Unter den Apfelbäumen von maidlin (Prequel zu Drachenkind) ================================================================================ Kapitel 5: Die 4. Begegnung - Teil 2 ------------------------------------ Das Bankett, welches seine Eltern für ihn gaben, war für Jonathan eine recht angenehme Unterhaltung. Er konnte zeigen, was er auf seinen Reisen gelernt hatte und mit seinem fließenden Fremdsprachkenntnissen und seinen Umgangsformen beeindruckte er Männer und Frauen gleichermaßen. Er wurde den ganzen Abend umschmeichelt und gelobt. Es gefiel ihm ausnahmslos. An diesen Abend gestand er sich jedoch auch ein, dass sein Vater vielleicht doch recht hatte. Würde er Mary lieben – was er selbstverständlich nicht tat – hätten sie bei diesen Leuten keine Zukunft. Er konnte sie sich einfach nicht zwischen all den feinen Damen vorstellen, mit ihren künstlichen Lächeln, den viel zu überladenen Kleidern, Frisuren und dem Parfum, von dem einige Frauen eindeutig zu viel benutzt hatten. Aber in ihrer Welt konnte er sich selbst auch nicht vorstellen. Aber was machte er eigentlich Gedanken? Sie waren Freunde und mehr nicht. Im Großen und Ganzen betrachtet war der Abend gewiss nichts besonderes, doch an diesem Tag machte Jonathan die Bekanntschaft eines gewissen John Barrington. Sein Vater hatte ihn eingeladen. Damals war John noch nicht so einflussreich gewesen, doch machte er sehr genau deutlich was er wollte und wie er es bekommen würde. Mathew hatte ihn eingeladen, um Jonathan einen Mann zu präsentieren, vor dem er sich würde in Acht nehmen müssen. Jonathan konnte die Bedenken seines Vaters damals verstehen. Barrington war unter einfachen Umständen aufgewachsen und Manieren schien er keine zu haben. Außerdem lag in seine Augen etwas gefährliches, was Jonathan nicht bestimmen konnte. Er nahm John Barrington zur Kenntnis, beschloss gleichzeitig aber nichts weiter mit ihm zu tun haben zu wollen. Am nächsten Tag ging Jonathan bereits am Morgen in den Garten. Er nahm seine Mappe mit und Kohlestifte und fertigte Skizzen der Bäume und Blumen an. Seine Mutter hatte sich bereits das nächste Gemälde von ihm gewünscht und da er ihr einfach nichts abschlagen konnte, wollte er so früh wie möglich damit beginnen. Es sollte natürlich ihren prächtigen Garten zeigen. Noch ein anderer Grund machte Jonathan die Arbeit daran leicht. Mit diesem Wunsch seiner Mutter konnte Jonathan in den Garten gehen, ohne fragenden Blicken zu begegnen. Natürlich hoffte er darauf, dass Mary kommen würde, doch er hatte den Saal am Abend gesehen und wusste, dass das Aufräumen Zeit in Anspruch nehmen würde. Seine Vermutung bestätigte sich, als er um die Mittagszeit wieder in das Haus zurückkehrte und einige der Mädchen noch immer mit Tellern, Kerzenleuchtern, Tischtüchern und Besteck hin und her tragen sah. Einen Moment überlegte er, ob er trotzdem wieder in den Garten gehen sollte und entschied sich dann dafür. Das Wetter war herrlich und an dem Portrait seiner Eltern konnte er später noch arbeiten. Am späten Nachmittag traf Mary zu seiner großen Überraschung doch noch ein. „Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass du heute noch kommen würdest“, sagte er, während Erleichterung aus seiner Stimme zu hören war. Er war ihr entgegen gegangen und führte sie nun durch die Bäume. Beide setzten sich unter die Apfelbäume, an denen bereits die ersten winzigen Früchte hingen. „Wir waren schon vor einiger Zeit fertig, aber Misses Collest hielt noch eine kleine Ansprache. Sie lobte uns für den reibungslosen Ablauf gestern Abend und hat sogar gesagt, dass sie stolz auf uns sei. Ich muss sagen, so ist sie mir schon viel sympathischer.