Der Schrein der Zeit von jade18 (Sawako und die Krieger vom Aokigahara) ================================================================================ Prolog: Beißender Rauch ----------------------- „Drrrrrrrrrrrr, drrrrrrrrrr“ Murrend erwachte Sawako aus der gefühlt viel zu kurzen Nacht. Nun, so kurz war sie gar nicht gewesen, aber dieses Gefühl, als wäre sie vor höchstens fünf Minuten eingeschlafen, hatte sie jedes Mal, wenn der Wecker sie aus dem Schlaf riss. „Drrrrrrrrrrrr, drrrrrrrrrr“ Blind tastete sie nach ihrem Telefon, um den Weckmodus auszustellen. Dabei hätte sie beinahe das Glas Wasser umgerissen, das sie immer neben dem Bett stehen hatte. Die Gefahr, ihrem IPhone versehentlich eine Morgendusche zu verpassen, veranlasste Sawako doch noch dazu, zumindest ein Auge zu öffnen und in die Dunkelheit hinein zu blinzeln. „Drrrrrrrrrrrr, drrrrrrrrrr“ Mit den visuellen Eindrücken kam langsam das Bewusstsein langsam. Die junge Frau richtete sich auf, schnappte sich ihr Telefon und brachte es zum Verstummen, gerade rechtzeitig, bevor das unangenehme Geräusch erneut ertönen konnte. Wie gerne hätte sie eines ihrer Lieblingslieder als Weckton, das wäre eine deutlich freundlichere Art, aus dem Schlaf gezaubert zu werden, jedoch hatte sie die unpraktische Angewohnheit, sich dann einfach umzudrehen und sich in die Schlafphase Teil 2 singen zu lassen. Nur dieser eklig penetrante Klingelton hinderte sie erfolgreich daran, jeden zweiten Tag zu spät zur Arbeit zu kommen, was ihrem Chef gar nicht gefallen hätte. Arbeit? „Verdammt!“, fluchte Sawako, als sie auf das Datum auf dem Display schaute, während dessen Licht in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers ihre schlaftrunkenen Augen blendete. Heute war ihr freier Tag, der erste seit Ewigkeiten, und sie hatte natürlich vergessen, den Wecker auszustellen. Na toll, da konnte das IPhone schon fast das ganze Leben organisieren, aber war nicht so gütig zu erkennen, dass heute ihr Urlaubstag war und es daher so rein gar keine Notwendigkeit gab, sie so früh aus dem Schlaf zu reißen. Frustriert warf sich Sawako zurück auf ihr weiches Kopfkissen und seufzte. Sie hatte sich so auf das Ausschlafen gefreut. Pustekuchen. Sie überlegte kurz hin und her, ob sie sich einfach umdrehen und weiterschlafen oder ganz dynamisch unter die Dusche schwingen sollte, um den Tag voll ausnutzen zu können. Ihr Kopfkissen schien sie bei der Entscheidung bestechen zu wollen, wie es sich so weich und warm an sie schmiegte. Jedoch gewann die Dusche, also schlurfte sie in Richtung Badezimmer.   In Gedanken plante sie Ihren Tag, während sie mit doch eher wenig Elan über die Fliesen tappte, die viel zu kalt an den Füßen waren, um sich länger außerhalb des flauschigen Badezimmerteppichs aufzuhalten. Dabei gab es eigentlich gar nicht mehr so viel zu planen. Schuld daran war ihre Mutter und deren über alles geliebte Kreuzworträtsel. Sawakos Mutter kam an keinem Kreuzworträtsel vorbei, ohne dass es ihr in den Fingern kribbelte, sie sich einen Stift schnappte und ganz euphorisch drauf los rätselte. Und wie es sich für einen wahren Rätselfreund gehört, schickte sie jedes Mal das Ergebnis zum Verlag, in der Hoffnung, einen Wasserkocher, ein Abo für eine Kochzeitschrift oder ein Nähkästchen zu gewinnen. Wer so fleißig mitspielte, musste natürlich früher oder später einmal gewinnen und so war es auch. Ein spektakulärer Preis, dachte Sawako, und konnte sich ein ironisches Grinsen nicht verkneifen. „Herzlichen Glückwunsch, nach 1000 Rätseln und 10000 Stunden des Grübelns gewinnen Sie: tadaaaaa, Tagesausflug zu einem alten Tempelgelände im Aokigahara“, grummelte Sawako ihrem müde drein blickenden Spiegelbild entgegen. Das haute sie ungefähr so sehr vom Hocker, wie es das Nähkästchen getan hätte. Sie hätte auch gar nichts damit zu tun bekommen, wenn ihre Eltern nicht so weit nördlich gewohnt hätten und damit die Anreise zum Aokigahara ein Jahrzehnt gedauert hätte. Denn das brachte ihre Mutter doch auf die geniale Idee, dass ein bisschen frische Luft Sawako ausgesprochen gut tun würde. Zack – schon hatte Sawako den Gutschein im Briefkasten. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen, ganz anders als die ihrer Mutter, die ganz entzückt war über den Gewinn und welche Freude sie ihrer Tochter damit bereitet hatte, wie sie glaubte. „Wie toll ist das denn? Da hab ich endlich gewonnen, ist das schön. Ich wusste, dass ich was gewinne, wenn ich nur kein Rätsel ausfallen lasse. Ich wusste es einfach. Stell dir vor, wie idyllisch das wird, hach, ich bin so neidisch, dass ich nicht diese Tour machen kann. Aber dieser Fahrtweg, oje. Der Aokigahara Wald ist einfach zu weit weg und dein Vater bekommt leider nicht frei. Du weißt ja, wie das mit seiner Firma ist, immer das Gleiche. Wie schön, ein Tempelausflug, das hast du als Kind doch immer so geliebt. Oh, oh, du musst unbedingt ein Foto machen. Du, vor diesem hübschen Tempel, das zauberhafte Grün der Wälder herum und der Berg Fuji hinter dir. Das kommt ins Familienalbum.“ Angesichts dieser Begeisterung, die ihre Mutter am Telefon zu hören ließ, brachte Sawako es nicht übers Herz, den Gutschein einfach verfallen zu lassen. Sie schuldete ihrer Mutter dieses Foto. „Für unser Familienalbum“, wiederholte sie mit der Zahnbürste im Mund. Schade nur, dass sie ihren freien Tag nun irgendwo in der Pampa verbringen müsste. Eine Shoppingtour wäre ihr doch deutlich lieber gewesen. Oder ein entspannter Couchtag. Nein, das war ihr dieses Mal nicht vergönnt, also machte sie sich seelisch und moralisch auf einen unangenehm langen, langweiligen und frischluftigen Tag bereit. Wer weiß, vielleicht dauerte es auch nicht so lange und sie könnte am Abend noch mit ihren Freunden in ihre Lieblingscocktailbar. Dieser Gedanke erhellte ihr die Stimmung.    Grün, grün, grün. Das „Meer aus Bäumen“ war wirklich eine treffende Bezeichnung für diesen Wald, dachte sich Sawako. Sie war froh, dass sie bei dieser ganzen Wildnis überhaupt den Weg zum Tempel gefunden hatte. Google sei Dank. Was haben die Leute nur früher ohne Smartphones, Navis und dem ganzen schönen Schnickschnack gemacht? Sie hatte nun das Ziel der eineinhalbstündigen Autofahrt erreicht, dennoch kam sie sich hier sehr verlassen vor. Hier war kaum jemand zu entdecken. Kein weiteres Auto, ja nicht mal etwas, das an einen Parkplatz erinnerte. Auch der Weg hierher wirkte sehr verlassen. Alles, was sie gesehen hatte, abgesehen natürlich von tausenden Bäumen, war ein kleines Haus am Wasser, ein nicht sehr vertrauenswürdig aussehender Bootssteg und ein noch weniger freundliches Ruderboot, vor der Kulisse des weiten Saiko Sees, ausgestreckt im Meer aus Bäumen und im Hintergrund Berg Fuji. Also ihre Mutter hätte das eindeutig als idyllisch bezeichnet. Nachdem sie ihr Auto am Straßenrand, oder nein, Wegrand traf es eher, abgestellt hatte, ließ sie ihren blick über das Gelände schweifen. Es kam ihr wirklich einsam vor, zu einsam. Aber immerhin war Sawako eine halbe Stunde zu früh, weil sie nicht gewusst hatte, wie gut sie mit ihrem Auto durch den Wald kam. Es hatte immerhin schon den ganzen Tag geregnet und der Waldboden war sehr aufgeweicht. Auch ein Blick in die Wolken hob ihre Stimmung nicht. Eine noch dunklere Front schien sich in diese Richtung zu bewegen. Zum Glück regnete es nicht, noch nicht. Sie fühlte sich gerade sehr verloren ohne den Lärm der Stadt und deren Trubel und Menschenmassen. Für einen Moment hielt sie die Luft an, um die Geräusche um sie herum besser aufnehmen zu können. Das Rauschen der Bäume, der vielen, vielen Bäume, erschien ihr unglaublich laut, durch den ungewohnten Mangel an Hintergrundlärm. In der Stadt nahm sie das Rascheln der Blätter nie wahr, wenn sie an einem der Parks vorbei schlenderte.   Plötzlich klingelte ihr Telefon, und das hier so wenig herein passende Geräusch riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken. Nach dem Schreck musste sie kurz schmunzeln. Typisch Stadtkind, dachte sie, selbst in der Wildnis kam sie keine zwei Minuten ohne Technik aus. „Schatz, bist du schon da? Ich bin ja so aufgeregt.“ Trällerte ihre Mutter. „Hm, schon da? Also ich bin hier irgendwo im Nirgendwo, aber mein Navi sagt, hier geht es zum Tempel. Ich hoffe, wir gehen bei der Führung rein, sonst werde ich von einem Wolkenbruch weggespült, fürchte ich“, scherzte Sawako. „Ach was. Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Kleidung“, antworte ihre Mutter bestimmt. Sawako hasste diesen Spruch, wo doch die „richtige“ Kleidung immer aussah wie eine Modesünde und sie sich daher doch lieber mit der „falschen“ abgab. „Wofür gibt es Regenschirme? Aber der Wind macht die Dinger gerade ziemlich nutzlos. Ich bin nicht sicher, ob das Ganze heute überhaupt stattfindet. Das Wetter ist wirklich ziemlich mies. Nicht, dass die Straße zu schlammig wird und ich nicht zurückfahren kann und hier festsitze und als Priesterin rekrutiert werde.“ Sie musste bei dem Gedanken schmunzeln, hatte sie als Kind doch immer davon geträumt, eine Miko zu werden. Wer weiß, wenn es in Strömen zu regnen begann, sie bis auf die Knochen nass wurde, bekäme sie vielleicht von den Priestern und Priesterinnen traditionelle Kleidung als Wechselsachen. Das würde ein interessantes Bild abgeben, für das gute alte Familienalbum. „Ich bin auch gar nicht sicher, ob ich hier überhaupt richtig bin. Hier ist absolut nichts los. Keine Menschen, kein irgendwas. Ich hätte einen Touristenspot mit Café und Souvenirshop erwartet. Was war das nur für eine Zeitung, die einen an so ein abgelegenes Plätzchen schickt?“ „Das willst du gar nicht wissen, Schatz. Und nun sei mal nicht so negativ. Merkst du schon, wie die frische Luft deinen Kopf frei werden lässt? Du hast so viel gearbeitet in letzter Zeit und bist viel zu viel im Büro. Da brauchst du mal so einen Tag Auszeit. Punkt.“ „Gut, gut, ich atme frische Luft“, erwiderte Sawako und atmete demonstrativ laut, damit ihre Mutter es durch das Telefon hören konnte. „So ist es richtig. Ich wünsche dir ganz viel Spaß, vergiss das Foto nicht und falls du im Regen wegschwimmst, halte dich an irgendeinem Balken fest“, sagte sie lachend zum Abschied und legte nach den üblichen Machs-gut-Floskeln auf.   Schmunzelnd schaute sie auf die Uhr. Viertel vor, noch immer niemand in Sicht und das schlimmste war, dass es jetzt tatsächlich anfing, zu regnen wie aus Eimern. Die Führung sollte bald losgehen. Doch da stand sie nun, Sawako, 22 Jahre alt, langweiliger Bürojob, Single, alleine und verlassen im Wald, mit einem Regenschirm, der mehr Deko war als alles andere und den Wind nicht davon abhielt, ihr immer wieder Regentropfen ins Gesicht zu schleudern. Sie wünschte, eine ihrer Freundinnen hätte mitkommen können. Zwar hätte sie der Ausflug an sich genauso gelangweilt wie Sawako, aber zu zweit kann man sich jede noch so fade Veranstaltung unterhaltsam machen. Leider hatte niemand frei bekommen, oder aufgrund des spannenden Ausflugsziels es gar nicht erst versucht. Sie konnte es ihnen nicht verdenken, es wäre ihr ähnlich ergangen.   Wieder schaute sie auf ihre Uhr. Zehn Minuten vor geplantem Beginn. Vielleicht fällt ja alles sprichwörtlich ins Wasser? Aber dann hatte sie keine Lust, hier noch eine halbe Stunde im Regen zu stehen und dann unverrichteter Dinge abzuziehen. Also machte sie sich auf den Weg und stiefelte den Weg Richtung Tempel. Der Regen peitschte ihr dabei immer wieder unangenehm ins Gesicht. Was für ein scheußliches Wetter. Wie typisch für sie, dass es gerade jetzt so schlecht wurde. Die Woche bisher war es immer deutlich heiterer gewesen und auch der Wetterbericht hatte ihr mehr versprochen. Naja, auf dem Gutschein war „eine Führung durch das Tempelgelände“ versprochen und jetzt hoffte sie nur noch auf Überdachung. Wenn die Führung aufgrund des schlechten Wetters verkürzt wurde, wäre sie früher in ihrer Bar und würde mit ihren Freundinnen lachen. Daher bahnte sie sich optimistisch ihren Weg. Schnell erreichte sie die Torbögen, die zum Hauptgebäude führten. Trotz des Wetters, das die ganze Anlage in triste Farben hüllte, wirkte alles ziemlich beeindruckend, was Sawako überraschte. Sie blieb einen Moment stehen und betrachtete die schweren, rot bemalten Säulen. Die Farbe strahlte, selbst bei diesem Wetter. Der Tempel musste gut gepflegt sein. Wie alt mochte er wohl sein? Sie beschloss, bei der Führung doch besser als geplant aufzupassen. Fasziniert klemmte sie den Regenschirm zwischen Schulter und Kinn, um mit beiden Händen über das nasse Holz streichen zu können. Ein angenehm warmes Gefühl überkam sie. Dieser Ort hatte etwas Magisches, kam ihr in den Sinn. Sie ging, nun schneller als zuvor, durch die Torbögen, um den eigentlichen Tempel zu erreichen. Ihr Herz raste. Es musste an der kalten Luft, oder ihren schnellen Schritten liegen, vermutete sie. Schnell erreichte sie das Ende und sah die ganze Pracht des Tempels vor sich. Sie hielt für einen Moment die Luft an. Es war atemberaubend. Majestätisch und magisch, wie der Tempel mit seinen roten Wänden, seinen vielen filigranen Details und seinem dunklen Dach dort zwischen den alten, mächtigen Bäumen ruhte. Sie hörte das hypnotisierende Geräusch des Regens, der auf das Dach der Anlage plätscherte. Die Gärten waren kaum gepflegt, ließen aber erahnen, wie die Tempel früher gewirkt haben musste. Und dann fiel es ihr wieder ein. Ihre Mutter hatte es am Telefon schon angedeutet. Als Kind hatte sie solche Tempel immer geliebt. Sie hatten früher, als Sawako noch sehr klein war, eine ähnliche Anlage besichtigt und sie war hin und weg gewesen. Ihr Vater zog sie noch heute gern damit auf, wie schwer sie damals wieder ins Auto zu bekommen war. Sawako hatte sich so gut wie gar nicht daran erinnern können, aber jetzt schossen ihr die Bilder in den Kopf wie bei einer Dia-Show. Sie, wie sie durch die Säulen rannte, gänzlich sorglos und unbeschwert und überglücklich. Sie, wie sie davon schwärmte, eine Miko zu werden und so viel Zeit wie möglich in einem Tempel zu verbringen. Sawako musste lachen. Tatsächlich wäre sie hier heute eher fehl am Platz. Doch leugnen konnte sie nicht, dass ihr Herz fast so sehr raste, wie vor vielen Jahren, als sie mit ihren Eltern einen solchen Tempel besucht hatte. „Hey, junge Frau!“ Der Ruf riss sie jäh aus dem Gedanken. Eine kleine Gruppe stand unter einem Dachvorsprung, vor dem Regen geschützt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie den Regenschirm hatte sinken lassen und nun ziemlich durchweicht war. Sie fluchte leise, dass sie mit ihren Gedanken so abgedriftet war. So etwas kannte sie gar nicht von sich. Schnell hob sie den Schirm über ihr nun nasses Haar und rannte zu den anderen hinüber. Es waren ein bisschen mehr als ein Dutzend, hauptsächlich ältere Besucher. Sie senkte den Altersdurchschnitt gewaltig. Sawako grüßte höflich, spannte den Schirm ein und stellte sich mit unter. Schnell kam ein Mann, vielleicht Mitte Dreißig, auf sie zu. Er war der Veranstalter dieser Führung, ließ sich ihren Gutschein vorzeigen und verkündete, dass es in fünf Minuten losgehen würde. Zwar fehlten wohl noch ein paar Teilnehmer, er schien darüber aber nicht verwundert, was sie vermuten ließ, dass die Resonanz auf dieses Event zu wünschen übrig ließ. Jetzt, wo sie hier völlig durchnässt zwischen Rentnern stand, war die Magie verflogen, der sie vor wenigen Augenblicken noch verfallen war. Nun war ihr einfach nur kalt und ungemütlich. Aber wie schade, dachte sie, dass der Zauber des Augenblicks immer auf einen so kurzen Moment beschränkt sein musste. Die strich demonstrativ das Wasser aus ihren langen schwarzen Haaren. „So, es geht los“, erklärte der Mann, der die Führung übernahm. Er sah nicht aus wie ein Priester, eher wie ein Versicherungsvertreter. Es hätte sie kaum gewundert, wenn er allen einen Unfallversicherung verkaufen wollte, um sie bei Unglücken auf durchweichtem Waldweg zu schützen. Der Tempel wurde wohl kaum noch aktiv betreut, dachte Sawako ein wenig wehmütig. Sie folgte der Gruppe um den Tempel herum. So viel zum Thema Überdachung. Es wirkte tatsächlich sehr merkwürdig, wie eine Horde Regenschirme vor diesem altehrwürdigen Gebäude umherschlichen. Der Kontrast schien sich regelrecht zu beißen. Die Anlage war unberührt von allen modernen Extras. Nicht mal elektrische Beleuchtung gab es hier, erzählte der Guide, was Sawako sehr überraschte. Wieso war ihr das nicht aufgefallen? Es wirkte alles so … selbstverständlich hier. Ein merkwürdigen Gefühl. Sawako lauschte interessiert den Erzählungen. Der Tempel war über 600 Jahre alt und ist in der Vergangenheit mehrmals stark beschädigt worden. Da er aber das einzige Gebäude seiner Art in dieser Provinz war, wurde immer wieder Geld und Energie in die Wiederherstellung gesteckt. Es wäre auch eine Schande gewesen, den Tempel zerfallen zu lassen, dachte Sawako. Besonders in der Sengoku Zeit, als Tumulte und Unruhen das Land durchzogen, nahm der Tempel häufig Schäden. Einmal wurde er fast niedergebrannt. Ein Bild, dass sie sich nur schwer vorstellen konnte. Das ganze Gelände in Flammen, oder der Tempel als verkohlte Ruine, um seinen Glanz beraubt. Wieder strich sie mit den Fingerspitzen über die rote Farbe. Die neueste Renovierung war noch keine fünf Jahre her, daher erstrahlte alles so prächtig. „Der Schrein da vorne ist das Herzstück des Tempels. Da die meisten Schriften im späten 18. Jahrhundert geraubt wurden, wissen wir wenig darüber. Hier wurde irgendein Heiligtum aufbewahrt, die Forscher konnten bisher aber nicht herausfinden, um es es sich handelte. Es musste vor langer Zeit verschwunden sein.“ Sie legte den Kopf schräg, als sie den kleinen Schrein im Zentrum betrachtete. Er war keine zwei Meter hoch und genau wie der Tempel selbst reich verziert. Wieder überkam sie ein so merkwürdiges Gefühl, dass sie nicht in Worte fassen konnte. Sie versank tief in den Gedanken. Selbst den Vortrag über die Geschichte des Tempels hörte sie nicht mehr. Plötzlich stieg ihr ein komischer Geruch in die Nase. Sie sah sich um, konnte die Quelle aber nicht ausmachen. Ihr war, als würde es nach Rauch riechen. Machte hier jemand ein Feuer? Das konnte bei der Wetterlage kaum der Fall sein. Doch sie war sich sicher, es roch nach verbrennendem nassen Holz. „Machen Sie ein Feuer für uns, um uns aufzuwärmen?“, fragte sie begeistert. Sie war überrascht, dass sie dafür so verdutze Blicke erntete. „Natürlich nicht. Das ist ein altes, geschütztes Gebäude. Feuer aller Art sind hier verboten. Zum Schutze der Geschichte“, erwiderte der Tour-Führer empört. Konnte er es denn nicht riechen? Ihr schien es unmöglich, es nicht zu bemerken. Der Geruch wurde immer stärker, immer beißender. Es war gar nicht mehr wie ein einfaches Feuerchen. Eher wie die gefährliche Art von Brand. Nun bemerkte sie auch den Rauch. Schwarz und Unheil verkündend schien er wie aus dem Nichts die gesamte Anlage zu umhüllen. Es wäre untertrieben, wenn sie sagen würde, sie wäre nervös. Doch die anderen taten, als wäre nichts. Wie konnten sie etwas so Offensichtliches nicht bemerken? „Hier brennt es doch. Wo ist ein Feuerlöscher?“ Sie sah sich um, um die Quelle auszumachen. Doch der Rauch schien sich überall gleich schnell zu verdichten, sodass nicht zu erkennen war, wo das Feuer lodern müsste. „Sagen Sie, haben Sie getrunken?“, fragte ein älterer Herr perplex. Was ging hier vor. Unruhig lief sie schnellen Schrittes umher und sah sich weiter um. „Sehen Sie es denn nicht? Riechen Sie es etwa nicht?“ Sie konnte es kaum fassen, niemand außer ihr schien irgendetwas Merkwürdiges zu bemerkten. Drehte sie nun durch? Ein bisschen frische Luft und schon verlor sie den Verstand? Keine gute Bilanz. Sie kniff die Augen zusammen. Der Rauch wurde immer dichter und brannte so sehr, dass sie die Tränen nicht unterdrücken konnte. Sie begann zu husten, das Atmen fiel ihr schwerer und schwerer. Besorgt kamen die anderen Besucher auf sie zu, klopften auf ihren Rücken und sprachen beruhigende Worte, die sie nicht verstand. Es wurde immer schlimmer. Nun glaubte sie sogar, die Hitze von Flammen zu spüren. Ihre Augen konnte sie kaum mehr offen halten. Schützend riss sie die Arme vor ihr Gesicht, wollte fliehen, wollte wegrennen, riss sich von den anderen los. Dann stolperte sie und fiel. Blind schlug sie auf dem Boden auf. Und der Lärm, der nun um sie tobte, dröhnte in ihren Ohren. War es nicht eben noch ruhig gewesen, abgesehen von den beruhigenden Worten der anderen? Nun hörte sie hektisches Trampeln, das Zischen von Flammen, die gegen den Regen kämpften und das Schreien von vielen Stimmen. Nun hatten sie wenigstens erkannt, dass es wirklich brennt, dachte Sawako bitter. Ihr Husten wollte sich nicht beruhigen. Doch das Chaos um sie herum zwang sie, blinzelnd zu versuchen, die Augen zu öffnen. Und was sie sah, traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Die ganze Anlage stand lichterloh in Flammen. Das Feuer züngelte meterhoch. Sie spürte die Hitze auf ihrer Haut, trotz des kühlen Regens. Wieder erklangen Schreie. Hilfeschreie. Waren Menschen im Tempel gefangen? Grauen packte Sawako. Sie versuchte, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Es fiel ihr unglaublich schwer. Alleine, die Augen geöffnet zu halten verlangte ihr alle Konzentration ab. Sie bahnte ihren Weg. Die anderen waren weg, sie musste sie suchen, also folgte sie den Stimmen. Dann sah Sawako sie. Etwa zwei Dutzend Männer mit Fackeln und Schwertern in den Händen. Sie trugen schwere Rüstungen. Eine Sekunde erinnerte sie das Bild an einen historischen Film. Dann spürte sie einen berstenden Schmerz am Hinterkopf und verlor das Bewusstsein. Kapitel 1: Gefangen ------------------- Prustend und hustend kam Sawako zu sich. Ihre Lunge schmerzte. Ihr Kopf schmerzte noch mehr. Noch immer völlig orientierungslos strömte die Erinnerung in ihr Bewusstsein und schürte ihre Panik. Sie wollte sich aufrichten, doch irgendetwas drückte sie hinunter. Hinunter … auf kaltes, nasses Holz. Blinzelnd versuchte sie, die Augen zu öffnen. Das Sonnenlicht verstärkte nur Ihren Kopfschmerz. Über sich sah sie nur den wolkenverhangenen Himmel. Sie wollte sich umdrehen, doch schon wieder schien etwas sie festzuhalten. Sawako tastete mit den Händen nach dem Boden. Eindeutig Holz. Und ihre Kleidung war triefend nass. Sie spürte ein leichtes Schaukeln, als würde sie über friedliches Gewässer fliegen. Es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte wirre Bilder von Feuer und Rauch vor Augen, die sie nicht zuordnen konnte, und sie hörte verzweifelte Schreie wie aus weiter Ferne in ihrem Kopf nachhallen. Sie fühlte sich hundeelend, kalt und alles an ihr schmerzte, vor allem ihr Kopf schien vor Schmerz platzen zu wollen. Sie wollte nicht aufwachen, sie wollte nicht über etwas nachdenken, dass sich in ihre Gedanken drängen wollte. Wollte sich ihren schmerzfreien Träumen hingeben. Doch plötzlich nagte irgendetwas an ihrem Bewusstsein. Irgendetwas, das absolut nicht stimmte und das sie bisher nicht bemerkt hatte oder nicht bemerken wollte. Die Erkenntnis traf sie fast genauso hart, wie es der Schlag getan hatte, und sie war sicher, dass es ein Schlag gewesen sein musste. Sie versuchte zu blinzeln, nahm aber kaum etwas wahr, zu benommen waren ihre Sinne. Verzweifelt sammelte sie ihre Gedanken. Da war der Tempel, da war das Feuer, und da war der Schlag auf ihren Kopf. Ihr würde übel, als sie eine Vorahnung beschlich, was das für sie bedeuten mochte. Die Bewegung des Untergrundes fühlten sich tatsächlich an wie auf einem Boot. Da sie mit ihren brennenden Augen nichts erkennen konnte, versuchte sie zu lauschen. Was sie hörte, klang wie mindestens ein Dutzend Ruder, die links und rechts ins Wasser schlugen. Und sie hörte das Grummeln einer ganzen Horde. Ein Rettungstrupp? Wieso war sie auf dem See? Hatte die Feuerwehr sie auf den Saiko See geholt, weil der ganze Wald niederzubrennen drohte? Es war doch niemand da gewesen. Zumindest, bis sie das Bewusstsein verlor. Niemand hatte den Brand bemerkt. Doch da waren die Schreie. Und Rettungstrupps kommen doch auch nicht mit Ruderboten. Was ihr jetzt wirklich Sorgen machte, war dieses Gefühl, bewegungsunfähig zu sein. Den Schmerz ignorierend riss sie erneut die Augen auf … und der Schock presste ihr alle Luft aus der Lunge. Was sie gegen das kalte Holz des Bootes drückte, war die Hand eines Mannes auf ihrer Schulter. Er schenkte ihr keine Beachtung, aber seine Hand wirkte bedrohlich lauernd, als würde sie nur warten, dass Sawako Widerstand leistete. Am meisten fürchtete sie jedoch den Anblick des Mannes. Er trug eine Rüstung, auf dem Rücken hatte er einen Langbogen geschnallt und war das da der Griff eines Katana? Panik kroch in ihr empor. Was ging hier vor sich? Dieser Mann sah aus wie aus einem alten Samurai-Film. Ein Blick nach vorne verriet ihr, dass auch die anderen Männer an Bord ebenso Furcht einflößend waren. Alle trugen die gleiche Rüstung und die gleichen grimmigen Gesichter. Sie erinnerte sich an die Männer mir Katana und Fackeln am Tempel, sie hatten die gleichen Rüstungen getragen. Das war zu viel, eindeutig zu viel für einen Tag. Sie begann am ganzen Leib zu zittern, geschuldet der Kälte und der wachsenden Panik, der sie verfiel. Nun bemerkte auch der Mann, der sie festhielt, ihre Unruhe und wurde daher auf sie aufmerksam. „Sie ist wach“, rief er den anderen zu und sah sie mit einem seltsam musternden Blick an. Ihr gefiel dieser Blick überhaupt nicht. „Sie klingen, als würde Sie das überraschen“, stellte sie verwirrt fest. Jedes Wort brannte in ihrem Hals und ihre Stimme war kaum wiederzuerkennen. Er schien verwundert, dass sie ihn ansprach. Sawako fand es aber ganz und gar nicht abwegig, immerhin war er gerade der Erste in Reichweite, der sie über all das hier aufklären konnte. „Nun“, begann er zögernd, „du hast sehr viel Rauch eingeatmet, und ganz schön was gegen den Schädel bekommen. Wirklich eine sehr unkluge Idee, um im Tempel Dewas umherzuschleichen.