402 Jahre später von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 7: "Auf welcher Seite wirst du kämpfen?" ------------------------------------------------ Shinda stand seufzend auf und spazierte davon. Lies Maya allein am Lagerfeuer zurück. Er hatte so die Nase voll. Von ihm, von Fünf, von dieser ganzen Reise. Er hätte alles hinschmeißen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden mögen. Zumal ihn diese ganze Schlacht ohnehin nichts anging. Lustlos stapfte er in den dunkler werdenden Abend hinein. Sollte Maya doch Unfug treiben! Sollte er mit dem Höllenfürsten rumhängen, dessen Gesellschaft ihm nicht bekam. Sollte er Zauber ausprobieren, denen er nicht gewachsen war. Shinda war gerade alles egal. Er brauchte jetzt eine Auszeit, einen freien Kopf, also konnte er ja auch mal spazieren gehen und herausfinden, wem die gewaltige Aura da oben auf dem Rand der Klamm gehörte. Als der Dämon auf der Suche nach einem Aufstieg um einen Felsvorsprung bog, sah er sich unvermittelt einem schneeweißen Typen gegenüber und hielt kurz verdutzt in allen Bewegungen inne. Die langen, leuchtend weißen Haare waren auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Die azurblauen Augen waren kalt wie Eis. Der weiße Kimono schien ihm etliche Nummern zu groß. Shinda hatte nicht damit gerechnet, ihn zu treffen. Nicht hier, und schon gar nicht jetzt. „Ying-Dai, was tust du hier?“, meinte er zwischen verwundert und grüßend zu seinem älteren Bruder, der rein optisch das genaue Gegenteil von ihm war. „Bist du nun bereit, diesem Menschenjungen den Rücken zu kehren und endlich mit mir zu kommen?“ Shinda seufzte. Es war klar, daß sich der Eisdämon nicht mit Grußfloskeln aufhalten würde. Aber die Sache mit Rubiko und dem Hexenklan war jetzt über zwei Jahre her. Seither hatte er nie wieder etwas von Ying-Dai gehört oder gesehen. Shinda hatte gedacht, der Kerl hätte es wieder aufgegeben. Allerdings musste er zugeben, daß das Timing in der Tat perfekt war. Shinda war noch nie so nah dran gewesen, Maya zum Teufel zu jagen. Aber – nein – noch glaubte er an aufrichtige Freundschaft! Er war überzeugt, daß Maya wieder zur Besinnung kam. „Bist du nur deshalb gekommen?“, hakte Shinda beleidigt nach. „Zwei Jahre lang suche ich nach dir, ohne daß du dich dazu herabgelassen hättest, in irgendeiner Weise darauf zu reagieren. Und jetzt zeigst du dich endlich wieder, und deine einzige Sorge ist es nach wie vor, mich aus der Menschenwelt herauszulocken? Ich bin enttäuscht, wirklich.“ Ying-Dais Gesicht zeigte keine Emotion. „Stell deine Fragen!“, bot er lediglich an, nüchtern, immer noch rücklings gegen die Felswand gelehnt. „Fragen?“ „Wenn du mich gesucht hast, dann hast du doch Fragen!“ „Nein. Jetzt habe ich keine mehr.“, maulte Shinda. Oh ja, er hatte Fragen gehabt. Viele sogar. So vieles, was er Ying-Dai erzählen wollte. So vieles, worüber Ying-Dai ihn hätte aufklären können. Was er mit Ying-Dai hatte teilen wollen. Aber es war vergebens, das hatte Shinda in eben diesem Moment eingesehen. Er hatte sich eingebildet, in dem Eisdämon einen Freund zu finden, einen Seelenverwandten, einen von seiner eigenen Art. Oder zumindest einen Bruder, der er ja tatsächlich war. Denn soweit musste er Ying-Dai Recht geben, er gehörte eigentlich nicht in Mayas menschliche Welt. Aber Ying-Dai war nicht so, wie Shinda es sich erwünscht hatte. Er war kalt und unnahbar. Er war kein Freund. Für niemanden. Er war nichtmal ein Bruder, im emotionalen Sinne. „Ich werde in diese Schlacht eingreifen, Shinjudai.“, prophezeite der Weißhaarige in nüchternem Tonfall, ihn ganz absichtlich bei seinem wahren Namen nennend, während Shinda schon hoch erhobenen Kopfes weiterspazierte. „Ja, tu das.