“ Jonathan lachte. Das konnte er sich nur lebhaft vorstellen. Mary fuhr sich durch die langen Locken und schüttelte sie auf. „Ich hasse es, wenn ich das Ding so lange tragen muss“, murmelte sie vor sich hin. Jonathan wusste, dass sie diese weiße gestärkte Haube meinte, unter der jede unverheiratete Frau ihr Haar zu verbergen hatte. Zumindest galt das für die Mädchen und Frauen, die nicht reich waren und ihr Haar anderweitig schmücken konnten. Marys Locken waren so dick und schwer, dass sie jedes Mal das Gefühl hatte darunter erdrückt zu werden, wie sie ihm einmal erzählt hatte. Aber Misses Collest kannte kein Erbarmen und Jonathan hegte den Verdacht, dass sie auch ein wenig neidisch war. Schließlich war ihr Haar schon seit Jahren ergraut. Vielleicht war er daran nicht einmal unschuldig, sinnierte er einen Moment lang. Mary neigte den Kopf ein wenig und fuhr sich mit den Fingern geistesabwesend durch die Haare. Dabei legte sie die Stirn in Falten und die Nase kraus. Genau in diesem Moment entschloss sich Jonathan sie zu malen. Er würde es nicht tun, weil es seines Meisters Wunsch war, sondern nur für sich selbst. Schon lange hatte er sie malen wollen, gestand er sich ein. Die vielen angefangenen Skizzen waren der beste Beweis dafür. „Zeigst du mir jetzt deine Bilder, Jonie?“, fragte sie ihn und unterbrach ihn in seinen eigenen Gedanken. Die Aufregung in ihrer Stimme war deutlich zu hören. „Ja, doch vorher will ich dir eine Bedingung dafür stellen, dass ich sie dir zeige und erkläre.“ Misstrauisch hob Mary eine Augenbraue. „Was könnte ich dir schon geben?“ „Ich möchte dich Malen, auf einer richtigen Leinwand mit Farbe“, sprach er seinen Wunsch aus. Überrascht öffnete Mary den Mund und schloss ihn gleich wieder. Eine leichte Röte zog sich über ihr Gesicht, was Jonathan gefiel. „Mich? Aber warum? Ich bin nichts besonders? Sicher gibt es genug andere Frauen, die das sehr gern tun würden.“ „Ja, sicher gibt es die und ich habe auch schon andere Frauen gezeichnet, aber jetzt ich will dich malen.“ Er betonte die letzten Worte und hoffte, dass sie merkte, wie wichtig ihm das war. „Oh, aber Jonie, das ist… Ich denke wirklich nicht, dass ich dafür geeignet bin.“ Jetzt lachte er leise. „Dafür gibt es doch keine Eignung. Warum stört es dich so?“ „Ich denke einfach, dass ich nicht gut genug dafür bin. Schließlich… schließlich, weiß ich ja selbst nicht einmal wie ich aussehe und ich könnte das Bild nie überprüfen. Was wenn du mir drei Augen malst oder eine krumme Nase? Oh Gott, vielleicht habe ich das sogar. Also eine krumme Nase und nicht drei Augen, das hätte ich sicher bemerkt…“ Jonathan konnte vor Lachen nicht mehr an sich halten. Er musste sogar so sehr lachen, dass ihm bereits der Bauch wehtat. Kurz überlegte er, wann der das letzte Mal so ausgelassen gelacht hatte, er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er war der festen Überzeugung, dass es nur in ihrem Beisein gewesen sein konnte. „Jetzt lachst du auch noch über mich!“, schimpfte sie empört. „Entschuldige, aber die Vorstellung ist einfach… warte… ich muss mich erst beruhigen“, sagte er mit Mühe und wischte sich Lachtränen aus den Augen. Mary hatte den Mund zu einer beleidigten Grimasse verzogen, was es nicht gerade besser machte. Noch immer lachend ließ sich Jonathan ins Gras fallen und zog Mary am Arm mit sich. „Jonie!“ Sie lagen nebeneinander und Jonathan sah in den blauen Himmel, in dem ein paar weiße Federwolken hingen. „Es… es tut mir leid.