Über den Tod hinaus von ChillKroete ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Es dauerte nicht lange, da hieß es, ich sei vollständig Genesen und könne nun mit dem besten Gewissen entlassen werden. Wir haben uns alle gefreut. Ich war nämlich kurz davor durch zu drehen, weil mir so langweilig war und die Schwestern waren überfordert gewesen, weil sie mich andauernd beschäftigen sollten. Meine Mutter war froh, mich wieder zu haben, weil mein Vater daheim immer noch ein langes Gesicht zog. Außerdem war ich zusätzlich froh wieder draußen zu sein, damit ich wieder mehr Zeit mit Kirsten verbringen konnte. Dieser Unfall hatte mir wirklich den Boden unter den Füßen weg gezogen. Ich wusste nicht einmal, wieso ich geglaubt hatte, dass Kirsten tot sein könnte. Die ganze Aufregung umsonst und dafür war ich eigentlich nicht bekannt. Natürlich ich widersetzte mich oft und musste natürlich immer das letzte Wort haben, aber ich dachte niemals darüber nach, ob jemanden sterben würde, der mir nahestand. Ich hatte keine Alpträume und schon gar keine Panikattacken. Ich war wie ausgewechselt gewesen, voller Furcht und Angst, nicht mehr bereit klar zu denken, nur weil ich glaubte aus einem Wahnsinn heraus, Kirsten sei tot. War vielleicht deswegen mein Vater nicht gekommen? Weil er keine Lust hatte mich zu beruhigen? Oder weil er einfach in den letzten Jahren lieber für sich war? Er hatte genug mit meiner Mutter zu tun gehabt. Die letzten Tage war immer nur Mom dagewesen, die mich mit Süßigkeiten versorgte, mit denen ich bis ins hohe Alter hätte ausgesorgt haben können. Ich aß sie trotzdem alle, zugleich hoffte ich, dass ich so schnell wie möglich wieder mit dem Training anfangen konnte. Am ersten Abend war es Zuhause ziemlich still gewesen. Anders als erwartet hatte mich mein Vater aus dem Krankenhaus abgeholt. Gesprochen hatten wir allerdings trotzdem sehr wenig. Es war wie immer dasselbe. Typische Standard Fragen, die er mich seit jeher fragte, ohne wirklich Interesse an meinen Antworten zu haben. Manchmal, da gab es noch Situationen, Momente, in denen er mich an damals erinnerte. An einen jungen Mann, der voller Leben und Energie steckte, der vermutlich mit bloßen Händen einen Baum ausgerissen hätte, wenn man es ihm denn erlaubt hätte. Damals hat er mir so viele Geschichten erzählt, so viele Märchen und Mythen, von denen meine Klassenkameraden kein einziges kannten, weil sie irgendwann in Vergessenheit geraten waren. Mein Vater teilte somit alte Erinnerungen mit mir, die wahrscheinlich einst Großvater gehört hatten, von denen er die Geschichten haben musste. Ich weiß noch, dass er früher immer an meinem Bett saß. Die Nachttischlampe erhellte das Zimmer nur schwach, manchmal flimmerte sie sogar. Aber weil sie ein Geschenk meines Opas war, behielt ich sie. Irgendwann musste ich sie allerdings verstecken. Denn die Regierung setzte auf Gleichheit, überall, nach einiger Zeit eben auch in Privaten Zimmern. Das Rollo haben wir immer runter gemacht, weil ich nicht wollte, dass jemand von gegenüber rein schauen konnte. Falls es überhaupt jemand getan hätte. Sicher war eben sicher. Vielleicht habe ich mich als Kind schon ständig beobachtet gefühlt, ich weiß es nicht mehr. Aber als Kind hat man ja vor so vielem Angst und gleichzeitig ist man unglaublich mutig. Ich fürchte mich nicht mehr vor der Dunkelheit, oder dass jemand in mein Zimmer schauen könnte. Gleichzeitig würde ich aber nicht sagen, dass ich wirklich mutiger geworden bin. Denn ein Rad oder Handschlag würde ich nicht mehr wagen, aus Angst auf den Rücken und mit voller Wucht auf dem Boden auf zu prallen. Außerdem habe ich es zu lange nicht mehr gemacht. Ich würde nicht mehr so hoch hinaus auf Bäume klettern, weil ich plötzlich weiß, was Schwerkraft ist und das es, egal was passiert, auf sie immer Verlass ist. Ich würde die Herdplatten nicht mehr mit bloßer Hand anfassen um zu schauen, ob sie an sind, weil ich weiß, dass ich mich stark verbrennen könnte. Das ist zwar eher dumm als mutig gewesen, doch heute weiß ich es besser. Es scheint mir sogar so, als sei Mut mit Unwissen gekoppelt. Je weniger ich weiß, desto mutiger bin ich. Denn vor welchen Konsequenzen fürchtet man sich, die man nicht kennt? Ich erinnere mich gerne an die Helden zurück, von denen mein Vater mir erzählte. Von Menschen, die sich in den schlimmsten Zeiten gegen etwas aufgelehnt hatten, weil sie wussten, dass die Mehrheit falsch lag. Sie glaubten nicht an das, was man ihnen sagte, sondern an das, was sie als Gerecht empfanden. Sie hinterfragten. