Auf der Schattenseite von Melange ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Hirato schreckt auf und wirft einen hastigen Blick um sich. Im nächsten Moment erkennt er die vertrauten dunklen Farben und Schatten seines Büros. Er seufzt, nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen. Auf ein Fingerschnippen hin flammen alle Lampen im Raum auf. Er muss blinzeln. Die Müdigkeit lastet wie ein Sack voller Steine auf seinen Schultern. Schon der Gedanke an den Papierkram, der sich in Stapeln auf seinem Schreibtisch türmt, entmutigt ihn. Deshalb erhebt er sich aus dem Sessel und lässt sich ein paar Schritte weiter auf das gemütliche Sofa fallen, das genau genommen für Besucher und Besprechungen gedacht ist. Er streckt sich wie eine Katze und gähnt. Zwei lange Finger lockern die weinrote Krawatte. Sein Zylinder fällt auf den Boden, aber er macht sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben. Stattdessen bedeckt er die Augen mit der linken Hand und schnippt ein zweites Mal mit den Fingern. Der Hut beginnt zu leuchten. Die violetten und purpurnen Lichtpartikel fliegen hoch in die Luft, wirbeln durcheinander und ordnen sich neu, bevor sie langsam herabgleiten. Mitten in der Bewegung nehmen sie die Gestalt von fünf hübschen Mädchen an. Hirato regt sich nicht, als langes, schwarzes Haar über sein Gesicht streicht und seine Nase kitzelt. Er ist viel zu müde. Die Banshees stellen sich um das Sofa auf. Zwei lugen mit scheuem Blick über die Lehne. Seit wann arbeitet er zu viel? Er kann sich nicht erinnern. Bereits bevor er Kapitän des Zweiten Schiffes geworden ist, galt Hirato als ernst und fleißig. Sein ganzes Leben lang hat er seinen scharfen Verstand und sein Urteilsvermögen mit instinktiver Sicherheit eingesetzt und seine Menschenkenntnis benutzt, um für reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Kollegen zu sorgen. Sein Pflichtbewusstsein ist so ausgeprägt, dass er sich überall eingemischt hat, aber anstatt Tadel haben ihm seine eigenmächtigen Entscheidungen immer nur Lob gebracht. Irgendetwas muss er richtig gemacht haben, denkt Hirato. All diese Fähigkeiten, wurden sie ihm vererbt oder hat er sie sich aus eigener Kraft angeeignet? Diese Frage beschäftigt ihn seit langer Zeit, aber er findet keine Antwort. Er weiß nur, dass er schon vor langer Zeit dazu auserkoren wurde, einer der mächtigsten Männer der nationalen Sicherheits- und Verteidigungsorganisation Circus zu werden. Er weiß auch, dass er in allem, was er tut, mehr als gut ist. Mit steigenden Aktivitäten von Kafkas Seite steigt auch die Gefahr, Fehler zu machen, aber der Runde Tisch Z hat ihn noch nie offen getadelt. Hirato seufzt und ist dankbar für den Schatten, den seine Hand über die brennenden Augen wirft. Die Verantwortung über das Zweite Schiff und die Erwartungen seiner Vorgesetzten sind eine schwere Last, die ihn von Zeit zu Zeit zu erdrücken scheint. Etwas Kühles berührt seine Schulter. Als er die Augen aufschlägt, sieht er, wie eine seiner Banshees sich über ihn beugt. Ohne Brille sieht er nur verschwommen, aber um die Sorge auf ihrem blassen Gesicht zu erkennen, reicht es. „Was ist los, Zwei?“ Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Sie sehen müde aus, Meister. Ruhen Sie sich einmal richtig aus, ja?“ Hirato stößt ein trockenes Lachen aus. „Das kann ich mir nicht leisten. Zu viel Arbeit wartet.“ Eine Hand deutet in Richtung des unordentlichen Schreibtisches. Eine andere Banshee streicht mit der Hand durch sein wirres Haar. „Aber wenn Sie zu viel arbeiten, dienen Sie Circus nicht gut.