“, brachte er schließlich hervor. Er atmete noch ein paar Mal kräftig durch, bis er sicher war, wirklich weiter reden zu können. „Dein Gesicht war einfach zu komisch.“ „Nicht gut“, knurrte sie. „Du musst dir keine Sorgen machen, du hast keine drei Augen und auch keine krumme Nase. Ich möchte dich einfach malen, weil… du es bist… und weil deine Haare eine Herausforderung sind.“ „Meine Haare?“ Jonathans Herz schlug schneller. Es war eine gute Begründung, vielleicht nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht gelogen. „Ja“, erwiderte er schließlich. „Ich habe noch nicht viele Frauen getroffen, die so lockiges Haar haben wie du, zumindest kein echtes. Es wäre eine gute Erfahrung für mich so etwas zu versuchen.“ Mary antwortete nicht gleich darauf und wartend sah Jonathan sie an. Er wusste, dass wenn sie nein sagen würde, er ihren Wunsch respektieren würde. „Einverstanden“, sagte sie schließlich. „Wenn es dir für deine Studien dient, soll es mir recht sein.“ Jonathan konnte ein Lächeln auf seinem Gesicht nicht verhindern. „Doch auch ich habe eine Bedingung“, fügte sie an und das Lächeln verschwand schnell wieder. „Was immer es ist, ich bin einverstanden“, sagte er rasch, damit sie es sich nicht noch einmal anders überlegen konnte. Mary drehte den Kopf in seine Richtung. „Ich weiß immer noch nicht, wie du nach diesen vier Jahren eigentlich aussiehst.“ Ohne ihr zu antworten, stand er auf und zog sie an der Hand sanft nach oben. „Dann finde es heraus“, erwiderte er und legte ihre Hände auf seine Schultern. Mary lächelte und begann seinen Körper wie so oft zuvor vorsichtig abzutasten. Hatte sie sonst immer die Veränderung seines Aussehens kommentiert, schwieg sie nun. Jonathan sah, wie sie nachdenklich die Stirn runzelte oder auf ihrer Lippe kaute, manchmal machte sie auch beides gleichzeitig. „Stimmt etwas nicht mit mir?“, fragte er sie verwirrt, nachdem sie geendet hat und schweigend den Kopf senkte. „Ja… Nein…“ Noch einmal hob sie die Hände und fuhr seine Arme entlang. Dabei übte sie etwas mehr Druck aus und schüttelte dann den Kopf. „Hast du Muskeln bekommen?“, fragte sie auf einmal ungläubig. Ihm stand kurzzeitig der Mund offen. Das hatte ihn noch nie jemand gefragt. Es war niemanden sonst aufgefallen. Sein Körper hatte sich in den vier Jahren verändert. Er war kräftiger geworden und hatte tatsächlich ein paar größere Muskeln gewonnen, mit denen er von Natur aus nicht unbedingt großzügig gesegnet war. „Die Staffeleien und Leinwände haben schon einiges an Gewicht und das Anmischen von Farben kann auch eine anstrengende Tätigkeit sein.“ „Jetzt kann ich verstehen, warum du den Frauen so gefällst“, erwiderte sie und setzte sich wieder. Sie hatte nichts Fröhliches im Gesicht, sondern wirkte nachdenklich. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte er leicht verwirrt. „Oh, wir hören so einiges“, sagte sie nun und lächelte doch. „Wenn deine Eltern ein Brief von dir oder Mister Alley erhielten, lasen sie ihn sich gegenseitig vor und meistens war dann eine von den anderen anwesend.“ Mary zuckte mit den Schultern. „Sie konnten es nie lange für sich behalten. Deine Eltern äußerten wohl die Vermutung, dass du viele weibliche Bekanntschaften hattest, aber von dieser einen musst du oder Mister Alley wohl öfter geschrieben haben.“ „Valentina?“ „Ah, so hieß sie. Warum hast du sie nicht mitgebracht? Ich glaube deine Eltern haben das sogar erwartet.