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurden die Geschichten. Mit neun erzählte mir mein Vater von einem Krieg, der schrecklich gewesen war. Dort hatte ein einziger Mann einem Volk den Krieg erklärt und es mit Worten geschafft, den Verstand der Menschen komplett zu vernebelten. Seine Worte entsprachen plötzlich der Wahrheit, obwohl sie umhüllt waren vom schwarzen Nebel der Lügen, welcher sich sogleich in die Gedanken der Menschen einnistete. Mein Vater hatte immer geseufzt, wenn er diese Geschichte erzählte. Du darfst die Mehrheit nicht mit der Wahrheit verwechseln , hatte er immer wieder gesagt, jedes Mal wenn eine seiner Geschichten endete. Von wem hast du den Spruch?, fragte ich immer wieder und jedes Mal war seine Antwort: Jean Cocteau, ein Schriftsteller aus einer längst vergessenen Zeit. Danach fragte ich mich oft, ob es wirklich eine Zeit geben konnte, die man vergaß. Ich kannte diese Geschichten weder aus der Schule, noch aus unseren Büchern. Wir bekamen immer wieder Bücher gestellt von der Schule, die uns helfen sollten unsere Meinungen und Verstand zu formen. Vermutlich, damit so etwas nicht wieder vorkam. Aber warum erzählte man uns dann nicht die alten Geschichten? Mein Vater hatte in der ersten Zeit meiner Kindheit kein einziges Mal das Kinderbuch unserer Regierung angefasst, jedenfalls nicht bis zu meinem zehnten Geburtstag. Erinnerung Das Licht flackerte in dem kleinen Zimmer, welches gestern noch in einem saftigen Grün gestrichen war. Am heutigen Tag war es in einem Himmel Blau gehaucht, weil die Regierung entschied, dass es die typische vorgezogene Farbe für kleine Jungen war. Es kam selten vor, dass ein Junge im Alter zwischen drei und zehn die Farbe Blau als störend empfand, das hatte die Regierung durch einzelne Stichproben durch Statistiken herausgefunden. Nur der kleine Junge in dem Bett schien sich nicht so richtig zu freuen. Rot vor Wut glühten seine Wangen, die Stirn hätte er gerne in Falten gelegt, doch die hatte er noch nicht, dafür war seine Haut einfach noch zu straff. Seine kleinen Arme verschränkte er zornig vor der Brust, seinen Vater würdigte er keines Blickes. Warum hatte er sich bitte doch noch dazu entschieden seine schöne grüne Wandseite in diesem hässlichen Blau zu überstreichen? Jetzt konnte er sich nicht mehr vorstellen, wie es wäre einfach irgendwo auf einer Wiese im freien zu liegen. Stattdessen musste er nun an Wasser denken, blödes langweiliges Wasser, an seiner eigenen Wandseite. Er hatte auch sein Bett abgeben müssen, einen neuen Schrank bekommen und einen neuen Schreibtisch. Eigentlich war es, als sei er in einem komplett neuen Zimmer und wenn er vielleicht etwas mit Bestimmen hätte können, wäre er vielleicht auch erfreut gewesen. Seine Mutter hatte ihn immer wieder aufgebaut und gesagt, dass die anderen Möbel eben schon sehr alt gewesen waren und es sehr nett von der Regierung sei, allen Kindern neue Möbel zu schenken. Wenn er vierzehn war durfte er sie ja wieder weiß streichen. Weiß, dachte sich Aiden, woraufhin seine Wangen noch roter wurden. Ging es denn noch langweiliger? Selbst Großvaters Lampe hatte er weg stecken müssen, als die Aufseher kamen. Mit genommen hatten sie jene nicht, also hatte er von seinem Vater verlangt, sie wieder an zu machen. Nun flimmerte das schwache Licht im Zimmer. Die Rollläden waren herunter gezogen und einzig und allein waren die Schatten von Vater und Sohn auf der neu gestrichenen Wand zu sehen. Aiden hörte seinen Vater laut ausatmen. Die Hände hinter den Kopf verschränkt, starrte er die Wand an, die seinem zehnjährigen Sohn so missfiel. Seiner Meinung nach war es keine schlechte Farbe. Es sah freundlich aus, deckte gut ab und ließ das Zimmer nicht unbedingt kleiner wirken. Außerdem waren die neuen Möbel auch sehr schön, sahen teuer und qualitativ hochwertig aus, sie passten zueinander, als wären sie extra alle für diesen Raum geschaffen worden. Sicherlich war es genauso, dachte er sich. Dann drehte er sich zu seinem Sohn um, der immer noch trotzig vor ihm saß. Vorsichtig ließ er sich auf die Bettkante fallen. „Ist doch gemütlich oder nicht?“ „Mmmpf.“ „Das ist alles eine Sache der Gewöhnung. Du wirst merken, in ein paar Tagen wirst du es ganz toll finden“, versuchte der Mann seinen Sohn auf zu heitern. „Ja, kann schon sein. Aber es ist nicht mehr mein grün. Meine Wiese“, versuchte der kleine Junge zu erklären. „Weißt du Aiden“, begann sein Vater, krabbelte das Bett hoch, bis er die Wand und seinen Sohn erreichte. Dann lehnte er sich an, zog seinen Sohn dabei fest an sich. „Manchmal treffen andere Menschen für dich eine Entscheidung und die kann dir erst einmal schlecht erscheinen, doch später, wenn du etwas älter bist, wirst du vielleicht erkennen, dass es dabei nicht immer um dich geht, sondern um mehr.