Story of the Dead von Flordelis ================================================================================ Prolog: Before the Dead ----------------------- Am Morgen des Tags X, gab es nichts, was darauf schließen ließ, dass die Stadt in wenigen Stunden zu einem Katastrophengebiet werden würde. Sicher, erstaunlich viele Menschen schienen an einer Erkältung zu leiden, schnupften und husteten sich durch den Alltag, aber das war es auch schon. Deswegen fand keiner der Schüler einen Grund, zu Hause zu bleiben oder sich zumindest anders als sonst von seiner Familie zu verabschieden. Man glaubte ja immerhin, sich am Abend wiederzusehen, so wie immer eben. Die Ströme an Schülern, die zu ihren Schulen unterwegs waren, die man anhand ihrer Uniformen bereits erkennen konnte, waren ein vertrauter Anblick. Niemand ahnte, dass in wenigen Stunden aus dem geordneten Strom eine Herde werden würde, deren abgehackte Bewegungen aus einem Albtraum entsprungen sein könnten und deren Zähne sich in alles schlugen, was unglücklich genug gewesen war, ihren Weg zu kreuzen. Drei Schüler, die sich bislang noch nicht kannten, die einander auf ihrem Schulweg noch nie bemerkt hatten, würden an diesem Tag unweigerlich aufeinander treffen und ihre Schicksale miteinander verknüpfen. Diesen drei Schülern und die sie umgebenden Personen geschah an diesem Tag tatsächlich etwas Außergewöhnliches. Einer verschlief und schaffte es somit nicht rechtzeitig in die Schule. Ein anderer musste kurz nach Unterrichtsbeginn wegen eines Schwächeanfalls die Krankenstation aufsuchen. Und der letzte geriet mit seinem Rivalen aneinander und musste erstmals zum Direktor der Schule beordert werden. Keiner von ihnen ahnte in diesem Moment, dass sie Glück im Unglück haben würden und diese Ereignisse ihnen das Leben retten sollte, sobald die Toten wieder erwachen. Aber vorerst waren sie alle mit ihren Gedanken beschäftigt, solange das noch möglich war. 1. [Awakening of the Dead – Act 1]: Store of the Dead ----------------------------------------------------- Verschlossen. Das Schultor war wirklich verschlossen. Ungläubig blickte Nozomu auf die eisernen Gitterstäbe, die ihn und seine beiden Begleiter vom Schulhof und dem Gebäude trennte. Er war versucht, sie mit beiden Händen zu ergreifen und den Kopf hindurchzustecken – oder es zumindest zu versuchen – aber er beließ es bei seinem Blick und festigte dafür den Griff um seine Schultasche. „Sie haben das Tor heute ziemlich zeitig geschlossen“, murmelte Nozomi. Seine Kindheitsfreundin, die neben ihm stand, blickte weniger ungläubig, eher verzweifelt, ihre grün-blauen Augen glitzerten dabei verdächtig, so als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Im Gegensatz zu seinem kurzgeschnittenen braunen Haar, das an diesem Morgen nicht gekämmt worden war, war ihr grün-blaues schulterlanges Haar adrett frisiert, wie üblich war eine rote Schleife ein Teil ihrer Frisur. „Vermutlich glaubten sie, dass jene, die zu spät kommen, ohnehin krank sind und gar nicht mehr auftauchen werden.“ Der dritte im Bunde – Zetsu – sah wie üblich perfekt und direkt wie aus einem Modemagazin entsprungen aus. Das hüftlange silberne Haar – Nozomu wollte gar nicht wissen, wie viel Arbeit man damit hatte – war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und die eisblauen Augen sprühten bereits so früh am Morgen voller Witz. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Nozomu. Noch während er den Mund schloss, wusste er direkt, was Zetsu und auch was Nozomi darauf erwidern würden – und es kam, wie es kommen musste. „Wir sollten die Gelegenheit nutzen, um zu schwänzen und zurück nach Hause zu gehen“, schlug Zetsu vor. „Wir sollten hier warten, bis jemand kommt, der uns das Tor öffnet“, erwiderte Nozomi und warf dabei einen empörten Blick zu dem Delinquenten neben ihr. „Was würden denn deine Eltern sagen, wenn du plötzlich wieder vor der Tür stehst?“ Auch dieser Einwurf brachte ihn weder aus der Ruhe noch kratzte es im Mindesten an seinem Lächeln. „Oh, meine Familie ist heute mal wieder beschäftigt. Mein Vater und mein Onkel haben einen Termin außerhalb der Stadt und meine Mutter und meine Tante achten so lange auf das Büro. Bis heute Abend ist da mit Sicherheit niemand.“ Damit hatte er Nozomi den Wind aus den Segeln genommen und ließ ihr nur noch die Möglichkeit, ihn wütend anzufunkeln, so dass es an Nozomu hängen blieb, einen Kompromiss zu finden, mit dem alle zufrieden sein konnten. Glücklicherweise war er das bereits gewohnt, weswegen er auch sofort einen Gedanken hatte, mit dem beide zufrieden sein konnten: „Gehen wir doch bis zum Ende der ersten Stunde in den nahegelegenen Laden, dann kommt bestimmt jemand, um uns das Tor zu öffnen. Aber bis dahin bin ich hungrig... ich hatte heute keine Zeit zum Frühstücken.“ Deswegen war er auch recht zufrieden darüber, die erste Stunde zu verpassen, denn so würde er doch noch zum Essen kommen, wenn auch nur während er in oder vor einem kleinen Supermarkt stand. Wie er erwartet hatte, gab Nozomi sich geschlagen und so machten die drei sich auf den Weg zum nahegelegenen Supermarkt, in dem sich vor und nach der Schule oft Schüler versammelten, um sich mit Essen und Getränken einzudecken. Meist wartete man dann mindestens eine Viertelstunde, bis man überhaupt mal in die Nähe der Kasse kam – dementsprechend angenehm leer war es nun um diese Zeit und gab so Nozomu das erste Mal die Gelegenheit, den Blick schweifen zu lassen. Die Regale, die gerade einmal bis an seine Brust reichten, waren fein säuberlich mit Waren bestückt, so dass es aussah als würde nie jemand etwas kaufen. Die ganze Wand wurde von einem Kühlregal eingenommen, in dem neben Getränken auch andere Waren zu sehen waren. Normalerweise griff er einfach ohne nachzudenken nach einer Packung Chips, aber an diesem Tag würde er sich ein wenig Zeit nehmen, beschloss er. Vielleicht würde er dann etwas Neues entdecken. Der ältere Herr, der hinter der Ladentheke stand und der Besitzer des kleinen Supermarkts war, hob erstaunt eine Augenbraue, als er die drei Schüler hereinkommen sah. „Nanu? Habt ihr den Schulanfang versäumt?“ Sie nickten zustimmend, wobei Nozomi weiterhin betrübt wirkte. Der Besitzer lächelte, wobei sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten. „Dann fühlt euch hier wie zu Hause. Es ist besser, wenn ihr euch hier drinnen aufhaltet, als draußen auf den Straßen herumzustreunen.“ „Wieso das?“, fragte Nozomi irritiert. Er nickte zu einem Fernseher hinauf, der an der Decke befestigt war. Nozomu bemerkte dessen Vorhandensein erstmals in diesem Moment, der Besitzer erhöhte die Lautstärke, damit sie hören konnten, worum es in den Nachrichten ging, die gerade über den Bildschirm flimmerten. Auf den ersten Blick war erkennbar, dass es sich um einen Stau auf einer der größten Kreuzungen in der Innenstadt handelte, was man selten genug sah. Anhand des dichten schwarzen Qualms, der den direkten Blick der Kamera auf die Geschehnisse verschleierte, war für Nozomu auch erkennbar, dass der Stau durch einen heftigen Unfall verursacht worden war. „... und es ist kein Ende in Sicht“, kam die Stimme einer Nachrichtensprecherin blechern aus den Lautsprechern des Röhrenfernsehers. „Bislang spricht die Polizei von 34 Verletzten, drei davon schwer. Augenzeugen besagen, dass der Unfall durch einen Schwächeanfall eines Fahrers ausgelöst wurde. Man spekuliert deswegen, dass die rasch um sich greifende Epidemie, welche die Bevölkerung seit Wochen in der Hand hält, dafür verantwortlich ist.