Das rote Tuch von Crevan ================================================================================ Kapitel 6: Schlaf ----------------- Die Türe zu einem der großen Zimmer der Novizen Masyafs öffnete und schloss sich Momente später mit einem Knarren wieder. Ein warmer Fackelschein fiel dabei von draußen herein und zauberte für wenige Sekunden lange einen Schatten auf den steinernen Boden. Ein leises Durchatmen – irgendwo zwischen Erleichterung und Erschöpfung - war zu vernehmen, danach Schritte. Auf Zehenspitzen schlich der Junge in der knielangen Robe durch den Gang zwischen den zwölf Betten; sein Eigenes befand sich nach Kadar's Schlafgelegenheit am hintersten Ende des länglichen Raums. Er stieß auf seinem Weg durch die zähe Dunkelheit an irgendetwas und gab einen leisen, erschrockenen Laut von sich, man konnte hören wie er seine Nase leicht hochzog und erneut tief ausatmete. Sein Atem zitterte. Altaïr. Der kleine 'Adler' der Festung. Niemand sonst trampelte zu solch einer späten Stunde derart laut durch die Gegend. Malik öffnete seine schläfrigen Augen und blinzelte der Wand vor sich entgegen. Er lag dem Gang des Raums abgewandt da, mit angezogenen Beinen und seiner dünnen Leinendecke zwischen den Knien, und lauschte mit gespitzten Ohren in die klamme Düsternis hinein. Er rutschte der Steinmauer vor sich ein Stück weit entgegen und machte somit etwas mehr Platz in seinem schmalen Bett; denn der Novize ahnte, dass er heute Nacht einmal wieder nicht alleine auf seiner harten Bettmatte schlafen würde. Tatsächlich hielt Altaïr vor dem Ruheplatz seines vermeintlich schlafenden Freundes inne; er zögerte, setzte sich dann aber hin. Malik wendete seinen zerzausten Kopf und blickte über seine Schulter hinter sich. Der Adler saß mit hängendem Haupt da und soweit man es in der Dunkelheit der Nacht – oder wohl eher: des viel zu frühen Morgens? - erkennen konnte, hatte sich Altaïr seine Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Das tat er immer. Denn die anderen lachten ihn oft aus und hänselten ihn seines etwas helleren Hauttons oder seiner mittelbraunen Haare wegen. Sein Vater war zwar ein Syrer von hier gewesen, doch seine Mutter stammte aus dem Westen... glaubte Malik jedenfalls. Sein bester Freund sprach nicht oft über seine toten Eltern, doch er beherrschte die englische Sprache so gut wie die Arabische. Er hatte sogar einen leichten Akzent. Seine Mutter musste Engländerin gewesen sein... oder sein Vater hatte ihn zweisprachig erzogen. Malik fand das großartig. Altaïr musste kein Englisch mehr lernen und konnte ihm Nachhilfe geben, wenn er im schwierigen Sprachunterricht einmal nicht aufgepasst hatte. Sie alle lernten Latein und noch eine weitere Fremdsprache, die sie sich aussuchen durften. Al-Mualim sagte immer, dass man das später gut gebrauchen könne. Umso mehr Sprachen man konnte, desto besser. Altaïr's Schultern bebten und wieder schniefte er, mit dem weiten Ärmel fuhr er sich über die Augen. Oh. Oh nein, er weinte ja schon wieder... Besorgt drehte sich Malik nun zur Gänze zu dem anderen Novizen um und stupste ihm vorsichtig in den Rücken. Sein Freund zuckte zusammen und zog seinen bedeckten Kopf ein Stückchen weit ein. Wieder zögerte er, dann trat er sich jedoch die ledernen Stiefel von den Füßen und zog die Beine an. Sein Gesicht vergrub er irgendwo zwischen seinen Knien. Malik seufzte und richtete sich auf. Es war jedes Mal das Selbe: Jede dritte, vierte Nacht kam Altaïr erst sehr, sehr lange nach der Bettruhe in das Zimmer und weinte. Manchmal schlüpfte er währenddessen in sein eigenes Bett, meistens kam er aber zu Malik. Rauf hatte einmal gesagt, dass einer der Älteren mit dem Adlerjungen geschimpft hatte, weil