“ Jonathan seufzte und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Es behagte ihn nicht, mit ihr darüber zu reden. Warum wusste er selbst nicht so genau. Er setzte sich neben sie und überlegte, wie viel er ihr wohl erzählen sollte. „Ich habe mich ungefähr ein Jahr mit ihr verabredet, als dann das Datum meiner Rückkehr feststand habe ich die Verbindung gelöst. Sie war nicht die Richtige.“ „Oh, das tut mir leid.“ „Wirklich?“ „Ja, jeder sehnt sich doch noch einem anderen im Leben oder nicht?“ „Ich weiß nicht“, antwortet er ausweichend. „Bisher hatte ich nicht das Gefühl, es mit jemanden für den Rest meines Lebens aushalten zu können. Das körperliche ist das eine und das war mit Valentina ganz gut, aber-“ Entsetzt schlug er sich die Hand vor den Mund. Was erzählte er da? Er dürfte gar nicht so über Valentina sprechen und schon gar nicht mit Mary. An ihren weitaufgerissenen Augen erkannte er, dass sie wohl genauso dachte. Wieder viel ihm auf, wie sehr ihre Augen ihn an Glas erinnerte und wieder einmal glaubte er bis in ihre Seele schauen zu können. Doch dieses Mal schien das Glas einen Riss zu haben. Warum? „Nun, auf jeden Fall werden einige der Mädchen wohl froh drüber sein“, sagte sie schließlich lächelnd. Ihr Lächeln kam ihm nicht echt vor, dachte er. Aber vielleicht bildete er sich das alles nur ein. Jonathan wusste nicht, was mit ihm los war. Sie verwirrte ihn schon wieder. „Wie meinst du das?“ „Nun, dann müssen sie dich nicht teilen und könnten dich weiterhin bewundern. Zeigst du mir nun deine Bilder?“ Fast gewann Jonathan den Eindruck, dass sie das Thema wechseln wollte. Das war ihm ganz recht, denn obwohl er es für gewöhnlich genoss, das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein, behagte ihm dieses Gespräch ganz und gar nicht. Wortlos griff er zu seiner Mappe und holte die erste Skizze hervor. Es zeigte eine Pieta. Jonathan liebte diese Statue. In seinen Augen war sie einfach perfekt, so voller Würde und doch Schmerz. Tage hatte er damit zugebracht sie zu skizzieren und das sie nicht für jedermann zugänglich war, viele Anträge dafür stellen müssen. Mit dem Ergebnis war er sehr zufrieden und stolz darauf. Schon als er es angefertigt hatte, hatte er sich vorgestellt sie einmal Mary zu zeigen. Schon am nächsten Tag begann er die ersten Skizzen von Mary. Sie saß vor ihm auf der Wiese und während er sie zeichnete unterhielten sie sich miteinander. Mary hatte nur wenig Zeit, da sie noch Arbeiten in der Küche zu erledigen hatte, doch Jonathan mit den ersten Bildern zufrieden. Als er versucht hatte sie aus dem Gedächtnis zu malen, hatte er zwar einige wenige Dinge ganz gut getroffen, die Form ihres Gesichtes, ihrer Augen und ihrer Lippen, doch das Gesamtbild hatte ihn nie zufrieden gestellt. Ihrer Nase zum Beispiel, die vorn an der Spitze ganz leicht nach oben ging oder ihren Ohren, deren Ohrmuscheln beinah einen perfekten Halbkreis bildeten. Jonathan verbrachte die meiste Zeit des Sommers im Garten und wartete auf Mary. Er wusste nie wann sie kommen würde. Aber es machte ihm nichts aus. Es war das erste Mal, dass er des Wartens nicht leid wurde, hatte er doch mit seinen Skizzen genug zu tun. Auch wenn er sich vor nahm den Garten zu skizzieren um dessen Gemälde so bald wie möglich beenden zu können, schienen seine Hände wie von selbst zu ihr zurückzufinden. Zeichnete er gerade noch einen Blüte, wurde im nächsten Moment ein Auge, Ohr oder eine Haarlocke daraus. Jetzt da er sie wieder täglich um sich hatte, ließ sie sich einfach nicht mehr aus seinen Gedanken drängen. Sie schaffte es einfach ihn jeden Tag aus neue zu faszinieren und zu überraschen. Jonathan wurde es nie langweilig mit ihr. Nie hatte er auch nur einmal das Gefühl, einer Unterhaltung mit