“ Nozomu verlor sein Interesse an der Sendung, als die Reporterin Augenzeugen zu befragen begann und wollte sich wieder der Auswahl an Lebensmitteln zuwenden, als er an Nozomis vor Furcht geweiteten Augen hängenblieb. „Ich hoffe, die Verletzten werden wieder gesund“, hauchte sie. „Das ist furchtbar.“ Nozomu wusste, dass sie das so meinte. Er kannte sie seit ihrer gemeinsamen Kindheit und sie war eine erschreckend gutherzige, fast schon naive, Person, die sich stets um irgendetwas sorgte, ja vermutlich sogar sorgen musste, weil ihr ohne dieses Gefühl etwas fehlte. Wer auch immer einmal ihr Mann werden würde, durfte sich davon jedenfalls nicht gestört fühlen, wenn die Bindung halten sollte. Während er so darüber nachdachte, wurde ihm auch direkt wieder klar, dass Zetsu dann jedenfalls ganz sicher nicht in die engere Wahl kommen würde, denn dieser rollte mal wieder mit den Augen, als er von ihrer Besorgnis hörte und widmete sich bereits dem Kühlregal mit den koffeinhaltigen Getränkedosen – offenbar lohnte sich der Verkauf von Flaschen in dieser Gegend nicht – die er ein wenig zu interessiert betrachtete. Nozomu lächelte Nozomi zu, um sie ein wenig zu beruhigen. „Es wird bestimmt alles gut, mach dir keine Sorgen. Diese Leute werden schon wieder gesund.“ Und selbst wenn nicht, würde das keiner von ihnen erfahren, aber das sagte er ihr nicht, stattdessen hoffte er, dass sie gar nicht erst auf diesen Gedanken kommen würde. Zu seinem Glück tat sie das auch nicht, sie lächelte stattdessen ebenfalls. „Ja, du hast recht, ganz bestimmt wird es das.“ Damit war sie beruhigt und er konnte sich anderen Dingen zuwenden. Doch das Schicksal schien ihm an diesem Tag nicht sonderlich gewogen, denn gerade als sein Blick über die Regale schweifte, bemerkte er durch die gläserne Wand zur Straße hin eine Person, die auf den Laden zukam. Selbst wenn er sich diesen Moment im Nachhinein immer wieder ins Gedächtnis rief, gab es nichts, das an seiner Art sich zu bewegen darauf schließen ließ, dass er für die Anwesenden den Beginn eines Albtraums markieren würde. Der Mann, der in einem sauberen, aber billigen schwarzen Anzug souverän zu sein versuchte, betrat den Laden und ging zielstrebig auf den Verkaufstresen zu. Sein schwarzes Haar, das geradezu vor Gel troff, hatte sich allerdings aus der einst so akkuraten Frisur gelöst, was wohl auch Zetsus und Nozomis Aufmerksamkeit auf diesen Mann lenkte. Auch wenn sein Anzug sauber und sein Gesicht gefasst wirkte, so verriet sein Haar doch, dass er etwas Schlimmes erlebt hatte, nachdem er das Haus verlassen hatte. „Was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragte der Besitzer verblüfft, dem das ebenfalls aufgefallen war. „Ich wurde von irgendeinem verwirrten Mann angefallen“, erklärte er mit überraschend gefasster Stimme. „Ich wollte auch nur, äh, Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial, bitte.“ Er griff mit der linken Hand in seine Tasche, um eine Geldbörse hervorzuholen und in diesem Moment bemerkte Nozomu, dass Blut von der rechten Hand auf den Boden tropfte, der Arm hing leblos am Körper herab, als gehörte er eigentlich nicht mehr dazu. Er hoffte nur, dass Nozomi es nicht bemerken würde, denn sonst- „Oh nein!