Unter den Apfelbäumen von maidlin (Prequel zu Drachenkind) ================================================================================ Kapitel 15: Keine Begegnung - Teil 2 ------------------------------------ Die nächsten Tage suchte ich Jonathan immer wieder auf, sobald ich meinen Patienten versorgt hatte. War noch eine weitere Person anwesend, traf ich immer auf den selbstsicheren, arroganten Mann, den alle kannten und verachteten. Jonathan stand John Barrington in diesen Momenten in nichts nach und die Gleichgültigkeit, die er dem Gefangenen und dessen Verletzungen gegenüber zeigte, entsetzte mich immer wieder aufs Neue. Bei Annie, Johns Frau, leuchten seine Augen jedoch jedes Mal auf und ein schiefes Lächeln legte sich um seinen Mund. Es ließ ihn unheimlich wirken. Gleichzeitig schien er sich wirklich für sie einzusetzen und hielt John von ihr fern und setzte sich hin und wieder auch für den Gefangenen ein, zumindest was dessen Ruhephasen betraf. Suchte ich Jonathan jedoch allein in seinem Zimmer auf, verhielt er sich ganz anders. Er war zerbrechlicher, kränklicher. Die Maske, die er so sorgfältig pflegte, war dann verschwunden und er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich verstand ihn einfach nicht. Es war als hätte er zwei Gesichter, doch keines davon schien sein wahres Ich zu sein. Eines Tages erzählte ich ihm, dass ich Magdalena und Mathew von unserer Unterhaltung und von ihm berichtet hatte. Ich sagte ihnen lediglich, dass es ihren Sohn körperlich gut ginge. Zumindest das schien in Ansätzen zu stimmen. Natürlich wünschten sie sich nichts mehr, als endlich selbst von ihm zu hören und ihn wieder zu Hause willkommen zu heißen. Doch Jonathan schüttelte nur stumm den Kopf und sagte: „Was sollte ich ihnen denn sagen?“ Während meiner kurzen Aufenthalte bei Mathew und Magdalena berichtete mir Mathew von einer Familienangelegenheit, die für mich Jonathans Leiden klarer machte. Mathew erzählte mir von dem Bruder seines Großvaters, Laurence. Dieser war der jüngste Sohn gewesen, ein aufgewecktes Kind, fröhlich und wissbegierig. Im Laufe der Zeit jedoch änderte sich das. Es geschah langsam und beinahe unmerklich und nur die engsten Familienmitglieder bemerkten es. Laurence vertraute seinem Bruder an, sich immer häufiger zu fragen, was der Sinn seines Lebens sei. Als jüngster Sohn wäre er nicht das nächste Familienoberhaupt geworden, sondern wäre von seinem Bruder versorgt worden oder hätte sich selbst Arbeit suchen müssen. Doch was hätte er arbeiten sollen? Wie viele wohlhabende Jungen, konnte Laurence nicht mit den Händen arbeiten, sondern nur mit dem Kopf. Sollte er also nur leben, um zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen? Wofür? Damit seine Kinder einmal den gleichen Kreislauf durchliefen wie er? Das erschien ihm sinnlos. Laurence zog sich von den anderen zurück, unterlag immer häufiger Stimmungsschwankungen. Ähnlich, wie es bei Jonathan der Fall gewesen war. Mal war er regelrecht ausgelassen und schien zufrieden, anderen Male versank er in seinen Überlegungen und düsteren Gedanken. Manchmal sprach er sogar davon sich selbst das Leben zu nehmen, weil ihn sein ganzes Sein so aussichtslos schien. Es blieb immer einer aus seiner Familie in seiner Nähe, aus Angst, er könnte seinen Worten Taten folgen lassen. Sie ließen ihn nicht mehr allein auf Reisen gehen und jeder versuchte ihn von seinen Zweifeln abzubringen. Am Ende fühlte er sich dadurch vielleicht noch mehr in die Enge getrieben. Mit gerade einmal 20 Jahren erhängte sich Laurence