ihr entfliehen zu müssen, wie es zuvor schon vorgekommen war. Denn obwohl Mary das meiste, was sie über die Naturwissenschaft und Mathematik wusste, von ihm gelernt hatte, so hatte sie doch ihre eigenen Ansichten und diskutierte oft und viel mit Jonathan darüber. Manchmal geschah es, dass sie Tage später zu einem Thema zurückkehrte, dann mit vollkommen neuen Gedanken und Überlegungen dazu. Sie schien alles in sich aufzunehmen, ohne auch nur das kleinste Detail zu vergessen. Die Tage verstrichen und Mary schaffte es immer sich für ein paar Augenblicke davonzustehlen, wohlwissen, dass Misses Collest sie ausschimpfen würde, sollte sie sie erwischen. Obwohl er das wusste und obwohl er die Warnung seines Vaters noch in den Ohren hatte, schickte Jonathan sie nicht zurück. Er freute sich vielmehr darüber, dass sie seinetwegen bereit war dieses Risiko einzugehen. Auf den Ausritten, die Jonathan mit seinem Vater unternahm, fragte dieser nicht noch einmal nach Mary, aber er erkundigte sich sehr interessiert nach seinen Skizzen und wollte sie sich oft anschauen. Jonathan ahnte, warum sein Vater das tat, schließlich verbrachte er die meiste Zeit im Garten. Er konnte also nicht so tun, als hätte er noch kein Bild von Mary angefertigt, aber er war sehr darauf bedacht, dass er ihm nur einige grobe Skizzen zeigte. Auch die Leinwand, die er für das Portrait von Mary vorgesehen hatte, hielt er gut hinter der des Gartens verborgen, so dass niemand sie sehen würde. Das Portrait seiner Eltern hatte er bereits vor einiger Zeit beendet. Er arbeitete also gleichzeitig an zwei Gemälden, dem Garten und Marys und es war eine vollkommen neue Erfahrung für ihn. In beide Bilder musste er gleichviel Arbeit und Energie investieren, damit sie seinen Ansprüchen genügten. Jeden Abend fiel er erschöpft in einen langen Schlaf. Doch es war wie ein innerer Zwang, der ihn dazu antrieb jeden Tag an den Bildern zu malen. Er konnte keinen Tag ungenutzt lassen, sonst kam er ihm vergeudet vor. Wochen vergingen und inzwischen waren die Äpfel reif und hingen schwer an den Bäumen. Schon bald würden sie geerntet werden. Es war der erste Herbst seit langem sein, den Jonathan in seinem Elternhaus verbrachte und nach all den Jahren hatte er auch nicht das Bedürfnis zu gehen. Er fühlte sich wohl mit der Situation, in der er sich im Moment befand und wollte nichts daran ändern. Einladungen von Mister Alley schlug er deshalb regelmäßig aus. Auch die Aussicht weitere Länder und Menschen kennenzulernen, konnte Jonathan nicht reizen. Ihm genügte das, was er hatte und in Marys Gegenwart fühlte er sich so zufrieden, wie in jenen Moment in denen er einem unbekannten Kunstwerk gegenüber stand. Denn für ihn war sie ein Kunstwerk, an dem er jeden Tag etwas neues entdeckte und das aus so vielen Schichten zu bestehen schien, dass es ihn immer wieder regelrecht verwirrte. Er war also glücklich, doch eines Tages kam Mary mit gesenktem Kopf zu ihm. Was Jonathan noch mehr verwunderte, war die Tatsache, dass sie die gestärkte Leinenhaube auf dem Kopf trug, von der er wusste, wie sehr sie sie hasste und die zudem ihre wunderschönen Haare verbarg. „Was soll das? Warum hast du das Ding auf und warum siehst du so traurig aus?“, fragte er sie noch bevor sie richtig bei ihm war und er sie begrüßt hatte. Mary zuckte bei seiner Stimme kurz zusammen, als hätte sie ihn gar nicht erwartet. Sie antwortete ihm erst, als sie sich bereits gesetzt hatte und seufzte vorher noch einmal tief. „Meine Mutter hat mir schon oft gesagt, dass ich nicht so viel Zeit mit dir verbringen sollte. Schließlich bin ich eine Frau und noch dazu unverheiratet. Es schickt sich nicht allein zu sein, weil wir ja etwas Unsittliches anstellen könnten. Außerdem könnte es meinen Ruf gefährden oder noch schlimmer deinen. Ich weiß, dass die anderen Mädchen über uns tuscheln, aber bisher hat mich das nicht wirklich gestört.