“ Bei den letzten Worten klang seine Stimme feindlich. Dewa? Sie verstand nicht und das berstende Gefühl in ihrem Kopf machte es nicht leichter, ihre Gedanken zu sammeln. „Eine dämliche Idee, die dich fast das Leben gekostet hätte. Die dich das Leben kosten wird, wenn Yorinaga-sama mit der Befragung fertig ist und ihm deine Antworten nicht gefallen.“ Ein hässliches Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Hatte er ihr gerade gedroht? „Wer?“ krächzte Sawako. „Bitte, ich weiß nicht, wer Sie sind oder was hier abgeht oder in welches Cosplay-Treffen ich geplatzt bin. Jetzt lassen Sie mich bitte los!“ Sie war überrascht, dass sie so viele Worte herausbrachte, obwohl ihre Stimme zu versagen drohte, und vor allem, welche Bestimmtheit sie trotzdem hineinlegen konnte. Doch das, was folgte, hätte sie nie erwartet. Er schlug sie. Nicht so hart, dass sie gleich wieder das Bewusstsein verlor, aber hart genug, dass die Seite ihres Gesichts, wo er sie traf, schmerzhaft pochte und die andere Seite, die gegen den Holzboden geknallt ist, ebenfalls mit einstimmte. „Zügel deine Zunge, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Ihr ganzer Körper versteifte sich vor Schreck. Wurde sie jetzt wirklich von Samurai-Cosplayern gekidnappt? War ihr Tag nicht schon schlimm genug gewesen? „Es ist wirklich eine Schande“, hörte sie eine zweite Stimme sagen. Es schien der Ruderer direkt vor ihr zu sein. „Ein hübsches Ding, aber Yorinaga-sama wird wohl nicht viel von ihr übrig lassen, wenn sie sich so anstellt.“ Mit der Fußspitze stupste er gegen sie, als wollte er sichergehen, dass sie ihm zuhörte. „Hey, hörst du? Wenn du heil aus der Sache herauskommen willst, sag ihm, was er wissen will. Was du dort zu suchen hattest. Woher du kommst und für wen du arbeitest dummes Ding.“ Er wollte sie wieder anstupsen, als sie ihm keine Reaktion zeigte, doch genau in diesem Moment ging das Boot auf Grund und durch den Ruck, der es durchzuckte, geriet er aus dem Gleichgewicht und verfehlte sie. Der Mann, der sie festgehalten hatte, packte sie nun mit beiden Händen an den Schultern und riss sie hoch. Erstaunlich, wie leicht es ihm fiel, sie aus dem Boot zu hieven, wo sie sich doch fühlte, als wöge sie so viel wie 100 nasse Reissäcke. Sie nahm kaum wahr, was um sie herum geschah. Es war eindeutig zu viel. Erst, als man sie in ein kleines Zelt brachte, ihre Hände und Füße fesselte und sie alleine zurück ließ, begann sie langsam zu begreifen, was um sie herum geschah. Obwohl ‚begreifen‘ das falsche Wort war, denn sie hatte keine Ahnung, wer diese Männer waren, was sie von ihr wollten und wie es überhaupt erst zu all dem kommen konnte. Sie zerrte an den Fesseln, konnte jedoch kaum Kraft aufbringen. Erschöpfung und Schmerz, Verwirrung und Angst gewannen die Oberhand und sie sackte in sich zusammen und konnte die Tränen nicht zurückhalten.   Als sie wieder zu sich kam, war sie immer noch allein. Ihr war schrecklich kalt. Die nasse Kleidung an ihrem Leib war fast getrocknet, aber die Abendluft war frisch und ließ sie erschaudern. Dass es Abend war, vermutete sie anhand der orangeroten Sonne, die sich durch den dünnen Stoff des Zeltes zeigte. Sie blinzelte ein paar Mal kräftig, um sich zu sammeln. Ihre Kopfschmerzen hatten sich gebessert, nun zumindest war der Schmerz nicht mehr unerträglich, und auch ihre Knochen und Muskeln taten nicht mehr so weh wie zuvor. Das war gut, sie war wieder mehr sie selbst. Zuvor an Bord war nur ein Schatten von Sawako gewesen. „Okay“, sagte sie leise zu sich selbst, um sich Mut zuzureden. Möglichkeit Nummer eins: Bei dem Brand hat sich ein Balken gelöst und ist ihr auf den Kopf gefallen. Nun hat ihr Gehirn chronischen Schaden genommen und sie war eigentlich in einem warmen, gemütlichen Irrenhaus und bildete sich alles hier nur ein. Unschöner Gedanke, aber das hieße wenigstens, sie wäre nicht in unmittelbarer Gefahr. Möglichkeit Nummer zwei: Im Wald fand zufällig gerade ein Cosplaytreffen statt und die Samurai-Cosplayer haben sie zwar gerettet und das Feuer gelöscht, sind jetzt aber so gefangen in ihrer Fantasiewelt, dass sie Sawako hier gefesselt zurücklassen, pitschnass und ohne ärztliche Untersuchung, ob sie in Ordnung war. Unwahrscheinlich. Blieb noch Möglichkeit Nummer drei: die Krieger draußen waren echt und sie schwebte tatsächlich in großer Gefahr, weil sie in irgendetwas wichtiges hineingeraten war. Nun müsse sie nur hier warten, bis der Big Boss kommt, dessen Fragen sie nicht beantworten konnte, weil er ein „ich hab doch nur einen Besichtigungsgutschein eingelöst“ nicht akzeptieren würde, wenn er sie für was auch immer hielt … Ihre Gedanken überschlugen sich. Möglichkeit Nummer eins war doch am wahrscheinlichsten. Mutlos sank sie in sich zusammen wie ein Haufen Elend.   Eine gefühlte Ewigkeit lauschte sie reglos allen Geräuschen, die sie außerhalb des Zeltes ausmachen konnte. Sie hatte sich entschlossen, sich, solange sie hier gefesselt war, keine Gedanken darüber zu machen, wie sie in diese Situation kommen konnte, sondern vielmehr auf eine Möglichkeit zu warten, zu entfliehen. Was sie von draußen mitbekam, war nicht besonders aussagekräftig. Sie hörte die Männer reden, trinken und lachen. Manche redeten von einem erfolgreichen Auftrag, einem ergatterten Schatz und einem gefangenen Spion. Sawako hoffte, dass nicht sie es war, die für einen Spion gehalten wurde. Dann hätte sie keine Ahnung, wie sie sich aus diesen Anschuldigungen hätte herauswinden können. Sie verstand selber nicht, was hier geschah, wie hätte sie da eine glaubhafte Erklärung abliefern können? Die Situation erschien ihr aussichtslos. Jedes Mal, wenn sie Schritte vor dem Zelt hörte, schrak sie zusammen. Hoffentlich war dieser Albtraum bald vorbei. Lange hielten ihre Nerven das nicht mehr aus. Und ihr schmerzhaft pochender Hinterkopf war ihr keine große Hilfe. Warten in der Dunkelheit, draußen nur das Flackern des Feuers, und dann die Männer, von denen sie nicht wusste, wann sie wieder mit ihnen konfrontiert werden würde. Das Warten war wirklich unerträglich. Schritte, Stimmen, dann Stille, dann Dunkelheit. Wenn das so weiter ginge, wäre sie nicht pünktlich auf Arbeit, dachte sie mit einem freudlosen Lachen. Wie schön, wenigstens ihr Galgenhumor hatte sie nicht verlassen. Wieder hörte sie Schritte vor dem Zelt. Wie viele Stunden waren bereits vergangen? Ihr Zeitgefühl schien verloren. Sie rechnete schon gar nicht mehr damit, dass jemand zu ihr kam, umso mehr erschrak sie, als das Rascheln des Zeltstoffes die Stille durchbrach und ein Mann eintrat. Sie sah ihn nur einen kurzen Moment. In dem Zelt war es inzwischen dunkel und nur in der Sekunde, als das Licht der Fackeln und Feuer von draußen ihn von hinten anstrahlte, konnte sie sein Gesicht erkennen. Im Gegensatz zu den anderen trug er keine so einfache Rüstung. Über dem edlen Gewand trug er eine Rüstung, die aus einem Museum hätte stammen können, so prachtvoll war sie. Das schwarze Haar trug er im Nacken zusammengebunden. Seine Züge wirkten aristokratisch, dachte sie kurz, doch dann war er in Dunkelheit gehüllt und sie konnte ihn kaum mehr erkennen. Einzig seine Silhouette zeichnete sich deutlich vor dem von außen beleuchteten Zeltstoff ab. Er bewegte sich auf sie zu und kniete sich vor ihr nieder, ihr zugewandt, als hätte er auch in der Dunkelheit kein Problem, sie zu mustern. Sawako hielt den Atem an. Ihr Herz schlug so schnell und dröhnte ihr so sehr in ihren Ohren, dass er es auch hätte hören müssen.   „Du weißt, wer ich bin?“ Sie war sich nicht sicher, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. Sie wusste sowieso gar nichts sicher. „Yo-… Yorinaga-sama?“ wisperte sie unsicher. Sie erinnerte sich genau an das, was die Männer auf dem Boot zu ihr über Yorinaga gesagt hatten. Sie hatte vermutet, dass er ihr Herr war und dass er es sein würde, der zu ihr kommen würde. Und es hatte bei den Männern so geklungen, als müsse sie nun genau Acht geben, was sie sagte. „Das ist richtig,“ antwortete er. Hörte sie da ein Lächeln aus seiner Stimme heraus? Er klang nicht besonders freundlich. Ihre Nervosität verstärkte sich, aber dieses Mal musste sie ihre Sinne beisammen halten … die Kontrolle behalten. „Meine Männer hatten recht. Sie haben wirklich eine ungewöhnliche Frau aus den Flammen gerettet. Deine Kleidung … ich habe noch nie solche Kleidung gesehen.“ Während er sprach, griff er nach ihrem T-Shirt, berührte den Stoff am Saum und rieb die Textur zwischen Daumen und Zeigefinger. Es erforderte ihre ganze Willenskraft, unter der Berührung nicht zusammenzuzucken. Die Blöße wollte sie sich nicht geben. „Ein wirklich außergewöhnliches Gewand. Der Stoff ist so fein gewebt. Wenn du solche Kostbarkeiten an deinem Leib trägst …“, er ließ ihr T-Shirt los und erleichtert fiel ihr auf, dass sie schon wieder die Luft angehalten hatte. „Ich frag mich, woher du kommst.“ Schon wieder. War das nun eine Frage? Sie spürte seinen Blick in der Dunkelheit auf ihr ruhen und erschauderte. „Verrate es mir, und auch deinen Namen“, forderte er mit sanfter Stimme, aber es schwang eine Drohung mit, die es ihr schwer machte, ruhig zu bleiben. „Mein Name ist Sawako, und ich komme aus Tokio“, gab sie ihm wahrheitsgemäß als Antwort. Regel Nummer ein, wenn man lügen muss: So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben, sonst verhaspelt man sich. Sie wünschte, sie hätte sein Gesicht erkannt, um zu wissen, ob er ihr glaubte. „Tokio? In welcher Provinz liegt dieses Dorf? Wer ist euer Fürst?“ Shit, shit, shit. Bitte, dachte sie, bitte bitte, lass mich nicht gerade mit jemandem sprechen, der Tokio nicht kennt. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Katanas, Samurairüstungen hin oder her. Tokio kennt jeder. Bitte, lass es niemanden sein, der die Hauptstadt nur unter dem Namen Edo kennt. Der Gedanke an die Samurai draußen, und dann dieser Mann … Bitte, bitte, dass war doch alles nicht möglich. Kalte Fingerspitzen an ihrer Haut holten sie aus Ihren Gedanken und alarmierten sie wieder zu äußerster Vorsicht. Er ließ eine Strähne ihres Haares durch seine Finger gleiten, wieder eine stumme Drohung. „Du magst mir nicht antworten? Wie schade.“ „Ich weiß -“, wollte sie sich rechtfertigen, doch er fiel ihr ins Wort. „Na na, du willst mir doch nicht sagen, du wüsstest es nicht, weil du nur eine arme, ungebildete Fischerstochter bist. Du weißt, dass ich dir das nicht glaube, wo du doch in so feinen, wenn auch fremdartigen, Gewändern vor mir sitzt.“ „Ich schwöre, ich sage die Wahrheit. Ich weiß nicht, wo ich bin. Euren Namen weiß ich nur von Euren Männern. Mein Dorf liegt weit im Norden. Ich bin geflohen, vor … vor meinem Mann. Er … er hat im Wahn des Sake unser Kind erdrosselt. Ich konnte nichts tun. Bevor er auch mich tötete, bin ich geflohen. Ich konnte nichts mitnehmen, darum musste ich stehlen. Diese Gewänder, die gehörten irgendeinem Händler. In einem Tempel fand ich Unterschlupf. Dann fand ich mich plötzlich in der Gewalt Eurer Männer wieder. Warum also haltet Ihr mich fest?“ Und wie zum Beweis ihrer Geschichte traten ihr wieder Tränen in die Augen. Sawako war keine gute Schauspielerin, aber die Angst, die in ihrer Stimme und in ihren Augen lag, war echt. Vielleicht konnte sie ihn überzeugen. Sie hatte die ganze Zeit, in der sie alleine hier im Zelt saß, nach einer Erklärung gegrübelt, die sie nicht ihren Kopf kosten würde, nur für den Fall, dass sie sich gerade tatsächlich in Möglichkeit Nummer Drei wiederfand. „Welch trauriges Schicksal“, erwiderte er nach einem kurzen Moment der Stille. Nichts an seiner Stimme gab ihr Aufschluss, ob er ihr glaube oder nicht. Die Hand, mit der er immer wieder die Strähne ihres Haares durchfuhr, berührte kurze ihre Wange. „Mein Problem, junge Sawako auf Tokio, ist nur, dass ich nicht mit Bestimmtheit ausschließen kann, dass meine Feinde dich dorthin schickten, um Informationen zu sammeln. Der Tempel ist nicht bekannt dafür, Fremde zu beherbergen. Dafür ist der Ort zu heilig. Ogata hätte einen Fremden Flüchtling eher im Dorf als im Tempel untergebracht. Und so nett deine Geschichte auch ist, warum tauchst du während des Angriffes mitten aus dem Nichts auf? Wo hattest du dich zuvor versteckt?“ Diesmal hörte sie die Feindseligkeit offen in seiner Stimme. Es war vorbei. Er glaubte ihr nicht, und sie hatte nichts, was ihn hätte überzeugen können. Außerdem entging ihr nicht, dass er von einem Angriff sprach. Sie wusste, was dies zu bedeuten hatte. „Ich war doch dort. Die ganze Zeit. Man gab mir etwas zu Essen und ich konnte einen Tag ruhen, nichts weiter- Ich schwöre, ich sage die Wahrheit.“ „Nun, meine Männer haben den Tempel Tage zuvor beobachtet, und niemand berichtete von einer Frau, die dort aufgenommen wurde, egal, ob für einen Tag oder bis zum nächsten Mond. Es war, als wärest du in dem Moment unseres Angriffes erschienen. Wie merkwürdig. Wie kannst du dir das erklären?“ Vorbei, es war vorbei. Sie konnte ihn nicht überzeugen. Was würde er tun? Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hoffentlich sperrte er sie nur ein. Hoffentlich war er kein Freund von Hinrichtungen. „Es ist wirklich eine Schande“, sagte er leise, ließ von ihrem Haar ab und strich mit seiner Hand über ihre Wange. Ihr Herz schlug bis zum Hals? Nein, es blieb stehen, als würde sie gleich tot umfallen. „Ich wünschte, du hättest mir die Wahrheit gesagt. Ich hätte dich schützen können vor deinem alten Herren, wer auch immer dich geschickt hat. Ich könnte es noch immer. Du musst mir nur sagen, wonach du geschickt wurdest. Ein paar Worte und du hättest nichts vor mir zu befürchten. Ich bin kein Monster, weiß du? Ich lasse dir Zeit, deine Antwort noch einmal zu überdenken. Morgen komme ich mit den ersten Sonnenstrahlen zu dir zurück, um deine Antwort zu hören. Du hast mein Wort, dass dir bis dahin kein Leid zugefügt wird. Das ist ein gutes Angebot, das weißt du. Kaum ein Spion würde es auch nur wagen, auf so ein Angebot zu hoffen. Aber du hast Glück, junge Sawako aus Tokio. Glück, dass ich neugierig bin auf die außergewöhnliche Frau, die meinen Männern wie ein Geist in den Flammen erschien. Und jetzt überdenke deine Antwort gut. Es liegt allein an dir, ob du dich vor dem Morgen fürchten musst oder nicht.“ Mit diesen Worten erhob er sich und ließ die völlig aufgelöste Sawako allein in der Dunkelheit zurück. Kapitel 2: Im Schatten der Dunkelheit ------------------------------------- Nach einer gefühlten Ewigkeit wieder alleine in der Dunkelheit war sich Sawako zweier Tatsachen schmerzlich bewusst. Zum einen wusste sie, dass sie eine furchtbar schreckliche Spionin gewesen wäre. Ihr Chef hatte Glück, dass er sie in Abteilung B eingesetzt und ihr keine Betriebsspionageaufträge zugeteilt hatte. Bei der erstbesten Gelegenheit hätte sie das Handtuch geworfen und der feindlichen Firma alles gesagt, was sie wissen wollten. Auch jetzt würde sie zu gerne einfach alles herausplappern und Yorinagas Angebot, unbesorgt in den Tag starten zu können, zu gerne annehmen. Sie war wirklich versucht, ihm zu glauben. Die Realität sah jedoch anders aus. Sie hatte nichts, was sie ihm verraten könnte, außer: „Ja, ich bin tatsächlich entweder verrückt oder in der Vergangenheit gelandet, vielleicht auch in einem Paralleluniversum, wer weiß das schon. Wo muss ich denn abbiegen, um wieder nach Tokio zu kommen?“ Bitter zog sie eine Grimasse. Das würde sie wohl ihren Kopf kosten. Daher war die zweite Erkenntnis des Tages: Sie war erledigt. Wirklich ausweglos erledigt. Der Morgen rückte immer näher, nie hat der sinkende Mond so bedrohlich auf sie gewirkt und nie hatte sie solche Angst wie in diesem Moment. Mit jeder Minute, die verging, kam es ihr vor, als würde das Seil um ihren Hände sich straffer zusammenziehen, als bliebe ihr kaum Luft zum Atmen und als würden sich kalte Hände um ihre Kehle legen. Der Wind zischte ein bedrohliches Versprechen. Wieder und wieder versuchte sie die Fesseln an Händen und Füßen zu lösen, doch statt der ersehnten Freiheit brachte es nur Schmerz, wenn die Schnüre in ihr Fleisch schnitten. Sawako konnte einfach nicht verstehen, wieso so etwas passiert war. Wie so etwas passieren konnte. Wie war das nur möglich? Es konnte doch nicht so einfach mit ihr vorbei sein? Um sich von den Schmerzen, die das Reiben der Schnüre auf ihrer Haut verursachte, abzulenken, spielte sie im Kopf verschiedene Szenarien durch. Sie malte sich aus, welche Worte sie im Morgengrauen sagen müsste, um doch heil aus der ganzen Geschichte herauszukommen. Diverse Fluchtversuche spielte sie auch in Gedanken durch. In ihrem Kopf war alles so einfach, sie sah sich schon wieder sicher in ihrem Auto sitzen. Doch bei diesem Gedanken drehte sich ihr fast der Magen um. Würde ihr Wagen überhaupt noch stehen, wo sie ihn geparkt hatte? Ihr wurde übel angesichts der so unbeschreiblichen Situation, in der sie sich befand, gefangen wie in einem Albtraum, der nicht enden wollte. Wieder machte sich Hoffnungslosigkeit in ihr breit, wie ein Gift, das sie langsam betäubte. Wenn sie den Tatsachen ins Auge sah, blieben ihr nur zwei Optionen. Sie konnte entweder weiter an ihrer Lüge festhalten und hoffen, oder eher beten, dass das, was darauf folgte, nicht allzu schmerzhaft werden würde - oder aber sie nannte ihm irgendeinen Namen, den sie sich noch ausdenken musste. Wenn Yorinaga glaubte, sie wäre ein Spion, ist er doch sicher hinter ihrem Auftraggeber her. Das niedere Fußvolk interessiert doch keinen, es sind die, die an den Fäden ziehen, auf die man es abgesehen hat. Und wenn ein Auftraggeber eine Durchschnittsspionin wie sie losschickt, würde er sicher nicht seinen Lebenslauf präsentieren. Vielleicht könnte sie sich das zu Nutzen machen, grübelte sie. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, so ängstlich und nervös war sie. Sie biss sich auf die Unterlippe, als würde es ihr helfen, ihre Gedanken zu sammeln. Sawako, Geheimagentin, Spionin, Shinobi, Mädchen für alles, schlich durch die Straßen, nicht ahnend, dass ein neuer Auftrag auf sie lauerte. Aus den Schatten hörte sie ein Rascheln. Sofort waren alle Muskeln und alle Nerven kampfbereit. Sie zog ihre Waffe und schlich in die Richtung, aus der ihre jahrelang geschulten Sinne das Geräusch wahrgenommen hatten. Plötzlich griffen Hände nach ihr, doch sie reagierte zu spät. Welch dummer Fehler ihr unterlaufen war. Sie wurde auf den Boden gedrückt, dass Gesicht im weichen Gras. „Du wirst nach Dewa gehen und den Tempel beobachten, verborgen“, säuselte eine Stimme in ihr Ohr. „Und du wirst herausfinden, was Yorinaga vorhat. Zwei Wochen gebe ich dir, dann sehen wir uns wieder, genau hier. Deine Belohnung wird dir gefallen, wenn uns dein Bericht gefällt.“ Und schon war der mysteriöse Angreifer verschwunden. Nun, Sawako war nicht so gut informiert, was die frühzeitige Spionagebranche anging, aber wäre das Ganze nur ein Film oder ein Buch, dann hätte sie so ein Szenario kein bisschen verdächtig gefunden. Sie hoffe inständig, dass er ihr die Geschichte abnehmen würde. Sie würde ihn auch an eine beliebige dunkle Ecke führen und das als den geheimen Treffpunkt deklarieren. Dort sollten er und seine Männer ihretwegen gern zwei Wochen warten, in der Hoffnung, jemand wichtigeren als Sawako zu fangen. Sie seufzte leise. Würde er ihr Glauben schenken? Sie bezweifelte es sehr. Und das blanke Grauen packte sie bei der Vorstellung, was das für sie bedeutete. Sie hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, wie mit Spionen umgegangen wurde, die nicht redeten. Überzeugend musste sie sein und sie betete, dass sie ihm die Lüge glaubhaft verkaufen konnte. Davon hing mehr ab, als ihr lieb war. Plötzlich kam ein furchtbar ungutes Gefühl in ihr auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie richtete sich auf, so gerade es im Sitzen und mit Fesseln eben ging. Die Ursache der plötzlich aufflammenden Panik konnte sie nicht deuten, draußen war alles ruhig. Doch dann, es ging ganz schnell und kam wie aus dem Nichts, wie ein Schatten, der aus der Dunkelheit angriff, spürte sie kalten Stahl an ihrer Kehle. Sie hätte geschrien, nach wem wusste sie nicht und auch nicht, wer ihr geholfen hätte, doch bevor auch nur ein Laut ihre Lippen verlassen konnte, wurden diese grob mit einer Hand verschlossen. Sie konnte den Angreifer nicht sehen, spürte aber das harte Leder seiner Kleidung an ihrem Rücken. Vor Schock überschlug sich alles in ihrem Kopf, überschlug sich ihre Atmung. Dass ihr der Mund zugehalten wurde, half ihr bei dem Kampf um Sauerstoff nicht besonders weiter. Nackte Panik loderte in ihr. Sie war so gut wie tot, nicht mal bis zum versprochenen Sonnenaufgang hatte ihre Zeit gereicht. Wahrscheinlich würde sie sogar ersticken, bevor der Angreifer ihr die Kehle durchschnitt. „Ich nehme meine Hand weg. Wenn du nur einen falschen Ton von dir gibst, badest du in deinem Blut. Verstanden?“, hörte sie ihn flüstern, doch sie konnte die Worte kaum verstehen, so sehr dröhnte ihr Puls in ihren Ohren. „Hast du verstanden?“, fragte er noch einmal mit mehr Bestimmtheit. Sie nickte kaum merklich, doch es schien ihm zu reichen und er löste wie versprochen die Hand von ihrem Mund. Sie atmete in tiefen Zügen die süße, kalte Nachtluft ein, traute sich aber nicht, sich zu bewegen oder auch nur einen Ton von sich zu geben. Zitternd saß sie da, völlig hilflos ausgeliefert, und wartete, was passierte. Völlig überraschend löste er auch das Messer von ihrem Hals und zerrte sie herum, sodass er sie ansehen konnte. In der Dunkelheit des Zeltes konnte sie absolut nichts erkennen. Zuvor hatten zumindest die Flammen der Feuerstellen draußen ein bisschen Licht gespendet, aber diese waren schon lange erloschen. Trotzdem wirkte er, als würde er sie genau begutachten und als würde ihm die Dunkelheit nichts ausmachen. Seine Hände ruhten auf ihren Schultern. „Warum bist du hier? Wer bist du?“, zischte er leise. Er verhielt sich wie ein Einbrecher. Vielleicht war er es auch. Sie hatte nicht das Gefühl, dass er zu Yorinagas Männern gehörte. Er hatte ihr immerhin Zeit bis zum Morgengrauen versprochen. Dieser Mann hier wollte eindeutig nicht entdeckt werden. Blieb nur die Frage, ob das jetzt gut oder schlecht für sie war. Sie wünschte, sie hätte die Stunden des Wartens genutzt, um sich auch für eine solche Situation eine passende Geschichte bereitzulegen. Sie beschloss, wieder dicht an der Wahrheit zu bleiben. „Ich wurde gefangen genommen. Ich war nur auf der Durchreise, wurde aber für einen Spion gehalten.“ „Sicher, in diesem Aufzug würde dich niemand für einen einfachen Passanten halten“, gab er zurück. Bezog auch er sich auf ihre Kleidung? Er dürfte aber kaum etwas erkennen können. „Ich habe nicht damit gerechnet, hier jemanden zu finden“, sprach er leise weiter. „Dieses Zelt hätte leer sein müssen. Statt dessen finde ich hier eine Frau. Erst dachte ich, Yorinaga hätte sich eine Hure mitgebracht, aber das ist wohl eher unwahrscheinlich, denn du siehst scheußlich aus.“ Sie gab ihr Bestes, das nicht als persönliche Beleidigung zu empfinden. „Und für einen Spion bist du auch ein ziemlich erbärmlicher Anblick.“ War es unpassend, sich in dieser Situation beleidigt zu fühlen? „Mein Problem ist, dass ich keine Zeugen gebrauchen kann.“ Diese Worte versetzten sie wieder in höchste Alarmbereitschaft. „Bitte tun Sie mir nichts. Ich sage niemanden, dass Sie hier waren. Nehmen Sie ruhig alles mit, was Sie tragen können.