im heimischen Pferdestall. In Mathews Familie vermutete man, dass Laurence eine Art Krankheit hatte. Dabei war es wohl keine des Körpers oder des Geistes, sondern der Seele. Nach Marys Tod und Jonathans Überlegungen sich selbst das Leben zu nehmen, hatte Mathew immer die Befürchtung gehabt, dass sein Sohn wie sein Vorfahr enden könnte. Deswegen hat er ihn auch mit Barrington gehen lassen. Laurence war immer in Begleitung gewesen und trotzdem hatte keiner seinen Freitod verhindern können. Mathew hatte die Hoffnung gehabt, dass Jonathan von allein wieder zu sich fand und zu ihnen zurückkehren würde. Magdalena und Mathew waren verzweifelt. Am Rand zu stehen und zuzusehen, wie ihr eigenes Kind immer weiter verfiel, war für sie unerträglich. Aber ihnen war klar, dass nur Mary ihm hätte helfen können. Ich hatte ja schon oft überlegt, Jonathan die Wahrheit zu sagen, doch erst als ich sah wie Unglücklich die gesamte Familie Semerloy war, entschied ich mich vollends dafür. Auch wenn es bedeutet, dass Vertrauen eines anderen zu brechen. Der Tag, an dem ich es Jonathan sagen wollte, war ein geschäftiger Tag auf der Burg. Eigentlich hätte ich an dem Tag gar nicht kommen sollen. Dem Gefangenen und Johns Frau ging es so weit gut. Ich hatte dort also nichts zu verloren. Obwohl ich mich ausschließlich um Jonathan kümmern wollte, hätte dies nicht als Begründung für meine Anwesenheit genügt. Schließlich war er für alle andere immer gesund und beherrscht. Von seinem wahren Zustand wusste niemand. Aber meine Sorgen waren unnötig gewesen. Während ich meinen Weg durch die Burg suchte, erfuhr ich, dass John an diesem Tag Geburtstag hatte und ein großes Fest gefeiert werden sollte. Unablässig strömten Kaufleute durch die Tore, die ihre Ware brachten. Gleichzeitig trafen auch die ersten Gäste ein. Ich fiel also gar nicht weiter zwischen ihnen auf. Es war so viel los, dass nicht einmal die Wache, die sonst immer auf dem Gang zu Jonathans Zimmer stand, mich bemerkte. Ich gelangte also ohne Schwierigkeiten in sein Zimmer und wartete dort auf ihn. Während des Wartens, entdeckte ich jene Ledermappe auf dem Tisch, die Jonathan normalerweise unter seinem Bett verbarg. Ich war neugierig und warf einen kurzen Blick hinein. Was ich sah, überraschte mich doch sehr. Ich erwartete Bilder von Mary zu sehen und das tat ich auch, aber unter den Zeichnungen waren auch Motive, die mich ganz und gar sprachlos machten. Sie zeigten einmal mehr die Widersprüchlichkeit seines Wesens. Jedes Bild war sehr detailliert gezeichnet und man sah Jonathans eigene Gefühle, die er in den Bildern verarbeitet hatte. Ich legte die Mappe ab und hoffte, dass er nicht merken würde, dass ich sie angesehen hatte. Einige Zeit später öffnete sich die Tür. „Sie schon wieder. Sie scheinen sich hier wohl zu fühlen“, begrüßte Jonathan mich nach dem ersten Moment der Überraschung. „Nicht im Geringsten“, schüttelte ich den Kopf. „Was machen sie dann hier? Der Gefangen befindet sich doch ganz wo anders.“ Er streifte die Jacke und Weste ab, ebenso die Schuhe und verschloss erneut die Fenster mit den dicken Vorhängen. Wahrscheinlich hatte eines der Mädchen sie geöffnet. Es drang kaum noch Licht in den Raum und ich begann mich unwohl zu fühlen. Das, was ich ihm zu erzählen hatte, war so schon schwer genug, doch bei dieser Umgebung noch düsterer. „Ich bin wegen dir hier.“ „Schon wieder? Ich habe ihnen doch gesagt, sie können mir nicht helfen. Sie verschwenden nur ihre Zeit. Ah, aber heute könnten sie mir etwas zum Einschlafen da lassen. Dann wären sie nicht ganz umsonst gekommen.