er... nunja, weil er nachts zum wiederholten Male in sein Bett gemacht hatte. Er war wohl nicht wach geworden, als er sich eigentlich hätte erleichtern müssen und hatte daher sein Bettlaken nass gemacht. Oder so. Das passierte aber nur, wenn Altaïr alleine schlafen musste. Ihm war das im Nachhinein sehr unangenehm und deswegen kam er immer zu Malik und kroch zu ihm unter die – für sie beide viel zu kleine – Bettdecke. Das machte dem Jüngeren nichts aus... er war es ja gewohnt und Altaïr war sein allerbester Freund; allerbeste Freunde achteten aufeinander! Außerdem hatte Kadar früher immer bei ihm geschlafen, denn üble Alpträume hatten ihn jede Nacht heimgesucht. Sein kleiner Bruder hatte regelrecht Panik bekommen, wenn er nicht bei Malik hatte schlafen können, um sich nach Träumen voller Blut und Tod an ihn zu klammern. Mit 8 Jahren war es dann besser geworden und nun, mit 9, schlief Kadar alleine in seinem eigenen Bett in der Nische gegenüber der Matte von Rauf. Das Einzige, das er dabei noch brauchte war der rote Seidenschal von Mutter, den er sowieso nur selten ablegte. Die anderen schlummerten in diesem Moment alle ruhig vor sich hin und darum hielt Malik seine Stimme gesenkt „Hey... hey, Altaïr.“. Der Junge legte seine Hand auf eine Schulter des Zusammengekauerten und tätschelte diese leicht. Der Ältere reagierte jedoch nicht sondern weinte nur stumm in sich hinein, schüttelte seinen Kopf unter der Kapuze ein wenig und fing damit an vor und zurück zu wippen. Malik zog die Augenbrauen zusammen und ließ den Blick traurig sinken. Er mochte es nicht, wenn sein Freund weinte... immer, wenn er es tat, dann war es dem Jüngeren ebenso dazu zumute. Dabei sagte der Meister immer, dass man stark sein musste. Hieß 'stark sein' nicht zu weinen? Der Novize schluckte schwer und setzte sich schlussendlich aufrecht hin, um das Häufchen Elend auf seiner Bettkante von hinten umarmen zu können. Altaïr änderte nichts an seiner in sich gekehrten Haltung mit den angezogenen Knien und dem dazwischen vergrabenen Gesicht; doch seine Finger, die sich in seine Hose gekrallt hatten, ließen wieder etwas lockerer, als Malik seine Arme um ihn schob. Der Schwarzhaarige schmiegte seinen Kopf an die graue Kapuze vor sich und schloss die dunklen Augen. Altaïr hörte damit auf zu wippen und entspannte sich merkbar, er schluchzte leise. In einer tröstenden Geste drückte Malik den weinenden Novizen an sich und blieb so lange stillschweigend bei ihm sitzen, bis sich jener wieder einigermaßen beruhigt hatte. Das machte er immer so, wenn es Altaïr nicht gut ging und es half meistens. Natürlich ließ er ihn nicht so schnell wieder los sondern wiegte den Anderen sogar ein bisschen... so wie es seine Mutter immer mit ihm und Kadar gemacht hatte, als sie noch klein gewesen waren. II „Wir sollten schlafen, der Meister schimpft sonst nur wieder, wenn wir müde zum Training auftauchen...“ flüsterte Malik und ließ seine Arme nach einer halben Ewigkeit allmählich wieder sinken. Er rutschte auf seinem Bett zurück, um seinem Freund etwas Platz zu schaffen, bestimmt wollte der sich jetzt nämlich hinlegen. Altaïr schien nachzudenken, holte Luft, um vermutlich etwas zu sagen, schüttelte seinen gesenkten Kopf dann aber und fasste sich an das Gesicht. Schemenhaft konnte der Schwarzhaarige erkennen wie sich sein Bruder mit zitternden Fingern an die Lippen fasste und daran herum tastete. Das verhaltene, schmerzverzerrte Stöhnen, das der Andere daraufhin von sich gab, verwirrte den unbeholfenen Novizen. Was war denn bloß los? „Warum nicht..?“ „I-ich mache dein Bett nur... dreckig.“ Malik runzelte die Stirn und wollte nach dem Arm Altaïrs greifen, um seinen Freund dazu zu drängen näher zu kommen und ihn anzusehen. Doch eine weitere Stimme aus einer der Ecken des Raumes murmelte ein verärgertes „Seid still, ich will schlafen.