“ Schluchzte Sawako verzweifelt. Sie würde sogar beim Tragen helfen, wenn er sie befreite. „Du gibst wirklich einen erbärmlichen Spion ab.“ Dann Stille. Es war, als würde er überlegen, was er als Nächstes tun sollte. Wahrscheinlich überlegte er, ob er sie töten müsse. Bitte, bitte, hoffentlich schnappt er sich einfach nur, was er suchte und ließ sie dann allein. „Du hast Glück“, begann er langsam, „ich denke, ich kann dich doch lebend eher gebrauchen. Sag, was hältst du davon, wenn ich deine Fesseln durchschneide und dich gehen lasse?“ Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. „Was? Im Ernst? Sie lassen mich frei? Ich hoffe, das ist kein Scherz, denn das wäre ein wirklich verdammt schlechter Scherz.“ Sie hörte ein leises Lachen von ihm und dieses Lachen reichte, damit sie ihm glaubte. Er war ein seltsam warmes Geräusch. Der Klang beruhigte sie. „Aber wieso?“ „Ich bevorzuge es, dass der werte Herr nicht erfährt, dass jemand in seinen Sachen geschnüffelt hat. Zumindest nicht gleich. Früher oder später bemerkt er es sowieso. Wenn also seine Gefangene von selbst entkommt und dabei in den Sachen um sie herum nach allem Möglichen sucht, was sie mitnehmen kann, fällt ihm sicher nicht gleich auf, dass ein Shinobi hier war.“ Shinobi, hatte sie richtig gehört? Aber besonders geschockt war sie nicht, dafür war der ganze Tag schon zu verrückt gewesen. „Ich muss also nur so tun, als wäre ich entkommen? Und dann lauf ich einfach meines Weges?“ Es wäre zu schön, um wahr zu sein. „Nicht ganz. Ich lasse niemanden, der mich hier gesehen hat, frei herumlaufen. Das wirst du verstehen. Während du hier alles durchwühlst … „,erklärte er, während er geschickt die Knoten ihrer Fesseln löste. Sie verstand, dass es dann eher nach einer allein gelungenen Flucht aussehen würde. Die Schuld hätte der, der die Fesseln gebunden hat und kein anonymer fremder Eindringling. Ruhig sprach er weiter: „… werde ich die anderen Zelte durchsuchen. Du bewegst dich nicht vom Fleck, bis ich wieder hier bin. Dann nehme ich dich mit. Verstanden?“ Es klang nicht nach einer Frage, eher nach einem Befehl. „Verstanden“, antwortete Sie knapp. Sie konnte es kaum glauben. Hatte sich ihr gerade wirklich ein Ausweg aus einer eigentlich ausweglosen Situation gefunden? „Gut.“ Mit dem Wort fielen auch die letzten Fesseln. Sie berührte die durch das Seil verletzte Haut. Der Schmerz war unangenehm, aber das Gefühl der Freiheit versetzte sie fast in Euphorie. Als würde sie demonstrieren wollen, dass sie verstand, was er von ihr verlangte, erhob sie sich und ging erst wankend, dann rasch, das Zelt entlang und griff nach allem, was vielleicht von Nutzen wäre. Es war furchtbar schwer, sich in der Dunkelheit zu orientieren und umso schwerer, einzelne Gegenstände zu erkennen. Blind tastete sie sich ihren Weg. „Wenn du um Hilfe rufst oder auch nur irgendwie die Wachen auf dich aufmerksam machst, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du nie wieder die Sonne aufgehen sehen wirst.“ Wieder nickte sie als Zeichen, dass sie seine Worte verstand. Mit der Drohung konnte sie leben. Sie war unglaublich beflügelt, dass sie aus dieser Situation doch noch entkam. Dabei hatte sie sich so eine schöne Geschichte für Yorinaga ausgedacht. Ein Schmunzeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht. Sie hatte wieder Hoffnung. Nur ein leises Rascheln verriet ihr, dass der mysteriöse Retter das Zelt verlassen hatte. Ob er auf der Suche nach etwas bestimmten war? Nun, das sollte nicht ihre Sorge sein. Sie widmete sich wieder ihrer Aufgabe. Es war nicht viel Brauchbares zu finden, aber ein Seil, ein kleines Säckchen gefüllt mit etwas, was sie für Kohlen hielt und eine Handvoll Reis waren ihr doch recht willkommen. Am meisten freute sie sich aber über einen alten Umhang. Bis sie irgendwie etwas anderes und weniger Auffälliges zum Anziehen fand, sollte er neugierige Blicke abhalten können. Sie war bereit für ihre Flucht. Jede Sekunde, die sie auf die Rückkehr des Shinobi wartete, war unerträglich. Was ist, wenn die Wachen sie bemerkten? Wenn sie ihn bemerkten und das ganze Camp plötzlich in Alarmbereitschaft wäre? Dann käme sie nie hier weg. Wie viel Zeit wohl schon verstrichen war? Sie hätte nicht sagen können, ob es fünf Minuten oder eine halbe Stunde war. Ihr Zeitgefühl hatte sie komplett im Stich gelassen. Wo blieb er nur? Wenn sie die Soldaten ihn erwischten, war es auch mit ihrer Flucht vorbei. Und wenn sie erwischt wurde, wie sie abhauen wollte, hätte ihr bei Yorinaga selbst die beste Ausrede der Welt nichts mehr genützt. Wieder spürte sie diese unerträgliche Nervosität. Der Stress hatte sie sicher mindestens zehn Jahre ihres Lebens gekostet, dachte sie bitter. Wobei sie sich gerade schon über Kleinigkeiten wie einzelne Lebenstage freute. Hauptsache, sie kam hier lebend wieder raus. Wo blieb er nur? Sie schlich vorsichtig zum Ausgang des Zeltes. Konnte sie es wagen, einen Blick nach draußen zu werfen? Nein, sie hatte viel zu große Angst, jemand würde sie entdecken. Stattdessen versuchte sie irgendetwas draußen zu hören. Stille. Stille. Sie hielt die Luft an, da sie nichts außer ihrer eigenen Atmung hören konnte. Stille. Sie blieb in dieser Position, traute sich kaum zu atmen. Wie lange sie so wartete, hätte sie nicht sagen können. Aber sie hörte einfach nichts. Würde der Shinobi überhaupt zurückkommen? Vielleicht ließe er sie auch zurück. Nein, dachte Sawako bitter, eher hätte er sie getötet, als dem Feind einen Zeugen zu hinterlassen, der den Angreifer beschreiben konnte. Obwohl es so dunkel im Zelt war, dass sie nichts an ihm hätte beschreiben können. Nur seine Stimme. Wo sie so darüber nachdachte, viel ihr auf, dass seine Stimme sehr jung klang. Das war aber keine besonders zuverlässige Täterbeschreibung für die Fahndung. Wieder konzentrierte sie sich auf die Stille, die sie umhüllte wie die Dunkelheit. Halt … hatte sie gerade ein Rascheln gehört? Oder bildete sich es sich nur ein? Nein, da war es wieder. Entweder kam der Shinobi zurück oder aber die Wachen wurden munter. Die Geräusche kamen noch von weiter weg und waren sehr gedämpft. Es wunderte Sawako, dass sie das leise Flüstern der Füße auf feuchtem Rasen überhaupt wahrnahm. Bitte, lass es den Shinobi sein. Und dann hörte sie es und das Blut gefror in ihren Adern. Ein kurzes Klirren von Metall, das gegen Metall schlug. Ein kurzes ersticktes Keuchen und ein dumpfer Aufprall. Sie wusste, was das bedeutete, auch wenn sie keine Ahnung hatte, woher sie diese Gewissheit nahm. Irgendjemand ist gerade tot zu Boden gegangen. Unbeschreibliches Grauen befiel sie. Entweder war es ihr Shinobi, der erwischt wurde, oder aber einer der Wachen. In erstem Falle wäre sie geliefert, weil ihr „Retter“ dann nicht mehr ganz imstande war, sie aus dieser prekären Situation zu befreien. Der zweite Fall war aber auch nicht besonders vielversprechend. Wenn er in eine Situation kam, wo er einen Wachmann erledigen musste, war ihre Rolle als Ablenkungsmanöver vollkommen überflüssig geworden. Niemand würde dann die Geschichte der geflohenen Geisel mehr glauben. Würde der Shinobi dann wieder zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehren, wo Sawakos Überleben kein Bestandteil war? Sie wollte nicht warten, um es herauszufinden. Sie wollte nicht warten, bis der eine oder der andere ihr das Leben aushauchte. Also tat sie das Einzige, was ihr in dieser Situation als realistische Option erschien, huschte durch den Zelteingang und verschwand in der Dunkelheit. Kapitel 3: Die Schatulle ------------------------ Draußen herrschte das pure Chaos. Sie hörte wieder das Klirren von Waffen. Auch einzelne Kampfesschreie drangen durch die Nacht. Sawako verstand nicht, was die Männer riefen, zu sehr war sie auf ihr Ziel fixiert. Ihr Ziel, es irgendwie lebend aus diesem Camp zu schaffen. Lange genug hatte sie hilflos und verzweifelt in diesem Zelt festgesessen. Nun war ihre Chance gekommen und sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrer Angst paralysieren zu lassen. Also rannte sie, rannte, rannte, rannte, das Kampfesgetümmel hinter sich lassend. Ihre Beine schrien fast vor Überanstrengung. Sie verlangte ihnen alles ab, was möglich war. Ihre Lunge brannte von der kalten Nachtluft. Ihr wäre schwindelig geworden, hätte sie nicht ihr ganzes Bewusstsein darauf getrimmt, sich auf das Ziel zu konzentrieren. Was um sie herum geschah, nahm sie nur am Rande war. Weitere Zelte sah sie links und rechts von sich, auch weitere Soldaten, die nach ihren Waffen griffen und hinüber zu den Kämpfenden liefen. Bewaffnete Eindringlinge schienen zu ihrem Glück eine höhere Priorität zu genießen als flüchtende Gefangene. Überall wurden wieder Feuer entfacht, sodass das ganze Camp hell erleuchtet war. Der Shinobi konnte nicht alleine gekommen sein, dachte sie kurz, denn ein Einzelner hätte kaum für einen solchen Aufruhr sorgen können. Egal, das spielte keine Rolle. Sawako hätte kaum auffälliger sein können, wie sie mitten hindurch und gegen den Strom rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Alles, was zählte, war, dass sie den Waldrand erreichte und aus dem Sichtfeld der Soldaten verschwand. Erst dann hatte sie eine realistische Chance, das Chaos hinter sich zu lassen und ihre Haut zu retten. Mit jedem Schritt kam sie dem schützenden Dickicht näher. Nur noch ein wenig. Ein paar Meter. Es kam ihr vor, als würde die Dunkelheit des Waldes sie wie eine schützende Decke umschließen. Sie störte sich nicht an dem Gestrüpp, das beim Hindurchlaufen gegen sie peitschte. Schützendes Gestrüpp, wie könnte sie sich da an ein paar Kratzern stören, wo doch jetzt die Dunkelheit des Aokigahara sie verschlang und damit allen Blicken entzog? Und sie rannte und rannte. Nichts konnte sie erkennen von dem Weg, der vor ihr lag und sie stolperte ständig über Wurzeln und dergleichen. Egal, solange sie sich nur nicht so sehr verletzte, dass es sie am Weiterlaufen gehindert hätte. Würde die Dunkelheit doch auch nur den Lärm verschlucken, den ihr Weg durch die Büsche verursachte. Geschwindigkeit oder Unauffälligkeit, beides war nicht möglich. Schon im Camp hatte sie entschieden, dass Ersteres ihre einzige Chance war. Die Verwirrung im Lager nutzen, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihre Angreifer zu bringen und erst dann, in sicherer Entfernung, ein Versteck zu suchen. Sie hoffte inständig, dass es die richtige Entscheidung war. Und plötzlich hörte sie es. Hinter ihr dasselbe Rascheln, das auch ihr hektischer Weg durch das Unterholz verursachte. Sie hatte es erst nicht wahrgenommen, da jedes Rascheln der Blätter, jedes Peitschen der Zweige und jedes Knacken der Äste, das sie verursachte, wie eine Sirene in ihren Ohren dröhnte. Eine Sirene, die ihren Angreifern zurief, wo sie Sawako finden würden. Nun war sie sich sicher, dass sie verfolgt wurde. Wieder packte sie das kalte Grauen, das ihr den Rücken hinauf kroch und sie lähmen wollte, in die Knie zwingen wollte. „NEIN“, schrie sie stumm in Gedanken und schüttelte alles von sich ab, nur noch das Wort ‚rennen‘ kannte sie noch. Sie sah nicht zurück. Ihr Blick war starr auf die Dunkelheit vor ihr gerichtet. Alles, was sie aus dem Zelt mitgenommen hatte, warf sie achtlos beiseite. Unnützer Ballast. Sie musste schneller rennen. Sie hätte auch den Umhang abgelegt, aber das hätte sie vielleicht die Sekunde kosten können, die über Leben und Tod entschied. Wieder stolperte sie, den stechenden Schmerz in ihrem Knöchel ignorierend Rennen. Rennen. Rennen. Die Wucht, mit der sie zurück gerissen wurde, als er sie erreichte, war unbeschreiblich. Alle Luft wurde aus ihrer Lunge gepresst. Sie hätte nicht sagen können, ob es der gewaltige Ruck war oder aber die Erkenntnis, dass sie nun verloren war. Gewaltsam ging sie zu Boden. Sie konnte gerade noch reflexartig ihre Arme vor dem Gesicht verschränken, um ihren Kopf vor dem Aufprall zu schützen. Eine Verschnaufpause blieb ihr nicht. Etwas Schweres stemmte sich ihr schmerzhaft in den Rücken? Ein Knie, vermutete sie. Wer auch immer sie gefunden hat, nutzte sein ganzes Körpergewicht, um sie am Boden festzuhalten. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, doch konnte sie nicht die nötige Kraft aufbringen. Je mehr sie sich wehrte, desto schmerzhafte drückte er das Knie gegen ihren Rücken. Sie gab einen kurzen Frustschrei von sich. Schon wieder war es für den Angreifer so einfach, sie im Zaum zu halten. „Gefiel dir mein großzügiges Angebot so wenig, junge Sawako aus Tokio?“, säuselte eine Stimme hinter ihr und sofort wusste sie, wer ihr gefolgt war und sie nun so erfolgreich an ihrer Flucht hinderte. Es war Yorinaga selbst. Sie wand sich noch mehr, so gut es ging, und versuchte sich seines eisernen Griffes zu entreißen. „Es interessiert mich sehr, wer dir die Verstärkung geschickt hat. Sag, möchtest du jetzt reden?“ Wieder klang seine Frage fordernd. „Der gehört nicht zu mir. Er wollte mich töten“, keuchte sie verteidigend. „Und dennoch sahst du sehr lebendig aus, wie du das Lager verlassen hast.“ Sie spürte seine Hand, die sich um ihre Kehle legte, drohend und mit einem stummen, tödlichen Versprechen. Sein Griff war fest. Da er nur sein Bein und sein Gewicht benötigte, um sie festzuhalten, hatte er beide Hände zu Verfügung, um sie einfach zu erdrosseln. Panisch schlug sie mit ihren eigenen freien Händen um sich, erreichte ihn in ihrer Position aber kaum. „Was muss ich nur mit dir tun, damit du anfängst, zu singen.“ Diesmal war seine Stimme näher an ihrem Ohr. Er musste sich weiter vorgebeugt haben. Sie hatte die Gewichtsverlagerung bemerkt. Wild um sich schlagend versuchte sie weiter, ihn abzuschütteln. Es schien aussichtslos. Frustriert vergrub sie die Finger im kalten Waldboden, als würde er ihr Halt spenden. Sie wagte es nicht, sich auszumalen, was ihr bevorstand. Könnte dieser Albtraum doch nur endlich enden. Könnte doch nur das Klingeln ihres Weckers sie aus diesem Höllentrip erlösen. Sie spürte seine andere Hand, erst auf ihrem Schenkel ruhend, dann bedrohlich nach oben wandernd. Und sie bemerkte seinen Atem an ihrem Ohr. Vielleicht eine Chance … Sie nutze den Moment, die Sekunde der Überraschung, und riss nun mit aller Wucht ihren rechten Ellenbogen nach hinten. Der Schlag traf sein Ziel. Mit den Schmerzen, die sie durchfuhren wie ein Stromschlag, hatte sie gerechnet, denn sie hatte geahnt, dass sie nur seine Rüstung erwischen würden, wenn überhaupt. Doch es reichte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wankte kurz, aber nicht lange genug, als dass sie sich hätte befreien können. Schnell hatte er sich wieder gefangen und ließ ihr keinen Raum, sich ihm zu entwinden. „Nun wird es interessant.“ Sie hörte an seiner Stimme, dass ihr verzweifelter Widerstand ihn zu belustigen schien. Dann ging alles ganz schnell. Sie bemerkte etwas Kleines, das neben ihr auf den Boden gefallen war. Ein kleines Stück oberhalb ihres Kopfes, gerade so noch im Blickfeld. Es sah aus wie eine kleine Schatulle. Bei dem Hieb, den sie ihm verpasst hatte, musste es heruntergefallen sein. Sie starrte das Kästchen an. Irgendetwas daran erschien ihr von elementarer Bedeutung. Erklären konnte sie es nicht. Vielleicht war es seine Reaktion, die diesen Verdacht in ihr schürte. Auch er schien die Schatulle gleich bemerkt zu haben. Seine Hände ließen sofort von ihr ab und er schien sich wieder aufzurichten. "So, danach haben sie dich also geschickt. Ich hätte von Ogata mehr erwartet als eine so hilflose Frau in den Mauern des Tempels zu verstecken. Aber vielleicht warst du auch nur das Ablenkungsmanöver. Das sollte nun keine Rolle mehr spielen." Wieder beugte er sich vor, um nach der Schatulle zu greifen. Wenn sie je eine Chance hatte, dann war es jetzt. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, schleuderte sie ihren Kopf nach hinten und traf ihn hart. Sie hörte ein Keuchen. Auch sie konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Der Schmerz, der nach dem Treffer einsetze, betäubte einen Moment ihre Sinne und ihr wurde schwarz vor Augen. Nein, es war ihre einzige Chance. Jammern konnte sie später noch, wenn sie das Ganze überlebte. Sie schnappte sich diese scheinbar so wichtige Schatulle. Hinter sich hörte sie ein wütendes Knurren, das ihr den Wert des Kästchens bestätigte. Gleich würde er es ihr entreißen, sie hatte keine Zeit. So kräftig sie konnte, schleuderte sie die Schatulle in das dichte Gestrüpp. Dann stemmte sie ihre Arme links und rechts neben sich, um mit aller Kraft zu versuchen, sich aufzurichten. Er war abgelenkt, vermutlich, weil er mit dem Blick der Schatulle gefolgt ist, wie sie es geplant hatte. Wenn dieses Kästchen so wichtig war, wichtiger als Sawako, dann würde er aufpassen, wo es landete. Und genau auf diese Ablenkung hatte sie spekuliert. Wieder geriet er aus dem Gleichgewicht und dieses Mal gelang es ihr, sich unter ihm wegzurollen. Jetzt hing alles am seidenen Faden. Schatulle, oder die Spionin, die nach der Schatulle geschickt wurde. Wenn ihre Theorie stimmte, war klar, was von beidem wichtiger sein würde. Trotzdem hatte sie nur einen kurzen Moment gewonnen. Ohne ihn anzusehen, richtete sie sich stolpernd auf und stürzte davon. Sie fürchtete, er würde wieder nach ihr greifen und sie aufhalten, dass sie wieder mit einem Rück zurückgehalten wurde. Doch der Ruck blieb aus. Keine Hände, die sie aufhielten. Kein Laut hinter ihr, der verriet, dass sie weiter verfolgt wurde. Sie wollte sich umdrehen. Wollte Gewissheit. Doch sie wagte es nicht, auch nur eine Sekunde zu verlieren. Ihr war, als spürte sie seinen Blick bohrend in ihrem Nacken. Fast glaubte sie, seine kalte Wut in der Nachtluft zu spüren. In Gedanken sah sie ihn, unbewegt und ihr nachblickend, nicht wagend, die kostbare Schatulle zurückzulassen. Und wieder rannte sie, noch schneller als zuvor. Doch hinter ihr blieb es still. Kapitel 4: Dewa --------------- Erschöpft sackte Sawako in sich zusammen. Sie war Stunden durch den Wald gehetzt, vorbei an Büschen, Sträuchern, Bäumen und Wurzeln. Erst jetzt traute sie sich, zur Ruhe zu kommen. Ihr tat alles unbeschreiblich weh. Sie hatte Schmerzen in Muskeln, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie sie hatte. Doch brannten sie nun vor Protest über das, was Sawako ihnen abverlangt hatte. Die Alternative zu dieser panischen Flucht hätte ihrem schimpfenden Körper sicher noch weniger gefallen. Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Die kalte Nachtluft, oder nun eher Morgenluft, brannte noch immer in ihren Lungen. Der Schmerz war ihr egal. Hätte diese betäubende Erschöpfung sie nicht befallen, wäre sie vor Erleichterung wahrscheinlich durch die Luft gesprungen. Sie war entkommen. Sie war tatsächlich entkommen. Aus einer Situation, die sich für ausweglos erklärt hatte. Aus der sie keine Rettung mehr gesehen hatte. Und nun war sie entkommen. Ein erschöpftes Lächeln konnte sie sich nicht verkneifen. Unglaublich, wie sie sich hatte retten können. Sie hätte niemals erwartet, dass sie so viel Geistesgegenwärtigkeit aufbringen konnte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, hielt sie sich doch sonst für eher tollpatschig und ungeschickt. Welch Glück im Unglück, dachte sie, dass dieser schreckliche Zwischenfall nach einer Tagesausflug durch den Wald und nicht bei einem Shoppingtrip stattgefunden hatte. Bei letzterer Option hätte sie High Heels getragen, was sich bei einer Flucht durchaus als hinderlich herausgestellt hätte. Aber dagegen durchaus praktisch, um nach ihrem Angreifer zu treten. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie war unglaublich stolz auf sich, wie sie die Situation gemeistert hatte. Was auch immer in dieser Schatulle war, es hatte ihr den Hals gerettet. Wie gerne hätte sie jetzt mit ihren Freundinnen in ihrer Lieblingsbar gesessen und bei einem Cocktail berichtet, wie genial sie ihren Angreifer hatte abschütteln können. Sie sah sich schon im vertrauten schummerigen Licht der Bar, wild gestikulierend und euphorisch lachend über ihren Erfolg. Nur eine Frage blieb, und an diese wollte sie jetzt lieber nicht denken. Wie leicht wäre es, nach Tokio zu ihren Freundinnen und ihrem normalen Leben zurückzukehren? Noch immer hatte sie keine Ahnung, was hier vorging. Wenn das eine Fernsehshow war, für die sie jemand angemeldet hatte und der das wohl alles sehr lustig finden würde, oh, derjenige hätte nie wieder etwas zu lachen. So etwas Fieses traute sie keinem zu, aber man konnte ja nie wissen. Ehrlich gesagt wäre ihr diese Möglichkeit doch lieber als das Unaussprechbare. Die völlig absurde, komplett abwegige und absolut lächerliche Science-Fiction Möglichkeit, sie wäre durch ein Raum-Zeit-Loch oder Ähnliches gefallen. Einfach unvorstellbar. Nein, mit so einem Gedanken würde sie sich nicht weiter befassen. Vorerst. Jetzt würde sie einfach eine Polizeistation oder Ähnliches suchen, oder notfalls zu Fuß zurück nach Tokio laufen. Völlig egal, Hauptsache, sie käme bald nach Hause. Doch obwohl sie bereits stundenlang gelaufen war, hatte sie das Meer aus Bäumen noch nicht verlassen. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich dem Waldrand näherte oder ob sie nur immer tiefer in die Schatten hinein irrte. Mit wenig Optimismus zog sie ihr Handy aus der Tasche. Das Display war schwarz und wollte ihr nichts verraten. Zu gerne hätte sie jemanden angerufen oder mit GPS ihren Standort ermittelt. Aber ihr Telefon blieb stumm, sie hatte kein Netz. Sie seufzte enttäuscht. Sollte sie weiterlaufen, in der Hoffnung, die nächsten Stunden wieder, hoffentlich freundlicher gesinnte Zivilisation zu erreichen? Alles in ihr schrie nach einer Verschnaufpause. Dieser schreckliche Tag war schon viel zu lang und Erschöpfung kroch ihr durch Mark und Bein. Hoffentlich fiel sie nicht tot um, bevor sie ihr Ziel erreichte. Dann wäre die ganze nervenzerreißende Flucht umsonst gewesen. Also siegte die Erschöpfung, sie würde sich erst erholen, bevor es weiterging. Wenn sie Glück hatte, könnte sie vielleicht sogar etwas schlafen. Dann würde sie, wenn sie aufwachte, alles beim Alten wiederfinden und all das hier würde sich als böser Traum entpuppen. Sawako fand einen besonders großen Baum, dessen Wurzeln eine kleine Höhle formten. Es sah nicht besonders einladen aus. Doch welche Möglichkeit blieb ihr sonst? Den Umhang fest um sich schlingend kroch sie hinein. Erde fiel ihr ins Haar und auf die Kleidung und kleine Wurzelzweige zerrten an ihr. Wie überraschend, dass sie sich hier tatsächlich sicher fühlte. Vor einem Tag noch hätte sie sich niemals wie ein Tier im Dreck versteckt. Sie hätte sich ihre Kleidung ruiniert, ihre Haare hätten ja furchtbar ausgesehen und überhaupt der ganze Schmutz, geschweige denn das Getier, das dort sicher mit ihr hauste. Wenn das Ganze wirklich ein Scherz oder eine Fernsehshow war, dann hatte es aus ihr zumindest einen Überlebenskämpfer gemacht, dachte sie bitter. Es kam ihr so lächerlich vor, wie sie normalerweise gezetert hätte. Sie strich mit ihren Händen durchs Haar. Es war eine Katastrophe. Dann tastete sie ihr Gesicht ab. Geschwollen von dem Schlag, den sie auf dem Boot erfuhr. Eine Beule an der Schläfe vom Kentern. Ihr Gesicht fühlte sich aufgedunsen an, vielleicht von der Zeit im Wasser, von der Erschöpfung, oder allem zusammen. Außerdem musste sie aussehen wie ein Panda. Mascara und Make-up waren nicht wasserfest. Sie konnte es dem unbekannten Shinobi nicht verübeln, dass er sie beleidigt hatte. Sie musste tatsächlich scheußlich aussehen. Aber sie lebte und sie war, von ein paar oberflächlichen Schmerzen abgesehen, unversehrt. Und das an sich kam ihr vor wie unverschämtes Glück im Unglück. Der Schlaf überkam sie schneller, als sie erwartet hatte. Kaum schloss sie die Augen, verfiel ihr Körper in die Starre, die seit Stunden drohend über ihr geschwebt hatte.   