Ein Meer aus Lavendel von Benjy ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken. Christian Morgenstern (1871 - 1914)     *****   Ich balancierte den Becher belebendem Koffein und die Brötchentüte in der linken Hand und kramte mit der anderen ungeduldig nach dem Autoschlüssel. Großartig! Ich ließ die Tüte auf das Autodach fallen und stellte den Kaffee mit etwas mehr Sorgfalt daneben ab. Fluchend klopfte ich ein weiteres Mal die Taschen ab. Als gäbe es nichts Aufregenderes montagmorgens, als die mit Lastwagen überfüllte Raststätte nach verlorenen Schlüsseln abzusuchen. Ich verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran. Wenigstens befand sich die Brieftasche am richtigen Fleck. Wäre auch noch schöner, sich zusätzlich mit jemanden um den mageren Inhalt streiten zu müssen. Wo hatte ich gleich noch mal meinen Kopf? Ach ja, genau. Auf dem nach Lavendel duftenden Kopfkissen, das genauso fremd gewesen war wie die Person, die auf einem weiteren daneben lag.   Lavendel. Es gab nichts Erfolgreicheres, als dieses teuflisch duftende Kraut, das auf beängstigende Weise in der Lage war, das verborgene Tor zu meiner Kindheit aufzustoßen. Die ausgedehnte Theorie, die den Vorgang beinah lückenlos erklärte, war mir inzwischen ins Blut übergegangen – auch wenn sie an meinem jetzigen Arbeitsplatz praktisch nutzlos war. Um es kurz zu fassen, die Duftmoleküle lösen sich in der wässrigen Nasenschleimhaut auf, um an den Riechzellen andocken zu können. Dies führt zu einem elektrischen Impuls, der über die Nervenbahnen an das Limbische System, den Hypothalamus und Hypophyse weitergegeben wird, und schon tritt das Duftgedächtnis in Aktion. Dieses lässt Erinnerungen und Gefühle freiwerden, die einerseits entspannend und anregend, andererseits aber auch schmerzlich auf Körper, Geist und Seele wirken können. Klang kompliziert. Die Praxis jedoch konnte nicht einfacher sein, was die rund 7,1 Milliarden Menschen täglich von Geburt bis Tod demonstrierten. Ich reihte mich da fröhlich ein. Einmal tief eingeatmet und schon fand ich mich 25 Jahre früher und circa 280 Kilometer entfernt auf einem riesigen Lavendelfeld wieder. Unerträgliche Hitze hieß mich willkommen. Staubtrockene Erde puderte die nackten Füße. Der riesige, weiße Strohhut meiner Tante schwebte wie ein Sonnenzwilling durch das Feld. Das monotone Geräusch der unzähligen Hummeln, Bienen und Wespen ringsum und natürlich der unvergleichliche Duft der violetten Blüten, der ungefragt seine Spuren im Langzeitgedächtnis hinterließ – für das Wiedererleben praktisch verantwortlich war und somit den Kreis schloss. Die weniger schönen Erinnerungen dabei blendete ich inzwischen gekonnt aus.   Ich rief mich in die Gegenwart zurück und schloss für einen Moment die Augen. Fühlte die schwülwarme Luft um mich herum, der die Nacht kaum etwas hatte entgegensetzen können, den Asphalt unter den Füßen, die Schweißperlen zwischen den Schulterblättern, die ihren Weg entlang der Wirbelsäule hinab zur Boxershorts suchten – ein Umstand, der in Anbetracht der Tatsache, dass ich noch eine Stunde Autofahrt vor mir hatte und die Ersatzkleidung, die ich in meinem Wagen für den Fall der Fälle bereithielt, bereits trug, weniger erwünscht war. Ich zupfte unwirsch am T-Shirt herum, und richtete den Blick über das Autodach hinweg durch den Spalt zweier nebeneinander geparkter Straßenschiffe. Golden bewegte sich der Weizen in der Ferne. Das Gesicht tief in goldblonden Locken und Lavendel vergraben… Der unerwartete Gedanke an das nächtliche Abenteuer ließ mich lächeln und meine Lendengegend im sinnlichen Echo zusammenziehen. Was eine zufällige Begegnung am Abend doch alles nach sich zog…   Ich tauschte den Ausflug in die Ferne gegen einen entschuldigenden Blick in das vertraute Innere des Wagens ein, so als ob ich meiner Aktentasche und den losen Zetteln auf und unter dem Beifahrersitz, den diversen Büchern auf der Rückbank und dem am hinteren rechten Haltegriff aufgehängten Anzug versichern müsste, dass sich meine Anwesenheit nur ein klein wenig verzögern würde. Idiotisch grinste mir ein von Hitze gezeichnetes und von hellbraunen Haaren umrahmtes Gesicht aus dem Seitenfenster entgegen. Skeptisch musterte ich dessen Züge. Es hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Ich seufzte und sah zum Cafe rüber.             „Wie heißt es doch so schön, was man nicht im Kopf hat, hat man eben in den Beinen…oder so ähnlich.“ Wenig davon überzeugt, langte ich nach meinem Frühstück und machte mich erneut auf den Weg, diesmal die Augen suchend auf dem Boden.   *****               „Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie wieder auftauchen.“ Die Stimme klang amüsiert, als ich überrascht aufsah und den Augen der Kellnerin begegnete. Das Cafe war verhältnismäßig klein. Eine Handvoll Tische auf der einen Seite, die zur Hälfte von mehr oder weniger ausgeschlafenen Truckern besetzt waren, die ihren Gang zur Morgentoilette wohl noch vor sich hatten, sowie einer langen, den verbleibenden Raum dominierenden Theke mit Kasse auf der anderen. Die junge Frau, die ich bei meinem ersten Besuch anscheinend übersehen hatte, was mir bei dieser räumlichen Enge unmöglich erschien, zwinkerte mir zu. Ich musste wohl sehr irritiert dreingeschaut haben, denn sie fing plötzlich an zu lachen. „Tut mir leid. Aber Sie suchen doch bestimmt Ihre Schlüssel?“, fragte sie fröhlich, während ihr Kopf in Richtung Parkplatz deutete. „Ihre Suche war nicht zu übersehen.“ Ich folgte ihrem Blick und stellte fest, dass die meisten Lenkmeister noch in ihren Fahrkabinen liegen mussten, denn es gab hier drinnen bei weiten nicht genug Stühle, wie es da draußen Lastwagen gab. „Uh… Richtig.“ Ich betrachtete meine Gesprächspartnerin nun genauer. Mitte zwanzig. Schlanke Figur, die in einer ausgewaschenen hellblauen Jeans steckte und eines dieser abgetragenen, fragwürdig bedruckten schwarzen T-Shirts zur Schau trug, das wohl das Herz eines jeden Truckers höher schlagen ließ, sofern dieser ein begeisterter Anhänger jener Lebensweise war, die aus scharfen Kurven, einer Menge PS unter den Arschbacken und scheinbar grenzenloser Freiheit bestand – ganz im Sinne der berühmten Stars and Stripes. Kinnlanges schwarzes Haar und ein extrem kurz geschnittener Pony umgaben ein schmales Gesicht, dessen breites Lächeln und große blaue Augen, die intelligent auf meine brauen trafen, den Blick magisch anzogen.             „Wo kann ich einen Blick auf den Schlüssel werfen?“             „An der Kasse, aber ich hoffe, Sie haben an den Finderlohn gedacht. Meine Chefin ist da sehr eigen.“             „Finderlohn?“ Ich musste mich verhört haben. „Sie scherzen?!“ Das Lächeln in ihrem Gesicht wurde noch breiter.             „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Damit ließ sie mich stehen, um ihre Arbeit wieder aufzunehmen - die verwaisten Frühstückstische räumten sich schließlich nicht von allein ab. Für einen Moment erlaubte ich mir, ihr dabei zuzusehen, eh mich die scherzenden Kumpels an ihrem Nachbartisch innerlich aufstöhnen ließen. Nichts gegen Leder, Karos oder den einen oder anderen Kilo zu viel, aber wenn, dann wenigstens gepaart mit respektvollen Umgangsformen. Ich wandte dem nur allzu vertrauten und weniger schönen Einblick in die Gesellschaft den Rücken zu, und ging zur Kasse hinüber. Die Chefin war dabei, einen älteren Herrn abzukassieren, der sichtlich Schwierigkeiten hatte, das Kleingeld in seiner Geldbörse auseinanderzuhalten. Geduldig starrte ich an beiden vorbei zum aufgehängten Fernseher, wo ein stummgeschalteter Nachrichtensender lief. Eine hektisch zusammengeschnittene Aufzeichnung einer Pressekonferenz wurde gerade