“, gab der nur über die Schulter zurück und begann, an einer Stelle der Felswand hinaufzuklettern, die ihm geeignet genug dazu erschien. Sicher, er hätte sich einfach hinauf teleportieren können. Aber einerseits wusste er immer noch nicht sicher, was ihn da oben erwartete, und andererseits stand ihm der Sinn sowieso gerade nach etwas sportlicher Betätigung, um sich abzuregen. „Die Konsequenzen meines Eingreifens könnten dir missfallen.“, fuhr Ying-Dai fort. Gerade seine Emotionslosigkeit lies ihn um so drohender klingen. „Es werden nicht nur Dämonen sterben.“ Shinda sah zurück. „Wenn du Maya etwas antust, sind wir die längste Zeit Brüder gewesen, Eis-Patron.“ „Dann geh mit mir hier weg, bevor es dazu kommt.“ „Nein. Ich werde Maya in diesem Krieg nicht alleine lassen, da kannst auf und nieder springen. Du bekommst mich hier nicht weg.“ Ying-Dai maß seinen jüngeren Bruder weiterhin mit dieser ekelhaft kühlen Miene, die keine Gemütsregung verriet. Seine Selbstbeherrschung war so nachhaltig, daß es schien, als wäre der Eisdämon vollkommen empfindungslos. Shinda machte das durchaus Sorgen. Er hatte den Eindruck, daß der Weißhaarige ohne zu zögern töten würde, ausnahmslos jeden, und sei es nur für eine Banalität. Ying-Dai war ein Typ, mit dem man sich besser nicht anlegte. Die Tatsache, daß er nun auf Shindas Trotzreaktion nichts mehr erwiderte, war angsteinflößend. Würde er jetzt Zwangsmittel anwenden, nachdem er verbal nicht weiterkam? Shinda unterdrückte das mulmige Gefühl und kletterte weiter. Sein Bruder ließ ihn auch ohne ein weiteres Wort ziehen. Shinda zog sich ächzend hoch und warf einen vorsichtigen Blick über den Klippenrand. Der Besitzer dieser gewaltigen, flächendeckenden Aura hatte endlich beschlossen, sich ihm zu zeigen, nachdem er nun nicht mehr leugnen konnte, entdeckt worden zu sein. Wie der Schwarzhaarige vermutet hatte, lagerte vor ihm eine Hundertschaft. Einhundert Dämonen in identischen Kampftrachten. Über ihnen flog die Rabenfahne im Wind. Das war also das Heer der Ewigen Krähe. Niemand gefährliches. Shinda sah sich suchend um, während er ganz auf das Hochplateau hinaufkraxelte. Die Höllenfürstin stand ein gutes Stück Abseits an der Klippe und schaute hinunter auf Fünf, auf Maya und Terry, auf Koyas Gefolgschaft. Wie immer trug sie ihr weitausladendes, royalblaues Ballkleid und die goldene venezianische Maske. Keiner hatte je ihr Gesicht gesehen, sie trug diese Maske immer und überall. Weder Himmel noch Hölle wussten, wie sie wirklich aussah. Die aufwändige Hut-Kragen-Einheit verdeckte sogar ihre Haare, den Hals und die Gesichtshaut rings um die Maskenränder. „Felka.“, meinte er grüßend und gesellte sich zu ihr. Sie war ein gutes Stück kleiner als er, geradezu zierlich. „Shinjudai.“ Shinda war einen Moment lang erstaunt, daß sie seinen Namen kannte, obwohl er ihr noch nie persönlich gegenüber gestanden hatte. Aber nagut, sie war eine Höllenfürstin und sicher würde sie sich über alles und jeden gut informieren, bevor sie in so einen Kampf zog. Die Tatsache, daß Shinda ein Irdischer war, machte vieles einfacher. Als solcher war er vorerst niemandes Feind. Ihm wurde nicht misstraut und von ihm wurden keine übertriebenen Gesten der Ehrerbietung erwartet, da er komplett außerhalb der höllischen Machtgefüge stand. „Was tust du hier oben?“ Der Schwarzhaarige stellte sich neben sie an den Rand der Klippe, stopfte die Hände in die Taschen und schaute ebenfalls hinunter. Von hier aus konnte man fast die gesamte Klamm überblicken. „Nachdenken.“, gab sie zurück. „Von hier oben sieht man alle Seiten des Problems und ist nicht genötigt, sich zu einer der Parteien zu bekennen. Man steht über den Dingen.“ Shinda nickte. „Was hat es mit diesem ganzen Krieg wirklich auf sich, Felka? Ich kenne The Big Bat nicht gut genug, um mir so richtig über die ganze Situation im Klaren zu werden. Es heißt man will ihn stürzen, aber ich habe nur eine wage Vorstellung davon, wieso. Er ist jetzt schon so lange Höllenfürst. Was hat sich plötzlich verändert, daß man derart an den Grundfesten rüttelt? Was steckt tatsächlich dahinter?