Sawako erwachte, als die Sonne durch das dichte Laub in ihre kleine Höhle fiel. Sie murrte verschlafen und wunderte sich, warum es so unbequem war. Etwas krabbelte auf ihrem Gesicht. Wenn die Sonne sie nicht aus dem Schlummer riss, dann war es dieses Unheil verkündende Kabbeln. Sie riss den Arm hoch, um mit der Hand über ihr Gesicht streifen. Doch mit der Bewegung kam der Schmerz, und mit dem Schmerz kam die Erinnerung. Ein entsetztes Stöhnen entkam ihrer rauen Kehle. Sie zog sich aus dem Bau, klopfte ihre Kleidung ab, um Getier und Schmutz abzuschütteln und legte sich einfach auf den mit Gras überzogenen Waldboden, den Blick in die Baumkronen gerichtet. Shit, dachte sie. Ihre Hoffnung, alles wäre nur ein grausiger Traum, war nun endgültig zunichte. Und ihr tat wirklich alles weh. Jede ungewollte Erfahrung des gestrigen Tages steckte ihr noch in den Knochen. „Verdammt“, fluchte sie vor sich hin. Benommen rappelte sie sich auf. Ihr war nicht wirklich nach Herumsitzen zumute. Sie wollte nach Hause, so sehr. Ihre Familie machte sich sicher schon Sorgen um sie. Ob sie von dem Brand gehört hatten? Ob sie schon jemanden geschickt hatten? Vielleicht durchforstete ein ganzer Rettungstrupp den Aokigahara nach ihr. Sie schloss die Augen und lauschte. Hmm, Hubschrauber waren nicht zu hören. Obwohl eine Suchaktion per Luft über einem Wald wohl wenig Sinn machte. Aber sie hätte sich ja irgendwie bemerkbar machen können. Wäre winkend auf einen Baum geklettert. Dann hätte ein Hubschrauber sie entdeckt, wie im Film ein Seil heruntergelassen und an Bord hätte ihr ein attraktiver, junger Polizist eine heiße Schokolade in die Hand gedrückt und ihr fürsorglich eine Decke um die Schulter gehängt. Sie hätte an seiner starken Schulter ihr Elend beklagt, von ihrer tapferen Flucht erzählt und ihm vielleicht sogar, nach charmanter Anfrage seinerseits, ihre Telefonnummer zugesteckt. Das wäre doch mal ein passendes Happy End. Doch am Himmel war alles still, nur die Geräusche des Waldes hallten durch den Morgen. Sawako war klar, wie lächerlich der Gedanke in dieser Situation war. Doch wer konnte schon etwas für seine Gedanken? Also schlurfte sie über den vom Morgentau feuchten Waldboden und bahnte sich ihren Weg. Nun war es viel anstrengender als zuvor. Die Sträucher und Äste zerrten an ihr und wollten ihr den Weg versperren, ihr die Heimkehr verweigern und sie für immer hier gefangen halten. Sie sah an ihren Armen herab, überall Kratzer und auch ihr T-Shirt hatte es nicht unbeschadet überstanden. Zum Glück hatte das Adrenalin zuvor verhindert, dass sie sich von den grünen Massen hatte aufhalten lassen. So bahnte sie sich mühselig ihren Weg.   Kurze Zeit später lichtete sich das Gestrüpp. Sie hoffte, den Waldrand erreicht zu haben, wurde jedoch enttäuscht, als es nur ein Bach war, der leise rauschend seinen Weg suchte. Dennoch war sie dankbar, denn sie konnte ihren drängenden Durst stillen und sich waschen. Das kalte Nass tat ihrem Gesicht und ihren schmerzenden Gliedern gut. Sie fühlte sich wie neu geboren. Schade, dass sie nicht auch über etwas Essbares stolpern konnte. Ihr Hunger war schmerzhaft quälend. Von den wilden Beeren zu essen wagte sie jedoch nicht. Zu wenig wusste sie über die Natur und den Wald. Giftige Beeren in ihrem Magen konnte sie gerade überhaupt nicht gebrauchen. Sie beschloss, dem kleinen Strom zu folgen. Vielleicht führte er sie aus dem Wald hinaus, und das Dickicht war nahe dem Wasser nicht so dicht, sodass sie sich besser fortbewegen konnte. Also lief sie flussaufwärts weiter und weiter. Sie lief eine gefühlte Ewigkeit. Ihr Magen knurrte inzwischen so laut, dass es sie wunderte, dass die Vögel nicht jedes Mal vor Schreck davonflatterten. Ihre Umgebung hatte sich noch nicht verändert. Grün, grün, grün und, hatte sie erwähnt, grün? Das Gefühl des Verlorenseins frustrierte sie. Doch welche andere Wahl hatte sie als weiterzulaufen? Also setzte sie ihren Weg, zunehmend geschwächt, fort. Langsam bemerkte sie eine Veränderung in der Umgebung. Der Wald wurde immer lichter und das Flüsschen immer breiter und breiter. Wie weit mag sie schon gelaufen sein? Endlich hatte sie das Gefühl, vorwärtszukommen. Das gab ihr ungemein Hoffnung. Und plötzlich sah sie es. Erst erkannte sie nicht, was es war, doch da schwamm ein Stück Stoff im Wasser. Sich von dem kühlen Nass nicht stören lassend, ging sie knietief hinein und griff danach. Es sah aus wie ein Obi. Wieso schwamm so etwas hier im Wasser? Ein Zeichen von Zivilisation, oder nicht? Voller Mut und Tatendrang rannte sie stromaufwärts. Sie fand, dass sie nun lange genug umhergeirrt war und sich nun wieder ein bisschen Zivilisation verdient hatte. Eine heiße Dusche, ein weiches Bett, ein Telefon, damit sie ihre Mutter anrufen konnte, die sicher bereits krank vor Sorge war, und dass vollkommen berechtigt. Vielleicht eine Kamera, dann könnte Sawako ein Bild ihres gerade, um es zu zitieren, ‚scheußlichen‘ Anblicks für das Familienalbum machen. Und eine heiße Schokolade. Das wäre ein Traum. Also rannte sie und schwelgte in Fantasien, was sie in der wiedergefundenen Zivilisation alles machen würde. Dann lichteten sich die Bäume, am Bach sah sie eine kleine, altmodische, hölzerne Mühle. Und eine kleine, altmodische, hölzerne Hütte. Und, ihr wurde schlecht, kleine, altmodische, hölzerne Hütten so weit das Auge reichte. Ein Dorf, wie von vor 500 Jahren, zeigte sich vor ihr. Versteinert blieb sie stehen, erfasst von erneut wachsender Panik. Sie sah viel beschäftigte Dorfbewohner. Mädchen und Frauen in zerlumpten Yukatas. Männer mit Forken bewaffnet, wie Bauern. Kinder trugen Körbe mit allem Möglichen umher. Sollte die nicht in der Schule sein? Ältere schlichen die nicht gepflasterten Wege entlang und wiesen die Jungen an, wie sie ihre Arbeit richtig zu erledigen hatten. Eine Gruppe Kinder spielte hinter einem der Häuser. Doch schnell wurden sie bemerkt und ein älterer Herr scheuchte sie auf. Die ganze Szenerie war … wie aus einem alten Film. Genau wie es schon mit den Soldaten zuvor gewesen war. „Aaaaah“, hörte sie plötzlich ein Rufen, dicht vor ihr, das sie aus ihrer Trance riss. Ein kleines Mädchen kam auf sie zu, über das ganze Gesicht strahlend. „Onee-san, du hast den Obi gefunden, du hast den Obi gefunden.“ Sie wirkte erleichtert und das sorglose Gesicht der Kleinen kam ihr gerade unglaublich fehl am Platz vor. Besonders, da Sawako mit zunehmender Angst langsam zu begreifen begann, wie schlimm ihre Situation tatsächlich war. „Was?“, fragte sie nur verdutzt. „Der Obi, kann ich ihn wiederhaben, Onee-san?“, bat die Kleine mit ausgestreckten Armen. Sie sah sehr zerlumpt aus. Ihre Hände waren voller Schwielen, wie von sehr harter Arbeit. „Die Herrin wird mir nicht vergeben, wenn ich ihre teuren Stoffe beim Waschen verliere. Aber du hast es für mich gefunden. Du bist die Beste.“ „Ähm, ja, hier“, stammelte Sawako. „Kein Problem.“ Sie fasste sich langsam. „Ich bin durch den Wald geirrt. Hatte mich verlaufen. Sag mal, wo bin ich hier überhaupt?“ Sie würde wenigstens versuchen, ein paar Informationen zu gewinnen. Die Kleine sah sie verdutzte an und erwiderte: „In Dewa, wo sonst?“ Sie schien Sawakos Frage für völlig absurd zu halten. Als sie ihr den abhandengekommenen Stoff überreichte hatte, zeigte sich die Dankbarkeit auf ihrem Gesicht. Was wäre mit ihr passiert, wenn das gute Stück nicht wieder aufgetaucht wäre? „Ich bin seit Ewigkeiten unterwegs und ich verhungere. Weißt du, wo ich etwas zu Essen finde? Und wo eine Polizeistation? Und einen Gasthof? Ein Telefon?“, fragte sie verzweifelt. Der verwirrte Blick, den sie dafür erntete, verhieß nichts Gutes. Hielt das Mädchen sie nun für verrückt? Sie bemerkte, wie sie gemustert wurde. Beim Anblick ihrer lädierten Kleidung runzelte die Kleine verdutzt die Stirn. „Ein Gasthof ist die Straße rauf. Da gibt’s auch Essen. Das … das andere weiß ich nicht. Und ich muss jetzt auch weiter arbeiten. Danke für den Obi und so. Aber ich muss jetzt los“, und mit diesen Worten lief sie davon. Sie warf Sawako im Rennen noch einen weiteren irritierten Blick zu. Es gefiel ihr gar nicht, von einem kleinen Kind verachtend angesehen zu werden. Sie blickte in die Richtung, in die das Mädchen gezeigt hatte. Die Straße war sehr belebt. Und wenn sie eines in den letzten Stunden gelernt hatte, dann dass ihre Kleidung für, wo auch immer so war, total unangemessen war. Sie grummelte, denn sie war noch nie in ihrem Leben so sehr unpassend angezogen gewesen. Wäre der Umhang doch nur etwas länger, dann wären wenigstens Jeans und Schuhe verborgen. Wollte sie wirklich die Straße entlang und mit dem Finger auf sich zeigen lassen? Eine andere Option gab es leider nicht, sie konnte ja schlecht zurück in den Wald. Also Augen zu und durch. Ab zum nächsten Geschäft, wo sie sich die einheitliche Dorftracht, zerlumpter Yukata, besorgen konnte. Vorher am besten eine schöne, große Portion Reis. Dann wäre der Tag vielleicht schon gerettet. Sie holte tief Luft und bahnte sich ihren Weg. Wie zu erwarten war, drehten sich die Menschen nach ihr um, zeigten auf sie und tuschelten schockiert. Sie stach auch wirklich furchtbar aus dem Bild hervor. Sie blickten alle drein, als hätten sie nie Jeans und Sneakers gesehen. Sie fühlte sich furchtbar, nach so viel Aufmerksamkeit war ihr nach alle dem nun wirklich nicht zumute. Daher beschleunigte sie ihren Schritt und hoffte, schnell ihr Ziel zu erreichen. Das Gasthaus, das die Kleine ihr empfohlen hatte, war zum Glück tatsächlich nicht allzu weit. Schnell huschte sie hinein. Erleichtert stellte sie fest, dass es sehr ruhig und kaum besucht war. Zu dieser Tageszeit waren wohl alle Dorfbewohner mit ihrer Arbeit beschäftigt. Entschlossen, sich von keinem komischen Blick mehr irritieren zu lassen, ging sie zum Gastwirt hinüber. Natürlich sah er sie an, wie sie sonst eine besonders große Spinne beäugt hätte. „Was?“, fragte er wenig freundlich. Erfuhr sie denn nur noch Unfreundlichkeit? Das hatte sie nun wirklich nicht verdient. „Ich … ich hätte gerne eine warme Mahlzeit“, bat sie vorsichtig. In ihrer Hosentasche kramte sie ein paar Yen zusammen. „Ich geb dir eine Schale Reis, für 10 Mon“, knurrte er. Hatte er Mon gesagt? „Ähm …“, stammelte sie und legte ein paar Yen auf den Tisch. „Nehmen sie auch normales Geld?“ Grimmig schlug er mit der Faust auf den Holztisch. Er sah aus, als fühlte er sich übel auf den Arm genommen. Sawako ging es nicht anders. „Balg, wenn du nichts Besseres zu tun hast, dann geh. Zahl für den Reis oder verwinde. Es ist mir gleich.“ Er sah nicht aus, als wäre es ihm egal. Er blickte drein, als wäre ihm nichts lieber als das Verschwinden der ‚kuriosen‘ Gestalt in seinem Haus. Bei diesem Anblick tat Sawako ihm den Gefallen nur allzu gerne. Der Gedanke, dass sie tatsächlich nicht mehr in ‚ihrer‘ Welt war, ließ sich kaum mehr abschütteln. Ihr stiegen von Hunger, Erschöpfung und Panik wieder Tränen in die Augen. Nein, diesmal würde sie sich zusammenreißen. Sie versuchte es in anderen Geschäften, doch auch hier erging es ihr nicht anders. Sie konnte kein einziges Reiskorn kaufen, geschweige denn angemessenere Kleidung. Die Yen, die sie bei sich trug, schienen hier weniger Wert als Murmeln. Und die ständigen verachtenden Blicke in ihrem Nacken halfen ihr nicht, sich aufzumuntern. Immer noch besser als ihre Situation vor ein paar Stunden, dachte sie sich. Hier schien wenigstens nicht ihr Leben akut in Gefahr zu sein. Jedoch war sie völlig ratlos, was sie hätte tun sollen. Sie fand nirgends eine Telefonzelle. Das verwunderte sie aber weniger als die Tatsache, dass sie nirgends überhaupt irgendetwas fand. Keine Laternen, keine Leute mit Handy am Ohr, keine Fahrräder, keine Strommasten, nicht einmal Beleuchtung. Es war ein Dorf wie vor 500 Jahren, durch und durch. Das ließ wenig Raum für Hoffnung. Dann bemerkte sie, dass die Menschen um sie herum plötzlich unruhig wurden. Unruhig, während sie auf Sawako deuteten. Das machte ihr ziemlich Sorgen, also lief sie noch schneller durch die Straßen, hielt sich dabei in kleineren Seitengassen. Irgendetwas schien hier zu passieren, und sie schien die Einzige zu sein, die nicht wusste, was vor sich ging. Sie bog in eine weitere Seitenstraße, heraus aus dem Sichtfeld der gaffenden Masse. Dieser kleinere Weg verlief parallel zu dem, was sie für die Hauptstraße hielt, war aber glücklicherweise verlassen. Wahrscheinlich, weil sich alle auf eben dieser Hauptstraße tummelten, für was auch immer jetzt bevorstand. Das Grummeln des Masse wurde lauter. „Ich hab sie dort drüber gesehen“, hörte sie die aufgeregte Stimme eines Mannes. ‚Sie‘?, dachte Sawako beunruhigt. Hoffentlich nicht sie-Sawako-sie. „Die Frau, die ihr beschrieben habt?“, hörte sie eine viel ruhigere Stimme. Eine Stimme, die ihr furchtbar bekannt vorkam. „Wann war das?“, fragte der Mann. Sawako hatte das dumpfe Gefühl, das es nichts Gutes heißen konnte, in ihrer Situation eine bekannte Stimme zu hören. Wo hatte sie diesen Mann gehört? Ihr war, als wäre ihr die Stimme in einem Albtraum begegnet. „Beruhigt euch, wir sehen nach.“ Und nun erkannte sie ihn. Wieso hatte sie so lange gebraucht? Es war die Stimme des Mannes, der gestern in das Zelt eingebrochen war, wo man sie gefangen gehalten hatte. Der erst versprach, sie zu befreien, dann aber im Kampfesgetümmel verschwand. Es war der Shinobi, dem sie zugesagt hatte, auf ihn zu warten. Und er suchte nun hier nach ihr. Sie sah schon, wie sich die Situation vom Vortag erneut heraufbeschwor. Sie gefangen, weil diese Irren sie für jemanden hielten, der sie nicht war und sie keinen Beweis für das Gegenteil hatte. Wieder gefangen, nur an einem anderen Ort und von einem anderen Mann. Nein, das würde sie sicher nicht riskieren. Sofort machte sie kehrt und wollte durch die Gassen fliehen. Doch kaum hatte sie sich zum Lossprinten umgedreht, stieß sie mit einer unnachgiebigen Wand zusammen. Moment, zuvor war hier keine Wand. Sie öffnete die Augen, die sie vor Schreck geschlossen hatte und sah vor sich eine Rüstung auf Augenhöhe. Das Schlimmste ahnend und die Realität kaum greifen könnend blickte sie hinauf, in das Gesicht des Mannes, gegen den sie gerade gelaufen war und der ihr nun den Weg versperrte. Er sah gelassen auf sie herab, nicht verwirrt oder angewidert wie die Menschen im Dorf. Sein Blick ließ nicht erahnen, dass ihm gerade ein Freak vor die Füße gelaufen war. Er trug eine schwere Rüstung, also ein weiterer Soldat, kam es ihr in den Sinn. Mit seiner rechten Hand hielt er einen Speer mit einer ziemlich bedrohlich aussehenden Klinge an der Spitze. Auch wenn die Waffe nicht auf sie gerichtet war, wirkte sie nicht minder bedrohlich. Dann zeichnete sich ein gelassenes Lächeln auf dem Gesicht des Mannes ab. „Haben wir dich also gefunden.“ Kapitel 5: Der Shinobi und der Krieger -------------------------------------- Sawako glaubte, ihr Herz bliebe einen Moment stehen. Nach all dem, was sie die letzten 24 Stunden durchgemacht hatte, fand sie sich nun in der gleichen Situation wie zuvor wieder. Es war so ungerecht. Wer waren diese Leute? Was war das für ein verfluchter Ort? Und was stand ihr nun bevor, nachdem Sawako von ihnen entdeckt wurde? Sie hatte große Angst, es herauszufinden. Der Mann vor ihr wirkte auch nicht besonders vertrauenerweckend, mit dieser fürchterlichen Waffe, dieser schweren Rüstung, und diesen dunklen Augen. Obwohl … seine Augen wirkten gar nicht so bedrohlich. In seinem leicht belustigten Blick lag keine Feindseligkeit. Besonders sicher fühlte sie sich unter seinem Blick aber trotzdem nicht. Männer, die mit einer solchen Waffe herumliefen, töteten sicherlich, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie durfte keiner falschen Vorstellung von Sicherheit verfallen, wenn sie das überstehen wollte. Und war sie nicht schon einmal einer ausweglosen Situation entkommen? Schnell setzte sie zum Weglaufen an. Sie schaffte es, sich in die andere Richtung zu drehen und den rechten Fuß zu heben, da spürte sie schon den Griff seiner freien Hand an ihrem Arm. Der Griff war fest, sodass sie sich auch mit Winden und Zerren nicht frei reißen konnte, jedoch nicht schmerzhaft. „Also einer Sache bin ich mir sicher“, sagte er, das leichte Lächeln immer noch auf seinen Lippen, „eine Spionin bist du ganz bestimmt nicht. Wir haben keine Stunde gebraucht, um dich zu finden. Kaum verlassen wir das Haus, hören wir die Dorfbewohner über eine Fremde sprechen. Wenige Augenblicke später läufst du mir von alleine in die Hände. Es könnte nicht offensichtlicher sein. Yorinaga ist wirklich ein Narr.“ Sein Ausdruck änderte sich, als er von Yorinaga sprach. Er lachte grimmig, das Geräusch klang wie ein Knurren, ein sehr bedrohliches Knurren. Klar, wenn er zu dem Shinobi gehörte, waren diese Männer und Yorinaga sicher keine Verbündeten. Nur was hieß das für Sawako? Sie fasste ihren Mut zusammen, straffte die Schultern, um sich größer zu machen und nicht so klein und hilflos zu wirken, reckte das Kinn und blickte ihn mit dem festesten Blick an, den sie aufbringen konnte. Er war sehr groß, bestimmt zwei Köpfe größer als sie. Und wie es sich für einen Krieger gehörte, sah er auch sehr kräftig aus, wie sein breites Kreuz ihr die Sicht versperrte und er die schwer aussehende Waffe hielt wie einen Zahnstocher. Außerdem war er jung, vielleicht Mitte zwanzig. Das dunkle Haar trug er im Nacken zusammengebunden. Einen kurzen, absurden und komplett lächerlichen Moment kam ihr wieder das Bild von dem Polizisten im Rettungshubschrauber in den Sinn, nur dass es dieser Mann in Uniform war, der ihr die heiße Schokolade reichte. Sie musste unwillkürlich leicht den Kopf geschüttelt haben, um das furchtbar unpassende Bild zu verscheuchen, denn sein Lächeln breitete sich zu einem Grinsen aus. Es amüsierte ihn offensichtlich, was für ein kleines jämmerliches Häufchen Elend sie war und das frustrierte sie. „Ihr habt mich so leicht gefunden, weil ich nicht vorhatte, mich zu verkriechen, denn ich habe nichts zu verbergen.“ Er legte den Kopf leicht schräg und musterte sie weiter mit diesem amüsierten Funkeln in den Augen. Nahm sie denn niemand ernst an diesem Ort? Sie konnte sich kaum erklären, warum sie das störte, hatte sie doch weitaus größere Probleme. Ihr Blick wanderte wieder zu der bedrohlichen Klinge. Ein Schauder lief ihr über den Rücken bei der Vorstellung, dass dieser Speer das Blut vieler Menschen vergossen haben könnte. Hoffentlich nicht auch ihr Blut. „Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Seine Stimme und sein Blick waren nun wieder ernster. Er hatte anscheinend ihren ängstlichen Blick in Richtung seiner Waffe bemerkt. Erst jetzt ließ er sie los. Sie hätte das niemals erwartet, aber er steckte tatsächlich seine Waffe weg. Er hängte den Speer in eine Vorrichtung aus Gurten an seinem Rücken, ähnlich der Schwertscheide für ein Katana. Das Verbergen einer Waffe – eine Geste, die ihr wieder Mut gab. „Ich brauch mich nicht zu fürchten? Du hast gesagt, dass ihr mich gesucht habt. Was wollt ihr von mir? Lasst mich doch einfach meines Weges gehen. Ich hab mit … allem hier … überhaupt nichts zu tun.“ „Das wird sich zeigen“, gab er knapp zurück und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. Was sollte das denn heißen? Was würde sich zeigen? Ob man sie laufen lassen kann oder in den Kerker wirft oder sie gleich die Klinge des Speeres kennenlernte? „Was wird mit mir passieren?“ Ihre Stimme klang leiser, als sie beabsichtigt hatte. Sie wollte ihre Angst so gut wie möglich verbergen. Seine Miene zeigte keine Veränderung. „Das wird Ogata-sama entscheiden.“ Ogata? Hatte sie nicht Yorinaga diesen Namen sagen hören? Vielleicht der Herr dieser Region? Eine Welle von Panik durchzog sie. Ihr Schicksal wurde also entschieden von irgendeinem Fürsten, den sie nicht kannte und vom dem sie nicht wusste, wie er sie behandeln würde, was er von ihr halten würde und wie wertvoll ihm das Leben von verdächtigen Fremdlingen war. Und der Krieger vor ihr, vor dem sie ihre Angst nicht verbergen konnte, gab ihr auch keine weiteren Worte, um sie zu beruhigen. Er blickte immer nur weiter mit dem nun ernsten Blick auf sie herab. Wusste er, was ihr bevorstand? „Harada!“ Sie erschrak, als der Ruf die Stille, die zwischen ihnen gelegen hatte, durchbrach. Beide drehten den Kopf in die Richtung, aus der er kam. Der Krieger mit seinem lässigen und Sawako mit ihrem verängstigten Blick. Es lief ihnen ein junger Mann entgegen. Er blickte sie an, mit überraschtem Blick, und dann sah er ihren Gegenüber mit grimmigeren Augen an. „Sag, Harada, wie lange hattest du vor, mich noch durch das Dorf rennen zu lassen, bis du mir gesagt hättest, dass du sie längst gefunden hast?“ „Vielleicht noch ein bisschen“, erwiderte er nun wieder lachend. Sein Lachen klang unbeschwert. Ein beruhigender Laut. Der Neuankömmling erreichte sie in wenigen Schritten. Er war kleiner als der Krieger Harada, trotzdem überragte er Sawako noch ein kleines Stück. Außerdem wirkte er ein ganzes Stück jünger. Mit gerunzelter Stirn sah er sie an. „Du solltest auf mich warten.“ Erst jetzt erkannte sie ihn. Es war der Shinobi aus dem Zelt. „Wieso bist du einfach geflohen? Wir hatten eine Abmachung. Ich befreie dich, dafür kommst du mit. Ganz einfach. Alleine wegrennen gehörte nicht dazu.“ „Du bist selbst Schuld, Shiba. Du solltest keiner Frau so einfach trauen, und schon gar nicht, wenn sie im Lager des Feindes gefangen ist.“ Verdutzt sah sie von dem verärgert drein blickenden Shinobi, dessen Name Shiba zu sein schien, hoch zu Harada. Ärgerte er gerade den jüngeren Shinobi, der jetzt wütend zurückstarrte? Diese Situation kam ihr absurd vor. Absurd, aber dennoch … wirkten die beiden jetzt weniger bedrohlich auf sie. Sie entspannte sich ein bisschen. „Es wäre alles auch viel einfacher gewesen, wenn jemand bestimmtes mit seinem Speer nicht wie ein Berserker durch das feindliche Lager gewütet hätte“, antwortete Shiba. „Wenn du etwas still und heimlich erledigen willst, dann bitte mich nicht, mitzukommen.“ „Man könnte vielleicht mal seine Taktik der Situation anpassen? Ich kann nicht alleine in das feindliche Lager und wollte nur ein bisschen unauffällige Rückendeckung.“ „Du weißt, dass das nicht mein Stil ist.“ Sawako konnte es kaum glauben, wie locker und unbeschwert die beiden vor ihr diskutierten und sie kaum mehr beachteten. Sie war verwirrt und erschöpft und frustriert. Wenn sie schon keine Ahnung hatte, was vor sich ging und was ihr bevorstand, hätte sie doch zumindest gerne gewusst, ob sie nun in Gefahr war oder nicht. Denn im Moment wirkten die beiden nicht sehr blutrünstig. Sie sah von einem zum anderen. Plötzlich wandte sich Shiba ihr zu. „Wieso bist du abgehauen?“ Klang seine Stimme tatsächlich vorwurfsvoll? „Entschuldige, aber der Lärm draußen klang für mich nicht danach, als würdest du wirklich lebend zum Zelt zurückfinden und ich war doch sehr bestrebt, meinen eigenen Hintern zu retten, auch wenn dir das scheinbar Umstände gemacht hat.“ Sie biss sich auf die Zunge und hielt vor Schreck die Luft an. Zu viel Sarkasmus, zu frecher Tonfall. Das war nicht schlau gewesen, ganz und gar nicht. Die beiden sahen sie verdutzt an, dann sich gegenseitig. Sie sah schon die Klinge des Speeres auf sie niedersausen. Mit todernstem Blick sagte Harada: „Sieh nur, was du angerichtet hast. Kaum tauchst du hier auf, hat sie nicht mal mehr Angst vor uns. Vorher hat sie gezittert wie ein Reh und jetzt macht sie sich über dich lustig. Das sollte dir zu denken geben.“ Shiba blickte immer noch vollkommen verdutzt. Er war merklich überrascht, dass sie so mit ihm sprach. Er schüttelte nur den Kopf. „Aber ich war wirklich erstaunt, dass du … deinen Hintern alleine hierher retten konntest. Jetzt bleibt nur noch zu sehen, was mit ihm passiert.“ Stimmt, dachte sie. Die beiden würden diesen Ogata entscheiden lassen, was aus ihr wurde. „Du, dein Hintern und dein loses Mundwerk kommt jetzt mit“, sagte Shiba bestimmt. Sie starrte ihn finster an und rührte sich nicht. Er legte seine Hand auf ihren Rücken, um ihr einen leichten Schubs zu geben, damit sie sich in Bewegung versetzte. Harada ging vorneweg, sie konnte sein Gesicht nicht sehen, vermutete aber, dass er weiterhin amüsiert war. Wie nett, dass er es so lustig fand, wie Sawako sich, wenn das Glück sie verlassen hatte, ihrem Untergang näherte. Shiba lief neben ihr, die Hand weiter auf ihrem Rücken. Es beunruhigte sie, dass er sie nicht los ließ. Aber was sie verwirrte, war ihre nicht mehr vorhandene Angst. Gut, sie war sehr nervös angesichts des Ungewissen, aber sie spürte kaum Furcht. Lag es an den beiden? Sie strahlten keine Feindseligkeit aus, wie Yorinaga und dessen Männer. Harada hatte ihr gesagt, dass sie sich nicht fürchten müsse. Hoffentlich waren diese Worte wahr. Und Shiba meinte, sie hätte sich hierher „gerettet“. Klang nicht danach, als würde sie sofort erdrosselt werden. Verlor sie sich gerade tatsächlich in einem trügerischen und falschen Gefühl der Sicherheit? Oder hatte sie das Glück tatsächlich nicht verlassen? „Das wird sich zeigen“, hallten Haradas Worte in ihrem Kopf. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hallo, liebe Leser, die ihr bis hier dabei seid ;-) Mir ist wirklich wichtig, zu wissen, was ihr über die Story denkt, was euch gefällt und was nicht. Und ob überhaupt jemand die Geschichte liest^^ Eure Kritik und Hinweise sind für mich Gold wert, also bin ich für jeden Kommi ausgesprochen dankbar. lg Jade Kapitel 6: Die Magie des Tempels -------------------------------- Zu ihrem großen Leidwesen brachten die beiden Sawako die Hautstraße entlang. Hatte sie vorher geglaubt, angestarrt worden zu sein? Das war nichts im Vergleich zu jetzt. Der Krieger Harada vorneweg, Shinobi Shiba neben ihr und gefolgt von einer Meute Soldaten. Als die beiden Männer Sawako aus der Gasse hinaus geführt hatten, wartete eine Traube der Krieger bereits auf Harada. Sie sprachen ihn mit „Hauptmann“ an und redeten mit viel Respekt in der Stimme, anders als Shiba. Harada schien hier einer der Wichtigen zu sein. Wie nett, sie wurde von einem VIP eskortiert. Das Verhalten von ihm und Shiba hatte sich schlagartig verändert, als sie die belebte Straße betreten hatten. Sie scherzten nicht mehr und wechselten nur wenig Worte. Ob es mit seiner Position als Hauptmann zu tun hatte? Das sollte keine Rolle spielen, sie hatte gerade durchaus andere Sorgen. Während sie die Straße hinauf liefen, kamen immer mehr Soldaten hinzu. Sawako vermutete, dass sie alle ausgeschwärmt waren, um die mysteriöse Fremde zu finden, die im Dorf solche Unruhe verbreitete – also sie. Daher wurde die Gruppe um sie herum immer größer, als die Soldaten nach und nach zurückkehrten. Sie fühlte sich wie von einer Parade begleitet. Die Menschen sahen sie an wie eine Kriminelle, die von der Polizei abgeführt wurde. Während die Dorfbewohner sie zuvor nur neugierig und skeptisch angeschaut hatten, spürte sie jetzt ganz verschiedene Blicke auf sich. Verachtung war häufig vertreten, aber auch Spott. Am meisten jedoch wunderte sie sich über die ängstlichen Blicke. Sawako glaube nicht, dass sie eine nennenswerte Bedrohung darstellte. Einen kurzen Moment sah sie das kleine Mädchen von zuvor, dem sie den Obi wiedergegeben hatte. Sie versteckte sich hinter einer alten Frau, als sie bemerkte, dass Sawako sie entdeckt hatte. „Mach dir wegen denen keine Gedanken“, sagte Shiba ihr leise. „Sie sind unruhig wegen des Angriffes auf den Schrein. Sie spüren die Bedrohung des Krieges, der in der Luft liegt. In solchen Zeiten nehmen die Menschen immer Abstand von Fremden.“ „Das Dorf wurde angegriffen?“ fragte sie überrascht. Ein Angriff auf einen Schrein? Das kam ihr unangenehm bekannt vor. Er sah sie verwirrt an, als wäre er davon ausgegangen, dass sie es wissen musste. „Ich hatte dir doch gesagt, dass ich nur auf der Durchreise war, als ich von Yorinagas Männern gefangen genommen wurde. Diese Region kenne ich nicht und weiß auch nicht, was hier vor sich geht“, sagte sie zu ihrer Verteidigung, halb Lüge, halb Wahrheit. „Es ist sehr dumm, so wenig über die Gegend zu wissen, die man durchquert. Dumm und gefährlich“, gab er zurück. Sie wusste, dass er Recht hatte, nur hatte sie ja nicht gerade die Möglichkeit zum Recherchieren gehabt. Doch das konnte sie ihm ja kaum sagen. „Ich war in Eile“, erwiderte sie nur verteidigend. Sein Blick war skeptisch. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er ihre Geschichte genauso wenig glauben würde wie Yorinaga. Er wusste, dass sie etwas verbarg. Das ist sicher der Grund, warum sie Sawako nicht gehen ließen. Er sprach von Krieg. Dann ist klar, dass Fremde mit Geheimnissen nicht so einfach mit einem Lunchpaket versorgt und ihres Weges geschickt wurden. „Es war gestern, noch bevor die Sonne am höchsten stand. Feindliche Shinobi sind in das Dorf eingefallen und haben den Tempel angegriffen. Eine Miko und drei Priester wurden getötet und der Tempel in Brand gesetzt. Das schwere Unwetter hatte dafür gesorgt, dass das Feuer sich nur schwer ausbreiten konnte. So konnten wir es zum Glück löschen, bevor der Schrein ganz zerstört wurde. Der Kern des Tempelgeländes, der Schrein der Zeit, hat allerdings großen Schaden genommen.“ Es musste derselbe Angriff gewesen sein, in den sie gestern gestolpert war. Kein Wunder, dass die Dorfbewohner Angst hatten, bei diesem Höllenszenario und der drohenden Gefahr eines feindlichen Überfalls. „Der Schrein der Zeit?“, hakte sie nach. Sie würde die Chance nutzen, um so viele Inforationen wie möglich zu bekommen. „Der Schrein ist das oberste Heiligtum dieses Ortes. Eher sogar der ganzen Provinz. Die Menschen glauben, dass jetzt großes Unheil bevorsteht, wo der Schrein beschädigt wurde. Sie fürchten den Zorn der Götter. Zum einen, weil der Schrein an sich fast zerstört wurde. Zum anderen, und das ist der Hauptgrund, weil etwas sehr Kostbares daraus entwendet wurde. Die Götter selbst sind beraubt worden.“ In seiner Stimme klang ein besorgter Unterton mit. „Sie glauben, die Götter hätten das Unwetter heraufbeschworen, um den Tempel zu schützen und die Menschen zu strafen.“ „Warum hat Yorinaga den Überfall beauftragt?“ fragte sie und erntete einen entsetzten Blick von ihm. „Woher weißt du, dass er es war?“ Er wirkte ernsthaft beunruhigt. „Ähm ...“, sie zögerte. Fast hätte sie wieder ihren sarkastischen Tonfall von vorhin angerissen. Wer weiß schon, wie belastbar der Geduldsfaden dieses Mannes mit frechen Frauen war. Sie wollte es nicht austesten. Gut, das würde jetzt ebenfalls nicht die ganze Wahrheit werden. Immerhin wusste sie es mit Bestimmtheit. Sie antwortete : „Also wenn ihr gestern überfallen wurdet und du und der Hauptmann da vorne in Yorinagas Lager einfallt, dann hab ich jetzt einfach mal geschlussfolgert, dass er der Angreifer sein musste.“ Sie hörte ganz leise ein Grummeln von vorne. Harada musste sich ein Lachen verkniffen haben. Er schien ihnen zuzuhören, hielt sich aber aus dem Gespräch heraus und schenkte ihnen keine offensichtliche Beachtung. Auch Shiba ist es aufgefallen und er warf dem Rücken des Hauptmannes einen grimmigen Blick zu, „Gut, du hast Recht, das kann man schlussfolgern“, gab er zu. „Aber wir haben keine Beweise, dass er es war. Wir glauben es nur, weil ein Angriff von Mikawa seit Wochen vermutet wird. Yorinaga hat in der Vergangenheit mehrere andere Provinzen eingenommen. Da Mikawa Dewas Nachbarprovinz ist, halten wir es nur für eine Frage der Zeit, bis ein Krieg ausbricht.“ Sawako versuchte die Informationen in ihrem Kopf zu ordnen. Sie befand sich hier in der Provinz Dewa. Ogata musste der Herr der Provinz, der Daimyou, sein. Zuvor war sie die Gefangene von Daimyou Yorinaga, dem Herren der Provinz Mikawa. Den beiden Regionen drohte ein Krieg. Kein Wunder, dass sie auf beiden Seiten mit so viel Argwohn behandelt wurde. Sie war direkt beim Angriff aus dem Nichts im Tempel aufgetaucht. Natürlich musste er geglaubt haben, dass es kein Zufall sein konnte. Genauso wie Shiba, der Sawako nach dem Angriff im feindlichen Lager vorgefunden hatte. „Ich verstehe“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Shinobi. Je mehr Informationen sie bekam, desto mehr konnte sie sich zusammenreimen, was hier vor sich ging und desto besser könnte sie sich anpassen. Leichter gesagt als getan. „Bis ihr mir also glaubt, dass ich mit all dem nichts zu tun habe, werdet ihr mich nicht gehen lassen?“ „So ist es. Hast du Angst?“ Er musterte sie genau, als würde er sich keine Regung entgehen lassen wollen, die etwas über sie verriet. „Sollte ich?“ stellte sie die Gegenfrage. „Das hängt ganz davon ab, ob du uns die Wahrheit sagst oder nicht.“ Gab er zurück. Die Antwort war so schlicht, dass sie seine Worte nicht in Frage stellte. Sein Blick wirkte aufrichtig. Ihr fiel wieder auf, wie jung er war. Sawako konnte sich nicht vorstellen, dass er älter war als sie mit ihren 22 Jahren. Im Gegensatz zu Harada trug er sein Haar nicht lang. Er war dem Krieger insgesamt auch sehr wenig ähnlich. Sein Gesicht wirkte jugendlich und seine schlanke Statur verhieß Geschwindigkeit und Geschick. „Da vorn“, er deutete auf das Ende der Straße, die sich dort in eine leichte Kurve neigte. „Gleich kannst du es selbst sehen.“ Sie wusste erst nicht, was er meinte, doch als sie die Stelle erreichten, traf es sie wie ein Schlag ins Gesicht. Hätte sie den Angriff nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte sie nicht sofort erkannt, dass es sich bei diesem Gelände um einen Tempel handelte. Statt roter Säulen, die den Gang bildeten, sah sie nur schwarze Überreste verbrannten Holzes. Sawako erkannte den kleinen Tempel sofort, auch wenn nichts an die Pracht erinnerte, die sie zuvor gesehen hatte. So prächtig, dass er zu dem kleinen Dorf kaum passte. Doch durch den Angriff hatte er seinen Glanz verloren. Eine Miko und drei Priester wurden hier ermordet, wie grausam. Sie erschauderte. Die Schreie, die sie gehört hatte – stammten sie von Ihnen? Ihr Blick schweifte weiter über das Gelände. Niemand war hier. Ob der Tempel nun einsturzgefährdet war? Ob er wieder mühselig zu altem Glanz hergerichtet werden würde? Bestimmt, denn sie hatte ihn gesehen, in voller Pracht, zu einer anderen Zeit. Zwischen den verrußten Wänden blitzten immer wieder verschiedene Farben hervor. Sehr viel Rot, aber auch Blau und Gelb. Sawako erinnerte sich wieder an den Tempel, den sie als Kind mit ihren Eltern besucht hatte. Genauso wie hier war es ein kleines, unscheinbares Eckchen gewesen, sodass ein prächtiger Tempel dort überraschte. Sie war damals so fasziniert davon. Von der Schönheit und der Magie des Ortes. Sie hatte sich dann immer gewünscht, auch eine Miko zu werden und ihr Leben in den wunderschönen Räumen, Höfen und Gärten eines solchen Tempels zu verbringen. Auch dieser Tempel strahlte, trotz des schrecklichen Zustandes, dieselbe Magie aus wie der aus ihrer Erinnerung. Zu Beginn des Ganges war eine Säule noch vollkommen intakt und unbeschädigt. Wieso war sie Sawako nicht gleich aufgefallen? Sie leuchtete so strahlend rot, dass es unmöglich schien, sie zu übersehen. Zu gerne wäre sie hinübergegangen, um das kalte Holz zu berühren. Aber sie musste weitergehen …. gehen. Sie riss sich aus ihren Gedanken und stellte fest, dass sie stehengeblieben war. Die ganze Kolonne wartete ebenfalls, und deren Blicke lagen nicht auf dem Tempel, sondern mit verwundertem Ausdruck auf ihr. Selbst Harada hatte sich umgedreht und sah sie mit einem Blick an, den sie nicht deuten konnte. „Beachtest du uns jetzt wieder?“, hörte sie Shibas Stimme neben sich sagen. Sie klang dumpf, als befände Sawako sich in einer Art Trance. Zögernd sah sie ihn an. „Was?“ „Ok, du hörst nicht zu, aber du hörst mich zumindest. Besser als vorher“, seufzte er. Hatte er mit ihr gesprochen, als sie den Tempel anstarrte und ihn und die anderen dabei vollkommen ausgeblendet hatte? Sie war verwirrt. Außerdem war es ihr sehr unangenehm, wie mehr als 30 Männer sie anstarrten und auf sie warteten. Sie versuchte, die Blicke zu meiden und ging strammen Schrittes weiter. Dabei fiel es ihr ausgesprochen und überraschend schwer, nicht wieder zum Tempel zurückzusehen. Der Tempel stand am Rande des Dorfes, sodass sie jetzt wieder das vertraute Bild des Waldes um sich herum hatte. Die Bäume ragten links und rechts der Straße wieder so hoch hinauf, dass sie nicht viel von der Umgebung erkennen konnte. Shiba hatte ihr gesagt, dass sie auf dem Weg zum Schloss des Daimyou waren und dass es auf einem Hügel nahe des Dorfes lag. Die Bäume verhinderten aber, dass sie den Berg sehen konnte, geschweige denn das Schloss. War aus dem Dorf vielleicht ein Hügel in der Ferne sichtbar gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern, da sie nicht sonderlich auf ihre Umgebung geachtet hatte. Zu sehr hatte sie sich auf das mittelalterliche Dorf an sich konzentriert. Mittelalterlich, ja. Das Dorf, dessen Bewohner, diese Krieger … Sawako war sich nach allem ziemlich sicher, dass sie hier in der Vergangenheit gelandet war. All das Gerede von Shinobi, Provinzen und Daimyous hatte ihren Verdacht verstärkt, sodass sie sich nun keine andere Möglichkeit mehr vorstellen konnte. Sengoku Zeit, vermutete Sawako anhand der vorhandenen Informationen. Irgendwann zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert. Sie weigerte sich aber vorerst, über die Konsequenzen nachzudenken. Ihr Entschluss stand fest. Es war wichtig, Prioritäten zu setzen. Ganz oben auf der Liste stand: Am Leben bleiben. Vermeidung von erdrosselt, erschlagen, erstochen oder erhängt werden. Dicht gefolgt wurde Punkt Eins von: das bitte möglichst unbeschadet. Um das zu erreichen, musste sie den Gegebenheiten ins Auge blicken und dazu gehörte, sich dem wahrscheinlichsten Szenario ihrer Situation zu stellen und das war in ihren Augen die Zeitreise, so absurd es auch klang. Das Gelingen von Punkt Eins und Zwei war nun abhängig von Daimyou Ogata. Sie musste sich also darauf konzentrieren, von ihm als so unschuldig und ungefährlich wie möglich wahrgenommen zu werden. Und erst, wenn diese Punkte sichergestellt sind, könnte sie sich Nummer drei widmen: herausfinden, wie ich hier gelandet bin. Denn nur, wenn ihr das gelang, konnte sie den letzten Punkt auf der Liste abhaken: Zurück nach Hause finden. Ihr wurde schwer ums Herz. Ihre Familie und ihre Freunde schienen so unerreichbar. Würde es ihr überhaupt gelingen, nach Hause zurückzukehren? Nein, ermahnte sie sich selbst, nicht jetzt darüber nachdenken, nicht die Priorisierung vergessen. Sie durfte sich nicht ablenken lassen und das Wesentliche, nämlich ihr Wohlergehen, nicht aus den Augen verlieren. Auf dem schier endlos langen Weg zum Schloss dachte sie genau darüber nach. Shiba sprach viel mit ihr, jedoch hörte sie ihm kaum richtig zu, da er meist über Belanglosigkeiten redete. Nur, wenn für sie wichtige Informationen fielen, horchte sie auf. Sie war sehr dankbar dafür, dass er ihr keine Fragen stellte. Das machte es für sie deutlich einfacher. Und sie war dankbar, dass er überhaupt so viel mit ihr sprach. Es beruhigte sie sehr und gab ihr ein fast vertrautes Gefühl. Sie stellte sich vor, wie beunruhigend es gewesen wäre, wenn sie wie eine Kriminelle behandelt worden wäre, wie in Mikawa. Die Hände gefesselt, und keine freundlichen Worte vom Shinobi, kein knurrendes Lachen vom Krieger, höchsten kalte Blicke und ein paar Beleidigungen. Die Vorstellung gefiel ihr nicht. Außerdem wuchs wieder ihre Unruhe, je länger sie unterwegs waren. Denn je länger sie gingen, desto näher kamen sie dem Schloss und desto näher ihrem Urteil. Sie fragte sich, was für ein Mann dieser Ogata war. Kurz überlegte Sawako, ob sie Shiba einfach fragen sollte. Aber es wäre schon ziemlich unhöflich, zu fragen, wie „sein Herr so drauf ist.“ Sie wollte niemandem auf den Schlips treten. Wie ungünstig, diese Redewendung passte gar nicht in dieses Jahrhundert. Hier trug niemand einen Schlips. Sie musste unbedingt auf ihre Sprache achten. Zu schnell gingen saloppe Worte und Wendungen von den Lippen. Das könnte hier aber schnell sehr unangenehme Fragen aufwerfen. Sie konnte sich Leichteres vorstellen, als immer auf ihre Wortwahl zu achten. In Gedanken machte sie eine meterlange Liste mit Worten, die sie vorerst aus ihrem Wortschatz verbannen müsste. „Meterlang“ kam gleich mit dazu. „Wir sind gleich da“, versprach ihr Shiba, als sie ihn nach vielen, vielen weiteren Schritten fragte, wie weit sie noch zu laufen hätten. Der Weg war furchtbar anstrengend. Seit Ewigkeiten neigte sich die Straße bergauf. Wieder holte sie Erschöpfung ein, und das konnte sie weiß Gott nicht gebrauchen. Sie benötigte einen klaren Kopf, wenn sie dem Daimyou gegenüber trat. Shiba hatte Recht, nur wenige Minuten später veränderte sich der Weg. Die Straße wurde breiter, die Bäumen hier waren nicht so dicht. Dazwischen konnte sie kurze Blicke auf das Schloss erhaschen. Es schien kein besonders großes Schloss zu sein. Nach dem wundervollen Tempel hatte sie ein nicht minder prächtiges Schloss erwartet. Als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten und sich nun freie Sicht darauf bot, erinnerte sie dieses Schloss eher an ein besonders großes Anwesen. Trotzdem war es sehr schön anzusehen. Wäre sie Tourist, hätte sie Gefallen daran gefunden. Leider war sie eher eine Gefangene und als solche konnte der Anblick sie nicht lange fesseln. Tourist hätte sie durchaus bevorzugt. Die Soldaten, die die ganze Zeit hinter ihr gelaufen waren, formierten sich nun an der Seite des Gebäudes und hörten aufmerksam den Befehlen ihres Hauptmannes zu. Er sah kurz in ihre Richtung und nickte Shiba kaum merklich zu. Der Shinobi, der nun schon eine ganze Weile aufgegeben hatte, Sawako in ein Gespräch zu verwickeln, in das sie mehr einbrachte als gelegentliche zustimmende, fragende oder einfach nichtssagende „Hmmms“, ging alleine mit ihr in Richtung Schloss. Sie sah viele Menschen, die sie für Personal hielt, weil sie den Kopf neigten, als Shiba mit ihr vorbeimarschierte. Trotzdem bemerkte sie auch hier immer wieder Blicke auf sie gerichtet, auch wenn die Schlossdiener dabei subtiler vorgingen als die Dorfbewohner. „Ogata-sama wird euch gleich empfangen“, sagte jemand zu Shiba. Dieser nickte nur und schleifte sie weiter den langen Flur entlang. Dann hielt er plötzlich inne. „Sag, wann hast du zuletzt was gegessen?“ Wie zur Bestätigung knurrte ihr Magen, als würde er schreien: „ja, denk an mich, beachte mich.“ Die letzte Mahlzeit? Das war die Scheibe Brot, die es gestern noch zum Frühstück gab, bevor sie das Haus Richtung Aokigahara verlassen hatte. Es kam ihr vor, als wäre seitdem eine halbe Ewigkeit vergangen. „Gestern früh“, gab sie wahrheitsgemäß zurück und wagte kaum zu hoffen, etwas Essbares zu bekommen. Doch genau das hatte er vor. Er änderte mit ihr die Richtung und zog sie in einen leeren Raum. Sie sah ihn verdutzt an. „Warte, wir haben nicht viel Zeit, bis die Verzögerung auffällt.“ Er verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie konnte kaum glauben, dass sie etwas zu Essen bekam. Erleichtert wollte sie sich auf den Boden setzen, sich ausruhen und etwas zurücklehnen, doch Shiba war schon wieder zurück. Er drückte ihr eine kleine Schale kalten Reis in die Hand. „Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben. Iss schnell“, drängte er. Sie hatte nicht vor, sich zu beschweren. Sie verschlang den Reis, als wäre ihr Magen tatsächlich ein Vakuum. Dabei ruhten seine Augen auf ihr. Sie würde sich trotzdem keine Gedanken darüber machen, wie wenig lady-like sie gerade den Reis verschlang. „Danke“, sagte sie ihm mit ernstem Blick. Er hatte sie wahrscheinlich vor dem Hungertod bewahrt. Woher wusste er, dass sie sich fühlte, als würde sie sofort tot umfallen vor Hunger? Einen Moment wirkte er von ihrem aufrichtigen Dank irritiert. Dann grinste er breit. „Es hätte doch keinen Sinn gehabt, wenn dein Magen so laut knurrt, dass niemand meinen Bericht versteht.“ Sie konnte nicht anders als ebenfalls zu schmunzeln. Sein Lachen war wirklich ansteckend und die Schale Reis hat ihr einen richtigen Energieschub verpasst. „Nun aber los“, meinte er und zerrte sie aus dem Raum heraus und wieder hinter sich her. Hatte er vergessen, dass sie auch alleine laufen konnte? Das hatte sie die letzten Stunden durchaus bewiesen. Am Ende des langen Flures war eine riesige, elegant bemalte Reispapiertür. Ohne warnende Worte, ohne weitere Hinweise, schoben Bedienstete sie beiseite, um den Weg in einen großen und weiten Raum zu öffnen und Shiba zog Sawako mit sich hinein. Sie konnte so schnell kaum alle Eindrücke wahrnehmen. Es waren viele Leute in diesem Raum. Die meisten saßen links und rechts. An der anderen Seite des Raumes, wo der Boden in einem großen Rechteck gut 20 Zentimeter höher war, saß ein Mann in edlen Gewändern. Sie hatte keine Sekunde gezweifelt, wen sie hier vor sich hatte. Ein gutes Stück vor ihm saßen eine Handvoll Männer in respektvoller Haltung. Darunter erkannte sie Harada. Shiba zog sie weiter mit sich, setzte sich neben Harada. Dabei zog er Sawako mit sich herunter, sodass sie eine wenig elegante Verbeugung machte. „Ogata-sama, ich bitte Euch, unsere verspätete Rückkehr aus Mikawa zu verzeihen.“ Der Daimyou sah Sawako einen kurzen Moment mit undefinierbarem Ausdruck an. Dann fiel ihr wieder ein, wie dreist es war, den Fürsten direkt anzusehen. Schnell senkte sie ihren Blick. In dem Raum herrschte einen Moment Stille. Sie hörte ihren Herzschlag in den Ohren dröhnen. Dann erhob der Daimyou seine Stimme: „Also, ich erwarte euren Bericht.“ Kapitel 7: Was geschah ---------------------- Die Informationen über das Geschehene wurden von denen vorgetragen, die nun hier in der Mitte des Raumes knieten. Shiba, Harada und andere Männer, die Sawako nicht kannte. Sie lauschte gespannt und aufmerksam, auch wenn sie einiges bereits von Shiba gehört und anderes selbst miterlebt hatte. Die Männer hatten das Schloss verlassen gehabt, als der Brand im Tempel bemerkt wurde. Die Rauchwolke war nur allzu sichtbar gewesen, sodass selbst hier im Schloss schnell reagiert werden konnte. Da ein Angriff von Mikawa seit längerem befürchtet wurde, waren die Soldaten stets in Alarmbereitschaft und konnten so schnell reagieren. Sie schnappten sich ihre Pferde und eilten zum Dorf. „Als wir den Tempel erreicht hatte, waren die Angreifer bereits fort. Wir konnten keine eindeutigen Spuren ausmachen. Entweder waren sie zu vorsichtig, oder ihre Verwüstung einfach zu gründlich“, erklärte Harada. So unauffällig wie möglich schaute sie zu ihm hinüber. Seine Züge waren ernst und er wirkte zornig, auch wenn seine Stimme ruhig klang. „Alles, was wir noch tun konnten, war den Dorfbewohnern beim Löschen der Flammen zu helfen und die Toten aus dem Feuer zu ziehen. Wir hatten großes Glück, das Wetter war uns wohlgesonnen. Die Priester glauben, die Götter selbst hätten den Schutz des Tempels in die Hand genommen. Die Toten wären da sicher anderer Meinung. Auch der Schrein wurde fast zerstört und der Stein der Zeit gestohlen.“ „Der Stein der Zeit? Glaubst du, sie hatten es darauf abgesehen?“, fragte der Daimyou aufmerksam. Er schien unruhig zu sein, auch wenn sein Gesicht eine emotionslose Fassade darstellte. Die Art, wie die Finger seiner rechten Hand zuckten und wie seine Augen sind immer weiter verengt hatten, verrieten ihn. Erschrocken blickte Sawako auf den Boden, als sie bemerkte, dass sie ihn wieder angestarrt hatte. Er gab wirklich ein imposantes Bild ab. Älter als Mitte dreißig konnte er auf keinen Fall sein. Seine feinen Gesichtszüge und seine wachsamen Augen ließen ihn sehr intelligent wirken. „Ja, und da bin ich mir sehr sicher. Sie haben den Tempel so sehr beschädigt, die Priester leisteten kaum nennenswerten Widerstand und es kann, anhand deren Schilderung, nur wenige Augenblicke gedauert haben, bis die Angreifer den Tempel unter Kontrolle hatten. Jedoch haben sie alle Kostbarkeiten zurückgelassen. Einzig der Stein wurde mitgenommen.“ Der Stein und Sawako selbst, dachte sie bitter. Schrein der Zeit? Stein der Zeit? War es dieses Relikt, von dem Shiba ihr zuvor erzählt hatte? Ein sehr ungutes Gefühl überkam sie. Aber diesmal achtete sie darauf, ihre demütige Haltung beizubehalten und nicht wieder den Fürsten anzusehen oder überhaupt den Blick unbeschwert durch die Halle schweifen zu lassen. Dabei interessierte es sie brennend, wie die Anwesenden auf diese Information reagierten. Es erschien ihr als unglaublich wichtig. „Und ihr hattet keine Spuren, um die Diebe zu verfolgen?“ „Nein“, antwortete nun ein anderer. „Niemand konnte Spuren entdecken. Es war, als hätten Geister den Tempel heimgesucht.“ Ein zustimmendes Grummeln war zu vernehmen. „Dennoch“, ergänzte Shiba, „ist es doch sehr wahrscheinlich, dass Mikawa hinter dem Angriff steckt. Darum haben wir Shinobi uns auf den Weg in das feindliche Gebiet gemacht. Harada und eine handvoll seiner Soldaten begleiteten uns. Wir fanden Yorinagas Lager noch vor Einbruch der Dunkelheit, am Ufer des Saiko Sees, hielten uns jedoch erst verborgen. Erst, als die Nacht hereinbrach, die Wachen nach und nach dem Sake erlagen und die Fackeln erloschen, schlich ich mich ins Lager. Ich wollte so unauffällig wie möglich nach dem Stein suchen. Unentdeckt bleiben. Doch daraus wurde nichts, denn in einem der Zelte fand ich diese Frau.“ Sawako musste gar nicht aufsehen, um zu bemerken, dass alle Blicke auf ihr lagen. Sie spürte es wie ein Brennen im Nacken. Hatte Harada nicht zuvor gesagt, sie wäre ängstlich wie ein Reh? Jetzt fühlte sie sich zumindest wie ein Reh vor einem Wolfsrudel. „Gehört sie zu Mikawa?“, fragte Ogata. Sie schüttelte den Kopf, aber es war Shiba, der für sie antwortete. „Das glaube ich nicht. Sie war eine Gefangene. Dennoch hatte sie mich gesehen. Ich wusste nicht, ob sie mich verraten würde, um ihre Freiheit zu erkaufen. Hätte ich sie jedoch getötet, wäre Yorinaga aufgefallen, dass wir dort waren. Also konnte ich sie nur für ein kleines Täuschungsmanöver gebrauchen. Allerdings unterlief mir ein Fehler. Sie ist entkommen, ehe ich sie mit nach Dewa nehmen konnte. Im Lager ist dann Tumult ausgebrochen. Die Soldaten wurden entdeckt und ...“, er warf Harada einen flüchtigen Blick zu, „dann hatte die Mission nicht mehr viel mit Unauffälligkeit zu tun.“ „Vergebt mir, Ogata-sama, aber es erschien mir nicht das Richtige, mich zurückzuhalten. Ich habe einige Männer verloren und wollte nicht riskieren, dass mehr als nötig fallen.