eingespielt, deren Inhalt ich auch ohne Ton erahnen konnte – war ich doch für einige Informationen mit verantwortlich. Ich studierte das eingeblendete Phantombild und fragte mich, wie vielen falschen Hinweisen die Polizei nun nachgehen musste, und wie vielen beim unerwarteten Anblick der Uniformierten auf dem eigenen Fußabtreter das Herz ins Stolpern geraten würde. Das Bild wechselte erneut. Ein junger Moderator in grau. Seine stummen Mundbewegungen mussten das Wetter angekündigt haben, denn als nächstes wurde eine Landkarte gezeigt, auf der eine übergroße, lächelnde Sonne mit Sonnenbrille zu sehen war. Während ich mir noch den Kopf darüber zermarterte, was der Sinn einer Sonnendarstellung mit Sonnenbrille war, hörte ich, wie der Mann vor mir einen schönen Tag wünschte und den Weg zur Kasse freigab.             „Junger Mann?“ Fragend sah mich die Chefin an. Ein Blick über meine Schulter ließ mich wissen, dass sie wirklich mich meinte. Ich schaffte es tatsächlich, meine Augenbrauen in ihrer Aufwärtsbewegung erstarren zu lassen. Es war nicht so, dass ich ein Problem mit dem Alter hatte und in der Tat, im Gegensatz zum vorherigen Kunden mochte ich jung erscheinen. Es irritierte dennoch ungemein, als junger Mann bezeichnet zu werden, wenn die Person, von der es kam, vielleicht gerade mal zehn Jahre Vorsprung auf einen selbst hatte. Oder sollte mir das jetzt schmeicheln?             „Unzufrieden mit Ihrem Kaffee?“             „Was?“             „Sie haben eben hier Kaffee und Brötchen gekauft und wie ich sehen kann, beides kaum angerührt. Daher meine Frage.“ Ich starrte auf den Becher in meiner Hand und musste zugeben, dass der Inhalt wirklich nicht besonders schmeckte, was ich aber nicht laut sagte.             „Äh, nein. Das Koffein erfüllt seine Funktion ausgezeichnet.“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. „Ich bin zurückgekommen, weil ich meinen Autoschlüssel vermisse. Ich dachte, ich hätte ihn vielleicht hier-“             „Zwei.“             „Wie bitte?“ Die Einsilbigkeit der älteren Frau war gewöhnungsbedürftig.             „Ich habe zwei Schlüssel hier liegen.“ Sie hielt beide hoch. „Einer der Ihre?“ Mein Blick fiel sofort auf den Bersteinanhänger. Erleichterung ersetzte Anspannung. Ich musste schleunigst einen anderen Platz dafür finden – was ich mir im Grunde jedes Mal sagte, wenn der Schlüssel nicht auffindbar war.             „Ja, der mit dem Anhänger.“ Ich hätte beinah danach gegriffen. „Wollen Sie vielleicht mit zum Auto kommen, damit Sie sicher sein können, dass Sie den Schlüssel der richtigen Person gegeben haben?“             „Und woher soll ich wissen, dass Sie die richtige Person sind?“ Die Skepsis war nicht zu überhören.             „Können Sie nicht. Aber wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mich für eine Viertelstunde hersetzen und warten, ob noch jemand nach dem Schlüssel fragt. Was aber nicht der Fall sein wird, da es definitiv meiner ist.“ Ich schenkte ihr mein vertrauenswürdigstes Lächeln.             „Schon gut. Hier Ihr Schlüssel.“, bestimmte sie. „Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich kann schließlich nicht für alle verlorenen Dinge die Verantwortung übernehmen.“ Dankend nahm ich den Schlüssel entgegen. Ihre Aussage war nachvollziehbar, doch hoffte ich, dass sie trotzdem die eine oder andere Frage vor Herausgabe stellen würde.             „Nochmals vielen Dank und einen schönen Tag noch.“   *****   Ich wischte die Krümel von der Jeans und startete den Wagen. Klickte durch den angeschlossenen MP3-Player und einen Augenblick später saß Andy Bell, und mit ihm die Nostalgie, im Auto. Ich genoss die ersten Takte von ‚A Little Respekt’ in voller Lautstärke, bevor es im etwas gemäßigten Ton Richtung Beschleunigungsspur ging.   