“ Hirato schließt die Augen und lehnt sich gegen sie. Trotz seiner vorigen Worte bringt er es nicht zustande, aufzustehen. Seine Glieder fühlen sich an wie Blei. „Warum überlassen Sie einen Teil dieser Arbeit nicht Herrn Tsukitachi?“, fragt dieselbe Banshee. Das bringt ihn wieder zum Lachen und die Hand rutscht von seinem Kopf. „Fünf, ihr habt wohl vergessen, dass es Tsukitachi ist, von dem ihr redet! Es gibt niemanden, der mir diese Arbeit abnehmen kann.“ Die Banshees seufzen. Ihnen entgeht der feine Hauch von Selbstgefälligkeit, der in seiner Stimme mitschwingt. Ja, trotz der ständigen Erschöpfung und der Gefahr erfüllt das Wissen, dass so viele Fäden in seinen Händen zusammenlaufen, Hirato mit Genugtuung. Dieses Geheimnis kennen nur die Banshees, die gemäß ihrer Natur mit Haut und Haaren ihm gehören. Er kennt seine Grenzen, aber hin und wieder erlaubt er sich, die Macht zu genießen. In diesem Sinne versteht er es, wenn andere von Vorhersehung und Berufung reden. Sein ganzes Leben lang hat er damit verbracht, seine Führungsqualitäten zu verfeinern. Hätte er es geschafft, wenn er keinen Spaß gehabt oder nicht von Anfang an ein gewisses Potenzial gezeigt hätte? Er kann es sich nicht vorstellen. Mehrere Hände berühren seine Schultern, streicheln seine Haare und ziehen die Schuhe von seinen Füßen. Er seufzt und schmilzt zwischen ihren Fingern, die sanft, aber gleichzeitig mit der nötigen Kraft die Spannungen in seinen Muskeln lockern. „Sie könnten sich wenigstens ab und zu mit jemand anderem entspannen. Jemandem, den Sie mögen“, flüstert ihm eine Banshee ins Ohr. Hirato ist so entspannt, dass er nur ein Auge öffnet. „Wer soll das sein, Eins? Wenn ich einer meiner Untergebenen mehr Aufmerksamkeit schenke als den anderen, ist das schlecht für das ganze Schiff. Und meine Vorgesetzten enthüllen nicht einmal ihr Geschlecht!“ „Aber Sie nehmen sich nie auch nur einen Abend frei!“, beharrt Eins. „Ich leiste Tsukitachi viel zu oft Gesellschaft“, murmelt Hirato. Die Massage zeigt bereits ihre Wirkung: Er wird schläfrig und die Gedanken verschwimmen in seinem Kopf. „Sich zu betrinken und am nächsten Tag mit einem Kater zu arbeiten ist nicht gerade gesund“, schnaubt Eins. Hirato lächelt. Im Grunde teilen alle seine Banshees ein kollektives Bewusstsein und haben keine Persönlichkeit. Trotzdem scheint Eins vorlauter und selbstbewusster zu sein als die anderen. Vielleicht ist es natürlich, dass zwischen den fünfen eine als Anführerin heraustritt. Tsukitachi dagegen wird von allen seinen Banshees bemuttert. Das Licht der Lampen blendet ihn nicht mehr, sondern umhüllt ihn mit einem angenehmen Kokon ebenso wie die weichen Hände seiner hübschen Mädchen. Hirato fällt es immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Etwas muss er noch sagen, etwas Wichtiges … „Eins, für mich gibt es nur euch“, murmelt er. Mitten im einstimmigen Gekicher streckt er sich und gähnt noch einmal, bevor er die Hände als Kissen hinter dem Kopf verschränkt. Die Banshees hören nicht auf, ihn zu massieren, aber ihre Berührungen werden leichter und sanfter. Allmählich entgleitet er ihnen und versinkt im Traumland des Vergessens. Wenigstens für einige Stunden ist Hirato nicht der Kapitän des Zweiten Schiffes von Circus, sondern ein Mensch wie jeder andere, der Schlaf und hübsche Mädchen an seiner Seite braucht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)