Das rote Tuch von Crevan ================================================================================ Kapitel 5: Die Katze -------------------- „Ich brauch das nicht...“ murmelte der Verletzte kraftlos vor sich hin, als Malik den Verband fixierte, den er Altaïr um den Kopf gewickelt hatte. Eine einzige, lange Bandage hatte gereicht, um eine der sauberen Kompressen fest auf der frischen Kopfwunde zu fixieren. Der 25-Jährige hatte die Haare des weiß Gekleideten rings um die Verletzung so kurz wie möglich geschnitten und mit spitzen Fingern weitere, klebrige Haarsträhnen aus der frischen Wunde geklaubt. Danach hatte er die aufgeplatzte Haut am Kopf des Anderen notgedrungen nähen müssen und etwas Salbe darauf gestrichen. Sollte reichen. Malik war an und für sich kein Arzt, doch jeder Assassine lernte im Zuge seiner Ausbildung auch ein paar grundlegende Kenntnisse der Medizin. Je nachdem in welche Richtung von Beschäftigung ein Novize in seinem Leben gehen wollte, bekam er davon mehr oder weniger Wissen eingetrichtert. Jemandem, für den der Weg der Klinge bestimmt war, blieben lange Lernstunden über Kräuter und die richtige Behandlung von gröberen Wunden erspart. Wurde man später jedoch zu einem Rafik oder Dai - der in einem Büro außerhalb Masyafs saß und Brüder auf heiklen Missionen empfing - kam die Ausbildung der man unterzogen wurde beinahe der eines Doktors gleich. Malik hatte diese Ausbildung aber nie erfahren. Er war schon immer ein Mann des Schwertes gewesen, kein Heiler oder Gelehrter. Jedenfalls bis zu dem Punkt vor einem Jahr, an dem sich sein bedauernswertes Leben um 180 Grad gewendet hatte. Al-Mualim hatte innerhalb des Kreises der Kämpfer keine Verwendung für jemanden mit nur einem Arm gehabt und den damals 24-Jährigen, der so knapp vor der Prüfung zum Meisterassassinen gestanden hatte, zum Rang eines Rafiks degradiert. Malik hatte seine Waffen widerwillig abgelegt und zu staubigen Büchern gegriffen, um sich das große Wissen, das man als Büroleiter brauchte, anzueignen. Es hatte sich so angefühlt, als würde er in einen Zuber voll mit eiskaltem Wasser gestoßen werden. Er hatte keine Ahnung gehabt wo und wie er mit dem eigenständigen Lernen anfangen sollte, hatte nicht zwischen Heilpflanze und Giftkraut unterscheiden können und oftmals minutenlang gezögert bevor er seine neu erlernten Fähigkeiten an blutenden Patienten angewendet hatte. Und der Mann war im letzten Jahr oft verzweifelt. Viel zu oft. Über Büchern brütend und spätnachts war er völlig aufgelöst in bittere Tränen ausgebrochen, hatte geglaubt er könne nicht mehr... Doch mittlerweile ging es. Ja, mittlerweile beherrschte er sogar ein paar der etwas gehobeneren Theorien, verstand sich darin Gifte so niedrig dosiert anzuwenden, dass sie wie Medizin wirkten und er schaffte es kleinere Operationen zu vollziehen ohne, dass ihm der Verwundete dabei starb. Ach, es war wahrhaftig einfacher Leben zu nehmen als sie zu bewahren... und das Bewahren der Gesundheit seines Erzfeindes gestaltete sich gerade als besonders kompliziert. „Halt still, Novize.“ Altaïr hatte während der ganzen, schmerzhaften Prozedur mit Nadel und Faden keinen Mucks von sich gegeben, doch nun fing er an zu protestieren. Nicht, dass er seiner Schmerzen wegen jammerte, nein, er mimte den Starken und gab vor keine Bandagen und Heilsalben zu brauchen. Pikiert fasste er an seinen Kopf, wollte die 'störende' Kompresse vermutlich von seinem Haupt zupfen. „Malik, ich brauch-“ „Halt die Klappe und nimm deine Finger da weg.“ „Uh.