“ Jonathan wusste nicht, was er davon halten sollte. Nicht nur er hatte sich von seinem Vater eine Predigt in dieser Sache anhören müssen, sondern auch Mary von ihrer Mutter. War es denn wirklich so verwerflich, wenn sie die Gegenwart des jeweils anderen genossen? „Aber jetzt stört es dich?“, fragte er sie deswegen und befürchtete schon, sie würde nickten. Doch was sie stattdessen sagte, überraschte ihn noch einmal: „Jetzt hat Misses Collest mit mir gesprochen.“ Jonathan hielt den Atem an. Er konnte sich denken, dass dieses Gespräch alles andere als angenehm gewesen war. Aber was ging das dieser Frau an? „Was hat sie gesagt?“ „Im Grunde das Gleiche wie meine Mutter, nur nicht so nett und verständnisvoll. Sie sagte, wenn es mir wirklich egal ist, wie sich mein selbstsüchtiges Verhalten auf dich auswirkt, sollte ich doch wenigstens an mich denken.“ „Wieso selbstsüchtiges Verhalten? Das verstehe ich nicht.“ „Sie denke wohl, dass du dich nur mit mir triffst, um mir einen Gefallen zu tun und ich dich als Unterhaltung ansehe oder mir einbilde, dass ich dadurch dein Herz gewinnen könnte. So richtig konnte ich ihr dann nicht mehr folgen, weil so viel gesagt hat.“ „Was?“ Mary machte mit ihrer Hand eine Bewegung, die ihm signalisierte, dass es unwichtig war und für sie schon lange erledigt. Er glaubte ihr nicht, sonst wäre sie wohl nicht so traurig zu ihm gekommen. „Weiter. Was hat sie noch gesagt?“, wollte er wissen und wappnete sich innerlich für alles Mögliche. „Nun, sie fragte mich ob ich wirklich als die… Mätresse eines verwöhnten Muttersöhnchens gelten will oder ob ich nicht doch ein Funken Würde in mir habe.“ „Sie hat was? Sie hat dich als Mätresse bezeichnet?!“, fragte er entsetzt. „Nein, das hat sie nicht. Sie hat ein ganz anderes Wort benutzt“, schnaubte Mary verärgert. „Was?! Welches? Sag es mir!“, forderte er. „Gib mir deine Hand“, sagte Mary auf einmal und Jonathan legte seine Hand in ihre. Ihre Wärme schien sich auf ihn zu übertragen und verursachte ihm dennoch eine Gänsehaut. „Was soll das jetzt werden?“, fragte er irritiert. „Ich will verhindern, dass du etwas Unüberlegtes tust.“ „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich ihr das einfach durchgehen lasse? Natürlich werde ich sie dafür zur Rede stellen!“, erwiderte Jonathan aufgebracht. Mary drückte seine Hand fester. „Nein, damit machst du es doch nur noch schwerer. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Ich hätte gar nicht herkommen dürfen-“ „Du willst nicht mehr kommen?!“ Das Entsetzen und die Angst waren deutlich aus seiner Stimme zu hören. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, sie nun nicht mehr täglich zu sehen. „Lass mich ausreden! Ich wollte sagen, ich hätte nicht herkommen dürfen, bis ich mich beruhigt habe. Aber vielleicht… sollten wir wirklich vorsichtiger sein, uns weniger treffen“, fügte sie zögernd an. Sprachlos sah er sie an. Das konnte nicht ihr ernst sein oder? Sie würde nicht wirklich auf ihre Mutter und Misses Collest hören oder? „Bis auf meine Eltern ist es mir eigentlich egal, was andere von mir denken und meine Eltern wissen, dass wir wirklich nur befreundet sind. Aber ich weiß sehr wohl, dass dir die Meinung anderer wichtig ist. Unser gemeinsamer Umgang wirft tatsächlich ein schlechtes Licht auf dich, schließlich bin ich nur eine Dienstmagd, noch dazu eine Blinde und… selbst deine Eltern reden doch schon darüber und machen sich Sorgen oder nicht?