“ Die Höllenfürstin seufzte. Und selbst durch ihre ausdruckslose Maske hindurch merkte man ihr diesen gewissen Schwermut an. „Das ist schwer sachlich zu erklären. Dafür muss man seine Vergangenheit kennen. In der Unterwelt tobt gerade ein wilder Prozess, der seinen General durchaus den Kopf kosten könnte. The Big Bat versucht mit allen Mitteln, das zu verhindern, weil er ihm persönlich sehr nahe steht, darum greift er immer wieder entscheidend in die komplizierten Machtgefüge ein. Viele tolerieren das nicht und verlangen seine bedingungslose Neutralität.“ „Also ist es im Prinzip eine persönliche Sache.“, fasst Shinda zusammen. „The Big Bat ist gerade dabei, alles zu verlieren, was ihm noch lieb und teuer ist. Er neigt derzeit zu verzweifelten Maßnahmen. Er hat schon einmal alles verloren. Ich verstehe, daß er jetzt so um seinen General kämpft. Dieser letzte Freund ist alles, was er noch hat.“ Ein bedrückendes Schweigen setzte ein, das der Fantasie geradezu Flügel verlieh und einen dazu bewog, sich die schlimmsten Horrorszenarien auszumalen. „Was ist passiert?“, hakte Shinda nach einigen Sekunden nach, da Felka nicht von selbst weitersprach. „Eine sehr unschöne Geschichte. Dummerweise noch eine völlig unnötige obendrein, da sie komplett auf einem Missverständnis beruhte. Es lief darauf hinaus, daß man seine gesamte Familie, all seine Freunde und etliche weitere Unbeteiligte vor seinen Augen langsam zu Tode quälte und all seinen Besitz niederbrannte. Er selbst wurde monatelang unter barbarischen Bedingungen gefangen gehalten und immer wieder aufs grässlichste gefoltert, seelisch und physisch. Ich will mir sein Leiden, seine bittere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gar nicht vorstellen. Aber wie das alles zusammenhing, lässt du dir besser von ihm selbst erzählen.“ Die Dämonin machte eine Gedankenpause, da sie einen Moment lang nicht recht wusste, wo sie weitermachen sollte. Aber Shindas bohrender Blick forderte unnachgiebig nach mehr. „Sein jetziger General war derjenige, der ihn da letztlich rausgeholt hat.“, fuhr sie also fort. „Das war alles lange bevor er Höllenfürst wurde. Aber seither hat sich The Big Bat nie wieder erlaubt, mit irgendjemandem sowas wie Kameradschaft zu schließen, abgesehen von seinem General, in dessen Schuld er sich noch heute glaubt.“ „Shit.“ „Kann man so sagen, ja. Wie gesagt, ich verstehe warum er so um seinen General kämpft, auch wenn das nicht heißt, daß ich seine Beweggründe oder seine Methoden uneingeschränkt gutheiße. Viele andere verstehen es nicht. Daher jetzt dieser ganze Krieg.“ „Aber ihm ist doch bewusst, daß er in dieser Schlacht sterben könnte, oder?“ „Ja. Aber das ist ihm egal. Dieser Kampf ist ihm wert genug, daß er ihm zum Schaden ausgetragen wird. The Big Bat hat eine radikale Entscheidung getroffen und wird sie auch rücksichtslos verfolgen. Zur Not auf seine eigenen Kosten.“ „Und auf Kosten dieses Mädchens da unten.“, fügte Shinda betont an. Felka wog nachdenklich den Kopf hin und her, als wolle sie etwas dagegen sagen, lies es aber doch bleiben. „Auf welcher Seite wirst du kämpfen, Shinjudai?“, wollte sie dann wissen. „Kämpfst du für The Big Bat? Um dieser Menschen Willen?“ „Ich weis es nicht.“, gestand er wehmütig und lies den Blick über die ganze Klamm schweifen. „Eigentlich will ich mich da gänzlich raushalten.“ „Diese Option hast du nicht.“ Er lächelte. „Das wird sich erst zeigen.“ „Nein, wird es nicht. Dieser Junge, Maya, hat dir diese Entscheidung schon längst abgenommen.