“ Zu spät... Sie ließ ihre Schultasche fallen und huschte zu dem Mann hinüber, um nach der verletzten Hand zu greifen. „Sie sind ja verletzt!“ Der Besitzer, der gerade dabei gewesen war, Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel in das Kassensystem einzugeben, hielt sofort inne, als er das ebenfalls bemerkte. Der Verletzte blickte verwirrt erst auf Nozomi und dann auf seine Hand, so als ob er sie das erste Mal sehen würde. Doch dann nickte er langsam. „Ja, der Kerl, der mich angriff, hat mich gebissen.“ Der Besitzer legte die Sachen wieder zurück und holte stattdessen einen Erste-Hilfe-Kasten hervor. „In diesem Fall ist das Verarzten natürlich gratis.“ Ehe der Verletzte mit seiner gesunden Hand danach greifen konnte, übernahm Nozomi die Aufgabe, die Wunde erst mit Desinfektionsmittel zu besprühen und sie dann zu verbinden, was bei ihr fast schon fachgemäß aussah. Für Nozomu kam das nicht überraschend, immerhin hatte sie sich vor einiger Zeit auch immer um seine Verletzungen gekümmert, inzwischen erlitt er solche allerdings nicht mehr. „Der Kerl wirkte irgendwie krank“, sprach der Verletzte weiter, fast schon erleichtert, dass er endlich seine Gedanken mit jemandem teilen konnte, der bereit war ihm zuzuhören. „Ich glaube, ich sollte auch noch ins Krankenhaus oder...“ Ein plötzlicher, heftiger Hustenanfall, der seinen ganzen Körper schüttelte, unterbrach ihn. Der Mann, der eben so gesund gewirkt hatte, wurde plötzlich und überraschend schnell blass. Ein eisiger Schauer lief Nozomus Rücken hinab, er wollte Nozomi zuzischen, dass sie sich von diesem Mann fernhalten sollte, damit sie sich nichts einfing, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der blütenweiße Verband, der gerade eben erst angelegt worden war, färbte sich rot, während der Hustenanfall anhielt. Nozomi wich erschrocken zurück, als ein Schwall von Blut plötzlich aus dem Mund des Mannes schoss. Nozomu hörte, wie jemand „Was zum Teufel?“ sagte und es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass es seine eigene Stimme war, die diese Worte ausgesprochen hatte. Zetsu stand immer noch vor dem Kühlregal, starrte aber genauso irritiert und fassungslos auf den Mann wie auch die anderen Anwesenden. Plötzlich stürzte er zu Boden, wobei ein weiterer Blutschwall aus seinem Mund kam als hätte er sich eben die Zunge abgebissen – und in diesem Moment schien der Zauber von zuvor zu brechen. „Rufen Sie einen Krankenwagen!“, rief Nozomi dem Besitzer zu und kniete sich neben den Gefallenen, um sicherzustellen, dass es ihm gutging. Wieder wollte Nozomu ihr sagen, dass sie von diesem Mann weggehen sollte, aber er brachte nur ein Krächzen zustande. Wie aus weiter Ferne bekam er mit, dass der Besitzer nach einem Telefon griff, die Nummer wählte und wartete. Es dauerte eine verblüffend lange Zeit, wie Nozomu fand, bis er schließlich wieder auflegte, das Gesicht geradezu verzweifelt. „Ich komme nicht durch! Die Leitung ist überlastet!“ Nozomi fluchte nicht – das tat sie nie – aber sie stieß ein lautes Seufzen aus und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verletzten, dessen Brustkorb sich inzwischen zu bewegen aufgehört hatte, die Wangen des Mannes waren eingefallen, er sah doppelt so alt aus wie zuvor. Aber vor allem war er eindeutig tot, zumindest von Nozomus Standpunkt aus gesehen. „Oh nein!“, rief Nozomi aus. „Nein, nein, nein!