“, fuhr Mary fort. „Hat dir das Misses Collest auch gesagt?“, fragte Jonathan zähneknirschend. Dieses Gespräch gefiel ihm ganz und gar nicht. Mary zögerte einen Moment. „Nicht direkt, wie gesagt, die Mädchen hören sehr viel.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Warum sollte es ein schlechtes Licht auf mich werfen, wenn ich mich mit dir treffe oder jemand denkt du wärest meine… Mätresse? Du bist schön und klug, mehr als eines der anderen Mädchen, sogar mehr als viele der Frauen, die ich bisher kennengelernt habe“, sagte er gerade heraus und bis sich gleich danach auf die Zunge. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Die Worte waren einfach so aus ihm herausgesprudelt, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. Mary dachte wohl das Selbe, denn sie sah ihn mit weitausgerissenen Augen an – auch wenn sie ihn nicht sah. Wieder einmal wünschte sich Jonathan sie könnte es. „Das… Wir… Du solltest nicht so reden und es gibt auch gar nichts zu bereden. Ich habe Misses Collest gesagt, dass wir uns nur unterhalten und ich es immer genieße bei dir zu sein. Außerdem ist es ganz allein meine Sache, wie ich meine freie Zeit verbring. Wenn du dich dazu entscheidest, mir deine Zeit zu schenken, dann fühle ich mich geehrt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen und ich möchte auch nicht weiter darüber reden.“ Mary klang fest entschlossen und Jonathan wusste aus Erfahrung, dass wenn sie so mit ihm sprach, sie auch nicht mehr umzustimmen war. In solchen Momenten führte jedes Gespräch ins Leere. „Du genießt es bei mir zu sein?“ Mit einer gewissen Genugtuung stellte Jonathan fest, dass sie errötete. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Mary wollte ihre Hand wegziehen, doch er hielt sie fest. So schnell würde er sie nicht gehen lassen. „Habe ich das wirklich gesagt?“ „Ja.“ Das Grinsen war aus seiner Stimme zu hören. Es war selten, dass er sie so um Fassung ringen sah. „Nun… dann habe ich…“ „Was hast du mich etwa angelogen?“ „Nein, das habe ich nicht!“, erwiderte sie etwas zu aufgebracht. „Ich finde es schön bei dir zu sein und… ich genieße diese Momente wirklich, lenken sie mich doch von– Mist!“, fluchte sie plötzlich laut und Jonathans Herz rutschte an die Stelle, wo sich eigentlich sein Magen befand. Mary entzog ihm ihre Hände nun und kratzte sich unter der Haube. „Ich hasse dieses Ding!“, schimpfte sie und ihre Wangen röteten sich nun vor Wut. Eine ihrer Locken löste sich unter der Leinenhaube und umrahmte ihr Gesicht. Jonathan wusste hinterher nicht, ob es an ihrem vorherigen Gespräch lag oder ob es auch so geschehen wäre. Doch aus einem inneren Impuls heraus, zog er an den Band, welches die Haube verschloss und sie rutschte Mary vom Kopf. Sie fing sie überrascht mit den Händen auf. „Warum hast du das getan?“ Er konnte ihr nicht antworten. Wie gebannt starrte er auf ihre Haarpracht, die wie ein Wasserfall von ihrem Kopf auf ihre Schultern herunterstürzte und sich dann auf ihrem Rücken und Brust ergoss. Nur eine einzige, widerspenstige Strähne hing ihr genau ins Gesicht und schien ihre Wange zu liebkosen. Jonathan beugte sich näher zu ihr und streckte eine Hand aus. Er berührte die Strähne mit seinen Finger und spürte gleichzeitig, wie Mary den Atem anhielt. Zärtlich und beinahe behutsam, als könnte er sie verletzten, schob Jonathan die Haarsträhne hinter Marys rechts Ohr. „Jonie?