“ Nur gut, dass der Kartograf hier, in seinem Assassinenbüro, das Sagen hatte. Der dumme Altaïr sollte bloß Ruhe geben oder er würde ihn - ohne zu zögern und mit einem festen Tritt in seinen Adlerhintern - zurück auf die Straße befördern. Der Ältere wusste das offenbar, denn er spurte, schlug seine stechenden Augen leise brummend nieder und resignierte. „Kannst du aufstehen?“ „Mh.“ Doch der seufzende Altaïr rührte sich kein Stück von seinem Platz am Boden fort. Stattdessen hielt er den Atem nach wenigen Wimpernschlägen abrupt an und fasste sich mit den fahrigen Fingern einer Hand an die Lippen. Er war vorher schon bleich gewesen, doch nun wich ihm auch noch das letzte Bisschen Farbe aus dem Gesicht. Er blinzelte angestrengt ins Leere. „... Altaïr?“ Der Besagte sank ein kleines Stück weit nach vorne, seinem Bruder entgegen; so weit, dass er jenen beinahe mit dem Kopf berührte. Malik fühlte den plötzlich so unruhig gehenden, warmen Atem des Assassinen über seine nackte Brust streifen; er erschauderte. Das einbandagierte Haupt des Verwundeten war nach wie vor leicht gesenkt und er tastete mit seiner freien Hand ein wenig verloren nach etwas - so, als suche er eines plötzlichen Schwindels wegen verzweifelt nach Halt - und bekam die Vorderseite von Malik's schwarzem Mantel zu fassen. Der Jüngere versteifte sich ob dieser ungewohnten Nähe sofort, er betrachtete den Mann vor sich skeptisch und mit einer angehobenen Augenbraue. DAS hier war nun gerade ein klein wenig zu nah für seinen Geschmack. Aus den Augenwinkeln linste der betretene Rafik zu der versteckten Klinge am linken Arm seines angeschlagenen Gegenübers. „Altaïr.“ knurrte der Kartograf wieder hervor und klang dabei verunsicherter als er es eigentlich hatte wollen. Der desorientiert wirkende Verletzte atmete tief aus und wieder ein, sein Griff an Malik's Mantelsaum verstärkte sich und er keuchte leise ehe er es nicht mehr schaffte ein Röcheln zu unterdrücken. Was. Moment. Nein. Stop. „Ich schwöre dir, wenn-!“ doch zu spät; der Schwarzhaarige hatte nicht mehr die geringste Chance dazu nach hinten abzuweichen oder sich vom eisernen Griff seines Gegenübers zu befreien. Altaïr hustete und einem widerlichen Würgen folgte dessen gesamter Mageninhalt. Der zerstreute Assassine stöhnte und japste, krümmte sich etwas und übergab sich ungehalten auf den – nun ebenso erblassenden und wüst fluchenden – Mann vor sich. Oh, du liebe Güte, das durfte doch nicht wahr sein. Das durfte einfach nicht wahr sein! Malik streckte seinen Arm angewidert von dem Anderen fort, drehte seinen Kopf zur Seite, hielt die Luft an und ließ das, was hier gerade passierte einfach geschehen. Oder eher: über sich ergehen. Für alles andere war es jetzt sowieso schon zu spät. Er wusste zwar, dass Altaïr hierfür keine Schuld traf, denn bei einer Schädelfraktur waren ein unglaublicher Drehschwindel und die damit verbundene, plötzliche Übelkeit vorprogrammiert. Und dennoch hasste er den verfluchten Novizen gerade eben noch mehr als er es sonst schon tat. II Malik kippte den Inhalt seiner verbeulten Waschschüssel aus dem Fenster seiner kleinen, minimalistischen Küche im hinteren Bereich seines Büros. Angewidert rümpfte er die Nase, als das Wasser, das er dazu benutzt hatte sich von Altaïr's Erbrochenem zu befreien, im dürren und ungeschnittenem Gebüsch im Hintergarten seines Hauses versiegte. Sein Blick war müde und dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, als er den schweren Kopf etwas anhob, um zu den Hausdächern der benachbarten Gebäude aufzusehen. Das Licht der Dämmerung pinselte sanfte, rötliche Töne auf die Kanten der flachen Dächer und Malik seufzte ob dieses Anblicks entnervt. Die Sonne ging auf. Er hatte offenbar die ganze Nacht damit zugebracht sich mit dem verwundeten Adler aus Masyaf und dessen kaputtem Kopf herumzuschlagen... „Ein wunderbarer Start in den Tag...