Bald erlebe ich etwas. von CarterBrooks ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es regnete nur leicht, doch auch zu diesen Zeiten begleitete der blaue Regenschirm den jungen Bao in der Nacht. Während die Menschen um ihn herum grau und fahl in dem kalten Licht der Straßenlaternen wirkten, leuchtete sein Regenschirm und hielt diese triste Welt ein wenig davon ab, sich ihn zu packen und mit einem kalten Luftzug unter seine Jacke zu schlüpfen. Wenn es wieder mal an der Zeit war; wenn es wieder einmal nicht anders ging – da schlüpfte er aus dem Fenster seines Zimmers aus dem ersten Stock, durch den Garten. Vorsorglich stand unter dem Zimmerfenster ganzjährig ein hölzener Klappstuhl, damit er nicht aus der Höhe springen musste, und sich dann auch nicht verletzte. Das Zimmer von innen abgeschlossen dachte jeder, der klopfte und an der Tür rüttelte, dass er beschäftigt war: Zu laut Musik hörte, schlief, oder einfach keine Lust hatte, zu antworten. Dies klang plausibel und wurde aktzeptiert. Dass der junge, schwarzhaarige Mann so einfach verschwand, das ahnte niemand. Diese Jahreszeit war eine Nicht-Jahreszeit, dachte er sich, als er seine Brille fester auf die Nase drückte und vor lauter Regentropfen genauso wenig sah wie ohne die Gläser. „Immer wenn es regnet, ist es richtig kalt, und wenn die Sonne scheint, zu warm, um eine dicke Jacke anzuziehen...“, hörte man seine Stimme leise murmeln. Selbst trug er keine dicke Jacke, höchstens eine graue Weste, in der er fror. Am Anfang hatte er noch gezittert, nun kühlte sein Körper einfach ab – ohne dass er darauf reagierte oder es großartig bemerkte. Die Straßen waren für die Kleinstadt, in der Bao seit drei Jahren wohnte, überraschend belebt – alle paar Minuten sah er ein paar Menschen die Straßen kreuzen, lachen oder reden oder durch den Regen tanzen. Vielleicht habe ich ja Depressionen – vielleicht gibt es einen Grund, wieso ausgerechnet ich nicht so ausgelassen lache, dachte er sich und wickelte seine Weste fest um sich herum. Aber warum? Warum sollte es ihm schlecht gehen? Im Gegensatz zu Anderen, da ging es ihm gut. Er hungerte nicht, er fror nicht, weil er kein Geld für Kleidung hatte (sondern nur, wenn er ungeplant aus seinem Fenster verschwand), seine Familie war nicht schlimm – er sollte glücklich sein, glücklicher als viele anderen. Womit quälte er sich, fragte er sich? Und was machte ihn denn so ruhelos? Einen Tick schneller lief er, der Wind bäumte sich gegen den Regenschirm und kämpfte mit dem blauen Stoff, der heftig flackerte. Bao umfasste den Griff nun mit beiden Händen, in der Befürchtung, der Schirm könne weggeblasen werden. Stattdessen jedoch klappte der Schirm nach außen und Bao kam aus dem Gleichgewicht: Plötzlich war kein Widerstand mehr da und er fiel der Länge nach auf den Boden. Nach einem kurzen Schockmoment blickte er sich um, doch niemand hatte gesehen, wie er einfach umgefallen war – wie ein Kartenhaus, das durch einen Luftzug zusammenfällt. Niemand lachte über ihn – niemand, außer er selbst. Langsam stand er wieder auf, schüttelte sich, richtete seinen Schirm und schritt gemächlich weiter. Er war nun pitschnass, von oben bis unten, doch er trug ein leichtes Lächeln im Gesicht. Noch ein paar Meter! Schließlich erreichte er, wonach er sich gesehnt hatte. Das Fenster leuchtete kühl in der Nacht, kühler als die weißen Laternen. Bao jedoch verspürte bei dem Anblick des Schaufensters ein wohliges Gefühl im Magen. Die blaue Lichterkette war eine Sache, durch die das Fenster des Geschäfts dekoriert wurde – eine Sache von vielen verschiedenen Dingen, die in der Dunkelheit so schön und attraktiv leuchteten. Kanada, Lettland, Amerika, Europa. Alle Länder lagen dort vor ihm, in der Dunkelheit. Ein Liegestuhl, ein paar Wanderschuhe, Sand, ein Ball, hinten ein paar Berge. Das Reisebüro, das er immer wieder besuchte, wurde jede Woche neu dekoriert – und jede Woche waren alle möglichen Dinge ineinander und übereinander und durcheinander gewürfelt, bei denen es sich lohnte, einen Blick zu riskieren. Auch dieses Mal hatte der Besitzer wohl kaum auf nur warme, südliche Gegenden gesetzt, sondern gleichzeitig auch zur Wanderung des Lebens in den Bergen Nepals eingeladen – oder vielleicht zum Kampf gegen die Bären Nordamerikas? Bao betrachtete die Auslagen stumm und mit nach unten gezogenen Mundwinkeln, während der Regen unaufhörlich auf den Schirm tropfte, sachte klopfte. Weggehen, von hier verschwinden, erleben und Spaß haben – in gefährliche Situationen kommen. Mit der Brille und den legeren Klamotten, mit seinem ruhigen Dasein würde niemand darauf kommen, was ihn an diesem späten Abend so reizte – das wusste nur er selbst. Dem Alltag entfliehen, für immer! Ein fremdes Land – wie sehnte er sich danach. Der Regen prasselte lauter, immer lauter und stärker, sodass Bao für einen Moment befürchtete, gleich würde es seinem Schirm wieder an den Kragen gehen, doch er lächelte verträumt und sehnsüchtig sein Spiegelbild in der Fensterscheibe an, bevor er sich mit einer Hand über die Augen fuhr und tief einatmete – den frischen Duft der Luft, der nach jedem Regen folgte. Bao fühlte wieder die Kälte und die Nässe, die er lang genug ausgeblendet hatte, und verfluchte für einen Moment den Regen, gegen den er eigentlich nichts hatte, der doch Ruhe und Trägheit über die Stadt legte; wie eine Mutter ihr Kind zudeckte. Für einen Moment schaute er hoch, in den regnenden Himmel hinein, der sich munter auf seiner Brille erleichterte, doch die Tropfen wurden immer weniger, bis schließlich nur noch graue Wolken zu sehen war. Die Haare kurz geschüttelt, in der Hoffnung, sie würden davon trocken werden, verließ Bao die kleine Ecke mit dem Reisebüro und trat seinen Rückweg an. Er sah nicht zurück, vor seinen Augen liefen die Bilder nochmal von alleine ab. Kanada, Lettland, Amerika, Europa. In großen, leuchtenden Buchstaben, kühl, beherrscht, und blau. Auf den Straßen hörte und sah man nichts mehr, außer den jungen Mann mit schwarzen Haaren und seinen klackernden Regenschirm, den er wie einen Spazierstock benutzte. Bald, dachte er sich. „Bald erlebe ich etwas.“, flüsterte er und lächelte beschwingt, als er leise durch den Garten des Hauses seiner Eltern lief, sich auf den nassen Stuhl schwang und durchs Fenster zurück in sein Zimmer stieg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)