Hannibal Lecter von Mireille_01 (Die Gesänge der Toten) ================================================================================ Kapitel 6: Die Gesänge der Toten -------------------------------- „Elise so kommen wir nicht wirklich weiter…“ seufzte Zoe auf. Ihre „Gesprächspartnerin“ schwieg. „Großartig!“ knurrte Zoe innerlich auf und schüttelte gleich darauf den Kopf über sich selbst. Sie sollte nicht so ungeduldig sein. Sie hatte Glück gehabt – am ersten Tag. Als sie nach dem Zusammentreffen mit dem „Henker“ zu Elise gegangen waren, hatte Doktor Lecter Zoe alleine vorgeschickt. Zoe hatte sich leise Elise vorgestellt und diese hatte sogar Zoe die Hand geschüttelt und leise geantwortet: „Angenehm – nennen Sie mich Elise, Doktor!“ Aber seither – und es waren bereits drei Wochen vorübergegangen – hatte Elise kein Wort mehr mit Zoe gesprochen. Zoe hatte so ziemlich jede Strategie ausprobiert, doch am heutigen Tag waren ihr einfach keine neuen Ideen eingefallen. Frustriert rieb sich Zoe über die Stirn. Beim Mittagessen unterhielt sie sich mit Lecter über ihre „Patientin“. „Wenn das so weitergeht, wird die Hauptverhandlung beginnen, bevor überhaupt ein Gutachten vorliegt!“ seufzte Zoe. „Sie dürfen sich nicht entmutigen lassen, Zoe!“ erwiderte Lecter, der sich seit ihrem ersten Tag angewöhnt hatte Zoe bei ihrem Vornamen anzusprechen. „Langsam aber sicher überwiegt die Frustration, Doktor Lecter. Ich habe eine Woche die „Ich – erzähle-über-mich – Idee“ ausprobiert. Reaktion war gleich Null. Dann die zweite Woche, die „Ich kann noch viel besser als sie blöde schweigen – Taktik“ angewandt – ebenfalls null Erfolg. Und diese Woche, die „Wieso wollen sie nicht reden-Frage?“ gestellt. Langsam wird es schwierig. Ich bin einfach ein Küken wenn es darum geht mit solchen Leuten zu reden.“ Zoe ließ entmutigt den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Zoe – setzen Sie sich doch auf!“ forderte Lecter sie auf. Dumpf erklang es: „Wieso? Ich bin eine Versagerin. Ich verdiene es nicht hier am Tisch zu sitzen.“ „Darum geht es ehrlich gesagt nicht – ihre Haare liegen in meine Essen, was ich nicht besonders appetitlich finde!“ kam es trocken zurück. Zoe hob müde den Kopf: „Was Sie nicht sagen, Doktor!“ Lecter schmunzelte anhand seines Lieblingsspruchs und legte das Besteck beiseite. Er verschränkte elegant die Hände miteinander und legte sich die zusammengefalteten Fingerspitzen an die Stirn. Er sagte einige Minuten nichts, dann hob er den Blick und sagte: „Quid pro Quo!“ „Was? Ich habe gerade keine Lust auf dieses Spiel!“ wedelte Zoe mit der Hand ab. „Quid pro Quo, Zoe.“ Blieb Lecter hart aber weich. „Ahhh na gut!“ sagte Zoe und setzte sich auf. Ihre Augen wanderten zu denen von Lecter. Er sah sie über die Fingerspitzen hinweg an. „Erzählen sie von ihrer Familie, Zoe!“ sagte Lecter. Zoe schluckte innerlich schwer, versuchte allerdings ein Pokergesicht: „Meine Mutter war Hausfrau. Bevor sie heiratete, studierte sie allerdings bereits Literatur und Geschichte – sie war eine der wenigen Frauen, die damals zum Studium zugelassen waren. Sie hatte Glück. Als sie 19 Jahre alt wurde, lernte sie meinen Vater kennen – er war der vermögende Sohn eines reisenden Handelsmanns. Mein Großvater hatte ein gewaltiges Schiffsimperium. Sie fuhren Waren von Amerika nach Europa. Die Familie meines Vaters war sehr reich. Meine Eltern heirateten mit 23 Jahren und zogen nach Paris. Vater leitete die Firma, Mutter war schwanger – mit meinem älteren Bruder, Jean-Luc.