“, flüsterte sie. Ihr Atem streifte seine Hand und erneut bekam er eine Gänsehaut. Alles, was er gesagt hatte, war wahr gewesen, dachte er. Sie war klug und sie war schön. Sie war die schönste und klügste Frau, die er je getroffen hatte. Sie brauchte all diesen teuren und punkvollen Kleider nicht und keinen Schmuck oder Puder, denn sie war auch so schön, von außen wie von innen. Mary war die erste Frau, mit der er sich niemals langweilte. Sie war die Erste gewesen, die ihm immer die Wahrheit gesagt hatte, schonungslos und offen. Sie war diejenige bei der ihm das nichts ausmachte, die ihn damit zu nachdenken brachte, über sich selbst und seine Einstellungen. Sie war die Frau, an die er ständig während seine Reisen gedacht hatte –auch wenn er es zu verdrängen versucht hatte. Nur wegen ihr hatte er mit dem Zeichnen begonnen, nur wegen ihr, hatte er es weiterverfolgt. Sie hatte diese Leidschaft in ihm geweckt. Für Mary hatte er sich sogar mit solcher Literatur beschäftig, die ihn sonst nie interessiert hätte, nur damit er ihr davon erzählen und ihr vorlesen konnte. Sie war die erste Frau, bei der er immer sein wollte, von der er nicht mehr getrennt sein wollte und sie war auch die erste Frau gewesen, die er aufrichtig und wahrhaftig berühren und küssen wollte. Während ihm all dies durch den Kopf ging, beugte er sich noch ein wenig weiter vor. Sein Gesicht war dem ihren jetzt ganz nah und er konnte das Zittern ihres Körpers wahrnehmen. „Jonathan?“, fragte sie noch einmal. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Wispern und heißer. Sie wusste, wie nah er ihr war. „Mary, ich werde dich jetzt küssen“, murmelte er mit rauer Stimme. Er wollte sie warnen, er wollte ihr die Gelegenheit geben, ihn zurückzustoßen. Er selbst hatte nicht die Kraft es zu verhindern. Sein Mund näherte sich dem ihren und Mary machte sie ein Geräusch, dass er nicht benennen konnte. Es klang wie ein Schluchzen oder ein Seufzen. Aber sie stieß ihn nicht von sich, sie sagte nicht nein. Also küsste er sie. Abermals hatte er das Gefühl ein Blitz würde ihn direkt in sein Herz treffen. Alles in seinem Körper reagierte auf diese erst zarte Berührung. Ihm war, als würde er nach einem langen Schlaf endlich das erste Mal vollkommen wach sein. Sein Verstand und seine Sinne schienen mit einem Mal schärfer zu sein. Er hörte die Vögel und Insekten um sich herum, er roch den Duft der verschiedenen Wiesenblumen, vor seinen Augen tanzten Farben, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte und heftige Empfindungen schienen aus ihm herauszubrechen. Und in diesem Moment wusste er, dass es das war. Das war das Gefühl von dem ihm sein Vater erzählt hatte, vom dem seine Mutter noch immer schwärmte. Das Gefühl, welches man nur dann empfand, wenn man seinen liebsten Menschen nah sein durfte, so nah, wie er es im Moment mit Mary war. Er hätte nicht gedacht, dass all dies noch zu steigern wäre, doch im selben Moment bewegte Mary ihre Lippen leicht. Sie begann den Kuss zu erwidern. Jonathan glaubte er müsste innerlich zerbersten, so sehr berauschte ihn der Kuss. Er fühlte sich, als hätte er endlich das Paradies betreten, von dem der Priester im predigte und wenn dem so war, dann wollte er nie wieder gehen. Es glich einem Fall aus schwindelerregender Höhe, als Mary plötzlich ihren Kopf zur Seite riss und so den Kuss unsanft löste. „Mary, was-“ Sie drehte sich zur Seite, schlag sich die Arme um den Körper und wiegte sich hin und her. Leise konnte Jonathan sie weinen hören. „Wie konntest du das tun?“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)