“ Fragend sah er zu seinem Vater hoch. „Wie um mehr?“, fragte er sogleich. Er legte seinen Kopf in den Nacken, damit er hoch zu seinem Vater sehen konnte. In dem Licht wirkte er müde und alt. Ganz anders als er seinen Vater kannte, aber in den letzten Tagen schien er nicht gut zu schlafen und das obwohl es seiner Mutter mit jedem Tag besser ging. Da sollte es seinem Vater doch auch endlich wieder gut gehen, oder etwa nicht? „Nun, denk doch einmal an die Kinder, die sich vielleicht auch tolle Möbel gewünscht haben und nicht so ein Glück hatten wie du. Nun habt ihr alle das Gleiche und niemand ist benachteiligt. Und was sind schon ein paar Möbel oder eine grüne Wand?“ Für seinen Vater anscheinend nichts, dachte er sich insgeheim, seufzte aber wieder aus. Dabei klang er fast wie ein Erwachsener. „Erzählst du mir dann wenigstens wieder eine Geschichte?“, kam es klagend von ihm. Seine kleinen Hände gruben sich in den Pullover seines Vaters. So als würde er ihn nie wieder los lassen wollen, und schon gar nicht, wenn er sich weigern sollte. Diesmal war es der Vater, der zum ersten Mal an diesem Abend seufzte. Er griff über seinen Sohn, zu dem Buch, was auf seiner Nachtischkommode lag. Es war gebunden und stark laminiert, Aiden hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, es einfach aus dem Fenster zu werfen, sodass sein Fenster in tausend Teile zerspringen würde. Es würde alles klirren und einen lauten Knall geben. Wahrscheinlich war hier noch nie ein Fenster kaputt gegangen, weil jemand etwas raus geworfen hatte. Auf dem Cover vorne war ein Baum abgebildet unter dem Kinder saßen. Es sah aus wie einer der Bäume, die sie auch in ihrem Park hatten. Groß und mächtig, im Sommer spendete er jede Menge Schatten und im Winter sahen seine Äste aus wie knorrige dünne Arme aus, die sich weit, flehend in den Himmel erstreckten. Als würden sie auf etwas warten. Oder hoffen. Unter dem Baum saßen drei Jugendliche, vielleicht vierzehn Jahre alt. Das eine Mädchen warf den Kopf lachend zurück, der einzige Junge unter ihnen hielt ein Buch in der Hand, in dem er gespannt drein blickte. Das zweite Mädchen sah zu dem Jungen herüber, dabei hielt sie den Kopf schräg und ihr langes blondes Haar erreichte fast die grüne Wiese, auf der sie saßen und spaß hatten. Grün. Sein Vater schien denselben Gedanken zu haben, weswegen er schnell das Buch aufschlug. Für ein Kind war das Buch ziemlich übersichtlich geschrieben und an den Rändern oder Textenden gab es immer ein buntes Bild. Eigentlich wollte Aiden lieber eine Geschichte von seinem Vater hören, von der Regierung hatte er heute erst einmal genug. Dennoch reizte es ihm gleichzeitig endlich mal etwas aus dem Buch zu lesen, oder viel mehr sein Vater würde das tun. Natürlich kannte er flüchtig ein paar Geschichten, richtig gemerkt hatte er sie sich aber nicht. Dafür interessierten ihn einfach andere Dinge mehr. Sein Vater blätterte etwas umher, bis er auf eine Seite stieß, die ihn irgendwie anders rein Blicken ließ. Es war ein verdutzter Blick, oder geschockt? Er zog jedenfalls lange die Luft ein, zögerte nicht vielleicht doch weiter zu blättern, doch da kam schon Aidens Hand an geschnellt, die auf die Überschrift deutete. Sein Vater räusperte sich, nickte dann aber. Er würde zum ersten Mal aus diesem Buch vorlesen. In Aidens Körper kribbelte es nun vor Erwartungen. Seine Wut war erst mal verraucht, als wäre sie nie dagewesen. Denn anstatt auf die Wand, konzentrierte er sich nun voll und ganz auf die Lippen von seinem Vater. Das Gesicht seines Vaters war immer schon ein offenes Buch für ihn gewesen. Er passte seine Gesichtszüge oftmals nicht seinen Worten an. Wenn er also versuchte ruhig zu bleiben, sah man meistens schon sein Gesicht, welches rot wurde, weil er so wütend war. Er konnte auch nicht gut lügen. Lieber schaute er weg, wechselte das Thema oder suchte nach einer Antwort, aus der nie jemand schlau werden würde. Egal, wie lange man darüber eben nachdachte. „Die Geschichte trägt den Titel `Die Geburt der Regierung´“, begann er, fuhr sich noch einmal kurz durch sein dichtes blondes Haar. War es ihm unangenehm daraus vor zu lesen? „Vor vielen, vielen Jahren, lange bevor es die Regierung