“ Er setze sich in den Sessel und starrte auf die Flammen. In seinem Kamin schien immer ein Feuer zu brennen, dabei war es Sommer und wirklich warm genug. Sobald er sich gesetzt hatte, schien die Maske, die er so sorgfältig trug, abzufallen. Sein Gesicht fiel ein und seine Augen wurden stumpf. „Kannst du nicht richtig schlafen?“, fragte ich verwirrt. Erneut antwortete er mir nur mit einem Schulterzucken. „Wie lange willst du denn schlafen?“, fragte ich deswegen und überlegte schon, welche Menge bei ihm wohl angemessen wäre. „Ich weiß nicht, einen Tag, eine Woche, einen Monat. Für immer“, antwortete er ohne mich anzusehen. Wieder drehte sich unser Gespräch darum, dass er seinem Leben ein Ende bereiten wollte. „Es würde natürlich aussehen“, sprach Jonathan weiter, als wollte er mir seine Gedankengänge erklären. „Ich würde einschlafen wie immer, nur nicht mehr aufwachen. Im Schlaf gestorben, vielen Menschen passiert so etwas und ich würde auch das Versprechen gegenüber meinem Vater nicht brechen.“ „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich so etwas tun würde!“, sagte ich entrüstet. „Ich habe es dir schon einmal gesagt! Das geht gegen meine Ehre als Arzt, ich rette Leben und nehme sie nicht!“ Jonathan schloss die Augen und seufzte. „Es wird immer schlimmer, diese Frau… sie bringt mich dazu… über Mary zu reden.“ „Aber das ist doch nichts Schlimmes. Vielleicht tut es dir ganz gut, über sie zu sprechen und das Ganze endlich zu verarbeiten.“ „Ich will nicht über sie reden!!!“, antwortet er scharf. „Wann begreifen sie endlich, dass sie das auch nicht zurückbringt!“ Er atmete schwer. Dann stand er abrupt auf und lief wie ein wildes Tier im Käfig hin und her. „Ich bin es so leid! Jeden Morgen, wenn ich aufwache, denke ich für einen kurzen Moment, dass Mary nie gestorben ist und es nur ein Traum war. Dann finde ich mich in diesem Zimmer wieder und weiß ganz genau, dass es nicht so ist, dass sie für immer gegangen ist. Der Schmerz in meiner Brust scheint mit jedem Tag heftiger zu werden und dann muss ich dieser Annie gegenüber stehen, die mich Mary nur noch mehr vermissen lässt! „Aber noch schlimmer ist, dass ich mich selbst am meisten bedaure! Sie haben ganz recht damit gehabt! Ich kann nicht damit aufhören! Ich will nicht ohne Mary leben! Ich versuche es schon seit vier Jahren, aber ich kann es nicht! Und warum sollte ich weiter machen?! Es wird für mich nie eine andere außer Mary geben! Es gab keine vor ihr und keine nach ihr! Ich habe es versucht! Es wird immer nur Mary sein! Immer nur sie! Warum soll ich also an diesem erbärmlichen Leben festhalten? Wofür? Für meine Eltern, für das Land, das ich einmal erben werde? Soll das der einzige Grund sein? Das reicht mir nicht!“ Er blieb stehen und schlug die Hände vor das Gesicht. Dann schüttelt er heftig den Kopf. „Ich glaube, ich werde verrückt. Es soll einfach aufhören, der Schmerz, die Einsamkeit, alles. Ist dieser Wunsch wirklich so falsch?“ Ich hörte ihn weinen und es brach mir das Herz. Vielleicht bedauerte er sich wirklich selbst zu sehr. Andererseits habe ich wohl nie solch eine bedingungslose und tiefe Liebe empfunden wie er. Natürlich liebte ich meine Frau, sie war mir eine treue Gefährtin und Partnerin, schenkte mir vier wunderbare Kinder und unterstützte mich in meinen Entscheidungen. Ich war ihr sehr zugetan. Aber als sie starb, hatte ich nicht das Gefühl ohne sie nicht mehr leben zu können. Ich habe es bedauert, habe um sie getrauert, aber gleichzeitig wusste ich, dass es Menschen gab, die mich brauchten. Jonathan hatte dieses Gefühl nicht. Nach Jonathans Ausbruch gab ich ihm Zeit, sich zu beruhigen. Ich wartete darauf, dass er sich wieder setzte und mir zuhören würde. „Du hast mich nie gefragt, wie genau Mary gestorben ist“, begann ich schließlich behutsam. „Warum sollte ich? Es ändert nichts daran, dass sie tot ist.