“ und brachte Malik dadurch ein wenig aus dem Konzept. „Wir-“ „Seid einfach still, okay?“ Was- Oh Mann. Abbas musste sich aber auch immer wegen allem beschweren! Sie hatten eh geflüstert! Na, dann würden sie eben vor der Türe miteinander reden. Tse. Ohne große Umschweife und mit einem grummeligem Ausdruck im müden Gesicht erwischte Malik Altaïr nun bestimmend an einer Hand und erhob sich. Nur in seine leichte Schlafkleidung gehüllt zog er den gefügigen Älteren durch die Dunkelheit, auf die große Tür des langen Zimmers zu. Draußen, außerhalb der Hörweite des nervigen Abbas, stockte Malik der Atem. Seine dunkelbraunen, glasigen Augen hingen an Altaïr's Lippen; jene waren blutig und an der rechten Seite zog sich eine ziemlich tiefe Wunde über sie. Der erschütterte Novize war sich sicher, dass das Fleisch dort weit aufklaffen würde, würde sein Gegenüber seinen Mund zum Sprechen öffnen oder gar lächeln wollen. Und darum legte er sich den Zeigefinger in seinem stummen 'Psst!' an die eigenen Lippen und schüttelte seinen strubbeligen Kopf. „Ist das beim Training vorhin passiert?“ fragte Malik leise und erst jetzt ließ er Altaïr's kalte Hand wieder los. Er wusste, dass sein bester Freund ein 'Spezialtraining' absolvieren musste. Al-Mualim höchstpersönlich unterrichtete den Jungen, weil er ihn als eine Art... Sohn ansah und aus ihm einen gefährlichen Meisterassassinen machen wollte. Oder so ähnlich eben. Der Großmeister forderte den armen Altaïr immer ziemlich und das lange, doch dass er ihm ernsthaft wehtun würde... das hätte sich Malik niemals gedacht! „Hat dich der Meister gehauen?“ Es war seiner Kapuze wegen unmöglich die Augen des Älteren zu sehen, doch er drehte seinen Kopf beschämt zur Seite und ließ die Schultern sinken. Noch immer waren seine Wangen nass und Blut tropfte von seiner bebenden Unterlippe. Er nickte. Malik sog die Luft erschrocken ein und schüttelte sein Haupt ungläubig, der Anblick seines Freundes schnürte ihm die Kehle zu. „Hat er dich nicht zu einem der Heiler geschickt?“ Altaïr schüttelte den Kopf. „Ist das schon mal passiert..?“ Ein langes Zögern, dann wieder ein Nicken. Malik blinzelte sich eine kleine kleine Träne aus dem Augenwinkel und wollte völlig empört zu einer weiteren Frage ansetzen, doch er wurde von der tiefen, tadelnden Stimme einer der Wachen unterbrochen. „Was macht ihr zu dieser Stunde auf dem Gang?“ der schwer bewaffnete Assassine mit der schwarzen Gesichtsmaske näherte sich, die braunen Augen prüfend auf die beiden Kinder vor sich gerichtet „Ihr solltet in euren Betten sein, Novizen.“. Für wenige Momente lange erstarrte der ertappte Malik wie zur Eissäule, dann schienen sich seine Worte jedoch überschlagen zu wollen „Wir- wir wollten schlafen, ehrlich, aber Altaïr ist verletzt und kam deswegen zu mir und ich glaube er braucht Hilfe. Wir müssen ihm helfen. Bitte hilf ihm. Er blutet.“. Der kühle Blick der Wache jagte dem besorgten Jungen einen kalten Schauer über den Rücken. Er war nun zwar schon seit drei Jahren in Masyaf, doch noch immer hatte er sich nicht so ganz an die vielen großen Männer mit den verhüllten Gesichtern und den Händen auf den Knäufen ihrer Schwerter gewöhnt. Sie waren unheimlich. „Wie ist das passiert?“ die Wache nickte in die Richtung Altaïrs und der ältere Novize fuhr zusammen; ehe der aufgebrachte Malik für ihn antworten konnte, murmelte er ein erstaunlich gefasstes „Bin gestürzt.