und unsere kleine Welt gab, herrschte auf der Erde eine immer größere werdende Anspannung. Es gab viele Menschen, die in Reichtum lebten und wiederrum gab es Menschen, die in Armut lebten. Armut, das bedeutet, dass ein Mensch zum Leben zu wenig hatte. Hätten diese Menschen sich jedoch angestrengt, wäre auch aus ihnen etwas geworden. Manche Kinder zum Beispiel wollten nicht in die Schule gehen, sie wollten nicht lernen und andere Menschen wollten nicht arbeiten gehen, verlangten aber trotzdem Geld. Natürlich gab es unter ihnen auch jene, die nichts für ihre Situation konnten, doch sie schafften es ebenso wenig aus ihrem Leben etwas zu machen, wie die, die sich weigerten. Zwischen den Armen und Reichen entwickelte sich eine große Kluft, die unüberwindbar schien. Die Reichen Menschen hätten gerne bis zu einem gewissen Grad geteilt, aber alles wollten sie auch nicht geben. Sie spendeten immer Lebensmittel, Kleider, Schulsachen, Medikamente, sogar Ärzte gingen zu den Ärmeren Menschen, um ihnen zu helfen. Doch die armen Menschen wollten immer mehr. Sie wollten genau das gleiche wie die Reichen Menschen, ein Leben in ihren Häusern, mit ihren Autos fahren. In einigen Teilen des Landes gab es Aufstände. Die ärmeren Menschen wollten die Häuser der reichen haben, sie wollten noch mehr essen, obwohl man ihnen genug gab. Sie wollten die reichen verdrängen, sie überfallen und sich an ihrem Hab und Gut zu Unrecht bereichern. In den Siedlungen entbrachen Feuer, Menschen stürmten die Straßen. Stiegen über Autos, schlugen ihre Fenster und die der Häuser ein. Sie raubten den reichen ihr Geld, ihren Schmuck, alles für das sie hart gearbeitet hatten-“ An dieser Stelle machte sein Vater eine Pause. Seine Augen huschten über die Zeilen, als würde er alles noch einmal lesen, weil er es selbst nicht bekommen hatte. Aiden kannte das Problem. In der Schule mussten sie manchmal etwas für sich lesen, still. Und manchmal wenn er am Ende einer Seite angekommen war, hatte er gar nicht mitbekommen, was er dort eigentlich gelesen hatte. Denn schon in der zweiten Zeile, waren seine Gedanken abgedriftet, um sich etwas Spannenderen zu widmen. Aiden verfolgte die Ungläubigen Augen seines Vaters, wie sie schnell über die Zeilen huschten. So schnell wie man mit seinen Zähnen einen Maiskolben abknabberte, um dann wieder auf der anderen Seite neu anfangen zu können. An einer Stelle jedoch, blieben seine Augen jedes Mal wieder hängen. Aiden zupfte an seinem Ärmel, wollte ihn aus seinen Gedanken wieder heraus reißen. Er schaffte es auch. Sein Vater räusperte sich wieder einmal, um dann wieder an zu setzen: „Für die Einwohner mancher Städte war dies die schlimmste Nacht aller Zeiten. Die damaligen Aufseher gab es noch nicht und so kam fast jede Hilfe zu spät. Denn es blieb nicht nur bei Geld und Schmuck, es floss auch das Blut von Unschuldigen. Sogar vor Kindern hatten sie keinen Halt gemacht. Viele Eltern verloren ihre Kinder und anders herum war es genauso Kinder mussten ohne ihre Eltern weiter laufen, mussten fliehen, ohne zu wissen wohin, ohne Essen, ohne warme Kleidung. Viele Straßen brannten lichterloh, brannten alles nieder. Sie zerstörten Erinnerungen, kleine Schätze, die sich über Jahre angesammelt hatten. Doch all das konnten sie nicht mehr retten. Alles mussten sie flohen. Es dauerte einige Tage, vermutlich auch Wochen, bis die aufstände aufgehört hatten. Die reichen Menschen flohen sehr, sehr weit vor ihren Angreifern. Irgendwann ließen sie sich nieder, als sie die Gefahr weit hinter sich gelassen hatten. Natürlich konnten sie nicht für immer Ruhen, ihnen war bewusst, dass die Gefahr nicht lange auf sich warten lassen würde. Es war ein junger Mann, der sich schließlich Verhör verschaffte, und die anderen bat zuzuhören. Er sprach den Menschen Mut zu, gab ihnen wieder Hoffnung. Er versuchte ihnen nicht ihre Erinnerungen zu nehmen, denn sie würden nun ein Teil von ihnen sein, aber er versuchte sie auf eine bessere Zukunft vor zu bereiten. Er wollte ihnen zeigen, dass nach jedem Tiefschlag auch wieder etwas kam, wozu es sich lohnte zu kämpfen.-“ „Ist damit Dave Mecury gemeint?