“ Erzählte Zoe leise. Lecter nickte. „Als Jean-Luc ca. 10 Jahre alt war, wurde Mutter erneut schwanger – mit mir.“ Sagte Zoe und rieb sich über die Fingerknöchel. Lecter entging dieses Zeichen nicht. Er unterbrach sie nicht und Zoe fuhr fort: „Als ich auf die Welt kam, war der 1. Weltkrieg schon fast spürbar und als er 1939 herum dann auch Frankreich erreichte, wollte meine Mutter mit uns fliehen. Vater verbot es ihr. Bei einem Bombenanschlag auf Paris wurde meine Mutter getötet. Mein Bruder und ich blieben verschont, doch Jean-Luc verlor seinen rechten Arm. Vater brachte uns nun in das ländlich gelegene Weingut, das er sich vor Jahren gekauft hatte. Dort blieben wir, bis der Krieg vorüber war. Jean-Luc war untauglich und durfte nicht an die Front. Das setzte ihm schwer zu – er fühlte sich wie ein Behinderter. Er bekam Depression. Als der Krieg endlich vorüber war, zogen wir wieder zurück in die Hauptstadt. Mein Vater ließ mich an eine Privatschule gehen und mein Bruder sollte in die Firma einsteigen. Doch die Depressionen verschlimmerten sich.“ „Wie sehr?“ fragte Lecter. „Mein Bruder wurde manisch und bekam Verfolgungswahn. Einmal,…“ Zoe rieb sich erneut über die Fingerknöchel, „ … hat er mich mit einer Schere angegriffen, weil er glaubte ich wäre Mutter, die als Geist zurückgekehrt war.“ Zoes Augen waren vor Schmerz verdunkelt. „Was geschah nachdem ihr Bruder sie mit der Schere angriff? Hat er sie verletzt?“ fragte Lecter. „Er… er schnitt mir fast die Pulsadern auf und ich verlor sehr viel Blut. Da ich seit Geburt an einem großen Eisenmangel leide, hätte mich das fast mein Leben gekostet. Vater brachte mich rechtzeitig ins Krankenhaus. Jean-Luc wurde in eine Psychiatrie gesteckt, wo man versuchte seine Depressionen und seinen Schmerz mit größerem Schmerz durch Elektroschocks zu heilen. Ich durfte Jean-Luc nur selten besuchen.“ Sagte Zoe. Sie blickte auf die Uhr und stand auf: „Ich muss gehen – Elise wartet.“ Lecter hielt sie fest als sie an ihm vorbeigehen wollte: „Was geschah mit ihrem Bruder, Zoe?“ Zoe blickte zur Seite: „Er nahm sich das Leben – er erdolchte sich mit einem Messer vom Mittagstisch.“ Damit lief sie aus der Kantine. Lecter blickte ihr nach und ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Er grinste: „Zoe, Zoe – du lügst. Du lügst sogar ziemlich gut. Ich bin neugierig was dir wirklich so schreckliches passiert ist, dass du dieses Lügennetz um deinen Bruder spinnst!“ Damit kehrte er ebenfalls zu seiner Arbeit zurück. Zoe hingegen war nicht zu Elise gegangen, sie weinte bitterlich und ohne einen Laut auf dem Damen – WC. Sie presste sich die Brust zusammen und hoffte dass die Schmerzen aufhören würden. „Verzeih Jean-Luc…“ lachte sie innerlich irre. Dann schlug sie mit aller Kraft gegen das kalte Waschbecken. Ihre Finger schlug sie sich blutig und hoffte der Schmerz würde ihren eigenen überdecken. „Sie haben sich verletzt, Doktor?“ richtete Elise seit drei Wochen ihre Worte an Zoe. Sie hatte sich die Hand verbunden und blickte von ihrem Notizblock auf. Die Gitterstäbe der Zelle trennten die beiden voneinander. Elise hatte wie der „Henker“ ein Privatquartier – abgeschottet von den anderen Verbrecherinnen. „Nichts Ernstes…“ winkte Zoe ab und hob bestätigend die zarten Finger in die Höhe. Ihr Ausbruch im Klo war ihr noch immer sehr peinlich und sie hoffte, dass keiner – besonders Doktor Lecter nicht – einen Zusammenhang erkennen würde. „Haben Sie auch Schmerzen, Doktor?