“ Darauf hörte sie keine Reaktion. Ogata schien dem Bericht weiter lauschen zu wollen. „Und in dem Tumult ist die Frau entkommen“, ergänzte Shiba. Es war merkwürdig, wenn jemand so über sie redete. Sie fühlte sich wie ein Tier, dass bei einer Hetzjagd entwischen konnte und dafür besonders fiese Hunde auf den Hals gehetzt bekam. „Wie ist dein Name?“ Oh Gott, redete er jetzt mit ihr? „Sawako, mein Herr“, antwortete sie, ohne aufzusehen. „Sag, Sawako, warum wurdest du dort festgehalten?“ Sie erzählte ihm die gleiche Geschichte wie Yorinaga. Von der Flucht vor dem grausamen Ehemann und dem unglücklichen Zufall, der sie in das Land Yorinagas führte. Dabei ließ sie jedoch die Tatsache aus, dass sie während des Angriffes aus dem Nichts im Tempel auftauchte und dort gefangen wurde. Wie sie es auch drehte und wendete, es hätte sie zu verdächtig aussehen lassen und dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Hoffentlich würde er ihr mehr glauben als der Fürst Mikawas. „Und du hast den Aufruhr genutzt, um zu entkommen und dabei den Hauptmann meiner Shinobi einfach zurückgelassen. Du hast entweder erstaunliches Glück oder aber Geschick bewiesen. Offensichtlich hast du nicht lange gebraucht, um den Fehler zu beheben?“, fragte er nun wieder an Shiba gewandt. „Wir fanden sie am nächsten Tag im Dorf und brachten sie hierher.“ „Hast du Anzeichen auf den Stein der Zeit oder den Angriff auf den Tempel gefunden?“ Konnte das sein? Keine weiteren Fragen? Kein Verhör? Kein guter Bulle, böser Bulle? Nahm er ihre Geschichte etwa wirklich so hin oder war sie gerade einfach nicht wichtig genug, um weitere Beachtung zu erfahren? Nicht, dass es sie gestört hätte. Es folgten dann eine ganze Weile Spekulationen über den Verlauf und den Grund des Angriffes sowie über den Verbleib dieses mysteriösen Steines. Die Ungewissheit, ob es tatsächlich Yorinaga war oder aber ein anderer Feind machte ihnen scheinbar zu schaffen. Sie wagten es nicht, auf einen Verdacht hin den Krieg zu suchen, wollten jedoch einen so unglaublichen Angriff aber auf keinen Fall ungestraft lassen. Sie war versucht, ihnen einfach zu bestätigen, dass es Yorinaga war. Aber sie hatte Angst, dass zu viel Wissen über den Angriff sie in das falsche Licht stellen würde. Ein falsches Wort und das Bild vom unschuldigen Passanten war verloren. Welcher Angreifer erzählte seiner Gefangenen gegenüber schon aus dem Nähkästchen? Ogata war sehr bestimmt, dass sie diesen Stein unbedingt wiedererlangen mussten. Sawako fand es merkwürdig, dass so viel über dieses Artefakt gesprochen wurde. Wie wertvoll konnte es schon sein? Es wurde dieser unglaublich schöne Tempel fast niedergebrannt, vier Menschen ermordet, und deren Hauptsorge war dieser blöde Stein? Ein Gegenstand, der so wichtig ist, dass alles andere ausgeblendet wurde? Plötzlich kam es ihr in den Sinn. Sie erschrak fast von der überraschenden Einsicht. „Ähm“, sie wusste gar nicht, wie sie sich zu Wort melden sollte, aber sie hatte eine hervorragende Idee. Durfte sie sich überhaupt einmischen, als Frau, die einfach dazwischen brabbelte? Gut, das war wahrscheinlich so unhöflich, dass es jetzt eh keine Rolle mehr spielte, also sah sie wieder auf, genau in Ogatas überraschte Augen. „Dieser Stein der Zeit ist nicht zufällig in einer kleinen Schatulle aufbewahrt? Ungefähr die Größe?“ Sie zeigte die Maße mit den Handflächen. Die Männer im Raum waren plötzlich unruhig. Shiba hatte sich halb erhoben. „Du hast sie gesehen?“ „Ja, Yorinaga hatte eine solche Schatulle“, erklärte sie und erkannte an ihren Gesichtern, dass sie gerade eine wirklich wichtige Information mit ihnen geteilt hat. Volltreffer. Sie beschrieb kurz ihre Flucht, welche Rolle das kleine Kästchen gespielt hatte und dass es vielleicht möglich war, dass es sich um eben diesen besagte, super wichtige Gegenstand handelte. Sie hatte das Aussehen der Schatulle noch weiter beschreiben müssen, aber es fiel ihr schwer, sich an Details zu erinnern, hatte sie gestern doch andere Sorgen als so eine kleine Schachtel gehabt. Nach ihrer Schilderung herrschte Schweigen im Raum. Sie war vollkommen angespannt. Was bedeutete das jetzt für sie? „Shiba!“, sprach der Fürst im Befehlston. „Du wirst nach Mikawa zurückkehren. Nimm nur eine Hand voll Männer mit. Ihr dürft nicht auffallen. Aber sucht nach dem Stein.“ „Hai.“ „Ono! Sorge dafür, dass das Dorf besser bewacht ist. Die Menschen brauchen Schutz in Zeiten wie diesen.“ „Hai.“ „Nishioka! Du verstärkst die Grenzpatrouillen.“ „Hai.“ „Harada! Du wirst die Sicherheitsvorkehrungen des Schlosses erhöhen. Wenn du mehr Männer brauchst, hole dir die Bauern vom Feld. Du bleibst hier positioniert. Und du wirst die Frau bewachen!“ „Hai“, antwortete Harada, doch im Gegensatz zu den Vorgängern klang seine Stimme skeptisch. Kapitel 8: Entscheidendes Geheimnis ----------------------------------- ACHTUNG, ACHTUNG, wichtige Info Am 06.10. habe ich am ersten Kapitel eine inhaltliche Änderung vorgenommen und auch ein paar Sätze in den folgenden Kapis angepasst, die sich darauf beziehen. Für die Leser, die schon vorher dabei waren, fasse ich die Änderung hier kurz zusammen Alle anderen können gleich runterscrollen und weiterlesen. Der Gewinn, den Sawako für ihre Mutter annahm, war keine Bootsfahrt, sondern eine Tempelbesichtigung. Ja richtig, DER Tempel. Dort wird sie genauso plötzlich und unvorhersehbar in die Vergangenheit gerissen und landet zwar wieder im Tempel, aber genau während des Angriffes von Yorinaga. Dadurch wird sie dort sofort gefangen genommen. Vor Ogata und seinen Leuten hält sie die Tatsache, dass sie während des Angriffs dort gefangen wurde, geheim, weil sie befürchtet, es wäre zu verdächtig Also nur die Art, wie sie in der Zeit gelandet ist, wurde umgeschrieben, nicht mehr. Tut mir Leid, wenn die Änderung für Verwirrung sorgt. Aber der Einstieg in die Story gefiel mir nicht so wirklich, er war viel zu losgelöst von der eigentlichen Handlung. Falls Fragen sind, beantworte ich diese gerne. Ansonsten viel Spaß beim Weiterlesen und danke, dass ihr dabei seid. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Überwältigt von Erschöpfung, Erleichterung, Sorgen und allen möglichen Emotionen ließ Sawako sich auf die schwere Leinendecke sinken. Sie strich mit der Hand über den groben Stoff und ließ ihren Blick abwesend durch den kleinen Raum schweifen. Man hatte sie überraschend gut behandelt, und sie war sehr dankbar dafür. Sie hatte die letzten Tage mehrfach ihre Grenzen erreicht, und öfter als ihr lieb war, diese überschreiten müssen. Viel mehr hätte sie kaum ertragen. Als Ogata beschlossen hatte, sie müsse bewacht werden, war sie zutiefst entsetzt. Sie hatte sich schon in einem dunklen Verlies gesehen, angekettet, ohne Tageslicht. Stattdessen war sie in diesen kleinen Raum geführt worden. Ihr wurde ein Schlafplatz hergerichtet, sie bekam eine richtige Mahlzeit und saubere Kleidung. Verstehen konnte sie diese Wendung nicht, aber für den Moment war ihr egal, ob es an ihrem Hinweis mit der Schatulle lag, oder daran, dass Ogata ihr vielleicht glaubte oder was auch immer. Auch wenn dieser Harada damit beauftragt wurde, sie zu bewachen, fühlte sie sich gerade ganz und gar nicht wie eine Gefangene. Vielmehr entschied sie, dass dieses Maß an Gastfreundschaft mehr war, als sie in ihrer Situation zu hoffen gewagt hätte. Ob wohl ein Soldat vor der Tür stand, die in den Garten und damit auch in die Freiheit führte? Sie war nicht in der Stimmung, eine weitere kräftezehrende Flucht zu starten. Wie könnte sie auch, wo hier Essen, ein Dach über dem Kopf und, gerade am überzeugendsten, ein Bett auf sie warteten? Sie wäre wahnsinnig, das in ihrem Zustand zurück zu lassen und sich wieder in einer Wurzelhöhle zu verkriechen. Zwar störte sie der Gedanke, dass sie wahrscheinlich beobachtet und bewacht wurde, aber gut, in Anbetracht dessen, was ihr seit der Tempelbesichtigung widerfahren war, sollte es das geringste Übel sein. Sie legte sich nieder und schlang die Leinendecke eng um ihren Körper. Die Beine hatte sie angewinkelt. Am liebsten würde sie einfach in einen ruhigen, erholsamen und traumlosen Schlaf übergehen. Dennoch schwirrten ihre Gedanken um das Geschehene. Sie versuchte, sich an den Ausdruck auf Ogatas Gesicht zu erinnern. Hatte er sie feindselig angesehen? Nein, nicht wirklich. Er hatte ihrer Geschichte kommentarlos gelauscht und sie hatte ihm wertvolle Informationen liefern können. Vielleicht reichte es, um sich in ein Gefühl von Sicherheit zu wiegen? Nur für diesen Moment. Sie war so erschöpft und gäbe jetzt alles, einfach sorglos einschlafen zu können. Die Augen hatte sie geschlossen, aber der Schlaf wollte und wollte einfach nicht gnädig zu ihr sein. Draußen hörte sie wieder Stimmen. Die Atmosphäre war die ganze Zeit schon hektisch gewesen. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit über das Schloss gelegt, doch es kehrte kaum Ruhe ein. Ob Shiba schon aufgebrochen war, um seiner nächsten Mission nachzugehen? Sie hatte nicht mehr mit ihm sprechen können, nachdem Ogata seinen Leuten verschiedene Aufträge erteilt hatte. Zu gerne hätte sie noch ein paar Worte mit ihm gewechselt, wenn auch nur kurz. Er war sehr nett zu ihr gewesen und sie wusste es zu schätzen. Doch daraus wurde nichts, weil jemand anderes seinen Auftrag genauso ernst nahm wie Shiba. Als Ogata seine Leute aus der Audienz entließ, stand Harada sofort neben ihr. Sie hatte sich noch nicht erhoben, daher hatte er riesig gewirkt, wie er neben ihr stand und auf sie herabsah. Seinen Blick hatte sie nicht deuten können, auch sprach er kein Wort, dass etwas über seine Gedanken verraten hätte. Sie hingegen war in dem Moment noch völlig aufgelöst, weil das Bild von ihr im Kerker noch drohend in ihrem Kopf leuchtete wie Neonreklame. Er hatte ihr die Hand entgegengestreckt, und sie fürchtete schon, er würde sie jetzt in den grausigen Kerker schleifen. Sie musste vor Schreck zusammengezuckt sein, denn es hatte ein verwirrter Ausdruck in seinen dunklen Augen gelegen. Erst da realisierte sie, dass er ihr nur aufhelfen wollte. Verdutzt griff sie seine Hand und ließ sich von ihm hochziehen. „Du wirst also eine Weile im Schloss bleiben.“ Er schien in dem großen Raum nach etwas oder jemandem zu suchen. Wie panisch hatte sie überlegt, ob das nun etwas Gutes oder Schlechtes hieß. Ihr Atem ging stoßweise. „Was ist los?“, fragte er. „Du wirkst ja noch ängstlicher als auf dem Weg hierher. Dabei hast du Glück, dass Ogata-sama dir wohlgesonnen ist.“ Wohlgesonnen? Hieß das, lieber im Kerker verrecken als sofort hingerichtet zu werden? Na danke. Aber … seine Worte, oder vielmehr der Tonfall seiner Stimme, straften ihre Befürchtungen lügen. „Ihr werdet mir nichts tun?“, fragte sie vorsichtig. Was für eine dumme Frage, aber sie musste sie einfach loswerden. Harada schien überrascht. „Hast du das geglaubt? Warum sollten wir? Warum sollte Ogata-sama? Es gäbe keinen Grund dafür. Allerdings werden wir dich auch nicht gehen lassen. Aber mach dir keine unnötigen Sorgen. Wenn du wirklich nichts verbirgst, dann wird dir hier kein Leid widerfahren.“ „Oh“, erwiderte sie nur leise. „Dann hab ich mir den ganzen Tag umsonst den Kopf zerbrochen? Ihr hätte ja ruhig ein paar entwarnende Worte geben können.“ Sie war tatsächlich ein bisschen sauer. Unendlich erleichtert, aber sauer. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah stur zu ihm hoch. Er war überrascht von ihrer Reaktion, sie glaubte aber, wieder dieses amüsierte Funkeln in seinen Augen zu sehen. Er machte sich wohl wieder über sie lustig. Warum auch nicht? Sie war ein Wrack, durch und durch. Sehr unterhaltsam. „Nun, ich entwarne jetzt. Und du hast gehört, was Ogata-sama gesagt hat. Ich bin dafür verantwortlich, dass du keinen Unsinn machst. Also erspare dir die Mühe und mir die Umstände und tu einfach, was man dir sagt.“ Der Klang seiner Worte ließ keinen Widerspruch zu, wie zu erwarten von einem Hauptmann, wenn er Befehle erteilte. Sie drehte sich weg, ohne ihm zuzustimmen. Einfach tun, was man ihr sagte? Das würde sie sicher nicht so einfach abnicken. Sie glaubte, ihn entnervt seufzen gehört zu haben. Er schien genauso wenig begeistert wie sie. „Warte hier!“ Er ließ sie stehen und ging zu einem, wie sie glaubte, Bediensteten hinüber. Hatte er danach Ausschau gehalten? Er schien ihm Anweisungen zu geben, der Mann nickte nur, winkte seinerseits weitere Diener heran, sprach kurz zu ihnen, worauf diese in verschiedene Richtungen ausflogen. Dann war er wieder bei ihr. „Sie machen ein Zimmer für dich fertig, und eine Mahlzeit. Du wirst essen, dann schlafen, und morgen reden wir weiter.“ Sie sah ihn entgeistert an. Sie hatte schon deutlich schlimmere Drohungen gehört. Essen und Schlafen war eher eine Verlockung. „Verstanden?“, hakte er nach. Sie wollte die Augen verdrehen, verkniff es sich aber. Ihr war wirklich nicht danach, sich mit einem Krieger zu streiten, auch wenn er gerade nicht bewaffnet zu sein schien. Aber es ärgerte sie, wie er mit ihr sprach. „Also wirklich, ich bin in den letzten zwei Tagen fast erstickt, geschlagen und gefesselt worden, wurde gejagt und gefangen, bin ohne Essen und Trinken durch den Wald geirrt, habe im Dreck geschlafen und so viel Feindseligkeit erfahren, wie noch nie im meinem Leben zuvor. Und wenn mir jetzt jemand Essen und ein Bett anbietet, werde ich bestimmt nichts tun, was mir unnötige Mühe und dir unnötige Umstände bereitet.“ Ihr war bewusst, dass die Antwort ziemlich frech war für jemanden in ihrer Position. Verlor sie sich plötzlich in falscher Sicherheit oder hatte sich ihr Verstand verabschiedet? Sie hätte jede Reaktion erwartet. Dass er sie auslachte, dass er verärgert war, selbst eine Ohrfeige hätte sie kommen sehen. Stattdessen sah er sie ruhig und ernst an. „Ich nehme dich beim Wort.“ Sie zog die Decke über ihren Kopf. Seine Worte waren ihr durch Mark und Bein gegangen. Sie klangen wie ein Versprechen und eine Drohung zu gleich. Fast sogar wie eine Herausforderung. Sollte sie tatsächlich jemals wieder diese kuschelige Decke hinter sich lassen und hier fliehen wollen, hätte sie sicher kein leichtes Spiel. Sie hatte keine Ahnung, was noch auf sie zukäme, aber jetzt musste sie einfach nur schlafen. Über alle ihre Probleme könnte sie auch morgen noch nachdenken. Sie glaubte kaum, dass sie noch genug Glück übrig hatte, dass die Sorgen im Morgengrauen verschwunden wären. Natürlich waren ihre Probleme am nächsten Morgen noch genauso gegenwärtig wie zuvor. Es wäre einfach zu schön gewesen. Aber nun, wo sie sich langsam etwas erholte von den Strapazen, konnte sie alles klarer sehen und genauer darüber nachdenken. Sie fühlte sich zwar weiterhin alles andere als in Topform, da ihre Muskeln schmerzten von all der Anstrengung, jedoch tat ihr Kopf nicht mehr weh und das war schon eine willkommene Verbesserung. Gedankenversunken aß sie den Reis, den man ihr zum Frühstück gebracht hatte. Sie wünschte, man hätte sie ausschlafen lassen, aber die junge Dienerin, die ihr gestern schon alles gebracht hatte, kam gefühlt viel zu früh zu ihr und wuselte durch den Raum. Das Leben hier schien das Wort 'Ausschlafen' nicht zu kennen, eine Schande. Die junge Frau redete nicht viel mit Sawako, nur das Nötigste, und Sawako hatte ihre halbherzigen Versuche, ihr ein Gespräch zu entlocken, schnell aufgegeben. Die Versuchung, sich einfach wieder schlafen zu legen, hatte sie schnell verwerfen müssen. Wer wusste, ob sie nicht wieder von irgendwem befragt wurde oder was man von ihr erwartete, jetzt wo sie die 'Gastfreundschaft' des Schlosses genoss. Sie stand nun vor der Tür, die in den Garten führte und atmete noch einmal tief durch. Sawako war, mit Hilfe der Dienerin, nun komplett zeitgemäß hergerichtet. Ihr Haar war gewaschen, von Dreck und Zweigen befreit und glänzend gekämmt. Auch ihrem Gesicht hatte das kalte Wasser gut getan. Gekleidet war sie in einen schönen, hellen Yukata mit dezentem Muster. Unter normalen Umständen hätte sie so einen gerne zum Sommerfest getragen. Jedoch waren die Stoffe bei Weitem nicht so weich, wie sie es von zu Hause gewohnt war. Auch ihr Bett, das ihr gestern vor Erschöpfung weich wie Wolken erschienen war, kratzte beim Aufwachen doch eher unangenehm. Sie war zu verwöhnt vom Komfort, dachte sie bitter, wenn sich in einer Situation wie ihrer an der Stoffqualität störte. Sie steckte das Thema schnell in die Schublade mit der Aufschrift 'ich habe andere Sorgen'. Auf ihrem imaginären Schreibtisch lag immer noch die Überlebensliste, die sie auf dem Weg zum Schloss zusammengestellt hatte. Punkt Nummer Eins, 'Am Leben bleiben', schien gerade sehr gut zu laufen. Auch Punkt Nummer Zwei, 'möglichst unbeschadet', sah deutlich besser aus als zuvor. Sie konnte sich nun dem nächsten Punkt widmen, und das würde nicht einfach werden: 'Herausfinden, was passiert ist'. Jetzt, wo sie wieder klarer denken konnte, schien ihr eindeutig, wo sie als erstes suchen müsste: Im Tempel, vor allem den Schrein der Zeit sollte sie begutachten. Wenn sie Glück hatte, musste sie dort einfach nur auf die richtige Stelle treten und ein Raum-Zeit-Loch würde sie wieder nach Hause bringen. Wenn sie Pech hatte, wäre mehr nötig, falls sie überhaupt eine Chance hatte. Der Schrein der Zeit, schon der Name klang verdächtig. Shiba hatte davon gesprochen, dass die Menschen an die Magie des Tempels oder die der Götter oder was auch immer glaubten. Vielleicht ruhte dort die Kraft, die sie wieder nach Hause bringen konnte. Ihr Entschluss stand fest, aber es gab da ein ganz entscheidendes Problem, in Form eines gewissen Kriegers, der sie nicht so einfach gehen lassen würde. Es würde wahrlich nicht einfach werden. Aber sie hatte nun ein Ziel, eine Idee, zumindest einen Ansatz, und damit verschwand auch die Hoffnungslosigkeit, die sie zuvor gespürt hatte. Sie öffnete die Tür, blinzelte kurz gegen die Sonne und trat hinaus. Sie blieb auf der Veranda stehen und nahm die Eindrücke auf. Der Hof war voller geschäftigem Treiben. Bedienstete liefen mit Körben und Wäsche umher, Soldaten waren überall zu finden, manche wachsamer als andere, die redeten und lachten. Das Bild war befremdlich, wie eigentlich alles hier, was so typisch dieser Zeit entsprach und Sawako damit so fremd war. Sie wollte die Ruhe nutzen, um einen kleinen Rundgang zu machen und alles zu erkunden. In ihrem jetzigen Outfit fühlte sie sich auch deutlich wohler und unauffällig genug, um zwischen den Ureinwohnern hier entlang zu schlendern. In diesem Yukata stach sie bei Weitem nicht mehr so hervor. Sie hatte kaum einen Schritt gemacht, da hörte sie hinter sich eine Stimme: „Halt!“, rufen. Überrascht drehte sie sich um. Neben ihrer Tür, an die Wand gelehnt, stand einer der Soldaten und sah sie finster an. „Du wirst diesen Raum nicht verlassen, solange niemand dich begleitet und im Auge behält!“ „Aber...“, wollte sie widersprechen, ihr viel jedoch kein besonders schlagkräftiges Argument ein. „Nicht aber. Allein wirst du dich weder durch das Schloss noch durch den Garten bewegen.“ Sie vermutete, dass er die ganze Zeit vor ihrer Tür gestanden hatte. Nun, sie hatte gewusst, dass man sie bewachte. Also schien die Tür zum Hof immer genau im Blick von einem Soldaten zu sein. Zuvor, als Sawako sich gewaschen und herausgeputzt hat, hatte die Dienerin sie durch die andere Tür des kleinen Zimmers, durch das Schloss, nur wenige Flure entlang, geführt. Durfte sie nun nicht einmal alleine aufs Klo, ohne nach der Dienerin zu rufen? Besser als der Kerker, wiederholte sie stumm immer wieder in ihrem Kopf. Besser als der Kerker. Vielleicht würde er sie ja herumführen, wenn sie ihn nett fragte? Ein freudloses Lachen legte sich auf ihre Lippen. Welch absurde Idee, sah er doch so aus, als würde er die lästige Frau am liebsten loswerden, die ihm diese Nachtschicht eingebracht hatte. Kooperationsbereitschaft seinerseits war mindestens genauso unwahrscheinlich wie ein europäischer Gartenzwerg mit roter Mütze in diesem Hof. Er würde sie sicher nur dann irgendwo hinbringen, wenn sie verkündete, sie hätte weitere wichtige Informationen für Ogata, Harada oder sonst wen. Sonst würde sie nun hier festsitzen. Man behandelte sie zwar halbwegs wie einen Gast, aber sie war dennoch eine Gefangene, soviel stand fest. Sollte sie nun den ganzen Tag in ihrem kleinen Zimmer hocken und darauf warten, dass etwas geschah? Eine sehr unangenehme Vorstellung. Wenn sie schon nicht den Garten und das Schloss erkunden konnte, würde sie wenigstens die Leute beobachten. Sie setzte sich auf die Veranda, direkt vor ihrer Tür, und ließ die Füße baumeln. Ihren Kopf drehte sie in Richtung des Soldaten. „Lieber 'vor' meinem Zimmer. Und so hast du mich ja auch bestens im Blick. Ist doch für uns beide angenehmer“, schlug sie vor. Er starrte sie weiter finster an, als wüsste er nicht, ob das nun ein Verstoß gegen seine Anweisungen war oder nicht. Sein Schweigen nahm sie dann aber als Zustimmung hin. Neben der Dienerin war dieser Soldat der nächste, dem kaum ein Wort zu entringen war. Aber gut, so finster und unfreundlich wie er wirkte, machte ihr das nicht viel aus. Oje, dachte sie, wenn nicht bald etwas passierte, könnte es ein furchtbar langweiliger Tag werden. Obwohl, Langeweile war ihr nach all dem eine angenehme Abwechslung. Und wie langweilig es wurde. Der Trubel im Hof hielt nur den Morgen an. Scheinbar wurden alle Aufgaben früh am Tag erledigt und dann kehrten die Bediensteten, zumindest ein Großteil, in ihr Dorf zurück. Auch die Soldaten hatten sich jetzt verzogen. Vereinzelt war mal einer zu sehen, aber die Masse war fort. Vielleicht um das Tor zu bewachen, oder den Tempel. Dumm war nur, dass sie nun niemanden mehr beobachten konnte und der Blick in den Garten zwar zauberhaft war, diesen Effekt aber nicht acht Stunden lang aufrecht erhalten konnte. Sie konnte nicht mehr sitzen, lief im Zimmer auf und ab, setzte sich wieder auf die Veranda, legte sich auf ihre Decke, schritt wieder auf und ab. Sie bewunderte das Durchhaltevermögen des Soldaten. Er hatte sich kaum gerührt. Dieser Mann konnte sie unmöglich die ganze Nacht bewacht haben, denn so lange hielt das doch niemand durch. Entweder gab es am Morgen eine Ablösungen oder nachts lauerte niemand vor der Tür auf sie. Wäre wünschenswert, aber äußerst unwahrscheinlich. Sie seufzte zum wiederholten Mal und setzte sich wieder auf die Veranda. Oder vielmehr legte sich sich, die Augen geschlossen und das Gesicht zur Sonne gewandt. „Du kannst gehen!“, hörte sie eine Stimme plötzlich direkt neben sich. Harada war hier, sie hatte ihn nicht kommen hören. Er musste über das weiche Gras im Hof gekommen sein, sodass seine Schritte keinen Laut hören ließen. Leider waren diese Worte nicht an sie gerichtet. „Hai, Harada-sama“, antwortete der Soldat prompt, verbeugte sich und verschwand. Schnell richtete sie sich auf und sah zu ihm hoch. Sie hatte beschlossen, sich etwas höflicher zu benehmen. Nicht, dass sie es aus Überzeugung tat, aber die Frauen im früheren Japan waren immerhin alles andere als vorlaut. Sie wollte sich so normal wie möglich verhalten, um nicht noch mehr Verdacht zu erregen. „Harada-san“, begrüßte sie ihn höflich mit einer leicht angedeuteten Verbeugung. Er musterte sie verdutzt. „Du siehst … erholt aus“, meinte er. Das überraschte sie, aber gut, ordentlich und zurechtgemacht musste sie nun wirklich ein anderes Bild abgeben als gestern, gezeichnet von der Flucht, schmutzig und zerzaust. „Ja, etwas Schlaf kann immer wieder Wunder bewirken. Obwohl es schon erholsam genug ist, nicht mehr ständig zu fürchten, man würde hingerichtet werden.“ Sie lächelte freundlich, um die Wirkung ihrer Worte zu entschärfen. Ihr Vorhaben, höflich zu sein und ihren Sarkasmus für sich zu behalten, würde sehr, sehr schwierig werden. „Das glaube ich dir ausgesprochen gern.“ Zu ihrer Überraschung setzte er sich neben sie auf die Veranda und sah sie weiterhin durchdringend an. „Ich hoffe, dein Aufenthalt bei uns sagt dir zu?“ Wieder dieser amüsierte Ausdruck in seinen Augen. Er machte sie wahnsinnig. Scherzte er gerade tatsächlich darüber, dass sie hier gefangen war? Gut, das Spiel konnte sie auch spielen. „Abgesehen davon, dass ich permanent überwacht werde, niemand so richtig ein Wort mit mir wechselt, ich insgesamt nicht besonders gut unterhalten werde und mich keine fünf Schritte von diesem Raum entfernen kann, ist das Essen ausreichend und die Aussicht fantastisch, danke der Nachfrage“, sagte sie in weiterhin fröhlichem Tonfall, als würde sie eine Hotelbewertung vorlesen. „Und ich begrüße sehr, dass mich derzeit niemand mit einer Waffe bedroht, ankettet oder versucht zu erdrosseln.