“ „Nein, das nicht, aber es… hätte vielleicht andere Auswirkungen.“ „Sprechen sie deutlich. An Rätseln habe ich schon lange die Lust verloren.“ „Ich glaube es war fast ein Jahr vor Marys Tod, vielleicht ein paar Monate weniger, da wurde sie krank. Es war eine einfache Erkältung, aber da Mary sich nicht schonte, sondern bedingungslos um ihren Vater kümmerte, wurde daraus eine richtige Grippe, die gute fünf Wochen andauerte. Ihre Mutter achtete zwar darauf, dass sie das Bett hütete, aber Mary war niemand der sich von anderen Vorschriften machen ließ oder gar ruhig liegen blieb. Sie hatte immer das Gefühl etwas tun zu müssen. Ihr Genesungsprozess hätte wesentlich schneller verlaufen können, wenn sie auf mich gehört und die Medizin regelmäßig genommen hätte. Bei einem meiner Besuche, fragte ich sie scherzhaft, wie sie sich bei solch warmem Wetter eine Grippe einfangen konnte. Ich sagte, man müsste schon nackt im Regen herumlaufen, um krank zu werden. Es war ein Scherz, doch Mary grinste breit und flüsterte: ‚Nicht gelaufen, aber getanzt! Es war herrlich! ‘ Ich wunderte mich sehr darüber, fragte aber nicht weiter danach. Von dieser Grippe erholte sie sich nicht ganz. Außerdem starb ihr Vater kurz bevor sie genesen war. Für niemanden war es überraschend und für George war es wohl eher eine Erlösung, doch Mary nahm sein Tod sehr mit. Sie machte sich Vorwürfe, vielleicht nicht genug getan zu haben. Ohne ihre Krankheit hätte sie vielleicht besser für ihn sorgen können. „Weder Clara, die sich all die Zeit um George und Mary gleichermaßen gekümmert hatte, noch ich konnten ihr klar machen, dass sie es nicht hätte verhindern können. Tief in ihrem Herzen wusste sie das, dennoch konnte sie nicht aufhören darüber nachzudenken. „Nur wenig Zeit bliebt ihr, um um ihren Vater zu trauern. Schon bald galten ihre Gedanken einer ganz anderen Sache. Sie bemerkte, dass sie schwanger war. Doyle-“ „Sie war schwanger? Sie hatte ein Kind?“ Fassungslosigkeit stand auf Jonathans Gesicht. Niemand hatte ihm davon erzählt. Mathew, Magdalena und ich waren uns damals einige gewesen, diese Information vor ihm zu verbergen. Es hätte ihn wohl noch unglücklicher gemacht und nichts zur Verbesserung seiner Situation beigetragen, doch nun konnte es wohl kaum schlimmer werden. „Ja, sie war schwanger. Bist du nun gewillter mir zuzuhören?“ Verwirrt zogen sich Jonathans Augenbrauen zusammen, doch er nickte. Ich hatte nun seine ganze Aufmerksamkeit. „Doyle war höchsterfreut über diese Nachricht und stellte Mary gegen ihren Willen ein Dienstmädchen zur Seite. Doch schon bald war sie dankbar dafür. Die Schwangerschaft war sehr anstrengend. Mary wurde lange Zeit von heftiger Übelkeit geplagt und konnte manche Tage nicht einmal das Bett verlassen, ohne dass ihr erneut schwindlig wurde. Clara war oft bei ihr, doch Mary lehnte ihre Hilfe ab. Sie wollte sich nicht zu sehr auf ihre Mutter verlassen, denn irgendwann würde sie auch nicht mehr sein. Das war ihr nach dem Tod ihres Vaters schmerzlich klar geworden. Außerdem… schienen die beiden öfter Streit miteinander zu haben. Zumindest war das mein Eindruck. Aber ich kann mich auch genauso gut irren. „Wie dem auch sei, Mary befand sich noch in Trauer