“, fragte Aiden sogleich, da hatte der Vater noch nicht ganz aufgehört zu sprechen. Zuerst sah er seinen Sohn an, ohne eine Regung zu zeigen, doch dann gab er auf und nickte. Als würde er nicht längst von ihm wissen, wo er doch schon zehn war. Außerdem gab es im Park eine Statue von ihm als Gedenken an ihm und was er erreicht hatte. Als Gründer dieser Regierung, mit dem Grundgedanken, die Welt besser und lebenswerter zu machen. „Ja, laut dem Buch war es Dave Mecury, der die Menschen damals rettete. Er führte sie an einen wunderschönen Ort, den wir heute immer noch bewohnen. Es ist ihm zu verdanken, dass wir nun so eine Regierung haben, wie sie heute existiert. Das wir Aufseher haben, die uns beschützen, dass wir ein geordnetes Leben haben. Das jeder Arbeit hat, Arbeit die einem Spaß macht. Es ist ihm zu verdanken, wenn man so will, dass die Medizin die Chance hatte sich weiter zu entwickeln. Mecury war jemand mit Visionen, die unsere weit überschreiten. Manche erzählen, dass er nicht nur das perfekte Leben wollte, sondern vor allem ein ganz besonders langes. Er wollte noch so viel verändern und erleben, dass es ihm nicht gerecht erschien, nur so kurz zu Leben. Außerdem wollte er eine Verbesserung finden, für Vorfälle wie die Überfälle es waren. Großvater hat oft erzählt, dass er den Kummer, den ihm widerfahren ist, nie richtig verkraftet hat. Denn auch er hatte einen großen Verlust zu erleiden. Es erschien ihm noch weniger gerecht, dass ausgerechnet er nun alleine weiter leben musste, ohne Frau und Kind. Nachdem unsere Regierung nun erbaut war, widmete er sich der Medizin, aber nur noch halbherzig. Die Menschen wollten, dass er sie regierte. Sie führte und auf dem Fundament, welches er errichtete, stetig weiter bauen sollte. Bis wir das perfekte Leben führen konnten. “ Am Ende hörte Aiden deutlich heraus, dass es nicht mehr die Worte des Buches, sondern die seines Vaters waren. Es lag mehr ernst in der Stimme, und eine Note, die er selbst noch nicht zu ordnen konnte. War es Wehmut? Oder doch Zweifel? Wieso aber Zweifel, wenn es ihnen allen gut ging? Aiden fand die Vorstellung schrecklich, dass Kinder ihre Eltern verloren hatten, dass es Menschen gab die aus Neid töteten. Die Geschichte prägte ihn, lehrte ihn gleichzeitig Vertrauen in die Regierung zu setzen. In eine Institution, die für ihn sorgte und ihm Sicherheit gab. Er konnte diesmal die Gedanken seines Vaters nicht lesen. Stattdessen lag er schon mit halb geschlossenen Lidern in seinem Kopf Kissen versunken. „Also ist er auch Schuld an meiner grünen Wand“, kam es schläfrig über seine Lippen, obwohl er lieber wieder wütend klingen wollte, was ihm deutlich misslang. Mit seiner Hand fuhr Aidens Vater diesmal Aiden durch die Haare anstatt durch seine eigenen. Sie waren noch weicher, noch nicht ganz so voll und doch ließ sich erahnen, dass er einmal wie sein Vater aussehen würde. Als würde das Gen der Parkers sich um jeden Willen durchsetzen wollen. „Ja, Decury war damals schon sehr für Gleichheit. Er wollte nicht, dass sich so etwas wie damals noch einmal wiederholen sollte. Es war früher noch nicht ganz so wie heute, mittlerweile scheinen sie es etwas strenger zu sehen und es wird sicherlich nicht die letzte Veränderung werden“, murmelte er. Er war sich nicht sicher, ob Aiden dies noch hörte oder nicht. „Dürfen wir deswegen nicht weg?“, nun klang er, als wäre er schon mit einem Fuß im Traumland. Aidens Vater nickte, obwohl er wusste, dass sein Sohn es nicht sehen würde. „Ja, das wird der Grund sein. Nicht alle Menschen waren ihnen gefolgt. Die, welche für die Aufstände gesorgt hatten, haben sich uns nicht angeschlossen. Du weißt doch, was Großvater damals immer gesagt hat. Sie sind immer noch irgendwo dort draußen.“ Und manchmal weiß ich nicht, welchen seiner Worte man glauben schenken darf, dachte er sich, bevor er seinem Sohn die Strähne von der Stirn strich, um ihm dort einen gute Nachtkuss geben zu können. Lange schaute er auf die Wand. Grün hatte ihm auch besser gefallen. Es war vermutliche diese Geschichte, die mich unter anderem auch dazu veranlasste, unbedingt von hier weg zu wollen. Da draußen müssen noch Menschen gelebt haben, die anders lebten als wir. Doch die Regierung warnte uns immer vor ihnen. Deswegen hatten wir eine Ausgangssperre, deswegen sollten wir nicht reisen und deswegen waren meine Wände blau gestrichen worden. Es machte mir mit der Wand tatsächlich später nichts mehr aus. Obwohl ich es im Krankenhaus nicht lange ausgehalten hatte, wünschte ich mich doch sogleich wieder dahin. Der Unterricht langweilte mich. Ich konnte nichts anderes tun, als aus dem Fenster schauen. Aber auch da tat sich nicht viel. Die Bäume waren perfekt gestutzt, alle auf eine Größe, waren sie auch im gleichen Abstand nach hinten versetzt. Es wunderte mich, dass sie nicht alle synchron im Wind wehten. Mein Blick blieb an einem der ersten Bäume hängen. Zwar