“ meinte der mürrische Rafik leise und zynisch zu sich selbst, als er seine Schüssel beiseite stellte und sich mit der rauen Hand erschöpft stöhnend über das Gesicht fuhr. Altaïr hatte vorhin eine Ewigkeit gebraucht, um sich wieder zu fangen. Er hatte irgendwo zwischen Gestöhne und Galle eine abgehakte Entschuldigung vor sich hin geflüstert – ob er diese ernst gemeint hatte, wusste Malik nicht und es war ihm auch einerlei. Der unbedeutenden Floskel nichts erwidernd hatte er seinen Ärmel dazu verwendet dem anderen Assassinen über den Mund zu wischen – sein schwarzer Mantel war so und so schon hinüber gewesen – und er hatte den weiß Gekleideten Flüche murmelnd auf die wackeligen Beine gezerrt. Es war ein regelrechter Kampf gewesen Altaïr noch im Büro seiner ganzen Ausrüstung zu entledigen, ihn in den kleinen, überdachten Vorgarten des Hauses zu bugsieren und ihn dazu zu zwingen eine der beruhigenden Kräutermixturen zu trinken. „Nicht nötig.“ und „Ich trinke kein Gift.“ hatte der Verletzte vor sich hin geschimpft, doch im Endeffekt waren Malik's Argumente – oder eher: seine kräftige Rechte – überzeugender gewesen als die kindliche Sturheit und der überflüssige Stolz des idiotischen Novizen. Der Ältere war, nachdem er das bittere, stark alkoholische Gebräu des Hobbyalchemisten getrunken hatte, tatsächlich sehr schnell sehr ruhig geworden und schlussendlich auf den Kissen in einer der Ecken des Gartens eingedöst. Malik hatte es daraufhin nicht mehr gewagt Altaïr anzurühren oder ihn gar anzusprechen, hatte er ihn ja auch nicht wecken wollen; stattdessen hatte er sich missmutig daran gemacht den Innenraum seines Büros zu reinigen und auch sich selbst gründlichst zu säubern. Seine dreckige Kleidung hatte er ebenso mit besonders viel Seife gewaschen und zum Trocknen über das Geländer der Terrasse auf seinem Dach gehängt; doch der Geruch nach Erbrochenem kitzelte noch immer unangenehm in seiner Nase und verursachte ein flaues Gefühl in seiner Magengegend. Vielleicht sollte er gleich noch etwas Weihrauch entzünden... III Mit vor Erschöpfung zittrigen Fingern schloss Malik den braunen, punzierten Ledergürtel, den er über einer roten Schärpe um seine Körpermitte trug. Er zupfte sich die weiße Robe, in die er sich gehüllt hatte, an der Vorderseite zurecht und strich sich die vorn spitz zulaufende Kapuze vom schmerzenden Kopf. Anders als der introvertierte Altaïr, den man nur sehr selten ohne Kopfbedeckung sah, hasste es der Schwarzhaarige seine weite Kapuze zu tragen. Sie schränkte einem die Sicht ein und es wurde darunter viel zu warm... selbst damals, als er noch im 'Außendienst' tätig gewesen war, hatte er sie sich nur aus Gründen der Anonymität in das Gesicht gezogen; wenn er bewohnte Gebiete außerhalb Masyafs betreten hatte eben. Aus melancholisch ruhigen Augen blickte Malik an sich hinab. Seine helle Robe glich der eines hochrangigen Assassinen seines Ordens bis auf wenige Merkmale sehr. Sie war lediglich ein wenig kürzer, sein Gürtel schmäler und die Kapuze – die bei den Uniformen der Anderen einen gesonderten Teil der Kleidung ausmachte - war am Oberteil der Montur festgenäht. Außenstehende erkannten die minimalen Unterschiede im optischen Auftreten der Assassinen vermutlich gar nicht. Für sie sahen sie alle aus wie die Mönche, die leise Gebete murmelnd durch die Städte zogen. Malik