lucky failure von cork-tip (KaitoxSaguru) ================================================================================ Kapitel 4: assault ------------------ „Das ist kein Geheimnis, aber dafür eine etwas seltsame Geschichte“, klärte Kid ihn auf. Überflüssig, befand Hakuba, denn seltsam war ohnehin alles, was sich seit seiner Rückkehr nach Japan ereignet hatte. Allerdings verkniff er sich den Kommentar, um Kid nicht wieder vom Thema abzubringen. Die Sache war zu heiß, um unnütz Zeit zu verschwenden. „Ich habe den Brief im Nationalmuseum gefunden, als ich – nun ja- meine Vorbereitungen für den großen Tag getroffen habe“, fuhr der Dieb fort. „Ursprünglich hatte ich nicht vor, diese Pferdeskulptur zu stehlen. Du kennst meine Vorgehensweise: ich würde nie historisches Kulturgut entwenden, das sich in den Händen des rechtmäßigen Eigentümers, in diesem Fall in Händen des Staates, befindet.“ „Darf man erfahren, auf was du es abgesehen hattest?“, unterbrach Hakuba nun trotz aller guten Vorsätze, weil sich detektivische Neugier nicht so einfach abschalten ließ, aber Kid winkte ab. „Das tut nichts zur Sache“, erklärte er etwas schroff und kehrte zum eigentlichen Thema zurück, ohne einer gesonderten Aufforderung zu bedürfen. „Jedenfalls musste ich mich vor Ort umsehen, um zu prüfen, ob und was sich seit meinem letzten Besuch verändert hat. An der Garderobe hing ein auffälliger roter Damenmantel, direkt neben meiner Jacke, den ich versehentlich runtergeworfen habe. Der Brief fiel dabei aus der Tasche. Weil er an dich adressiert war, habe ich ihn an mich genommen und einen Blick auf den Inhalt geworfen. Natürlich kam mir die Nachricht verdächtig vor, und deshalb bin ich bis zum späten Abend dort geblieben, um zu sehen, wer die Dame ist, der dieser Mantel gehört. Aber es kam niemand, um ihn zu holen. Als das Museum zu gemacht hat, musste ich gehen. Zuerst wollte ich dir den Brief schicken und die Angelegenheit vergessen, aber dann war ich doch zu neugierig und hab am folgenden Tag noch einmal das Nationalmuseum besucht. Der Mantel hing noch immer da, wo ich ihn zurückgelassen hatte, und in der Tasche fand ich ein Blatt Papier, auf das jemand folgende Textpassage mit eben denselben Markierungen gedruckt hatte.“ Er griff nach Hakubas Notizbuch und begann in aller Seelenruhe, einen doch recht langen Text aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Hakuba schluckte all die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen mühsam herunter und ließ ihn schweigend gewähren, wobei er nicht umhin konnte, insgeheim das geradezu phantastische Erinnerungsvermögen seines ewigen Widersachers zu bewundern, denn Kid kam nicht ein einziges Mal ins Stocken. Das Ergebnis schlussendlich, las sich wie folgt: Der furchtbare Schrecken hatte auf meinen Gefährten eine geradezu lähmende Wirkung, während meine Sinne, wie sich denken lässt, aufs äußerste angespannt wurden. Und das erwies sich auch als notwendig, denn es sollte sich gleich herausstellen, dass wir einem ganz außergewöhnlichen Fall gegenüberstanden. Der junge Mann trug lediglich seinen Burberry-Mantel, seine Hose und ein paar Segeltuchschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Als er zusammenfiel, rutschte ihm der Mantel, den er nur übergeworfen hatte, von der Schulter und entblößte seinen Oberkörper, den wir bestürzt anstarrten. Der Rücken war mit dunkelroten Striemen bedeckt, als hätte man ihn auf grässliche Weise mit einer Drahtpeitsche gezüchtigt. Offensichtlich war es ein biegsames Folterwerkzeug gewesen. Denn die langen entzündeten Striemen bogen sich um Schultern und Rippen. Blut tropfte ihm vom Kinn herab, weil er sich im Paroxysmus seines Todeskampfes die Unterlippe durchgebissen hatte. Sein schmerzverzerrtes und verkrampftes Gesicht drückte nur zu sprechend aus, wie grauenhaft dieser Tod gewesen war... ...