um ihren Vater, die Schwangerschaft kostete sie unheimlich viel Kraft und immer wieder kehrte die Erkältung zurück. Dann teilte ihr Doyle auch noch mit, dass er daran dachte sein Heim in eine ganz andere Stadt zu verlegen, nahe der Küste, um in den Überseehandel einsteigen zu können. Es war ein Schock für Mary. Es bedeutete sie würde alles aufgeben müssen, was sie sich in dem letzten Jahr selbst aufgebaut hatte und sie würde auch ihre Mutter früher als geplant zurücklassen müssen. Mary war sehr unglücklich darüber und das merkte man auch. „Weiterhin schienen auch Doyle und Clara nicht recht miteinander auszukommen. Wenn ich sie zusammen sah begegneten sie einander mit Höflichkeit, aber Zuneigung war nicht zwischen ihnen zu spüren. Dennoch machte Doyle um Marys Willen den Vorschlag, dass Clara sie begleiten und in dem neuen Haus als Haushälterin arbeiten könnte. Nur wenig besserte sich Marys Stimmung dadurch. Heute ist mir glaube ich klar, warum das so war: Sie hätte dich nicht wieder gesehen, Jonathan. Auch wenn sie verheiratet war, bestand doch die Möglichkeit, dass ihr euch wieder sehen würdet. Wenn sie jedoch fort zogen, wurde diese Möglichkeit beinah verschwindend gering. „Aber soweit sollte es erst gar nicht kommen. Kurz vor der Geburt hatte Mary eine erneute Erkältung. Diese hielt lange an, ohne dass sie besser oder schlechter wurde. Sie setzte sich regelrecht fest. Im späten Frühjahr brachte Mary schließlich das Kind zur Welt. Entgegen meiner Erwartung verlief die Geburt leicht und schnell. Es war ein Mädchen, mit einem dunklen Haarpflaum in der Mitte des Kopfes. Mary war sehr glücklich und wählte für ihre Tochter einen doch recht ungewöhnlichen Namen. „Wegen der Krankheit und Schwächer seiner Frau, hatte Doyle in weißer Voraussicht eine Amme angestellt. Sie genoss sofort Doyles vollstes Vertrauen, was mich ein wenig wunderte. Die Amme hatte selbst erst vor wenigen Wochen ein Kind bekommen und konnte sich somit um das kleine Mädchen kümmern. Alle hatten wir darauf gehofft, dass Mary nun vollständig genesen könnte, doch stattdessen verschlechterte sich ihr Zustand weiter. Da Doyle wieder einmal auf Reisen war, hatte Mary in ihrem Haus das Sagen und schickte die Amme zusammen mit ihrem Kind und ihrer Mutter fort. Sie wollte auf keinen Fall eine Gefahr für das Kind oder andere darstellen und riskieren, dass sie sich bei ihr ansteckten. Sie brachten Mary noch einen Eimer voll Wasser und legten ihre etwas zu Essen zurecht, dann ließen sie sie allein, wohl wissend, dass es ein Fehler war. Aber Mary hatte schon immer einen Dickkopf und Clara wusste, dass ein Streit Mary noch mehr schwächen würde. „Natürlich gab Clara mir den Auftrag regelmäßig nach ihrer Tochter zu sehen und ihr davon zu berichten. Das tat ich selbstverständlich und erkundigte mich, ob sie genügend zu Essen und Trinken hatte. Jedes Mal bejahte sie und ich glaubte ihr. Ich habe einfach nicht erwartet, dass sie mich belog. Als ich jedoch eines Tages den Wassereimer und das Brot fand, war es zu spät. Das Wasser war abgestanden und bereits grünlich. Das Brot hatte Schimmel angesetzt. Fassungslos fragte ich sie, ob sie es immer noch aß und ob sie immer noch von dem Wasser trank. Wieder antwortete sie mit ja, sagte mir aber auch, dass es seltsam schmeckte. Außerdem gestand sie mir, dass sie Bauchschmerzen hatte und sich übergeben müsste. „Ich konnte kaum glauben, was ich hörte. Ich tat mein möglichstes, um ihr zu helfen. Aber ihr Körper war einfach zu geschwächt. Sie klagte über Schmerzen in der Brust. Die Erkältung war inzwischen zu einer Lungenentzündung geworden. Dazu noch das Erbrechen. Irgendwann erbrach sie nur noch Blut, weil ihr Körper nichts in sich behalten konnte. Mehr konnte sie nicht ertragen. Eine Woche hat sich ihr Leiden hingezogen.