“ fragte Elise weiter. Ihre ruhige Stimme war wie Balsam und Zoe starrte verdattert auf ihre Patientin. Wochenlang hatte sie nicht mit ihr geredet – geschweige denn angesehen. Nun tat sie beides. Interessiert und mit undurchdringlicher Miene blickte sie auf ihre Ärztin. „Wieso – haben SIE Schmerzen Elise?“ fragte Zoe und richtete sich auf. Elise blickte aus dem Fenster, das mit Gitterstäben verziert war nach draußen. Der erste Schnee war bereits gefallen und hüllte die ländliche Gegend von London in weiße Unschuld. „Manchmal da wache ich nachts auf – schreiend. Es tut weh – hier drinnen!“ Elise legte ihre rechte Hand mit den zarten Fingerspitzen auf ihre Brust. Zoe betrachtete sie. Elise war ganz dünn, fast schon dürr. Sie hatte schmuddeliges blondes Haar, das ihr in wilden Locken über den Rücken fiel. Große graublaue Augen und immer einen schwermütigen Zug um die Lippen. „Es schmerzt in ihrer Brust?“ fragte Zoe und überschlug die Beine lautlos. „Nein…“ Elise starrte an Zoe vorbei ins Leere: „Im Herzen tut es weh…“ Zoe starrte Elise traurig an und sagte: „Elise Sie müssen mir erzählen, warum Sie diese vielen Männer getötet haben!“ Elise erwiderte nichts, drehte sich auch nicht um. Sie starrte lange Zeit einfach nur aus dem Fenster hinaus und Zoe seufzte innerlich auf: „GOTT! Jetzt schweigt sie mich schon wieder –“ „Weil sie es verdient haben!“ ertönte plötzlich Elises Stimme – nicht mehr leise und zart. Hart und kalt. „-an!“ ruckte Zoes Kopf hoch und starrte Elise an. Diese drehte sich um und Zoe erschrak. Elises Gesicht war zu einer Fratze verzogen. Die Augen riesig aufgerissen und ihre Fingernägel hatten sich blutig in ihre Haut gerissen. Sie lachte und schrie gleichzeitig: „Sie verdienten es. Sie verdienen es. SIE ALLE MÜSSEN STERBEN!“ lachte sie hemmungslos. Zoe starrte fassungslos, wie zwei Pflegerinnen herbeieilten und die Zelle aufsperrten. Elise schrie und lachte immer noch. Die Pflegerinnen rissen ihre Hände aus dem Gesicht, hielten sie fest und eine dritte Pflegerin kam mit einer Spritze angerannt. Elise wurde mit dem Oberkörper auf den Tisch gedrückt, der im Zimmer stand und sie lachte noch immer wahnsinnig. „Sie verdienten den Tod. Sie verdienen den Tod. Alle werden sterben – alle ekelhaften Männer müssen sterben. Sie sind so hart und eiskalt – sie nehmen ohne zu geben. Sie schneiden uns innerlich auf und das Blut jener die sterben, rinnt unbefleckt zu Boden. Es vermischt sich mit den Gesängen der Toten!“ lachte Elise manisch. Doch die Spritze begann zu wirken, während Zoe die Wörter für immer in den Kopf gebrannt wurden. Elise erschlaffte und schlief ein. „Was haben Sie gesagt, Doktor?“ fragte eine Pflegerin verdattert. Zoe schüttelte den Kopf: „Nichts… gar nichts…“ Zoe blieb noch mehrere Minuten lang stehen und betrachtete Elise die an das Bett gebunden wurde und friedlich schlief. Doch die Worte hämmerten in Zoes Gedanken. „… und das Blut jener die sterben, rinnt unbefleckt zu Boden. Es vermischt sich mit den Gesängen der Toten…“ flüsterte Zoe. „Was hast du gemeint, Elise?“ Doch Elise konnte Zoe darauf nicht antworten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)