warf sich einen sauberen Mantel über ohne mit dem Arm in den weiten Ärmel des Kleidungsstückes zu schlüpfen, als er die schwere Geheimtür in sein Büro aufschob. Er griff im Lampenschein nach Altaïr's Waffen am langen Tresen vor sich und seine dunklen Augen suchten die weiße, zusammengerollte Gestalt auf den weichen Kissen in seinem Vorgarten; zögerlichen Schrittes hielt er auf sie zu. Vielleicht hätte er sich Sorgen um den Zustand des Verwundeten machen sollen, doch im Blick des 25-Jährigen spiegelte sich bloße Verachtung wider, als er durch die Türe in den überdachten Garten schritt. Seine Finger schlossen sich fest um den Griff des schartigen Schwertes in seiner Hand – aufgrund seiner Müdigkeit schien ihn das Gewicht der Waffe Altaïrs gen Boden ziehen zu wollen. Die Augen des verstimmten Rafiks suchten die alte Schnittwaffe mit dem gewickelten Griff und der simplen Parierstange und er wiegte sie etwas. Das hier war nicht Altaïr's richtiges Schwert. Vermutlich hatte der Andere das wertvolle Stück Stahl mit den hübschen Verzierungen und dem Adlerkopf am Ende des Hefts in Solomon's Tempel verloren. Eine Schande. Denn irgendwie hatte es auch einen... emotionalen Wert besessen. Malik und er hatten sich vor Jahren zwei davon schmieden lassen, für jeden von ihnen Eines. Die beiden Freunde hatten ein Heidengeld dafür ausgegeben und sich deswegen eine üble Standpauke von Al-Mualim anhören müssen, doch es war jedes Silberstück wert gewesen. Die teuren Schwerter hatten ihnen gute Dienste geleistet und sie bis zuletzt begleitet. Malik hatte seines schließlich – so wie seine fragwürdige, freundschaftliche Beziehung zu Altaïr - im Kampf gegen de Sable verloren. Vermutlich lag die Waffe noch irgendwo im Tempel; inmitten der verrotteten Körper der Templer und- Und dem Kadars. Der gedankenverlorene Rafik hielt nur eine Armlänge weit von Altaïr entfernt inne und seine Augen wurden schmal, als er den Schlafenden zu seinen Füßen betrachtete. Keine Kapuze verbarg den einbandagierten Kopf des Assassinen, denn Malik hatte ihm das blutgetränkte Stück Stoff abgenommen – so wie auch dessen oberste, verdreckte Schicht der Uniform der Bruderschaft, die ledernen Stiefel und den breiten Waffengürtel. Ein weißes Hemd und die graue Hose waren also das Einzige, das sich an den flach atmenden Körper des völlig Weggetretenen schmiegte – und auch das Einzige seiner Uniform, das halbwegs sauber geblieben war. Mit einem verbitterten Ausdruck im Gesicht senkte Malik die lange Klinge in seiner Hand, so weit bis deren Spitze sachte und mit einem leisen, metallenen Geräusch auf den Steinboden traf. Der Stahl schien im Griff des verbissenen Rafiks nur so nach Blut zu lechzen. Es wäre nun ein Einfaches, nicht wahr? Den dreckigen Verräter zu töten, der den kleinen Bruder und den linken Arm des Kartografen auf dem Gewissen hatte. Ein kurzer Hieb oder Stich und der schlafende Kerl hier wäre Geschichte, es bedürfte nicht einmal großer Anstrengung oder Kraft. Malik würde daraufhin eine Botschaft über den Tod Altaïrs nach Masyaf senden... mit der Begründung er wäre auf seiner Mission gestorben. Ja genau, es wäre ein Einfaches den Adler zu töten. Ein freudloses Lächeln verzog die trockenen Lippen des unschlüssigen Büroleiters. Adler. In diesem Moment sah Altaïr nicht unbedingt wie ein solcher Raubvogel aus... eher wie eine Katze, die sich auf kleinstem Raum irgendwo zwischen vielen, bestickten Kissen eingerollt hatte. Der Ältere hatte schon als Kind auf diese zusammengekauerte Art und Weise geschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)