“ „Wa-Wa-“ Jonathan begann zu sprechen, kam jedoch nicht weit. Er bemühte sich sichtlich um Worte, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er wandte den Blick von mir ab und schloss die Augen. Wenn es möglich war, erschien es mir, als wäre sein Gesicht noch blasser geworden. „Waren sie bei ihr?“, fragte er schließlich und verbarg sein Gesicht wieder hinter seinen Händen. „Nein, aber Clara. Entgegen Marys Wunsch erzählte ich ihr von Marys Zustand und sie war es auch, die deinen Eltern davon berichtete. Clara war bis zum Schluss bei ihr. Sie sagte, Mary hätte in den letzten Tagen oft von dir gesprochen. Als sie hörte, dass du informiert worden warst und auf dem Weg seiest, wollte sie dich unbedingt noch einmal sehen. Sie hatte gehofft stark genug zu sein, doch am Ende haben ihre Kräfte nicht gereicht.“ Jonathan ballte die Hand zur Faust und atmete schwer ein und aus. Eine Träne lief seine Wange hinab. „Ich wollte zu ihr“, wisperte er. Ich ließ ihn einen Moment in seinen eigenen Gedanken, in seinem eigenen Schmerz. Ich war noch nicht am Ende meiner Erzählung. „Das Kind, was ist daraus geworden?“, fragte er mich schließlich und ich war dankbar dafür. Es war ein Zeichen, dass er mir weiter zuhören würde. „Nur einen Tag nach Marys Beisetzung hat Doyle die Stadt verlassen, mit dem Kind und der Amme. Ich hörte später, dass er sie geheiratet hat. Clara blieb allein zurück und entschied sich nicht mehr bei den Semerloys zu Arbeiten. Bei deinem Vater nannte sie keine Gründe, aber sie nahm das Geld und das Empfehlungsschreiben, welches er ihr mitgab. Sie fand eine neue Anstellung, zwar nicht so gut bezahlt, aber für sie allein reichte es.“ „Warum wollte sie weg?“ Ich atmete langsam aus und überlegte, was ich darauf wohl antworten könnte. Offen dazu geäußert hat sich Clara nie richtig. „Sie erwähnte nur einmal, dass die Semerloys ihrer Familie kein Glück gebracht hatten. Ich weiß nicht genau, was sie damit meinte. Ich kann wieder nur raten. Vielleicht waren mit dem Haus und deiner Familie auch schlicht zu viele Erinnerungen verbunden. Mary ist praktisch dort aufgewachsen.“ Wieder verfielen wir in Schweigen, doch dieses Mal war es etwas angenehmer. Jonathan schien immer noch nachzudenken und ich wollte ihn nicht in seinen Gedanken. „Aber ich verstehe immer noch nicht…“, begann er schließlich. „Warum erzählen sie mir das jetzt? Warum nicht früher? Warum nicht später? Es ändert doch nichts! Es macht… es macht es noch schlimmer. Zu hören wie sie gelitten hat… “ Seine Stimme klang verzweifelt. „Vorher hättest du es kaum verkraften können und jetzt erzähle ich es dir, weil ich einfach nicht mehr mit ansehen kann, wie du dich Tag für Tag quälst. Ich hoffe, dass das, was ich dir als nächste sage, eine Veränderung bringt. Vor drei Monaten stand Doyle plötzlich vor Claras Tür und brachte ihr Marys Tochter zurück.“ „Was?! War-“ „Lass mich bitte ausreden. Er brachte ihr das Kind mit dem Worten, dass es unmöglich seine Tochter sein könnte. Er behauptete Mary hätte ihn hintergangen und das Kind eines anderen als seines ausgegeben. Das Mädchen käme ganz und gar nicht nach ihm und auch nicht nach Mary. Sie war nicht seine Tochter und folglich sah er auch nicht ein, für sie zu sorgen. Mit diesen Worten ging er wieder und ließ ein drei Jahre altes Mädchen bei der vollkommen überrumpelten Clara. Das Kind verstand nicht, warum es jetzt bei einer Frau leben sollte, die sie nicht kannte. Es wusste nicht, warum sein Papa nicht wieder kam, warum er sogar böse gewesen war. Fast einen Monat lang weinte sie täglich.