Geben und Nehmen von Salatherz ================================================================================ Prolog: Ein Leben ----------------- Es war eine stürmische, verregnete Nacht, als Muskats Hand sich in die matschige Erde am Rande seines Grabes versenkte. Ein Stöhnen entglitt seinem Mund, während er sich qualvoll weiter nach oben arbeitete. Noch ein paar Zentimeter und er hatte es geschafft. Noch ein paar Zentimeter und sein Kopf würde hervorstoßen in die Freiheit. Er würde frische, vom Regen gesegnete Luft einatmen und beten und Gott dafür danken, dass er noch am Leben war. Und er würde denjenigen bestrafen, der allen anderen Glauben gemacht hatte, er sei tot. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als sein Arm sich weiter an die Oberfläche kämpfte. Der Schlamm um ihn herum machte das Unterfangen noch schwieriger. Immer wieder glitt er ab und drohte, einfach stecken zu bleiben oder wieder zu versinken. Aber das konnte er nicht zulassen und wenn es noch so schwierig war, weiterzumachen. Ein Feuer brannte in seinen Lungen. Lange hielt er es nicht mehr aus. Sauerstoff war unter der Erde Mangelware. Da. Endlich bekam er etwas zu fassen. Etwas Hartes, Festes. Einen großen Stein. Grabstein. Wahrscheinlich. Bei dem Gedanken wurde Muskat schlecht und er hätte um ein Haar wieder losgelassen. Doch der Wille, hier heraus zu kommen, war stärker. Mit aller Kraft krallte er sich in den kalten Marmor. Sein anderer Arm vertrieb die Erde, die sich noch über seinem Kopf befand, und dann gelang es plötzlich. Mit einem Mal war er frei. Die Regentropfen, die sein Gesicht berührten, sprachen dafür sowie der schneidende Wind, der seine Schläfen umfuhr. Muskat riss den Mund auf und atmete gierig ein. Der Schlamm, der ihm dabei in den Mund lief, störte wenig. Er hatte sowieso schon Unmengen von diesem Dreckzeug verschluckt. Seine brennende Lunge schrie nach mehr und Muskat verbrachte die nächsten Minuten einfach nur damit, zu atmen und das Geräusch des Regens und des Windes in sich aufzunehmen. Wie schön war diese Welt doch, wenn man nicht eingeengt in einem Sarg unter Tonnenweise Erde in der Kälte begraben lag. In dem Gedanken, elendig sterben zu müssen und dann als Leiche darauf zu warten, dass einen die Würmer fraßen. „Ich liebe dich“, krächzte Muskat und wusste nicht genau, wen er damit meinte. Gott? Den Regen? Das Leben? Vielleicht war es auch einfach nur ein Ausruf der Erleichterung gewesen. Oder ein Test, ob seine Stimme noch funktionierte. Als er daraufhin wieder drohte, unterzugehen, nahm Muskat die letzten Reste seiner Kraft zusammen und grub sich weiter aus. Dass Arme und Kopf schon frei waren, motivierte ihn. Den Rest seines Körpers nachzuziehen musste doch ein Kinderspiel sein! Tatsächlich war es das aber nicht. Die Erde hing an seinem Körper, als wollte sie ihn nicht gehen lassen. Sie hielt ihn fest, drängte ihn zurück und machte ein weiteres Vorwärtskommen so gut wie unmöglich. Als Muskat sich bis unter die Brust freigeschaufelt hatte, konnte er kaum noch genug Kraft darauf verwenden, zu atmen und machte daher eine Pause. Mit den Händen klammerte er sich an den Stein, wie an einen guten Freund. Eine ziemlich ironische Tatsache, wenn man bedachte, dass dieser Stein die Nachricht seines Todes verkündete. Zitternd strich der junge Mann über die glatte Oberfläche. Wasser lief über seine Finger und streichelte seine schlammverkrustete Haut. „Oh, Gott“, dachte Muskat mit einem Schluchzen. „Oh, Gott, ich lebe.“ Und er brach in Tränen aus. Sein Weinen schüttelte ihn, das Schluchzen ließ seinen gesamten Körper erzittern. Er war oben. Er hatte sich wirklich ausgegraben. Er war lebendig. Er spürte Kälte und Nässe und roch die Erde und die Blumen. Es war ein Wunder. Ein verdammtes Wunder. Muskat schluckte seine Tränen und schmeckte, dass sie salzig waren, fühlte sie schwer auf seiner Zunge liegen und umherwabern. Er war so glücklich, das zu spüren. Die Liebe zu dieser Welt entflammte erneut in ihm und er lag eine Weile da, zitternd, den Grabstein im Arm und wog sich in dem, was er wiedererlangt hatte, nach diesen qualvollen Stunden, in denen er als tot gegolten hatte. Es gab keinen Ausdruck für