schien die Sonne und es war recht warm für den Mai, dennoch zog immer mal wieder ein kühler Wind hinauf. Fast sah es so aus als würde der Baum mich zu sich her winken. Die Äste bewegten sich so geschmeidig, wie eine leichte einladende Handbewegung. Ich musste zwei Mal blinzeln, um mich von diesem Anblick lösen zu können, auch wenn er mir wesentlich besser gefiel, als der Anblick meiner Lehrerin. Sie trug dieselbe langweilige Uniform wie sonst auch. Wie alle Lehrer hier. Auch sonst war der Unterricht wenig anspruchsvoll. Es ging wie immer darum, wie toll unsere Regierung war, was für Möglichkeiten sie uns gab, und wie viel wir ihr zu verdanken hatten. Damals glaubte ich das auch noch. Vielleicht hatte Kirsten Recht. Vielleicht war es doch nicht so wichtig von hier fort zu gehen. Uns ging es hier gut, wir litten keinen Hunger, wir konnten zur Schule gehen, es gab feste Regeln, die uns halfen ein geordnetes Leben zu führen. Wenn man mir versprach, dafür für immer mit Kirsten zusammen leben zu können, oder eben so lange wie wir es miteinander aushielten, dann konnte ich auf vieles verzichten. Es schien als hätte jemand meine Gebete gehört, meinetwegen könnte es auch Dave Mecury gewesen sein, der hier sowieso von jedem vergöttert wurde. Miss Shaw hatte den Unterricht beendet. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis ich meine Sachen beisammen hatte und gehen wollte, als jemand vor mir stehen blieb. Ich sah noch wie ihr rot blondes Haar, gerade den Raum verließ, ich war zu langsam gewesen und nun musste ich mich hier auch noch mit Miss Shaw rumschlagen. Hoffentlich wartete Kirsten draußen auf mich, ich hatte unbedingt noch mit ihr reden wollen. „Ich habe das mit dem Unfall gehört“, fing sie an zu reden und ihre Stimme klang leise. So als sollte uns niemand hören, dabei waren wir die einzigen in diesem Klassenraum. Anstatt etwas zu sagen, sah ich sie lange an. Ja, was wollte sie denn von mir hören? Ich auch, stellen sie sich vor, ich bin sogar Schuld – oder Ja, ich hab einfach Mal eine Auszeit gebraucht und die Winterferien erschienen mir noch so weit weg? „Wer hat das nicht“, war meine tonlose Antwort. Also wenn sie jetzt von mir hören wollte, wie ich mich dabei gefühlt hatte, oder sonstiges, für so etwas war ich gerade wirklich nicht in Stimmung. Zumal je länger ich darüber nachdachte, desto weniger erinnerte ich mich. Es war eher, als handle es sich dabei um einen Film, den ich irgendwann mal gesehen hatte, aber schon zu lange für wichtige Details zurück lag. Außerdem schmerzte mir bei diesem Gedanken immer mein Kopf, ein aufflackernder Schmerz, so schnell und so plötzlich wie ein Blitz schlug er ein, ging durch den Kopf und zwang mich manchmal sogar dazu, mein Auge zu schließen. „Es muss schlimm für dich gewesen sein. Dein Auto sah nicht gerade gut aus.“ Machte sie das eigentlich mit Absicht? Ich hatte dieses Auto geliebt. „Miss Shaw“, begann ich möglichst höflich, ich wollte sie ja nicht verärgern, obwohl sie das mit mir ganz gut hinbekam. Ich hob sogar entschuldigend die Hand, um ihr zu zeigen, dass ich es nicht einmal böse meinte, doch sie ignorierte meine Geste vollkommen. Vor mir ließ sie sich in einem Stuhl nieder. Na klasse. Mein Blick ging wieder aus dem Fenster. Adieu Freizeit. Miss Shaw war, wenn sie mich nicht gerade langweilte, eigentlich eine nette Person. Sie war vielleicht fünfzehn Jahre älter als ich, sah aber dennoch so aus als hätte sie erst vor drei Jahren ihren Abschluss gemacht. Lediglich ihre Augen wirkten manchmal alt, so wie in diesem Moment, als sie vor mir saß. Das braune Haar war immer zurück gesteckt, mit schönen Spangen, mal waren es Schmetterlinge, mal Blumen. Sie war dezent geschminkt, sofern ich das jedenfalls beurteilen konnte. Ihre Nägel waren rot lackiert und klimperten nervös auf dem Tisch herum, so als würde sie noch etwas sagen wollen, oder auf etwas warten. „Es war vor genau zehn Jahren“, begann sie, verträumt und so wie ich es die ganze Zeit getan hatte, schaute sie nun verträumt und abwesend aus dem Fenster. Wer so anfing, würde in den nächsten zwei Minuten nicht fertig werden, weswegen ich meine Tasche auf den Boden sinken ließ und meinen Arsch auf meinen Stuhl hinter her. Ich unterdrückte das Seufzen, entschied mich kurzerhand dafür ihr wenigstens jetzt zuzuhören. Obwohl ich mich ernsthaft fragte, wieso sie es mir als Schüler erzählen musste. „Es war ein Wintertag, überall lag Schnell, die Straßen waren eisig, aber wir mussten unbedingt zu seinen Eltern. Gott, ich hab ihm tausend Mal gesagt, wir können auch noch morgen fahren oder aber eben laufen. Nein, hatte er gesagt, wir würden viel zu lange brauchen. Er war ja manchmal so bequem.