Der Anhalter stand in der Nähe der letzten Parkplätze. Schlecht platziert, wie ich fand, denn er war leicht zu übersehen. Auf seinem Schild stand mein Ziel, aber ich hatte in den letzten 24 Stunden genug fremde Begegnungen gehabt. Während ich also vorbeifuhr, musterte ich ihn nur beiläufig und stoppte wenige Meter weiter, um ungläubig in den Rückspiegel zu starren. Ich konnte sehen, wie er sich umdrehte, aber stehen blieb. Die flimmernde Luft über dem Asphalt hatte mir keinen Streich gespielt. Schwarze Sonnenbrille, Armbinde und ein zu seinen Füßen liegender Stock – er war blind. Was machte ein Blinder hier auf der Raststätte? Nicht, dass Blinde nicht das Recht besäßen, sich hier aufzuhalten. Fasziniert, aber zugleich alarmiert schaltete ich den Motor aus. Die Kombination aus blind und trampen war mir völlig fremd, und schwer zu akzeptieren. Ich ermahnte mich, diesen bevormundenden Gedanken loszulassen. Der junge Mann, ich schätzte ihn auf das Alter der Kellnerin, schien zu warten. Was machte ich jetzt? Ich hatte nicht angehalten, um ihn mitzunehmen. Schock und Neugier waren für mein Halten verantwortlich. Jetzt aber einfach weiterfahren, war auch nicht richtig. Unentschlossen trommelte ich mit dem Daumen auf das Lenkrad. Ich sah über meine Schulter nach hinten, um eine bessere Sicht zu haben. Er trug eine Jeans, die ihm lose um die schmale Hüfte hing. Sowie ein eng anliegendes T-Shirt einer Musikband, das knapp über den Bauchnabel reichte und somit den Anblick eines straffen Unterbauchs nebst Hüftknochen erlaubte. Ich ließ meinen Blick weiter nach oben wandern. Von seinem Gesicht war dank der Brille und dem kinnlangen, dunkelbraunen Pony nicht viel zu sehen. Wie ein Blinder sah er nicht aus – selbst mit den obligatorischen Accessoires. Ich ermahnte mich ein weiteres Mal. Es stand nirgendwo geschrieben, wie ein Blinder auszusehen hatte, noch wie er seine Freizeit gestaltete. Ich war über meine stereotype Vorstellung entsetzt – lehnte ich solche doch kategorisch aus vielerlei berechtigten Gründen ab. Manchmal schien eine Konfrontation nötig, um sich dessen überhaupt erst wieder bewusst zu werden. Ich schnallte mich also ab und verließ das Auto.             „Hallo!“, rief ich lauter als nötig.             „Hey!“ Er hatte eine angenehme Stimme und ein entwaffnendes Lächeln. Mir war mit einem Mal nicht wohl bei dem Gedanken, dass er womöglich in ein anderes Auto oder gar Lastwagen steigen würde. Diese unerwartete Reaktion ließ mich stocken – dafür musste definitiv meine Unwissenheit über die Lebenswelt blinder Menschen verantwortlich sein. Schief grinsend blieb ich vor ihm stehen und war mit einem Anflug schlechten Gewissens froh darüber, dass er meinen inneren Monolog, der sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf meinem Gesicht zeigte, nicht sehen konnte.             „Wir haben das gleiche Ziel, da dachte ich, ich nehme Sie mit?“ Wenigstens klang meine Stimme unbefangener als ich mich fühlte. „Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich Ihnen versichern kann, dass Sie vor mir nichts zu befürchten haben, wenn Sie in mein Auto steigen.“ Er lachte, und es war ansteckend. „Mache ich mich lächerlich?“             „Nein.“             „Nein?“ Fragend starrte ich die Sonnenbrille an, als ob ich die dahinter liegenden Augen sehen könnte.             „Eigentlich nicht. Sie sind nur der erste, der diesen Gedanken ausspricht, der versucht emphatisch zu handeln. Es spielt aber letztendlich keine Rolle, ob ich Sie sehen kann oder nicht, wenn ich in Ihr Auto steige. Es ist schließlich unmöglich, in den Kopf des Gegenübers zu sehen, oder?“ Er ging in die Knie und griff beinah zielsicher nach dem Blindenstock und seinem Rucksack. Er musste sich gemerkt haben, wo er sie abgelegt hatte. „Es gibt nur die Wahl zwischen Vertrauen oder Sicherheit.“ Als er wieder stand, lächelte er mich offen an. „Wenn Sie also einen freien Platz anzubieten haben?