“ hervor. III Malik hätte seinen verwundeten Freund am liebsten zum Arzt begleitet, doch der strenge Wachmann hatte darauf bestanden, dass er zurück in sein Zimmer ging und schlief. Er hatte gesagt, dass er Altaïr zu Ahmed – dem Heiler in diesem Trakt - bringen und nachher wieder hierher geleiten würde. Das war nun schon... voll lange her gewesen. Glaubte Malik jedenfalls. Absolut nervös saß er in der Dunkelheit - die nur stellenweise von fahlem Mondlicht durchbrochen wurde - auf seinem Bett und obgleich die Müdigkeit an seinen Gliedern nagte, brachte er kein Auge zu. Er machte sich Sorgen um Altaïr, hatte nicht gewusst, dass Al-Mualim so gemein zu ihm war. Reichte es denn nicht, dass er seinen Ziehsohn fast doppelt so lange trainieren ließ als alle anderen Novizen? Warum... warum tat er das überhaupt? Altaïr schlug jetzt, mit 14 doch schon alle anderen in seinem Alter. Und das mit Leichtigkeit. Naja, alle bis auf Malik; der hielt noch ganz gut mit seinem Freund mit. War aber auch nicht verwunderlich, denn sie trainierten in ihrer Freizeit oft zusammen. Jedenfalls... jedenfalls hatte Altaïr Malik letztens gesagt, dass er es sogar geschafft hatte einen der Ranghöheren im Trainingsring zu besiegen. Keiner schaffte das mit 14 Jahren und ganz alleine! Der nachdenkliche Junge sprang beinahe aufgeregt aus seinem Bett, als sich die Türe zum Raum endlich, endlich, wieder öffnete. Er hörte die Wache von vorhin etwas flüstern und ein leises „Mhm.“ seitens Altaïr. Ging es dem anderen Novizen gut? Ob man seine Wunde hatte nähen müssen? Bestimmt blieb eine Narbe zurück. Momente später hielt das Sorgenkind wieder vor Malik's Bett, musterte die sitzende Gestalt darauf und schien darüber nachzudenken, ob er sich dazugesellen sollte. Der Schwarzhaarige deutete daraufhin auffordernd auf die Bettmatte und hoffte, sein Freund würde dies in der vorherrschenden Düsternis sehen. Tat er offenbar, denn er krabbelte nur wenige Herzschläge später zu Malik auf das Bett. „Alles wieder gut?“ flüsterte der Jüngere Altaïr besorgt zu und achtete darauf sehr, sehr leise zu sprechen, damit sich Abbas nicht wieder beschweren konnte. Er glaubte ein Kopfschütteln des Schemens vor sich zu erkennen und kratzte sich ratlos am Kinn. „Malik?“ „Mhm?“ „Darf ich heute wieder bei dir schlafen..? Bitte.“ „Klar.“ „Danke Malik...“ Stumm ließ Altaïr seinen Kopf auf das Kissen sinken. Mit dem schmalen Rücken voran schmiegte er sich an die Beine seines noch dahockenden Freundes - ohne sich zuvor seiner Novizenrobe und seines Gürtels zu entledigen. Selbst seine weite Kapuze behielt er auf. Das konnte doch nicht bequem sein... oder? „Willst du die Robe denn nicht ausziehen..?“ wisperte Malik skeptisch hervor, als er dazu ansetzte sich selbst hinlegen zu wollen. Er hob seine Decke an, um seinen Freund dazu einzuladen ebenfalls unter das dünne Laken zu kommen. Eigentlich war es momentan so warm, dass man keine Bettdecke brauchte... doch es fühlte sich einfach besser an, wenn man Eine hatte. Malik wusste nicht genau warum, aber mit dem vertrauten, etwas größeren Novizen - an dessen Seite er sich nun kuschelte - war es das Selbe. „N-nein. Nein.“ gab Altaïr der vorigen Frage schnell als Antwort zurück und sein Körper versteifte sich merkbar „Nein.“. „Na schön.“ Der Jüngere war zu diesem Zeitpunkt noch viel zu naiv, um das seltsame Verhalten seines besten Freundes vage einschätzen oder gar deuten zu können. Er bedachte Altaïr im Zwielicht des großen Zimmers nur noch mit einem irritierten Blick und zuckte schlussendlich mit den Schultern, als sich das grau-weiße Bündel mit der roten Schärpe in voller Montur neben ihm zusammenrollte. Altaïr. Malik schmunzelte. Der andere Junge sah beim Schlafen nicht unbedingt wie ein Raubvogel aus. Eher wie eine der Katzen, die ab und an durch die Festung streunten und Mäuse fingen. Hosted by Animexx e.V. 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