“ Ich nahm an, dass sie von ihrem Freund, Ehemann oder Verlobten sprach. Allein schon deswegen, weil ihr Hund nicht hätte antworten können. Ohne die Geschichte zu kennen, wusste sich sehr wohl, in welche Richtung sie gehen würde. Mir war nicht wohl dabei, so etwas von meiner Lehrerin zu hören. Aus dem Fenster zu schauen erschien mir jetzt auch etwas blöd, weswegen ich sie einfach ansah. Wenn ich sie vielleicht nicht unterbrach, würde das hier alles schneller vorbei gehen. Sogleich fing sie auch schon wieder an: „Wir saßen im Auto, fuhren die Straße entlang. Im Radio ertönten wie jedes Jahr die besten Weihnachtslieder, erst weigerte ich mich, letzten endes sang ich dann doch mit. Wie zwei Kinder saßen wir in diesem Auto und sangen irgendwelche Lieder, die uns das Regierungsradio jedes Jahr abspielte. Aber irgendwie ließ es uns übermutig werden. Wir fuhren schneller, weil die Musik schneller wurde und bevor er reagieren konnte, fuhren wir schon in dieses riesige Tier rein, wir kamen von der Straße ab, hatten keine Chance, denn es war einfach viel zu glatt. Alles drehte sich so schnell, ich glaube ich habe geschrien, doch genauso gut, könnte ich es mir auch einbilden. Noch nie ist in meinem Leben Zeit so schnell vergangen, wie in diesem Augenblick.“ Ihre Stimme klang plötzlich so zart und zerbrechlich, dass es mir mein Herz beinahe zu schnürte. Ich kannte sie immer nur als Lehrerin, sachlich, eher verschlossen. Jetzt ließ sie mich an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben teilhaben, den wohl kaum jemand so kannte, wie sie ihn schilderte. Außer sie selbst. Alles was sich hier verbreitet hatte, waren Gerüchte. Teilweise waren sie so bescheuert gewesen, dass ich mir nicht einmal die Mühe gemacht hatte sie mir zu merken. Was wir hier allerdings alle wussten war, dass Miss Shaw nicht immer alleine gewesen war und dass sie sich von ihren Mann getrennt hatte, der daraufhin verschwand. Wahrscheinlich an dem Ort, an denen alle hinkamen, die eben eine längere Heilung brauchten. Ob sie ihn zwischendurch besuchte? Ich konnte es mir schlecht vorstellen, immerhin durften wir Großvater auch nicht besuchen. Ich verwarf den Gedanken also recht schnell wieder. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte, denn sein ganzes Gesicht war voller Blut gewesen, alles war mit Blut befleckt gewesen. Als ich ausstieg, um ihn aus dem Wagen zu ziehen, konnte ich nicht einmal mehr sagen, wem das Blut im Schnee gehörte. Es war auf einmal überall gewesen. Hatte er so viel verloren, war es noch mein Blut? Das Blut des Tieres? Egal, wo ich hinsah, es war rot weiß gefärbt und wenn es kein Blut gewesen wäre, hätte es fast schon schön ausgesehen, dieses tiefe Rot auf dem hellen Schnee…“, nun wirkte sie komplett in ihrer Erinnerung versunken. Ohne es zu wollen, musste ich es mir bildlich vorstellen. Ich sah, wie beiden glücklich im Auto sangen, so wie es Kirsten und ich immer taten. Ich wusste, wie schwer es war bei Schnee zu fahren, allein wenn der Schnee die Sonnenstrahlen reflektierte. Miss Shaw stellte ich mir ausgelassen und fröhlich vor, wie sie zum Takt klatschte, lachend ihren Kopf in den Nacken war. Für ihren Mann stellte ich mir irgendwen vor, der ebenfalls lachend fuhr, nicht darauf achtend, dass etwas passieren könnte. Mich durchfuhr bei der Vorstellung ein heftiger Schmerz, ich sah mich plötzlich in meinem Auto sitzen wie ich sang, ausgelassen war und wie ich ohne eine Vorwarnung das Lenkrad versuchte rum zu reißen, dann war es wieder weg. Mein Kopf explodierte förmlich vor Schmerz. Miss Shaw schien soweit von mir weg zu sein, dass sie es nicht mit bekam. Zum Glück, welche Geschichte hätte mich dann wohl erwartet, wenn ich ihr von meinen Migräneattacken erzählt hätte? Ihre erste Menstruation? Wie sie zur Frau wurde? Ich weiß, dass war nicht fair von mir. Aber warum erzählte sie mir das? Das ging mich nichts an. Etwas überfordert fuhr ich mir also durch die Haare, starrte sie weiterhin an, versuchte nicht auf die Uhr hinter ihr zu schauen. „Miss Shaw, ich will ihnen nicht zu nahe treten, aber wieso erzählen sie mir das? Es tut mir Leid für sie ehrlich, aber-“ „Die Rettung kam und wir wurden ins Krankenhaus gebracht. Ich schrie die ganze Zeit nach seinem Namen und niemand wollte mir sagen, was mit ihm passiert war. Die Ärzte kümmerten sich um mich, setzten mich auf Schmerzmittel und irgendwann beruhigte ich mich. Ich hatte keine andere Wahl. Ein paar Tage später saß er an meinem Bett. Er sagte, er hätte nicht kommen dürfen, weil ich so hysterisch gewesen war. Ich glaubte ihm.