“ „Da bin ich aber beruhigt. Schließlich bin ich ja für dein Wohlergehen verantwortlich“, antwortete er genauso locker wie sie. „Tatsächlich? Ich dachte, dich trifft eher die Aufsicht.“ „Das ist richtig. Aber ich dachte, wenn ich es dir etwas komfortabler mache, bist du weniger geneigt, dich davonzuschleichen und wieder einfangen zu lassen.“ „Und ich dachte, ich hätte die Gastfreundschaft Ogata-sama zu verdanken.“ „Das ist ebenfalls richtig. Ich bin für die Ausführung zuständig.“ Inzwischen lag ein Lächeln auf seinen Lippen. Ihm schien ihre Unterhaltung zu gefallen. Auch Sawako musste das Grinsen auf ihrem Gesicht nun nicht mehr stellen. „Viel beschäftigt also. Sag, muss ich meine Beschwerden dann an dich wenden oder direkt an Ogata-sama?“ „Sicherheitshalber erst an mich. Nicht, dass es mich schlecht dastehen lässt.“ „Meine Fragen ebenfalls?“ Vielleicht konnte sie die lockere Atmosphäre nutzen, um ein paar Informationen zu gewinnen. „Fragen, Anregungen, Probleme...“ „Du warst so still auf dem Weg zum Schloss gestern. Kann es sein, dass du nicht gleichzeitig gehen und reden kannst?“ neckte sie ihn, woraufhin er laut loslachte. „Ich kann dir versichern, dass ich dazu durchaus in der Lage bin. Als Hauptmann bin ich nur … etwas ernster, wenn meine Männer um mich herum sind. Sie sollen nicht auf die Idee kommen, ich wäre für den Posten nicht hart genug.“ „Welch abwegiger Gedanke“, stimmte sie ihm schmunzelnd zu. „Vielen Dank“, gab er höflich nickend zurück. Es tat unglaublich gut, so mit ihm zu reden. Sie hätte nie geglaubt, dass sie in ihrer Situation so unbefangen scherzen könnte. Ihr war, als würden tausend Steine von ihrem Herzen fallen. Ein sehr befreiendes Gefühl. Wie schade, dass sie die Stimmung mit ihren nächsten Fragen wohl zerstören müsste. „Schade, dass du der Einzige bist, der sich bemüht, mit mir zu sprechen. Das Dienstmädchen und der Soldat sagen kaum ein Wort. Für was werde ich denn hier gehalten?“ „Nun, sie reden nicht, weil es ihre Aufgabe ist, dich zu bewachen und zu versorgen. Ich bezweifle, dass sie glauben, es stehe ihnen zu, mit dir zu sprechen.“ Die harten Regeln der Hierarchie aus der Sengoku Zeit also. „Und niemand weiß so recht, wie er dich einordnen soll“, ergänzte er. Das Lachen war aus seinem Gesicht verschwunden. 'Niemand' klang wie inklusive Harada und Ogata. „Warum haltet ihr mich hier gefangen?“ Auch sie sah nun ernst zu ihm. Es dauerte einen ganzen Moment, bis er antwortete, als würde er genau überlegen, ob und was er sagte. „Weil es offensichtlich ist, dass du nicht die Wahrheit sagst.“ Sie musste vor Schreck schwer schlucken. Offensichtlich? Jetzt sollte sie genau aufpassen, was sie sagte. „Was lässt euch das glauben?“, den besorgten Blick brauchte sie nicht stellen. „Eine Durchreise aus dem Norden? Die Provinzen Dewa und Mikawa liegen so abgeschottet, durch die dichten Wälder des Aokigahara, dass niemand sich einfach hierher verirrt. Kämest du, wie du behauptest, aus nördlicheren Gebieten des Landes, hätte dein Weg dich über die Hauptstraße vorbei an unseren Provinzen geführt. Denn eigentlich erreicht man diese Ländereien nur vom Süden aus, wo die Wälder nicht so dicht sind und es richtige Straßen gibt. Aus dem Norden führen nur schmale Waldwege zu uns. Keine Strecke, die eine allein reisende Frau wählen würde, die sowieso ohne klares Ziel reist. Und niemand reist in diesen Zeiten durch ein Gebiet, über das er nichts weiß. Wer möchte schon durch ein Schlachtfeld wandern? Und Dewa droht der Krieg, also kommen kaum Reisende zu uns.“ Sawako schlug das Herz bis zum Hals. Was er sagte, machte Sinn und ihr fiel nichts ein, was sie erwidern konnte, um ihre Geschichte zu bekräftigen, außer: „Ich sagte doch, ich war auf der Flucht. Tag und Nacht bin ich umhergeirrt und habe die Hauptstraßen gemieden. Ich fürchtete, mein Mann würde mich verfolgen lassen, also habe ich kaum darauf geachtet, wohin mein Weg mich führt.“ Sie konnte sich aber kaum vorstellen, dass sich jemand auf einer tagelangen Flucht so unklug verhalten würde. Einen Tag, ja, das hatte sie selbst erlebt, aber danach machte man sich doch einen Plan, wenn man nicht völlig von Sinnen war. „Ich bin nicht der, den du überzeugen musst. Ich soll dich lediglich bewachen, bis wir wissen, was du vor uns verbirgst“, stellte er Harada klar und wies damit alle weiteren Ausreden ihrerseits ab. „Also doch keine Entwarnung“, murmelte sie leise. „Das kannst du dir nur selbst beantworten, denn es hängt nur von deinem kleinen oder großen Geheimnis ab.“ Na großartig, dachte Sawako. Ihr eher sehr großes Geheimnis, dass sie aus der Zukunft kam, stellte keine Bedrohung für die Provinz da und würde normalerweise unter die Kategorie 'Entwarnung' fallen. Allerdings konnte sie sich kaum etwas vorstellen, dass weniger wie eine Lüge klang. Wenn sie die Wahrheit sagte, würde man entweder glauben, sie mache sich über sie lustig oder sie wäre die schlechteste, dreisteste, aber kreativste Lügnerin der Welt oder sie wäre vollkommen verrückt. Keiner dieser Möglichkeiten ließ eine Reaktion erwarten, die ihr gefallen hätte. Sie steckte also weiterhin ernsthaft in Schwierigkeiten. Kapitel 9: Überraschendes Angebot --------------------------------- Die Sonne zog sich, nachdem sie den ganzen Tag lang das Land in ihr Licht getaucht hatte, hinter die dichten Bäume des Waldes zurück. Von den hohen Baumkronen aus fielen tiefe Schatten und die Wärme des Tages verschwand fast ebenso schnell wie das Licht. Der Himmel färbte sich rot. Es war ein schöner Kontrast zu den nun schon fast schwarz wirkenden Bäumen. Sawako beobachtete das Schauspiel, ohne sich zu bewegen. Sie hatte sich seit Stunden nicht mehr gerührt. Was hätte sie auch tun sollen? Nervös im Kreis laufen hatte sie schon nach dem zweiten Tag abgehakt. Auf der Veranda sitzen und das mehr oder weniger aufregende Treiben im Hof beobachten war spätestens am Ende des dritten Tages unzumutbar unspektakulär, denn schnell hatte sie erkannt, dass die gleichen Bauern die Wäsche trugen, die Soldaten die gleiche Runde gingen und die Dienstmädchen in denselben Ecken tratschten. Zu gerne hätte sie Mäuschen gespielt und gelauscht. Selbst Klatsch und Tratsch über fremde Leute wäre ihr eine willkommene Abwechslung gewesen. Und wer weiß, vielleicht tuschelten sie auch über Sawako, die mysteriöse Gefangene. Noch besser, dann hätte sie wenigstens mitreden können. Aber nein, auch der vierte und nun auch der fünfte Tag verstrichen, ohne die kleinste Veränderung. „Fünf Tage“, grummelte sie. Sie hatte in dieser Zeit kaum mehr gesehen als das Zimmer, den Flur zum Bad, das Bad selbst und den Ausblick in den Garten. Das konnte man wirklich nicht Gefahr von Reizüberflutung nennen. Und unglücklicher Weise hatte sie ihre alte Angewohnheit vor sich hin zu reden, auch wenn keiner da ist, wiedererlangt. Darauf hätte sie durchaus verzichten können. Die Soldaten, die sich abwechselnd vor ihrem Zimmer positionierten, mussten sie inzwischen für verrückt halten, falls sie das nicht schon von Beginn an taten. Sie glaubte langsam zu verstehen, warum im Fernsehen Gefängnisinsassen immer verrückt wurden und komplett durchdrehten. Sie hatte sich selbst schon fast an dem Punkt gesehen, als am Nachmittag ein Käfer ihre Aufmerksamkeit erregte und sie ihm ihr Leid klagte. Und das Traurige daran war, dass der Käfer ein weitaus besserer Zuhörer war als ihr Dienstmädchen oder die Soldaten draußen. Er kehrte ihr nämlich nicht immer gleich den Rücken zu, sobald sich ihm die Möglichkeit bot. Vielmehr kam er immer wieder direkt auf sie zu gekrabbelt, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Ihre Abneigung gegen derart Getier hatte sie nicht abgelegt, auch nicht bei ihrem Survival-Training im Wald. Das Schicksal machte sich scheinbar über Sawako lustig. Sie überlegte, welches Wort ihren Gemütszustand gerade wohl am besten beschrieb. „Frust“, murmelte sie entschlossen. Frust über ihre Gefangenschaft. Frust über ihr Zeitproblem, wie sie es inzwischen nannte, weil es freundlicher klang als Zeitreise in die Vergangenheit wider Willen. Frust über die Ungewissheit, was mit ihr passieren würde. Und Frust, dass sie nicht in der Lage war, zum Schrein der Zeit zu gelangen, um allem auf den Grund gehen zu können. Sie hatte die fünf Tage sehr wohl genutzt, um sich einen Einblick über die Sicherheitsvorkehrungen zu verschaffen. Ständig überlegte sie, welche Fluchtmöglichkeiten sie hatte. Was passieren würde, wenn sie dieses und jenes tat und wie sie die Soldaten überlisten konnte. Leider wurden ihre Ideen von Stunde zu Stunde absurder. Es war eine Schande, dass es ihr nicht gelang, dem Ernst der Sache gerecht zu werden. Stattdessen entstanden in ihrem Kopf Bilder, wie sie den Käfer fing, dem Soldaten unter die Kleidung krabbeln ließ und dessen Irritation darüber ausnutzend unauffällig davon schlich. Auch gefiel ihr Shinobi-Sawako, die ihr schon in Yorinagas Zelt in den Sinn gekommen war. Sawako, Shinobi, Spion, Mädchen für alles, tarnte sich gut als hilfloses Opfer. Doch als ihre Feinde nicht aufpassten, erkämpfte sie sich den Weg ins Schloss, sagte Ogata einmal gehörig die Meinung, hielt einen Vortrag über richtige Gastfreundschaft und verschwand dann in den Schatten. Vielleicht sollte sie bei ihrem Abgang noch ein paar Kirschblütenblätter werfen, nur für den schönen Effekt. Ihr Vater hatte ihr immer schon vorgeworfen, dass sie nicht mit genug Ernst bei einer Sache bleiben konnte. Genau darum hätte sie einen so unspektakulären Bürojob. Er hatte gemeint, sie könnte sich nicht mal dann zusammenreißen, wenn ihr Leben davon abhinge und dass ihn das wahnsinnig machte, weil er nachts kaum ruhig schlafen konnte, wenn sie alleine durch Tokio zog. Einen kurzen Moment überlegte sie, ob er Recht hatte. „Du irrst dich, alter Herr.“ Immerhin hatte sie sich erfolgreich gegen Yorinaga verteidigen können. Naja, verteidigen wäre übertrieben. Sie hatte sich erfolgreich retten können. Und ihr Vater könnte ihr nicht erzählen, dass es ihm gelingen würde, fünf Tage lang jeden wachen Moment mit dem Schmieden von Fluchtplänen zu verbringen, ohne seine Gedanken abschweifen zu lassen. Eine besonders kalte Brise holte sie aus ihren eigenen zunehmend abschweifenden Gedanken. Sie fror, also zog sie murrend die Arme eng um ihren Körper. So lange schon hatte sie sich nicht gerührt, die Bewegung fühlte sich merkwürdig an. Inzwischen war die Sonne komplett verschwunden. Gleich würde der Soldat, wie jeden Tag zuvor, die Tür zum Hof schließen und sie damit wieder in ihrem Zimmer einsperren. Was machte das schon für einen Unterschied? Eingesperrt war sie auch so. Sie müsste sich jetzt nur genug motivieren, um sich zu erheben und in ihr Bett zu hieven. Wenn sie Glück hatte, könnte sie heute traumlos schlafen. Sie wurde jäh aus dem Schlaf gerissen, als im Hof Tumult ausbrach. Rufe, unruhige Gespräche, das Trampeln von flinken Schritten auf der Veranda. Das ganze Schloss war in Aufruhr, so viel war klar. Sofort war Sawako hellwach. Sie war eh so ausgeruht, dass ihr Schlaf nur leicht war und sie ständig aufwachte. Nur dass normalerweise lediglich das Rauschen der Bäume und das Zirpen der Insekten zu hören war. Irgendetwas war passiert. Endlich war etwas passiert. Ihre Neugier erwachte. Alles war ihr als Ablenkung willkommen. Sie spannte die Hände zu Fäusten. Vielleicht ließe sich diese allgemeine Verwirrung ja nutzen, um endlich diesem Schloss zu entwischen und ihrem einzigen Indiz nachzugehen, dass sie Richtung Heimat führen sollte. Schnell versuchte sie, ihre Kleidung zu richten, stolperte dann hektisch Richtung Tür, hielt einen Moment inne, um sich zu beruhigen und zu sammeln und öffnete diese dann ganz leise. Der Hof war hell erleuchtet und Soldaten liefen in Aufruhr an ihr vorbei. Sie trugen offen ihre Waffen. Es schien tatsächlich etwas nicht zu stimmen. Ob das Schloss angegriffen wurde? Hoffnung keimte in Sawako auf. Vielleicht war es die beste Chance, die sich ihr bieten würde. Sie lehnte sich ein Stückchen weiter hinaus, um zu schauen, ob jemand sie noch immer bewachte. Unglücklicher Weise stand dort weiterhin ein Soldat. Der einzige, der sich nicht zu rühren schien. Sawako wusste, dass es zu leicht gewesen wäre, aber die Enttäuschung verpasste ihr einen gehörigen Stoß in den Magen. Jedoch war es noch lange kein Grund aufzugeben. „Was ist passiert?“, fragte sie ihren Bewacher. „Ogata-sama hat die Krieger herbeigerufen. Die Shinobi sind zurück. Aber irgendetwas stimmt nicht. Die Rückkehr von Shiba-dono würde nicht diesen Aufruhr verursachen, wenn nicht irgendwas ganz übel stinken würde.“ Er wirkte noch grimmiger als sonst. Vermutlich würde er seinen Kameraden lieber folgen und herausfinden, was los war. Drohte dem Schloss Gefahr oder handelte es sich um eine Vorsichtsmaßnahme? Bei der Vorstellung, dass ein Angriff über das Schloss hereinbrechen könnte, wurde ihr mehr als mulmig. Sie erinnerte sich an das Chaos im brennenden Tempel, in das sie geraten war. Sicher hatte sie kein Interesse, so etwas noch einmal zu erleben. Aber andererseits wäre genau diese Art von Chaos ihre beste Chance zu entwischen. Und die Anspannung von diesem Mann, aber auch die der anderen Soldaten, ließ sie Schlimmes erahnen. „Was könnte denn der Grund sein?“ „Woher soll ich das wissen?“, blaffte er sie an. Na gut, er war jetzt wenigstens gesprächiger als sonst, ein weniger aggressiver Tonfall wäre sicher zu viel verlangt. Gut, Sawako war auch damit zufrieden. Vielleicht konnte sie damit etwas anfangen. „Wird das Schloss angegriffen?“, fragte sie in einem zuckersüßen Tonfall weiter. Vielleicht konnte sie ja seinen Geduldsfaden zerreißen. „Ich weiß es nicht“, knurrte er. Der Soldat war wirklich aufgebracht. Es schien ihn wahnsinnig zu machen, hier festzuhängen. „Solltest du es nicht herausfinden? Was ist, wenn Gefahr droht? Dann sollte ein tüchtiger Kämpfer wie du doch nicht hier herumstehen und Wachhund spielen.“ „Die halbe Armee von Dewa ist hier im Schloss. Sei nicht dumm, was macht da ein Schwert mehr oder weniger?“ „Aber wenn wir angegriffen werden und du stehst hier nur herum, könntest du dir das dann verzeihen?“ „Ich befolge meine Befehle. Deren Missachtung könnte ich mir nicht verzeihen.“ Was für ein Sturkopf, dachte Sawako. Aber hey, sie hatte alle Zeit der Welt, auf ihn einzureden. Es schien fast, als wäre nicht mehr viel notwendig. Sein Gesicht war rot vor Wut über sie und seine Abseitsposition hier. Ein junger Soldat wie er, der nach Chancen sucht, sich zu beweisen, wäre lieber im Getümmel als am Rande, während die anderen vielleicht Ruhm und Ehre erkämpften und er nur auf die komische Frau aufpassen musste, dachte sie vor sich hin. Hm, die Formulierung gefiel ihr. „Was ist, wenn die anderen gerade um Ruhm und Ehre kämpfen und ...“ Sie kam nicht weiter. Er drehte sich so plötzlich zu ihr herum und riss die Tür komplett auf, dass sie dachte, er würde sie schlagen. Stattdessen griff er nach ihrem Handgelenk und zerrte sie aus dem Raum. Sein Griff war stählern und fast schmerzhaft. „Wir werden nachsehen. Du wirst die ganze Zeit an meiner Seite bleiben. Wenn du irgendwas Komisches versuchst, wirst du dir wünschen, das Schloss nie betreten zu haben. Hast du verstanden?“, knurrte er sie an. Sawako konnte das Glänzen in seinen Augen aber genau erkennen. Er wollte um jeden Preis an den Ort des Geschehens und ihr war es gelungen, ihm den richtigen Schubs zu geben. Selbstzufrieden überlegte sie, wie es nun weitergehen könnte, während er sie den Weg entlang zerrte. Zwar beunruhigte es sie, sich in Richtung der versammelten Mannschaft zu bewegen, da es dort schwerer werden würde zu entfliehen und dort vielleicht sogar ein Kampf lauerte, jedoch war sie immer noch optimistisch, dass sich eine Chance finden lassen würde. Sie liefen flink durch den Hof Richtung Eingang des Schlosses. Dort hatten sich bereits die meisten Soldaten versammelt und links und rechts des Weges aufgestellt. Die Atmosphäre wirkte gefährlich, Feindseligkeit lag in der Luft. Sie bemerkte, dass die Soldaten ihre Hände am Waffengriff hatten. Einige hatten ihre Schwerter bereits gezogen. Was wohl bedrohte das Schloss? „Mikawa“, knurrte ihr Bewacher als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Die feindliche Provinz? Sawakos ungutes Gefühl breitete sich weiter aus. Nun ließ sie sich nicht mehr so bereitwillig von dem Krieger hinterher schleifen. Er zog sie nicht zu den aufgereihten, bewaffnete Soldaten, wofür Sawako eher dankbar war, sondern zu einem Seitenweg des Schlosses. Da sie hier auf der Veranda stehen konnten, hatten sie einen etwas besseren Überblick. Außerdem konnten sie sich hinter einer Ecke verbergen, falls die Situation es erfordern würde. Wahrscheinlich wollte er einfach nur möglichst nicht auffallen, wie er die Gefangene spazieren führte. Ihr sollte es recht sein. Wenn er nur noch ihren Arm loslassen würde. Kaum hatten sie sich dort positioniert, drangen Stimmen zu ihr durch. Sie erkannte Ogata, am Eingang des Schlosses stand und auf den Weg vor ihm herabblickte. Dort kniete ein Mann vor ihm und eine Gruppe von Leuten schien sich um einen Verletzten zu kümmern. Ein paar Meter entfernt stand ein weiterer Mann, zu voller Größe aufgerichtet. Sawako brauchte keine Sekunde, um ihn zu erkennen, obwohl sie sein Gesicht zuvor nur im Dunkeln gesehen hatte. Der Schreck durchfuhr fast schmerzhaft ihren Körper. Es war Yorinaga. Auf eine weitere persönliche Begegnung mit ihm konnte sie gerne verzichten. Sie war froh, dass der Soldat und sie so weit abseits standen, außerhalb des hell von Fackeln erleuchteten Weges und in der sicheren Dunkelheit. Die Angst, er könnte sie von dort aus entdecken, war sicher unbegründet, so konnte Sawako den Schreck schnell überwinden. Sie hatte bemerkt, dass ihrem Aufpasser ihre Reaktion auf den Sohn des Herrn von Mikawa aufgefallen ist. Egal, es war kein Geheimnis, dass sie in seinem Zelt gefangen gehalten wurde. Ihr schneller schlagendes Herz ignorierend musterte sie erneut die Umgebung. Allein die Tatsache, dass Yorinaga hier war, musste ganz Dewa in Alarmbereitschaft versetzen. Standen die beiden Provinzen nicht kurz vor dem Krieg? Es musste einen wichtigen Grund für diesen Auftritt geben. Sie betrachtet nun die Gruppe um den Verletzten genauer. Es schien ein alter Mann zu sein, er war bewusstlos und seine Kleidung war voller Blut. Sehr viel Blut. Das dunkle Rot, es wirkte fast schwarz, zeichnete sich deutlich vom hellen Stoff ab. Grauen packte Sawako, sie wollte sich nicht ausmalen, was diesem Mann zugestoßen war. Als sie das Gefühl von Übelkeit in ihrem Magen aufsteigen spürte, ließ sie ihren Blick schnell weiter schweifen und erkannte nun auch den Mann, der vor Ogata kniete, in der üblichen respektvollen Verbeugung. Es war Shiba, und Sawako erinnerte sich, dass ihr Soldat gesagt hatte, die Shinobi seien zurück. Wieso war dann Yorinaga mit hier? War er ihnen gefolgt? Ist die Mission schief gegangen? Sie lauschte jedem Wort, das sie aus der Entfernung aufschnappen konnte. „...Dewa's Gastfreundschaft nicht überstrapazieren“, hörte sie Ogata sagen. Er sprach ruhig, aber sie glaubte, einen Unterton in seiner Stimme herauszuhören, der sie an Yorinagas Stelle sehr eingeschüchtert hätte. Der aber schien weitestgehend unbeeindruckt. „Ich will Eure Gastfreundschaft keinesfalls ausreizen. Seid versichert, dass ich nur hier bin, um mein Angebot vorzutragen. Um mein Wohlwollen zu zeigen, bin ich allein gekommen, bis auf die zwei Krieger, die Ihr habt draußen warten lassen.“ Seine Stimme klang genauso entspannt wie zuvor, als er Sawako in seinem Zelt festgehalten hatte. Alleine hierher zu kommen, in feindliches Gebiet und das nur wenige Tage nach dem für Dewa so schmerzlichen Angriff auf den Tempel? Er musste sich seiner Sache sehr sicher sein. Shiba hatte ihr zuvor gesagt, dass Dewa diesen Krieg meiden will. Sie würden jegliche Provokation vermeiden. Den Sohn des Daimyou zu töten, der zur Verhandlung das Schloss des Feindes besuchte, würde den Krieg dagegen unausweichlich heraufbeschwören. „Nun sagt mir doch, warum sollte ich mit Euch handeln, nachdem Ihr unseren Tempel überfallen, dessen Schatz gestohlen und den obersten Priester entführt habt?“, erwiderte Ogata und nun war die Feindseligkeit in seiner Stimme nicht mehr zu überhören. „Als weiteres Zeichen meiner friedlichen Gesinnung habe ich Euch den Priester wiedergebracht. Ich habe ihn gut bewachen lassen und Eure Shinobi waren nicht imstande, ihn zu befreien, ohne dabei aufzufallen. Nun, sie sind aufgefallen, und großzügig, wie ich bin, habe ich allen erlaubt, lebend hierher zurückzukehren. Mit der einen Bedingung, dass ich Euch mein Angebot unterbreiten kann.“ Sawako empfand seine Worte eher als Beleidigung, als eine besänftigende Geste. Yorinaga strotzte insgesamt, hier in der Höhle des Löwen, nur so vor Selbstsicherheit und Arroganz. Bei dem Priester handelte es sich also um den verletzten Mann. So wie sein Zustand aussah, konnte man keinesfalls von 'Großzügigkeit' sprechen. Ogata musste es ebenfalls als pure Provokation empfinden. „Dennoch“, erwiderte der Daimyou von Dewa, „bin ich aufgrund der aktuellen Ereignisse zu keinem Handel mit Mikawa bereit. Das solltet Ihr wissen. Ihr hättet Euch den Weg sparen können. Kehrt wieder zurück, Ihr seid hier nicht willkommen.“ „Es ist aber, das müsst ihr zugeben, ein für Euch hervorragendes Angebot. Ein kleines Vermögen für etwas, was Euch nicht fehlen wird und was Ihr mir sowieso entwendet habt. Niemand lässt sich gerne etwas wegnehmen, das geht Euch sicher nicht anders, oder? Das Geld täte Euch sicher gut für den Wiederaufbau des Tempels. Ich habe ihn gesehen, wie ausgesprochen prächtig er war, nur kurz bevor er niederbrannte.“ Das war sicher wie ein Schlag ins Gesicht. Was war es, das ihm entwendet wurde und was sich nun hier befand? Es musste etwas Kostbares sein, sonst wäre er nicht hier. „Ihr wisst, dass Euer Angebot dann die Zurückgabe des Steines des Zeit beinhalten sollte. Dann wären wir uns einig. Auch wir lassen uns in der Tat nicht gerne bestehlen. Was Ihr zurück wollt gegen das, was wir wieder in unserem Besitz wissen möchte. So bekäme jeder, was er verlangt.“ „Ich fürchte, der Stein gefällt mir zu gut, als dass ich ihn wieder hergeben möchte. Ich bleibe beim Geld. Ihr wisst, dass das mehr ist, als Ihr erwarten könntet.“ „Wir brauchen nicht weiter verhandeln. Was Ihr sucht, befindet sich nicht im Schloss von Dewa. Und für ein bisschen Geld werde ich Euch nicht beim Suchen helfen. Nun brecht auf und verlasst mein Land.“ „Ihr sagt, sie ist nicht hier? Meine Vöglein haben mir verraten, dass sie in eurem Schloss ist. Wo sonst solltet Ihr sie hinbringend, nachdem Eure Männer sie mir entwendet haben?“ „Eure Informationen scheinen falsch zu sein. Ich kann mich nicht entsinnen, auch nur irgendetwas aus Eurem Besitz hier zu haben.“ „Wollt Ihr etwa behaup...“ Weiter konnte Sawako nicht lauschen. Wie aus dem Nichts heraus wurde sie plötzlich zur Seite und tiefer in die Schatten hinein gezogen. Sie hätte vor Schreck fast aufgeschrien, aber eine Hand auf ihrem Mund unterdrückte den Laut. Sie wollte sich gerade über den Soldaten aufregen, was ihm denn einfiel, ihr einen solchen Schreck einzujagen, da fiel er auch schon vor ihr in eine demütige Verbeugung. Wem gehörte dann der Arm, der von hinten um sie geschlungen war und der ihren Rücken gegen eine harte Rüstung drückte? Die Hand, die eben noch ihren Aufschrei verhindert hat, griff nun nach dem Soldaten, packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Der Mann musste sehr kräftig sein, wenn er den Soldaten mit nur einer Hand so hochreißen konnte, denn die andere Hand hielt sie weiterhin fest. So fest, dass ihre Füße kaum mehr den Boden berührten und er sie eher trug als dass er sie festhielt. „Es tut mir leid, ich hätte nicht...“ „Sei still“, zischte die Stimme hinter ihr. „Warum bist du verdammt nochmal mit ihr hierher gekommen? Was ist so schwer zu verstehen gewesen an deinem Befehl?“ Es lag so viel Zorn in seiner Stimme, dass sie ihn fast nicht erkannte. Es war Harada und er schien vor Wut fast zu beben. Das erklärte jedenfalls, warum der Soldat sofort in eine Verbeugung gefallen war. „Es tut mir Leid, Harada-sama. Ich hatte befürchtet … Ich dachte … Sie hat ...“. Ihm stand die Furcht ins Gesicht geschrieben. Was würde jetzt mit ihm passieren? Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie so auf ihn eingeredet hatte. Und wofür am Ende? Alles umsonst. Yorinagas Auftauchen hatte sie so abgelenkt, dass sie gar nicht weiter an ihre Flucht gedacht hatte. Und der Griff des Soldaten war hatte die ganze Zeit erbarmungslos wie ein Schraubstock um ihren Arm umklammert. Nun fand sie sich in einem noch unausweichlicheren Griff wieder. Die winzige Chance das Schloss zu verlassen war dahin. Sie versuchte, mit den Fußspitzen den Boden zu erreichen, damit sie wenigstens das Gefühl hatte, nicht getragen zu werden, jedoch erreichte sie das Holz der Veranda nicht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, von einem Krieger in Rage so hilflos gehalten zu werden. Ein sehr beunruhigendes Gefühl. „Lass mich runter!