das, was er demjenigen, der ihn in diese Lage gebracht hatte, an den Kopf werfen wollte. Keinen Begriff, der schlimm genug gewesen wäre, um seinen Hass zu umschreiben. Diese verfluchte Person, die ihm alles hatte entreißen wollen. Sogar sein Leben. Zaghaft ließ Muskat mit der rechten Hand seinen Grabstein los und fuhr sich damit über die Augenlider. Sie fühlten sich an, als seien sie mit Zement zugeklebt. Nur einen winzigen Spalt waren sie offen, durch den die Tränen heraus quollen. Er wollte sie ganz öffnen. Er wollte seine Augen öffnen und die Welt sehen, die er so vermisst hatte. Er hatte so darum gekämpft, wieder hier zu landen. Vorsichtig versuchte er es – und kniff die Augen gleich wieder zu, als ihm etwas Schlamm hinein floss. Zähneknirschend wischte er jegliche Form von Schmutz mit den Fingern fort. Er hoffte, dass er nicht erblindet war in der Erde. Seine Lider fuhren wieder hoch. Ganz langsam. Vorsichtig. Er würde sich erst an das Licht gewöhnen müssen, auch wenn es finstere Nacht sein mochte. Nirgendwo war es dunkler als in einem Grab. Das, was er sah, war sein Grabstein. Eine verschwommene Silhouette, die in seinem Sichtfeld hin und her schwankte. Die eingravierte Schrift darauf konnte er nicht lesen. Er brauchte es auch nicht. Er wusste so oder so, was darauf stand. Sein Name. Sein Geburts- und Todesdatum. Irgendein Frieden wünschender Spruch, der nur ein weiteres ironisches Symbol sein würde für das, was ihm „im Tode“ widerfahren war. Nasse Erde und schlechte Luft. Ruhe in Frieden. Haha. Muskats Blick fiel auf seine Hände. Kalkweiß waren sie. Seine Finger waren wund vom Graben. Der schwarze Anzug, den er trug, zerlief vor seinen Augen mit dem dunklen Grund, auf dem seine Arme lagen. Den Anzug würde er sowieso loswerden wollen. Das eklige Ding roch nach Tod. Er würde es verbrennen und lachend um das Feuer herumtanzen. Und dann würde er zu Cindy gehen und ihr sagen, dass er keine Anzüge mehr tragen wollte. Keine feine Kleidung mehr. Das machte ihn krank. Er würde den Rest seines Lebens in Jeans herumlaufen. Ach, Cindy… Melancholisch legte er den Kopf schief und blickte über den Grabstein hinweg in ein paar Baumwipfel, die sich ächzend dem stürmenden Wind beugten. Was musste sie gedacht haben, als sie erfahren hatte, dass er tot war? Sicher hatte sie geweint. Die Hände vors Gesicht geschlagen, wie sie es so oft im Ausdruck von Trauer oder Überraschung tat. Er wünschte sich, er hätte ihr sagen können, dass er nicht tot war. Dass das alles nur ein Trick war und er gefangen in seinem starren Körper nicht sagen konnte, dass er noch lebte. Doch das letzte, was er bei vollem Bewusstsein mitbekommen hatte, war, wie ER sich über ihn gebeugt und ihm diese Spritze in den Mund geschoben hatte. Und dann war alles schwarz geworden. Eine Weile hatte er noch die Lakritzbonbons gerochen, die dieser Kerl gelutscht hatte. Und dann war nichts mehr gewesen. Bis er in seinem offenen Sarg von einem Schwall Erde erschlagen worden war. Wie es dazu hatte kommen können interessierte Muskat in diesem Moment reichlich wenig. Er hatte jetzt lange genug Pause gemacht. Er wollte endlich raus aus seinem Grab. Raus aus der Erde. Deshalb ließ er den Blick von den Bäumen und schuftete weiter. Gefühlte Stunden vergingen. Der Regen hörte mit einem sanften Plätschern auf, nur der Wind blies weiter über den Friedhof, als wollte er Muskat bei seiner Aktion anfeuern. Irgendwann bemerkte dieser, dass er sein rechtes Bein bewegen konnte und einige Sekunden später zog er es bis zum Knie heraus, was zwar eine Heidenarbeit war, ihn aber nicht viel Zeit kostete. Er war daraufhin nur ein weiteres Mal erschöpft. Fluchend fragte er sich, warum es hier keine Leute gab, die nachts über den Friedhof liefen. Wieso fand ihn bloß keiner? Wo war der Friedhofwächter, wenn man ihn brauchte? Wo waren die Satanisten und die alten Frauen, die nachts nicht schlafen konnten? Er wusste, dass diese Gedanken unfair waren, aber irgendwie war es angenehm, anderen Menschen die Schuld an seiner Kraftlosigkeit zu geben. Er würde weiter in Gedanken vor sich hinschimpfen und graben. Bis er endlich frei war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)