“ In diesem Moment schien sie zu vergessen, dass sie sich in Erste-Hilfe-Maßnahmen verstand und Nozomu war im Nachhinein froh darum, da er gar nicht wissen wollte, was sonst noch geschehen wäre, wenn sie gar versucht hätte, ihn zu beatmen. Da ihr offenbar nichts anderes einfiel, rüttelte sie ein wenig an dem Mann und hörte erst wieder damit auf, als er erneut seine Augen öffnete, worauf sie erleichtert aufatmete. Alle Haare auf Nozomus Körper stellten sich auf, als er die blind erscheinenden Augen sah, über denen ein milchiger, weißer Film lag, der sogar das Schwarz der Pupille verblassen ließ. Er hatte das schon einmal gesehen, nein, sogar sehr oft, aber er sträubte sich, das zu akzeptieren, was die leise Stimme in seinem Kopf ihm zuflüsterte, denn der lautere, vernünftige Teil sagte ihm, dass das alles gar nicht sein konnte. Der Mann öffnete seinen Mund und ein erschreckend unmenschlicher Laut ertönte daraus, ein Schrei, der aus voller Kehle und doch ohne jede Seele ausgestoßen wurde. Erschrocken wich Nozomi zurück. Da sie aber noch kniete, fiel sie auf ihren Hintern und blieb dann starr vor Schreck sitzen, den Blick aus ihren geweiteten Augen auf den Untoten gerichtet, der sich mit ungelenken Bewegungen aufzurichten begann. Nozomu zitterte, seine Vernunft, die plötzlich kleinlaut geworden war, sagte immer noch, dass das gar nicht sein konnte, aber etwas anderes schien ihn geradewegs dazu zu zwingen, den Mann anzustarren, weil er darin das beste Beweisstück hatte, dass es wirklich geschah und es sich nicht nur um einen Film oder ein Videospiel handelte. Als der Mann endlich wieder auf den Beinen stand, geschah erst einmal gar nichts. Er stand einfach nur da, den Oberkörper leicht vornübergebeugt als hätte er vergessen, dass er die Wirbelsäule durchdrücken konnte, die Arme hingen schlaff und nutzlos herab. Speichel floss aus seinem leicht geöffneten Mund und tropfte auf seinen einstmals sauberen Anzug. Nozomi konnte offenbar nicht mehr an sich halten. Sie stieß einen spitzen, erschrockenen Schrei aus, der die Aufmerksamkeit des Mannes auf sie lenkte. Er hob die steifen Arme, um nach ihr zu greifen, sie starrte ihn nur an, wie ein Kaninchen in den sich nähernden Scheinwerfer starrte, der es so blendete. Später würde Nozomu sich daran erinnern, dass er ebenfalls nichts getan hatte, aber in diesem Moment konnte er nur daran denken, wie dumm es von Nozomi war, einfach nur herumzusitzen und die Gefahrenquelle anzustarren. Glücklicherweise war nicht jeder von ihnen derart untätig, ein metallisches Klicken unterbrach die eingetretene Stille und darauf folgte ein ohrenbetäubender Knall, der viel zu laut erschien. Etwas traf mit voller Wucht auf den Mann, der davon zu Boden gerissen wurde. Er zuckte noch einmal – dann lag er still da. Dieses Mal, da war sich Nozomu vollkommen sicher, würde er sich nicht mehr bewegen, immerhin fehlte ihm nun die Hälfte seines Schädels. Nozomu wollte den Kopf abwenden, aber er schaffte es einfach und nahm so mehr von diesem grausigen Anblick in sich auf, als er eigentlich wollte. „Teufel auch!“, stieß der Besitzer aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Munition so wirkt!“ Obwohl er genauso erschrocken schien wie Nozomu, kam dieser nicht umhin, eine gewisse morbide Faszination in seinen Worten zu vernehmen. Dass er das so klar erkennen konnte, machte sogar ihm Sorgen, er war überzeugt, unter Schock zu stehen. Erst als ein schrilles Kreischen durch den Laden hallte, konnte er sich von dem Anblick losreißen, er sah zu Nozomi hinüber, die sich die Hände auf die Ohren presste, weiterhin auf den Mann starrte und dabei kreischte als würde sie in Flammen stehen. Er kniete sich hastig vor sie und ergriff ihre Oberarme. Damit nahm er ihr nicht nur den Blick auf den Toten, er gab ihr gleichzeitig die Gewissheit, dass er bei ihr war. „Nozomi! Nozomi, es ist schon gut, alles ist gut.