“ Bei der Erinnerung schüttelte ich traurig den Kopf. Noch immer wollte ich nicht verstehen, wie ein Vater, ob nun der leibliche oder nicht, so etwas fertig bringen konnte. Schließlich hatte er sie drei Jahre lang wie sein eigenen Fleisch und Blut behandelt und aufgezogen. Ich wollte nicht glauben, dass man solche Gefühle einfach abstellen konnte. „Er hat was?!“, fragte Jonathan aufgebracht und sprang auf. „Wie konnte das tun?! Er kannte Mary nicht ein bisschen! Wie konnte er behaupten, dass sie ihm nicht treu gewesen war! Mary war nicht so ein Mensch! Sie stand immer zu ihren Wort!“ Er fuhr sich wütend durch die Haare und das Haarband löst sich dabei. Er löste den Zopf und schüttelte dabei immer wieder mit dem Kopf. „Wie kann er es wagen ihr so etwas zu unterstellen!“, murmelte er, während er weiter im Raum auf und ab schritt. „Nun…“, begann ich vorsichtig, „Seine Vorwürfe sind vielleicht gar nicht einmal so… unbedacht. Das Mädchen hat blonde Locken und helle, strahlende, grüne Augen. Sie legt Manieren an den Tag, die einen stutzig machen. Sie hasst es sich schmutzig zu machen und ihre Finger würde sie sich nie an ihrem Kleid abwischen, wie es andere Kinder tun. Sie verlangt immer ein extra Tuch dafür. Für ihre drei Jahre hat sie einen ausgeprägten Ordnungssinn und achtet sehr darauf, dass alles so liegt, wie es sein soll. Weiterhin isst nur mit der Gabel und versucht bereits jetzt ein Messer zu führen. Ihr Gang ist aufrecht und sie beobachtet das Geschehen um sie herum auf das Genauste. Ein sehr eigenartiges Verhalten für ein so junges Kind, findest du nicht? Außerdem sieht sie Doyle oder Mary nicht sehr ähnlich.“ Jonathan war stehen geblieben und sah mich aus großen Augen an. Ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. „Wie alt ist das Kind, sagten sie?“, fragte er mich mit dünner Stimme. „Sie ist Drei.“ Jonathan führte die Hand zum Mund und schüttelte den Kopf. Er setzte sich in den Sessel zurück und schloss die Augen. Als er nichts weiter sagte, versuchte ich ein wenig deutlicher zu werden: „Jonathan, ist es wirklich ausgeschlossen, dass Mary nicht doch…“, sagte ich zaghaft. Ihm musste inzwischen klar sein, worauf ich hinaus wollte. „Ein Mädchen… Blond und grüne Augen?“ „Ja.“ Er fing an auf seinem Fingernagel zu kauen, etwas was ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Immer wieder schüttelte er dabei den Kopf. „Marys Augen waren grau-blau, die ihrer Eltern blau. Welche Augenfarbe hat Doyle?“ „Sie waren braun, wenn ich mich nicht irre. „Oh…“, flüsterte er schließlich und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. „Das… Warum… Warum hat es mir niemand gesagt? Warum…“ „Jonathan, du und Mary habt ihr je das Bett miteinander geteilt?“, fragte ich ihn nun gerade heraus. Ich wollte endlich eine Antwort darauf haben, aber vor allem musste er es selbst akzeptieren. „Ja…“ Seine Stimme war kaum hörbar. „Wann?“ Seine Augen waren noch immer geschlossen und es dauerte wieder eine ganze Weile ehe er mir antwortete. Wahrscheinlich sah er alles noch einmal vor sich. „Als sie im Regen tanzte“, antwortete er schließlich. „Dieses Kind… es kann… es ist… mein… Oh Gott! Wie heißt sie? Sie sagten sie hätte einen ungewöhnlichen Namen. Wie hießt sie?