“Schließlich hat der arme Mensch sich ja nicht selbst diese gräßlichen Wunden beigebracht. Irgendeines Hand muss schon die Peitsche – oder was es war – geführt haben. Sein Bekanntenkreis in dieser Einöde war sicher beschränkt. Wenn wir ringsum nachforschen, dürften wir sicherlich das Motiv herausfinden und dadurch wiederum auf die Spur der Täter stoßen.“ Es wäre ein ergötzlicher Spaziergang durch die thymianduftenden Downs geworden, hätte die Tragödie, die wir miterleben mussten, nicht unsere Gemüter vergiftet. Das Dorf Fulworth liegt in einer Niederung, die sich im Halbkreis um eine Bucht schmiegt. Hinter dem altertümlichen Weiler waren am Abhang entlang einige moderne Häuser gebaut. Zu einem von diesen führte mich Stackhurst. „Das ist der 'Hafen', wie Bellamy sein Heim genannt hat. Sehen Sie, das dort mit dem Eckturm und dem Schieferdach. Nicht schlecht für einen Mann, der aus dem Nichts heraus angefangen hat... Himmel, was sagen Sie dazu?“ Das Gartentor am „Hafen“ öffnete sich und heraus trat ein großer, dunkler Mann. Es war kein Irrtum möglich: Diese eckige, abwesende Erscheinung konnte nur die des Mathematikers Murdoch sein. Einen Augenblick später lief er uns auf der Straße in die Arme. The Lion's Mane „Das sind zwei Auszüge aus der Sherlock Holmes Kurzgeschichte 'The Lion's Mane'“, erläuterte Kaito Kid. „Ich habe beide nachgeschlagen und das Papier auf Fingerabdrücke hin untersucht, aber nichts gefunden, das von Interesse gewesen wäre. Lion's Manes Code hingegen war nicht schwer zu entschlüsseln. Wenn man die unterstrichenen Buchstaben in Reihenfolge hintereinander ließt, dann ergibt sich: Der Finder meines roten Mantels möge Holmes und Watson die Nachricht übermitteln. Drei Tage, dann segeln sie alle über den Stüks. M.m., wohl memento mori. Selbstverständlich muss man Groß- und Kleinschreibung ein bisschen anpassen. Und das Wort 'Stüks' ist eine erbärmlich schlechte Konstruktion. Gemeint ist 'Styx', der Fluss, den die Toten auf ihrem Weg in die Unterwelt überqueren. Der Täter – entschuldige: die Täterin - hatte in ihrem selbst gewählten Text gegen Ende weder ein x, noch ein y zur Verfügung und musste deshalb improvisieren. Hinter dieser geradezu poetischen Formulierung verbirgt sich nichts anderes, als eine Morddrohung, kombiniert mit einem Ultimatum. Die zweite Botschaft ist nicht geordnet; man muss zunächst die Worte, Silben und Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringen. Lange dauert das nicht. Das Ganze liest sich: Furchtbare Schrecken und Tod warten auf den, der diese Warnung nicht beachtet. Ich hoffe, du kannst nachvollziehen, dass ich ein wenig besorgt um dich war und meine Pläne über den Haufen geworfen habe, um dich hierher zu holen. Als du mich gestellt hast, war das Ultimatum gerade abgelaufen und Lion's Mane hat seinen – ihren – Worten mit ein paar Kugeln deutlich Nachdruck verliehen. Vielleicht hätte ich dir einfach den Brief schicken sollen.“ Kid kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. „Aber nachdem ich selbst eine Botschaft von unserer Schützin erhalten habe, dachte ich, dass mich das alles auch etwas angeht. Ich wollte dir nur ein bisschen unter die Arme greifen. Tut mir echt leid, dass ich dich dadurch in Lebensgefahr gebracht habe.