“ Das Kreischen ebbte langsam ab und ging in ein leises Wimmern über. Vorsichtig schloss er sie in seine Arme, damit sie sich wieder beruhigen würde und in diesem Moment glaubte er wirklich noch, dass alles gut werden würde – bis er Zetsus Stimme hörte: „He, machen Sie mal den Fernseher lauter?“ Es dauerte einen kurzen Moment, dann aber reagierte der Besitzer tatsächlich und erhöhte die Lautstärke. Nozomu konnte panische Schreie und Schüsse hören. Als die aufgeregte Stimme der Reporterin von zuvor erklang, wusste er, dass nichts mehr gut werden würde: „Die Toten laufen! Die Toten laufen!“ 1. [Awakening of the Dead – Act 2]: Ward of the Dead ---------------------------------------------------- Kakeru hasste die Krankenstation der Kouryoukan Akademie. Wenngleich das vielleicht zu speziell ausgedrückt war, denn eigentlich konnte er weder Krankenstationen noch Krankenhäuser oder sonstige Einrichtungen ausstehen, in denen Kranke untergebracht wurden. Er verband keinerlei gute Erinnerungen mit ihnen und deswegen war er froh, dass er nicht derjenige war, der auf dem weiß bezogenen Bett auf eine Untersuchung wartete – sondern Yuka. Sie wirkte schon den ganzen Morgen ungewöhnlich blass, was ihr zierliches Äußeres nur unterstrich und leider gar nicht mit ihrem kinnlangen braunen Haar und ihren blauen Augen harmonieren wollte. Kakeru hatte quasi nur darauf gewartet, dass sie zusammenbrechen würde – und das war nicht lange nach Beginn des Unterrichts auch geschehen, weswegen sie nun hier waren und auf die Schulärztin warteten, die sich wieder einmal irgendwo anders herumtrieb. Sie schwiegen, allerdings nicht, weil es zwischen ihnen nichts zu sagen gab, sondern aus Rücksicht auf den anderen Schüler, der bereits in einem der Betten gelegen hatte, als sie hereingekommen waren. Kakeru hatte versucht, einen genaueren Blick auf ihn zu werfen, aber er lag vollkommen ruhig auf der Seite, die Decke bis an die Nasenspitze hochgezogen. Die Blicke, die Yuka immer wieder zu ihm hinüberwarf, verrieten, dass sie um den Zustand des Unbekannten besorgt war. Um die Wartezeit zu überbrücken, ging Kakeru ans Fenster, um hinauszusehen, er strich das blaue Haar aus der Stirn und kam dabei mit der Hand auf die Augenklappe, die sein rechtes Auge verdeckte, was zu einem Schaudern seinerseits führte. Hastig konzentrierte er sich lieber wieder auf das, was draußen zu sehen war. Da der Unterricht gerade im vollen Gange war, liefen keine Schüler über den Hof, dafür aber ein Mann, den er auf diese Entfernung nicht erkennen konnte. Es schien ein Lehrer – oder jedenfalls ein Erwachsener – zu sein, sein schwankender Gang ließ darauf schließen, dass es ihm entweder nicht gut ging – oder er einfach nur hoffnungslos betrunken war. Da er das einzig Interessante dort unten war, blieb Kakerus Blick auf ihn gerichtet. Er wartete darauf, dass jemand auf ihn aufmerksam wurde und sich entweder um ihn kümmern oder ihn des Schulgeländes verweisen würde. Ein leises Rascheln verriet, dass der Unbekannte sich ein wenig bewegte, möglicherweise schlief er also doch nicht so tief, wie Kakeru angenommen hatte. Es war die Gelegenheit, um nachzusehen, ob er diesen Schüler kannte, aber sein Blick blieb auf den Hof gerichtet, wo nun endlich Bewegung in die anderen Erwachsenen gekommen war. Der Direktor, selbst auf diese Entfernung klar durch seinen weißen Haarkranz