“ Shinda seufzte. Ja, da mochte sie wohl Recht haben. Maya würde kämpfen, egal was kam. Und wenn er Maya nicht verlieren wollte, würde er ihm wohl oder übel helfend zur Seite stehen müssen. Das blöde an der Sache war, daß Maya sogar ihn inzwischen als Feind ansah. Der Einfluss der Unterwelt-Dämonen machte ihn regelrecht blind, es existierte kaum noch mehr als Mayas schlechte Seite. Wenn Shinda ganz ehrlich war, hatte er eigentlich die Nase voll genug. Er hätte einfach gehen und Maya allein zurücklassen sollen. „Auf welcher Seite wirst du denn kämpfen?“, wollte er von Felka wissen, da er mit seinen Überlegungen nicht weiterkam. „Auf keiner von beiden. Ich vertrete eigene Interessen.“ Shinda nickte nur verstehend und seufzte still. „Auf welcher Seite wird der Eisdämon kämpfen?“, fragte die Ewige Krähe zurück und deutete hinunter. „Mit weiteren Unbeteiligten hatte ich nicht gerechnet.“ Shinda folgte ihrem Fingerzeig. Ying-Dai war immer noch da. Verdammt, er hatte gehofft, der Kerl würde wieder verschwinden. Wollte der tatsächlich bis zur Eröffnung der Kämpfe hier bleiben und aktiv mitmischen? „Der verfolgt auch eigene Interessen.“, gab Shinda nur zurück. Unbehaglich. Das hatte ihm ja gerade noch gefehlt, daß er sich neben Terry und Maya nun auch noch um diesen Typen Sorgen machen musste. „Er wird sich zu einer der Seiten bekennen müssen, sonst ist das gesamte Kampfergebnis nichtig. Es ist gegen das Gesetz, daß Ungebundene in den Schlachten mitkämpfen. Jede Partei muss mit der gleichen Anzahl von Kriegern antreten und sich an die abgesprochenen Regeln halten. Für jeden Unbeteiligten, den man auf seiner Seite hat, muss man einen seiner eigenen Männer aus dem Kampf heraushalten.“ „Sonst wird das Heer disqualifiziert, oder was?“, scherzte Shinda. Das klang ja wie auf einem Turnier. Er hatte gewusst, daß die Kämpfe der Unterwelt-Dämonen gewissen Spielregeln unterlagen. Aber, daß die tatsächlich derart ernst genommen wurden, hatte er nicht erwartet. „Nein, sonst werden der Höllenfürst und jeder seiner noch lebenden Krieger auf der Stelle hingerichtet.“ „Das ist ... ähm ... hart.“ „Es garantiert die Stabilität unserer Machtgefüge und damit unserer gesamten Zivilisation.“, gab Felka schulterzuckend zurück. Für sie war es völlig okay, daß hier der objektiv Beste gewann, und nicht der, der die größten Ressourcen hatte. Oder am Ende wohlmöglich sogar noch der, der im Recht war. „Was sagen denn eure Regeln über die Involvierung von Menschen aus?“ „Um von einem Dämon besessen zu sein und ihm als Rüstung zu dienen, sind sie erlaubt.“ „Und wenn nicht?“ Felka wandte ihm ihre emotionslose, venezianische Maske zu und für einen Moment konnte Shinda tatsächlich die golden leuchtenden Augen dahinter sehen. „Wenn nicht? Ich verstehe diese Frage nicht, Shinjudai. Wozu sind diese Menschen sonst hier?“ Shinda glotzte sie dumm an. Nach dieser ganzen Unterhaltung – nach ihrer Feststellung, daß Maya die Entscheidung über Kampf oder Neutralität bereits für sich und für ihn gleichermaßen getroffen hatte – hatte Shinda ehrlich geglaubt, sie wüsste was hier Phase war. „Maya ist ein Hexer! Er wird selbst kämpfen. Ohne besessen zu sein. Und ich habe den Verdacht, daß The Big Bat ihm inzwischen ein paar richtig üble Ässer in den Ärmel gespielt hat.“ Die Ewige Krähe sah wieder zurück zu ihrem eigenen Heer, das friedlich und geduldig hinter ihr lagerte. „Das ist schlecht. Menschen zählen nicht in die einhundert-Mann-Grenze hinein. Und für sie gelten auch sonst keinerlei Regeln. Sie könnten sogar ungestraft die verbotenen Zauber ausüben.“ „Du meinst sowas wie eine Sprengstoff-Fontaine?“, vermutete der Schwarzhaarige ganz spontan ins Blaue hinein. Es war ja schon paradox, daß es im Krieg tatsächlich Verbote gab. Aber, daß die auch noch derart leicht zu umgehen waren, verblüffte ihn nun maßlos. War denn noch nie irgendeiner der Höllenfürsten auf die Idee gekommen, menschliche Hexer einzusetzen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)