“ 'Tut mir echt leid, dass ich dich dadurch in Lebensgefahr gebracht habe.' Hakuba seufzte tief; sehr tief. Sicher, kein Problem, man geriet schließlich ständig irgendwo in Lebensgefahr. Dummerweise konnte er Kid keinen Strick daraus drehen, denn immerhin hatte er ihm auch das Leben gerettet und ihn darüber hinaus soeben wieder ein Stück weitergebracht. „Jetzt ist mir immerhin klar, wie du so schnell auf ad acta gekommen bist und warum du vor mir wusstest, dass Lion's Mane sich nach einer Holmes-Geschichte benennt“, kommentierte der Detektiv etwas zu trocken. Diese ungeheure Fülle an Information musste er erst einmal verdauen. Kid grinste verlegen, was sich auf dem künstlichen Frauengesicht nicht wirklich gut machte. „Du hast mich ertappt“, gab er zu. „Ich bin schließlich kein so großartiger Holmes-Experte wie Kudo.“ Hakuba sah ihn böse an. „Oder du, oder du“, fügte er rasch beschwichtigend hinzu. „Allerdings musst du zugeben, dass es meine grandiose Eigenleistung war, m.m. Als Abkürzung der Phrase 'memento mori' zu identifizieren.“ Das war tatsächlich nicht zu leugnen und so ließ Hakuba sich dazu hinreißen, ihm anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Im Nachhinein fand er, dass diese Geste zu kumpelhaft gewirkt hatte, um sie einem Kriminellen angedeihen zu lassen, doch da war es schon zu spät. Er beschloss, vorerst nicht weiter über sein eigenes Fehlverhalten nachzudenken und nahm ihm den Text aus der Hand. Eine Weile betrachtete er die Worte konzentriert. Dann wandte er sich wieder an Kid: „Es bleiben noch genau zwei Fragen, auf die du mir keine Antwort geliefert hast“, stellte er fest. „Erstens: Lion's Mane spricht davon, dass 'sie alle' über den Styx segeln. Wer sind 'sie alle'? Ich glaube kaum, dass damit nur meine Wenigkeit und Watson, mein treuer Begleiter, gemeint sind. Zweitens: Lion's Mane hat keine Textpassage gewählt, in der die fehlenden Buchstaben x und y vorkommen. Warum? Der Text selbst muss für die Täterin von besonderer Bedeutung sein. Nur: was will sie uns damit sagen?“ Auch jetzt gab Kid ihm darauf keine Antwort. „Wo wir gerade sprechen: Wo ist Watson?“, erkundigte er sich stattdessen. „Du schleppst das Vieh doch sonst immer mit dir herum.“ „Watson ist kein Vieh!“, beschwerte der Detektiv sich sogleich. „Wenn überhaupt, dann ein Tier. Das klingt weniger abwertend.“ „Also gut“, lenkte Kid ein. „Wo ist das liebe Tier? Hat es sich verflogen?“ Wieder stellte sich Hakuba die Frage, ob sein Gegenspieler es mit Gewalt darauf anlegte, ihn wütend zu machen, sah schließlich aber kulant über die unpassende Bemerkung hinweg. „Watson hat einen angeknacksten Flügel und muss zu Hause bleiben, um sich zu schonen“, gab er kurz angebunden Auskunft. Kid nickte verstehend. „Wie der Herr sos Gescherr“, witzelte er. „Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass du deinen kaputten Arm schonen wirst...“ „Du kannst jetzt aufhören, mich zu bemuttern“, bestimmte Hakuba kalt. Warum wusste dieser Kerl denn nicht, wann es genug war? Er sollte es zumindest zu schätzen wissen, dass er in seiner Eigenschaft als Detektiv keinerlei Anstalten machte, ihn verhaften zu lassen, und das auch nur, weil seine Unterstützung in diesem Fall so gut wie unentbehrlich war. Kid wusste schlicht und einfach zu viel, als dass er auf ihn hätte verzichten können. Apropos Fall... Mit Schrecken stellte Hakuba fest, dass er sich einmal mehr hatte ablenken