“ Idiotischerweise hätte ich beinah ausgeplaudert, dass Mr. Bell auf dem Beifahrersitz eventuell Einwände hervorbringen könnte, stattdessen sagte ich aber: „Das war meine Intention.“ Sein Lächeln wurde breiter.             „Mein Name ist Eric. Freut mich.“ Ich ergriff seine ausgestreckte Hand. Sie war überraschend kühl.             „Chris. Freut mich ebenfalls.“ Sein Händedruck war nicht weniger fest als meiner. „Soll ich dich vielleicht zum Auto führen?“             „Geht schon.“             „Ungefähr zehn Meter, linke Seite, sofern es hilft.“             „Danke.“ Ich ging voraus, um die Beifahrerseite freizuräumen. Ich warf alles auf die Rückbank. Achtete aber darauf, dass die schwere Tasche keines der Bücher beschädigen konnte.             „Chris?“             „Hier. Einen Moment noch. Räume gerade die letzten Sachen zur Seite, damit du unbeschadet ein- und aussteigen kannst. Ein Glück, dass du das Chaos nicht se-“ Ich brach mitten im Satz ab. „Uh, das war wohl mehr als ungeschickt. Tut mir leid“, rief ich über meine Schulter.             „Kein Grund sich zu entschuldigen. Wenn ich etwas gar nicht mag, dann die unnötige Habachtstellung der Menschen um mich herum.“ Eric stand dicht hinter mir. Ich konnte sein Aftershave riechen – mir unbekannt, aber dadurch nicht weniger angenehm.             „Nachvollziehbar“, entgegnete ich betroffen, während ich mich aufrichtete und umdrehte, „aber der Mensch tut sich schwer in solchen Dingen.“ Um ihn nicht zu berühren, zwängte ich mich mit Bedacht an ihm und der Autotür vorbei. „Der Versuch, Mitgefühl zu zeigen, misslingt häufig. Und nicht, weil sie es so wollen, sondern, weil sie sich zu sehr anstrengen. Es fehlt das nötige Vokabular. Das Einfühlungsvermögen wurde nie richtig erlernt. Um sich in solchen Situationen nicht völlig hilflos zu fühlen, wird das Handeln dann häufig von Desinteresse oder Übereifer bestimmt.“             „Hm… Ich denke, es ist häufiger etwas, was zwischen diesen beiden Dingen liegt.“ Ich betrachtete ihn nachdenklich. Seine Aussage machte Sinn, hielt ich mich mit meinem Verhalten doch selbst irgendwo im Raum zwischen den beiden Möglichkeiten auf – es gab in der Tat weit mehr Menschen, die nicht im Entweder-oder-Schema anzutreffen waren. Ich stand hinter ihm und beobachtete, wie er geübt den Stock zusammenfaltete und nach der Karosserie tastete. „Kann ich einsteigen?“ Gedankenverloren wie ich war, entging mir beinah seine Frage.             „Oh, ja klar.“ Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Anhalter mitnahm. Aber er war definitiv der erste, der nicht an Smalltalk interessiert war. Ob es daran lag, weil er von einem seiner Sinnesorgane abgeschnitten war, konnte ich nur mutmaßen. Die Vorstellung, plötzlich nicht mehr sehen zu können, diese eine Form der Wahrnehmung der Außenwelt zu verlieren, war beängstigend. Wohl schwerer für jemanden zu akzeptieren, der die Welt schon einmal gesehen hatte, als für jemanden, der von Geburt an einer Sehstörung litt. Ich fragte mich, welche medizinische Ursache für Erics Blindheit verantwortlich war.   Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich sah kurz zu meinem unerwarteten, aber höchst interessanten Mitfahrer rüber. Als ich den Wagen startete, war es nicht nur ich, der zusammenzuckte. Ich hatte Andy völlig vergessen.             „Hoppla.“ Schmunzelnd stellte ich die Musik leiser.             „Netter Song.“             „Finde ich auch“, stimmte ich grinsend zu. „Kann es losgehen?“             „Ja. Und danke noch mal fürs Mitnehmen.“ Wenn die Stunde Autofahrt genauso verlief, wie die ersten Minuten unserer Begegnung, dann würde es eine unterhaltsame Zeit werden – und ich musste zugeben, dass ich ihr mit Begeisterung entgegensah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)