern lange danach gesucht - ohne Erfolg. Vielleicht war er aber auch einfach zu ungeduldig. Wie immer. Aber was hatte Addar dann gemeint, als er sagte, er solle sich eine solide Grundlage schaffen? Wie lange dauerte so was im Allgemeinen? Und was hatte er sonst noch gesagt? ‚Versuche nicht mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen. Das verschlimmert manche Situationen nur.’ Was definierte ein Problem? War die Suche nach den Drachen auch ein Problem? Und die Rückkehr zu seiner Familie? Und sein Wunsch, den ganzen Weg alleine zu schaffen? Seine Angst davor, Mimoun zu verlieren? „Addar ist ein gemeiner Lehrer.“, murmelte er, leise, denn er war schon dabei, wieder einzuschlafen. Mimoun war wie ein Schlaftrunk für ihn. Und kurz bevor er endgültig ins Reich der Träume glitt, kam ihm noch etwas, das von Addar stammte: ‚Lass dir Zeit.’ Aber wie viel Zeit blieb ihm noch, damit er noch etwas von dem retten konnte, das er begehrte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)