lassen. Sicher lag Watson ihm am Herzen, aber im Augenblick erschien es ihm grob fahrlässig, mit dem Meisterdieb über seinen treuen Begleiter zu plaudern, anstatt nach Spuren zu suchen, die ihn zu Lion's Mane führen würden. Die unbekannte Frau trachtete ihm nach dem Leben. Und das Ultimatum, das sie gesetzt hatte, war abgelaufen. Wer konnte sagen, ob sie Hakuba nun überhaupt noch die Chance geben wollte, Ermittlungen in ihrem Fall anzustellen? Wahrscheinlicher war, dass Lion's Mane vorhatte, an ihm ein Exempel zu statuieren, damit ein anderer berühmter Detektiv ihrem Anliegen die Aufmerksamkeit widmete, die sie verlangte. So wie es aussah, war er der Erste, der eine Nachricht von Lion's Mane erhalten hatte. Die Formulierung 'sie alle' bezog sich möglicherweise auf ihn und seine Nachfolger. Und wenn Kid sich weiter in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt, geriet er vermutlich selbst in Lebensgefahr. Nicht, dass er sich Sorgen um ihn gemacht hätte, doch wegschicken musste er ihn so oder so. Kids Anwesenheit lenkte ihn ab und Ablenkungen konnten in einem Fall wie diesem tödlich sein. „Hör mal, Kaito“, begann er, versuchte, streng zu klingen. „Danke für deine Hilfe, aber ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Du hast die Krankenschwester gehört: du sollst nicht zu lange bleiben.“ Kid sah ihn ziemlich entgeistert an. „Was bitte?“, fragte er ungläubig. „Heißt das, du schmeißt mich raus?“ Hakuba seufzte abermals. Wer war denn hier nun das Sensibelchen? „Nein. Nein, das ist es nicht“, versuchte er, ihn zu beruhigen. „Das ist alles unglaublich viel Information. Ich brauche ein bisschen Ruhe, um nachzudenken und ein paar Nachforschungen anzustellen.“ „Aha. Und dabei störe ich dich?“ „Genau so ist es“, bestätigte der Detektiv reichlich taktlos. „Du störst.“ „Das wirst du noch bereuen!“ Mehr hatte Kid dazu nicht mehr zu sagen. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte er aus dem Zimmer, ohne sich auch nur zu verabschieden. Konsequent verzichtete auch Hakuba auf diese höfliche Förmlichkeit. Allerdings wusste er, kaum, dass die Türe hinter ihm ins Schloss gefallen war, dass er keine Ruhe finden würde, bevor er sich nicht wenigstens im Klaren darüber war, ob Kaito Kid schon immer so zickig gewesen war oder ob seine Verkleidung auf irgendeine mysteriöse Art und Weise auf seinen Charakter abgefärbt hatte. Dieser Abgang war durchaus bemerkenswert gewesen. Verwirrt ließ er sich auf sein Bett sinken und wühlte planlos in seinen Notizen herum, ohne so recht wahrzunehmen, was er tat. Er bemerkte kaum, dass die Türe noch einmal aufschwang und die Krankenschwester auf leisen Sohlen hereinkam. „Ihre reizende Freundin ist gegangen?“, erkundigte sie sich höflich und der Klang ihrer Stimme ließ Hakuba überrascht zusammenfahren. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, dann nickte er schwach, obwohl er nach wie vor nicht der Meinung war, dass Kid in dieser monströsen Verkleidung eine reizende Freundin abgab. „Ich bin sicher, sie wird Sie Morgen abholen“, fuhr die Krankenschwester freundlich lächelnd fort. „Vorerst sollten Sie versuchen, sich auszuruhen. Das wird ihrem Handgelenk gut tun. Ich habe Ihnen eine Schmerztablette gebracht. Es ist dieselbe Sorte wie gestern Abend. Die haben Sie gut vertragen, nicht wahr?“ Hakuba nickte wieder und nahm die unappetitlich gelbe Tablette entgegen. Er war nur froh, dass er nicht allzu lange hier bleiben musste... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)