“ Ich nannte ihm den Namen. Daraufhin nickte er nur und sagte: „Ja… ja, das würde sie tun. Das würde Mary tun. Wusste sie es?“ „Ich denke nicht. Vielleicht hat sie es gehofft, aber ich glaube sie hat dem Mädchen den Namen, wegen all der Erinnerungen gegeben, die damit verbunden sind.“ Jonathan stöhnte laut auf. „Ich bin… Oh mein Gott…“ Es war eindeutig, dass diese Situation ihn vollkommen überforderte. Aber darauf wollte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Es wurde allerhöchste Zeit, dass er sein Leben endlich ordnete. Vielleicht war es unklug, dieses in die Hände eines Kindes zu legen, aber es war besser als alles andere. „Was wirst du jetzt tun, Jonathan?“ „Ich… ich… weiß nicht… Ich…“ Er verstummte erneut und ich befürchtete schon, er würde sich wieder vor allem verschließen. Doch plötzlich öffnete er die Augen und Entschlossenheit legte sich auf sein Gesicht. Sein Blick wurde klar und sein Körper strahlte Ruhe aus. „Ich werde sie aufsuchen, Clara mein ich. Ich will dem Kind ein… ein Vater sein.“ Bei diesem Wort runzelte er die Stirn. Der Gedanken war immer noch befremdlich für ihn. Sofort erhob er sich und begann sich anzuziehen. „Jonathan warte!“ Überrascht sah er mich kurz an, hielt jedoch nicht in seinen Bewegungen inne. „Du kannst nicht einfach gehen“, versuchte ich ihn von seinem überstürzten Vorhaben abzubringen. „Warum nicht? Natürlich werde ich gehen. Warum sonst haben sie es mir erzählt?“ „Und was willst du Clara sagen? Sicher kannst du ihr erzählen, dass ich dir von meiner Vermutung berichtet habe, aber was wirst du ihr zu deinen momentanen Lebensverhältnissen sagen? Wie wirst du das, was du getan hast, vor ihr rechtfertigen? Du kannst mir glauben, auch bis zu ihr sind die Gerüchte vorgedrungen. Clara wird dir das Kind nicht anvertrauen und schon gar nicht wird sie es aus den Augen lassen. Wie willst du angemessen für ein Kind sorgen, wenn du dich weigerst zu deinen Eltern zurückzugehen und dich mit ihnen auszusprechen? Und bist du dir wirklich sicher, dass du ein Vater für das Kind sein kannst und willst? Für immer? Was wenn sich irgendwann doch herausstellen sollte, dass es nicht deine Tochter ist? Wirst du sie dann ebenso zurücklassen, wie Doyle es bereits getan hat? „Über all das musst du dir erst einmal im Klaren sein, bevor du vor Claras Tür stehst. Denke wenigstens erst einmal in Ruhe darüber nach, was es heißt Verantwortung für ein Kind zu übernehmen und es großzuziehen. Wenn du dir dann immer noch sicher bist, kannst du sofort aufbrechen. Du wirst meine Unterstützung haben und ich werde auch mit Clara und deinen Eltern reden, wenn du dies wünscht, aber zuerst verlange ich von dir, dass du deinen Kopf gebrauchst.“ Ein wenig versteinert sah Jonathan mich an, nickte dann aber schließlich. Er blinzelte ein paar Mal, bevor er etwas sagte. „Sie haben recht… denke ich. Ich werde darüber nachdenken und dann…“ Er beendete den Satz nicht, sondern begann wieder nervös im Zimmer auf und ab zu laufen. „Gut, das ist gut. Ich werde jetzt nach Hause reiten. Solltest du mich brauchen, weißt du wo du mich finden kannst. Ich würde dich auch mit zu Clara begleiten. Ich denke nicht, dass sie dich einlassen würde.“ Wieder nickte er nur und wandte sich von mir ab. Ich ging zur Tür und sah ihn noch ein letztes Mal an. Jonathan stand vor dem Kamin und starrte in die Flammen. Auch wenn sich auf seinem Gesicht noch Zweifel abspielten, so war seine Körperhaltung doch aufrecht und entschlossen. Ich hatte große Hoffnungen, dass sich nun doch alles zum Guten für ihn wenden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)