“ Wieder entstand eine Pause und ich gab es auf mich zu fragen, wieso sie es mir mitteilte. Sie wollte mir ja doch nicht antworten. Insgeheim hoffte ich natürlich, dass es mir ein paar Bonuspunkte einbringen würde, obwohl ich natürlich gar nichts zu ihrem Zustand beitragen würde. Falls sie hier bei mir ihren Kummer loswerden wollte. Doch dann wandte sie sich zu mir. Mit einem Blick, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Flehentlich, und noch etwas anderes lag darin, als würde sie sich selbst für verrückt halten. Als wüsste sie, dass hier etwas nicht stimmte, sie vermochte nur nicht sagen zu können, was es war, oder wieso sie so dachte und dieser Gedanke ließ mein Herz noch enger zu schnüren. Denn ich hatte denselben Gedanken. „Er war danach nie wieder er selbst. Es ging vielleicht zwei Wochen gut und danach entdeckte ich so vieles, was vorher nicht da gewesen war. Er schien wie ausgewechselt, manchmal stritten wir tagelang, und irgendwann hatte er eine Spur Wahnsinn in sich. Er war kaum mehr zu bändigen gewesen. Er hat fast die ganze Einrichtung zerstört, dann wollte er mich angreifen und dabei wollte er mir immer wieder etwas sagen, doch ich hab ihn nicht verstanden. Ich muss unheimlich geschrien haben. Noch bevor etwas passieren konnte, trafen bereits die Aufseher ein und führten ihn ab. Sie versprachen sich um ihn zu kümmern.“ Schwer atmete sie aus, ihre Hände zitterten, und so sehr ich mit ihr fühlte, wünschte ich mir, sie würde nicht anfangen zu heulen. Da alle guten Dinge drei waren, versuchte ich es noch einmal: „Miss Shaw, wieso erzählen sie mir das?“ Eine lange Stille trat ein und plötzlich kam endlich die lang ersehnte Antwort: „Weil ich mich ziemlich lange nicht an den Unfall erinnern konnte.“ Dieser Satz traf mich doch mehr, als ich zugeben wollte. Wie meinte sie das, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern? Natürlich meinte sie es sicher zum größten Teil so, wie sie es gesagt hatte. Doch woran lag es? Es war doch einfach nur eine Folge des Unfalls gewesen, oder nicht? Der Körper verdrängte einfach manchmal Dinge, an die es sich nicht lohnt erinnert zu werden. Was manchmal mehr oder weniger viel war. Unwillkürlich rückte ich mit meinem Stuhl ein Stück weiter von ihr weg. Ich hatte das Gefühl, als bräuchte ich plötzlich alle Luft in diesem Raum, die er zu bieten hatte. „Wie meinen sie das?“, fragte ich, als ich glaubte mich wieder gefangen zu haben, doch Miss Shaw stand bereits auf. Sie strich sich ihre Uniform glatt, blinzelte ein paar Mal und lächelte mich dann an. Als sei nie etwas gewesen und trotzdem sah sie etwas gestresst aus, von jetzt auf gleich. Oder war sie etwa nervös? Ich musterte sie, versuchte schlau aus ihr zu werden. Also tat ich es ihr gleich, stand auf, und blickte auf sie herab. Sie war nicht gerade sehr groß, wie ich feststellte, als hätte ich sie zum ersten Mal gesehen. „Es ist besser, wenn du jetzt gehst Aiden, du hast schon seit zehn Minuten Schule aus.“ Vollkommen perplex sah ich sie an. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal das Gefühl entwickeln würde, doch länger bleiben zu wollen, auch über die Stunde hinaus. Aber irgendetwas war in der Art ihrer Wörter gewesen, dass mich erstarren ließ, es verwirrte mich. Sah sie etwa einen Zusammenhang zwischen den beiden Unfällen? Würde Kirsten auch durch drehen? Versuchte man uns um zu bringen? War jemand hinter uns her? Warum um Himmels Willen hatte sie es mir erzählt? Bevor ich was sagen konnte, schob sie mich bereits raus. Nur widerwillig ließ ich es mit mir machen, immerhin hätte sie keine Chance gehabt, wenn ich mich geweigert hätte, doch ich dachte mir, dass ich sie morgen auch noch würde fragen können. Vielleicht würde es uns beiden dann besser gehen. Ich würde mich beruhigen und sie wäre nicht mehr so nervös und aufgewühlt Dazwischen würde lediglich nur eine Nacht liegen. Eine Nacht, in der ich mir noch weitere Fragen überlegen könnte. Waren wir beide vielleicht das gleiche Automodell gefahren? War es dieselbe Strecke gewesen? Ich verließ das Klassenzimmer. Fast hatte ich die Ecke erreicht, als ich sah, wie zwei Aufseher in das Zimmer gingen, zusammen mit Miss Shaw verließen sie es. Sie winkte mir zum Abschied. Ich sah sie nie wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)