“, zischte sie und begann in seinem Arm zu zappeln. Er ließ den Soldaten los, um seinen rechten Arm frei zu haben. Dieser fiel sofort wieder auf die Knie und bettelte um Vergebung. Sie wusste nicht, ob Harada ihm weitere Beachtung schenke, da sie sein Gesicht nicht sehen konnte. „Du sei erst recht still!“, knurrte er. „Wenn du mich runter lässt“, forderte sie, auch wenn ihr Mut angesichts seiner Wut verpuffte. „Vergiss es. Keinen Laut!“ Anstatt sie loszulassen packte er sie mit beiden Händen an den Hüften, drehte sie herum, sodass sie kurz einen Blick auf sein finsteres Gesicht erhaschen konnte und dann warf er sie sich über die Schulter. Normalerweise hätte sie getobt, aber der Blick in seinen Augen hatte sofort allen Widerstand im Keim erstickt. Er trug sie schnellen Schrittes weg vom Geschehen. Sie konnte noch ein paar letzten Blicke auf Ogata und Yorinaga werfen. Eigentlich war sie froh, von ihnen wegzukommen, allerdings war ihre jetzige Gesellschaft auch nicht so viel besser. Sie fragte sich, ob sie nach seinem Speer greifen sollte, der direkt neben ihrer Schulter auf seinen Rücken geschnallt war. Schnell verwarf sie die absurde Idee. Er war größer, stärker, geschickter und erfahrener als sie. Es würde ihn keine zwei Sekunden kosten, sie zu überwältigen. Hatte er auch so schon nicht die geringsten Schwierigkeiten, sie in Schach zu halten. Sie war vermutlich nicht viel aufwendiger und widerstandsfähiger als ein Hundebaby und sie wollte seine Wut nicht weiter schüren. Er bewegte sich sehr schnell, also dauerte es nicht lange, bis er ihr Zimmer erreichte. Wenig rücksichtsvoll ließ er sie herunter und sie landete unsanft auf ihrem Hintern. Wie zuvor machte es sie nervös von unten zum ihm aufzusehen, weil seine Größe noch einschüchternder wirkte, wenn sie auf dem Boden saß. Sie wollte sich aufrichten, doch da hockte er sich schon vor sie und hielt sie mit einer Hand auf der Schulter am Boden. Ihr Herz schlug ihr bis in die Ohren. In seinem Blick erinnerte nichts an das herzliche Gespräch von vor fünf Tagen, als sie das letzte Mal mit ihm geredet hatte. „Wer zum Teufel bist du?“, verlangte er zu wissen. „Was ist los? Was habe ich gemacht, dass du so wütend bist? Was geht hier vor?“ „Beantworte meine Frage!“ „Ist es wegen Yorinaga? Warum ist er hier? Was geht verdammt noch mal vor?“ „BEANTWORTE MEINE FRAGE!“, schrie er jetzt schon eher, als dass er sprach. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich kann es verdammt nochmal nicht sagen“, schluchzte sie. „Du wirst es sagen müssen, denn Ogata wird eine Erklärung dafür haben wollen, dass Yorinaga extra hierher kommt und ein kleines Vermögen anbietet, um dich mitzunehmen.“ „Was?“, fragte sie ungläubig. „Hast du es nicht gehört? Du warst doch da. Er kam nach Dewa, um über die Herausgabe der Frau zu verhandeln, die bei unserem Angriff auf sein Lager entschwunden ist. Er bietet einen kleinen Berg Geld für die 'junge Sawako aus Tokio'.“ Jetzt blieb ihr Herz endgültig stehen. Das konnte doch unmöglich wahr sein. Starr blickte sie auf ihre Hände. „Schau mich an“, forderte er und hielt mit seiner freien Hand ihr Kinn, damit sie ihren Blick nicht abwenden konnte. „Nun verrate mir, warum du für Yorinaga wertvoll genug bist, dass er so viel Geld für dich bietet?“ Jetzt liefen ihr die Tränen übers Gesicht. „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Aber bitte, bitte lasst nicht zu, dass er mich mitnimmt! Bitte, behaltet mich hier. Ihr könnt mich nicht mitgeben.“ Angst stieg in ihr auf. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit ihm nur zu gut. Sein Gewicht, das sie gnadenlos auf den Boden drückte und seine Hand auf ihrem Schenkel. „Ogata-sama wird ihm sicher nicht seinen Willen gewähren. Wir werden dich nicht einfach hergeben, bevor wir wissen, warum Yorinaga dich haben will. Andererseits … wenn du weiterhin nicht redest, wird Ogata-sama sich vielleicht anders entscheiden.“ Das Grauen und die Angst, die sie packten, musste er in ihren Augen erkennen können. „Wenn du Angst hast, dann rede!“ „Ich kann nicht.“ „Dann schicken wir dich nach Mikawa.“ „Nein, bitte nicht.“ Er ließ sie los. Sawako versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Sie hasste es, wie hilflos sie war in dieser Welt. Sie hasste es, dass sie nichts tun oder sagen konnte, um wieder ihr eigener Herr zu werden. „Ich habe keine Ahnung, was wir mit dir machen sollen“, seufzte er plötzlich, woraufhin sie ihn überrascht anblickte. „Jetzt reiß dich erst einmal zusammen. Heute bringt dich niemand irgendwohin, das verspreche ich dir. Also schlaf und mach dir Gedanken, ob du Ogata-sama morgen die Wahrheit sagst oder es riskieren willst, zurück nach Mikawa zu Yorinaga geschickt zu werden.“ Sie nickte nur und wartete, dass er verschwand. Er rührte sich aber nicht und sein Blick ruhte weiterhin starr auf ihr. „Also, ich würde dann ...“, gestikulierte sie in Richtung ihres Schlafplatzes. Er nickte nur als Reaktion. „Würdest du dann ...“ Diesmal deutete sie zaghaft zur Tür. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich aus den Augen lasse, wenn gerade unser größter Feind einen riesigen Berg Geld für dich geboten hat. Ich werde weder zulassen, dass du uns entwischst, noch, dass du uns weggeschnappt wirst. Und zwar solange bis Ogata-sama entschieden hat, was wir mit dir machen.“ Nichts an seinem Tonfall ließ Raum für Widerspruch. Sie bezweifelte, dass sie in dieser Nacht Schlaf finden würde. Kapitel 10: Nächtliche Gespräche -------------------------------- Irgendetwas Ungewohntes ging vor. Irgendetwas wollte Sawako aus ihrem Schlaf reißen. Sie war jedoch zu müde und wollte nicht aufwachen. Sie wollte noch tiefer in ihrem sorglosen Traum versinken, doch irgendetwas schien ihr diesen Wunsch nicht zu gönnen. Als sie langsam, sehr langsam, zu Bewusstsein kam, konnte sie erahnen, was sie beim Schlummern störte. Irgendetwas strich ihr übers Haar. Es war nicht unangenehm, aber sie wollte einfach nur schlafen. Also griff sie mit ihrer Hand nach was auch immer sie da störte. Leider gelang es ihr nicht, dieses störende Etwas zu greifen, weil ihre Hand sogleich gehalten und beiseite gezogen wurde. Das Streichen auf ihrem Haar hörte nicht auf. Sie murrte verschlafen. Was zum Teufel …? Die Erkenntnis traf sie ruckartig. War das etwa eine Hand, die über ihr Haar strich? Erschrocken riss sie die Augen auf und blickte in Haradas Gesicht über ihr. „Endlich wach?“, fragte er unbeschwert. Er saß neben dem Kopfende ihres Nachtlagers, ihre rechte Hand hielt er in seiner und mit der anderen strich er ihr übers Haar. Sofort befreite sie ihre Hand aus seinem Griff und brachte ein bisschen mehr Abstand zwischen sie. Ihr Herz raste. „Was tust du da?“, fragte sie empört. Ihn so dicht neben sich zu haben war irgendwie ... ziemlich intim. Sie spürte Röte in ihre Wangen steigen und hoffte, sie könnte es auf ihre Empörung schieben. „Dich wecken“, antwortete er gelassen. „Meine Stimme hat nicht gereicht, um dich aus dem Schlaf zu holen. Dafür, dass du dich gestern so beschwert hast, du könntest nicht schlafen, wenn ich hier bin, hast du einen ziemlich festen Schlaf“, scherzte er. Sawako fand es ganz und gar nicht witzig. Sie war noch damit beschäftigt, sich von ihrem Schreck zu erholen. „Ich konnte nun mal zuerst nicht einschlafen wegen … all dem. Natürlich schlafe ich tief und fest, wenn ich dann endlich mal eingeschlafen bin“, verteidigte sie sich gegen seine Neckerei. „Jetzt bin ich Schuld, dass du weder ein- noch ausschlafen kannst, was?“ Was für ein unverschämtes Grinsen auf seinen Lippen lag. Sie befürchtete, das Rot auf ihren Wangen würde sich nur noch verdunkeln, wenn er sie so ansah. Er war ganz anders als der Harada von gestern Abend. Irgendwas muss sich verändert haben. „Habe ich irgendwas verpasst?“, lenkte sie von seiner Frage ab. „Was verpasst?“ Er sah sie fragend an. „Du bist anders als gestern.“ „Natürlich, gestern war ich wütend“, antwortete er verwundert über ihre Frage. Aber das war es nicht, was sie meinte. Gestern hatte er sie angesehen wie eine Giftschlange. Er hatte sie fast angeschrien. Es war mehr als deutlich, dass er ihr nicht traute und jetzt witzelte er wieder umher. „Du warst nicht besonders … nett“, antwortete sie vorsichtig. „Tatsächlich? Ich fand mich ziemlich nett. Immerhin hätte ich deinem inkompetenten Wachmann am liebsten die Nase gebrochen und dich dann so gefesselt, dass du dich nicht einmal mehr rollend fortbewegend könntest. Außerdem hätte ich dich gerne so lange durchgeschüttelt, bis du mir die Wahrheit gesagt hättest. Also ich finde, ich war dagegen wirklich nett.“ Sie schluckte. So wütend wie er zuvor gewesen war, hätte sie es ihm durchaus zugetraut. „Gut, dann bin ich doch froh, dass du 'nett' warst“, murmelte sie und richtete ihre Kleidung. Vor allem überprüfte sie, dass im Schlaf ja nichts unangemessen verrutscht war. Es schien ihn zu belustigen. „Und verschickt ihr mich heute gleich nach Mikawa?“, fragte sie bitter. Sie konnte nicht verstehen, wie er so unbeschwert tun konnte, während für sie so viel auf dem Spiel stand. Seine Ignoranz war wirklich unfair. Er hob die Brauen, als hätte er diese Frage nicht erwartet. „Was denn, das ist ja wohl naheliegend, dass ich es wissen möchte“, zischte sie. „Und ich dachte, dass hätten wir heute Nacht bereits geklärt.“ „Ich denke...“, fing sie an, doch da fiel es ihr wieder ein. Da war nicht nur das eine Gespräch mit dem wütend 'netten' Harada gewesen, als er sie in ihr Zimmer zurückgebracht hatte. Sie war irgendwann schluchzend eingeschlafen, doch das sollte nicht das Ende der Nacht gewesen sein. Später war sie noch einmal aufgewacht. Was genau sie aus dem Schlaf gerissen hatte, wusste sie nicht. Ihr war sofort aufgefallen, dass Harada nicht dort war. Sie war alleine in dem Zimmer gewesen. Sie hatte kurz überlegt, ob es sich lohnte, aufzustehen und zu prüfen, ob ein anderer Wachmann vor ihrem Raum stand. Natürlich würde das der Fall sein. Sie erinnerte sich an Haradas Worte: „Ich werde weder zulassen, dass du uns entwischst, noch, dass du uns weggeschnappt wirst.“ Aber was hatte sie schon zu verlieren. Sie kroch in Richtung Tür, um nachzusehen, doch kurz bevor sie diese erreichte, öffnete sie sich und Harada stand im Türrahmen. „Du bist ja wach“, hatte er festgestellt, als er ihren kleinen Raum wieder betrat. Kälte strömte in den Raum, bis er die Türe hinter sich wieder schloss. „Du warst weg“, hatte sie trocken zurückgegeben. „Ich habe mit Ogata-sama gesprochen.“ „Habt ihr abgesprochen, wann ihr mich an Yorinaga verkauft?“, grummelte sie erschöpft. Ihre Stimme klang heiser vom Schluchzen und vom Schlaf. „So ungefähr. Wolltest du gerade etwa versuchen, abzuhauen?“ „Nein, ich hab nur geguckt, wo du bleibst“, antwortete sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Bis wann soll ich meine Sachen gepackt haben?“ „Du wirst Dewa nicht verlassen.“ „Was? Wieso das plötzlich? Vorhin hast du noch gesagt...“, antwortete sie verwirrt. Sie traute sich noch nicht, erleichtert aufzuatmen. „Ihr schickt mich wirklich nicht zu Yorinaga?“ „Nein.“ Es fiel ihr ein so großer Stein vom Herzen, dass sie sich fünf Tonnen leichter fühlte als zuvor. „Man, bin ich erleichtert“, murmelte sie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. „Welchem Umstand hab ich das zu verdanken? Vorhin klang es ja noch ganz anders.“ Er legte seine Hand in den Nacken. „Shiba hat gesagt, du warst in Yorinagas Zelt gefesselt gewesen, und als ich meinte, du musst zurück, bist du schluchzend zusammengesackt. Es scheint, als würdest du befürchten, es nicht ganz unbeschadet zu überstehen, wenn wir dich zurückgäben.“ Sie nickte eifrig als Bestätigung. „Hat er dich genommen?“ Vor Entsetzen stockte ihr der Atem. „Was?! Also bitte, natürlich nicht. Ich weiß sehr wohl, auf mich aufzupassen und mich zu verteidigen.“ Sein Blick verriet er, dass er da ganz anderer Meinung war. „Aber er hat dich angefasst?“ Wieder erinnerte sie sich an das bedrohliche Gefühl seiner Hand auf ihrem Bein. Sie wusste nicht, ob es einfach nur zur Einschüchterung war oder ob er ihr tatsächlich etwas Unsittliches angetan hätte, wenn sie nicht rechtzeitig entkommen wäre. Sie antwortete nicht auf Haradas Frage. „Es ist nicht unsere Art, ein Mädchen dem Tiger zum Fraß vorzuwerfen. Ich kann dennoch nicht leugnen, dass wir furchtbar neugierig sind, was ihn dazu bewegt, so viel Geld für dich zu bieten. Hast du eine Idee?“ „Nein, ich habe keine Ahnung!“, antwortete sie prompt. Ob es daran lag, dass sie aus dem Nichts im angegriffenen Tempel erschienen war? Vielleicht wusste er irgendetwas über die Magie dieses Ortes? Haradas Blick verdunkelte sich etwas. „Was hast du in Mikawa gemacht?“ Die Befragung schien wieder loszugehen. „Gar nichts. Ich hatte dort kein Ziel“, gab sie wahrheitsgemäß zurück. „Warum bist du dann nach Dewa geflohen?“ „Ich bin durch die Wald gerannt und hatte keine Ahnung, wohin ich lief. Und in dem Dorf habt ihr mich dann mitgenommen.“ Ebenfalls die Wahrheit. „Warum warst du in Mikawa?“ Er legte den Kopf schräg und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich war auf der Flucht...“ „...vor deinem Mann, ja ja, die Geschichte haben wir letztes Mal schon verworfen, erinnerst du dich?“ „Nein, haben wir nicht. Du hast nur entschieden, dass du mir nicht glaubst“, verteidigte sie sich aufgebracht. „Weil du lügst“, antwortete er ruhig. „In diesem Falle lügst du. Ich glaube, ich kann inzwischen ganz gut ausmachen, wann du mir die Wahrheit sagst und wann nicht. Entweder bist du hervorragend ausgebildet in der Kunst der Täuschung oder du bist einfach eine besonders schlechte Lügnerin.“ „Das...“, unterbrach sie ihn, aber mit einem Blick brachte er sie zum Schweigen. „Ich denke, dass du tatsächlich nichts mit unseren Provinzen zu tun hast. Nur den Grund, der dich hierher führte, den kannst du uns nicht verraten, warum auch immer. Weiß es Yorinaga?“ Was konnte sie ihm sagen? Sawako wurde immer unsicherer. „Nein, er weiß nichts davon“, antwortete sie nur knapp. „Jetzt sagst du die Wahrheit. Aber du weißt, oder zumindest vermutest du, warum er dich zurück haben will.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie fühlte sich unwohl, jetzt wo er in ihr las wie in einem offenen Buch. „Wurdest du in Mikawa, warum auch immer du da warst, in irgendetwas verwickelt?“, hakte er nach. Er ließ einfach nicht locker. „Das kommt ungefähr hin“, flüsterte sie jetzt. Sie hatte Angst, zu viel zu verraten. Aber genauso gefährlich wäre es, alle Fragen abzublocken und sich nur noch verdächtiger zu machen, jetzt, wo er sie zu durchschauen schien. „Das heißt, was du vor uns verbirgst, ist zum einen, wer du bist und wo du herkommst, zum anderen was dich nach Mikawa verschlagen hat und zu guter Letzt was dort passiert ist, dass Yorinaga dich gerne wieder in seinem Lande hätte“, fasste der Krieger zusammen. Sawako nickte nur schwach. Das traf es ziemlich genau. Es war erschreckend, wie wenig sie vor ihm verbergen konnte. Plötzlich lächelte er. Sie starrte ihn überrascht an. Das hätte sie jetzt am Wenigsten als Reaktion erwartet. „Ha, genau so etwas habe ich vermutet. Ich hatte Recht, ich bin ein Fuchs.“ Er wirkte sehr zufrieden mit sich. „Herzlichen Glückwunsch, Fuchs!“, entgegnete sie weitaus weniger begeistert. „Vielleicht verrätst du mir, warum du meinst, mich so genau zu durchschauen?“ „Ich bin doch nicht verrückt und verrate dir, woran ich erkenne, ob du lügst oder nicht. Das wird in Zukunft sicher weiterhin praktisch sein.“ Frustriert seufzte sie auf. Schön, sie war also von Anfang an so leicht zu durchschauen gewesen. Vielleicht sollte sie sich auf das Positive konzentrieren. Sie würde nicht an Yorinaga verkauft werden. Die Erleichterung darüber stellte ihren Frust in den Hintergrund. In ihre Gedanken versunken rieb sie sich die Arme. Sie fror, die kalte Nachtluft hatte die Raumtemperatur stark sinken lassen. „Was für ein Glück ich habe, dass Ogata sich das ganze Geld entgehen lässt, nur um das arme Mädchen zu schützen“, stellte sie fest. „Das stimmt nicht ganz. Ogata-sama lehnte den Handel ab, weil er Yorinaga nicht in die Hände spielen will und weil ich ihn darum gebeten habe. Sonst wärst du jetzt schon auf dem Weg nach Mikawa.“ Überrascht sah sie ihn an. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden und er wirkte jetzt wieder ernst. „Du hast ihn darum gebeten?“ Damit hätte sie nicht gerechnet. Sie vergaß, dass sie fror und hielt in ihrer Bewegung inne. „Weil ich dir glaube, dass du kein Feind bist und dass du uns einfach nur nichts erzählst, weil du denkst, es geht uns nichts an. Manche Geheimnisse muss man für sich behalten. Koste es, was es wolle.“ Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Er war bereit, ihr Glauben zu schenken? Ihr ihre Geheimnisse zu lassen? Und vor allem, sie zu schützen, indem er sich einsetze, dass sie hier bleiben konnte? „Ich bin dennoch gewillt, dir dieses Geheimnis zu entlocken.“ Ein freches Lächeln trat wieder auf sein Gesicht. „Immerhin schuldest du mir jetzt was.“ Während er sprach, stand er auf, griff nach ihrer Decke und legte sie um Sawako. Seine Hände ruhten dabei einen kleinen Moment auf ihren Schultern. „Und jetzt schlaf!“ Ein komisches Gefühl machte sich in ihr breit. Erst jetzt fiel es ihr auf, vorher hatte sie es gar nicht wahrgenommen. Doch plötzlich war es ihr furchtbar unangenehm, mit ihm alleine in diesem Raum zu sein. Ihn so dicht vor sich zu haben und seine Hände auf ihren Schultern zu spüren. Wieso hatte er sich für sie eingesetzt? Sie fühlte sich … beschützt. Dass er ihr die Decke um ihren zitternden Körper legte, unterstütze diesen Eindruck nur noch mehr. War sein Blick zuvor auch schon so intensiv gewesen? Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und zog den Kopf schnell unter die Decke. Hörte sie ihn etwa leise lachen? Schnell drehte sie sich weg, mit dem Rücken zu ihm gewandt und blieb unter ihrer Decke versteckt. Das könnte unangenehm werden, dachte sie. Jetzt, wo sie ihn plötzlich nicht mehr nur als den Krieger wahrnahm, sondern als Mann, der sie beschützte und dem sie gleichzeitig ausgeliefert war ... und der ihr gerade besorgniserregend nahe kam. „Oh“, murmelte Sawako nüchtern, als sie sich wieder an das zweite nächtliche Gespräch erinnert hatte. „Ja, du hast Recht, das hatten wir geklärt.“ Jetzt verstand sie auch, was sich alles veränderte hatte. Zum einen glaubte Harada ihr - zumindest das, was sie ihm erzählen konnte - und zum anderen war sie nun unangenehm verlegen in seiner Gegenwart. Es war deutlich einfacher gewesen, als sie ihn noch als ihren historischen Gefängnisaufseher und nicht als eine reale Person angesehen hatte. Wer hätte gedacht, dass sie mal eine Nacht unter den strengen Augen eines bewaffneten, aber dennoch attraktiven Mannes, der sie hier festhielt, verbringen würde. Sie wunderte sich über ihre eigenen Gedanken. Attraktiv? Sie sah zu ihm hinüber. Ja, er war tatsächlich ein beeindruckender Mann. Sie versuchte, ihn sich etwas zeitgemäßer vorzustellen, ganz leger in Jeans und schwarzem Shirt. Er wäre wahrscheinlich sogar ihr Typ gewesen, stellte sie erschrocken fest. Sie schüttelte den Kopf, um diese lächerlichen Gedanken abzuwerfen. Sie war wirklich unmöglich. Sawako regte sich über sich selbst auf. Kaum war die Gefahr gebannt, kam ihr wieder so ein Unfug in den Sinn. „Dein Schlaf ist ja noch fester, als ich dachte, wenn du sogar vergisst, was zwischendurch passiert ist.“ „Entschuldigung, ich wurde gerade unsanft geweckt. Da kann es ein paar Sekunden dauern, bis alle Gedanken beisammen sind“, beschwerte sie sich und merkte sofort, dass sie andere Worte hätte wählen sollen. Sein Grinsen schien auf beunruhigende Weise breiter zu werden. „Unsanft? Dabei hab ich mir solche Mühe gegeben. Aber … da fällt mir ein ...“, fing er an und lehnte sich etwas zu ihr hinüber. Er ignorierte ihr überraschtes Zusammenzucken, griff wieder nach ihrem Handgelenk und untersuchte es. Ein leichter Schmerz durchzuckte sie bei der Berührung. Dort, wo der Soldat sie gestern so fest gehalten und sie hinter sich her gezerrt hatte, war ihre Haut in einem unschönen blaugrünen Ton gefärbt. „Vielleicht sollte ich ihm doch noch die Nase brechen, wenn er so mit unseren Gästen umgeht. Nicht gerade sehr rücksichtsvoll.“ „Jetzt übertreib mal nicht!“, unterbrach sie ihn und befreite ihre Hand aus seinem Griff. „Du warst auch nicht besonders rücksichtsvoll, als du mich hier auf meinen Hintern hast fallen lassen.“ Oh weh, dachte sie, schon wieder die falschen Worte. „Tatsächlich? Vielleicht sollte ich nachsehen ...“, scherzte er … (es musste ein Scherz sein!) und lehnte sich noch weiter zu ihr hinüber. Sie versuchte ihn wegzuschieben, ihre Hände gegen seine Brust stemmend. Sie spürte das Grollen in seinem Brustkorb, als er lachte. Plötzlich öffnete sich die Tür und das Dienstmädchen kam herein. Angesichts der Szene, die sich ihr bot, riss sie schockiert die Augen auf. „Entschuldigung, ich komme später wieder.“ Hektisch wollte sie die Tür wieder schließen, doch da war Harada schon bei ihr und führte sie in den Raum. Dabei konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ihm war wohl bewusst, dass er das Mädchen verschreckt hatte. Sie hatte einen hochroten Kopf und blickte starr auf den Boden. Es war Sawako mehr als unangenehm, was sie jetzt wohl denken musste. Sie ärgerte sich über Harada und seine albernen Späße. „Entschuldigung“, wiederholte sie verlegen. „Ich wurde geschickt, Sawako-san zurechtzumachen. Tamako-hime verlangt, sie zu sehen.“ Jetzt war Sawako verwirrt. „Tamako-himesama?“ „Ogata-samas Schwester“, erklärte Harada knapp. Sie sah überrascht zu ihm auf. Nicht wegen dem, was er gesagt hatte, sondern eher, wie er es sagte. Seine unbeschwerte Art war verschwunden, von der einen Sekunde auf die andere. Er war wieder der kalte Hauptmann. War es wegen dem Dienstmädchen? Nein, die Veränderung kam erst, als der Tamakos Name fiel. „Dann solltest du sie nicht warten lassen. Sie wird sich ebenfalls ein Bild über dich machen wollen. Vielleicht sogar auf Ogata-samas Bitte hin. Ich halte euch nicht weiter auf.“ Mit diesen Worten verschwand er. Verwirrt blickte sie ihm hinterher. Was war nur plötzlich los? Es fühlte sich merkwürdig an, so zurückgelassen zu werden. „Sawako-san? Wollen wir beginnen?“, fragte sie zaghaft an. Sie sah ihr dabei nicht in die Augen. Das wird böses Getratsche geben, befürchtete Sawako. Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung. „Wie ist dein Name?“, fragte sie das Mädchen. „Akiko“, antwortete sie knapp. Hey, ihre Verlegenheit führte vielleicht endlich mal dazu, dass sie ordentlich miteinander redeten. „Du weißt, dass du bei nichts gestört hast, oder, Akiko?“ Sie wurde wieder rot. Das konnte ja was werden. „Es ist ziemlich offensichtlich, was du denkst, und lass mich dir versichern, dem ist nicht so“, stellte Sawako klar. „Aber … Harada-sama war die ganze Nacht hier...“, stammelte sie. „Ja“, bestätigte sie und musste dabei mit sich ringen, nicht selbst zu erröten. „Aber nur, um mich zu bewachen. Ich bin immerhin eine Gefangene hier.“ „Aber … Harada-sama hätte doch auch draußen bewachen können“, erwiderte sie. Ein stures Mädchen, diese Akiko. „Er hat mich befragt“, entgegnete sie wahrheitsgemäß. Gestern hätte sie nie gedacht, dass ihr größtes Problem die Verhinderung von Gerüchten sein würde. „Aber …“ Konnte sie nicht endlich mit ihrem 'aber aber' aufhören? „... Vorhin, als ich rein kam?“ „Das gehörte alles zum Verhör.“ „Ach so. Und ich hatte solche Angst, das Zimmer zu betreten“, gestand sie. „Denn immer, wenn einer der Soldaten die Nacht im Zimmer einer Frau verbringt, dann … stört man morgens besser nicht.“ Sawako fragte sich, wie oft dieses Mädchen wohl schon in eine unangenehme Situation herein geplatzt sein mochte. Sie wollte gar nicht so genau wissen, welche Sitten hier des Nachts herrschten und wohin die Soldaten – und Harada – im Mondschein verschwanden. Wie alt mochte Akiko wohl sein? 14 oder 15? Jedenfalls hatte Sawako sie erfolgreich überzeugen können. Das üble Gerede hätte ihr gerade noch gefehlt. „So, wo wir das geklärt haben. Dann mach mich mal bereit, Tamako-hime gegenüber zu treten.“ Sie war wirklich neugierig, was für eine Person diese Tamako war, dass sie diese Reaktion bei Harada hervorrief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)