erkennbar, lief auf den Schwankenden zu. Einige Schritte hinter ihm, folgte der Hausmeister in seinem üblichen grauen Overall, er hielt einen Rechen in seiner Hand, als würde er den vermeintlichen Eindringling – Kakeru glaubte nicht mehr, dass es wirklich ein Mitglied des Lehrkörpers war – damit am Liebsten vom Gelände scheuchen. Und viele Schritte später, fast so als wäre sie nur zufällig da, folgte auch die Schulärztin. Ihr weißer Kittel leuchtete geradezu im Sonnenlicht, lediglich ihr hochgestecktes schwarzes Haar schaffte es, dass man sie nicht nur als verwaschenen Fleck wahrnahm. In einem Moment der Anspannung, beugte Kakeru sich ein wenig weiter vor, so dass seine Stirn auf der kühlen Glasscheibe auflag, die ihm verriet, dass alles, was er beobachtete, wirklich geschah. Der Direktor schien auf den Schwankenden einzusprechen, vermutlich bat er ihn gerade höflichst, das Gelände zu verlassen, ehe man auf deutlichere Maßnahmen zurückgreifen musste. Offensichtlich interessierte sich dieser Mann aber nicht für Diplomatie. Er hob den Kopf, der Oberkörper schwankte immer noch vor und zurück, Kakeru konnte sich richtig vorstellen, wie er den Direktor verständnislos musterte. „Kakeru?“ Yukas Stimme wurde von dem Rascheln begleitet, das einfach nicht nachlassen wollte, aber er wandte den Blick nach wie vor nicht von der Szene ab. Der Eindringling griff nach den Schultern seines Gegenübers als wollte er verhindern zu stürzen – im nächsten Moment versenkte er bereits seine Zähne in den Hals des Schulleiters. Den Schrei konnte Kakeru selbst durch das geschlossene Fenster und auf diese Entfernung hören. Die Schrecksekunde der beiden Begleiter ging vorüber, der Hausmeister holte mit dem Rechen aus, um den Angreifer zum Rückzug zu zwingen. Getroffen von der stumpfen Seite des Rechen, hob der Mann den Kopf wieder, ohne den Direktor loszulassen. Blut schoss aus der offenen Wunde und bespritzte den Angreifer, der sich nicht von dem Hausmeister beeindrucken ließ. „Kakeru!?“ Yukas Stimme wurde ein wenig eindringlicher, in diesem Moment glaubte er noch, es läge daran, dass sie den Schrei gehört hatte oder seine Anspannung bemerkte. Er wich vom Fenster zurück, strebte bereits in Richtung Telefon, um die Polizei zu rufen, als Yuka noch einmal seinen Namen rief, geradezu panisch diesmal. Er konnte sie nicht länger ignorieren und sah zu ihr hinüber – gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass der Schüler auf dem anderen Bett sich inzwischen aufgerichtet hatte. Seine Haut war derart aschfahl, dass sie bereits grau zu sein schien, die Augen waren mit einem milchig-weißen Film überzogen, Geifer tropfte aus dem geöffneten Mund, ein leises Knurren, das jegliche Menschlichkeit vermissen ließ, erklang daraus. Geistesgegenwärtig griff Kakeru nach einer großen Schere, die auf dem Schreibtisch der Ärztin lag. Nach dem eben beobachteten Angriff war er davon überzeugt, dass auch dieser Unbekannte nichts Gutes im Schilde führte. „Yuka, sei vorsichtig!“ Der Unbekannte wandte sich ihm zu, die Augen, in denen man jede Spur von Leben vergeblich suchte, fokussierten ihn allerdings nicht, sie sahen nur in die ungefähre Richtung aus der seine Stimme erklungen war. Er ist blind?, fuhr es ihm durch den Kopf. Zu seinem Glück hörte Yuka auf seinen Rat, vorsichtig zu sein und sagte nichts mehr, sie rührte sich nicht einmal ein bisschen, obwohl ihr Körper zitterte wie Espenlaub. Mit einem wilden Schrei stürzte sich der Unbekannte auf Kakeru. Ein scharfer Schmerz fuhr ihm durch den Kopf, als er auf dem Boden aufschlug, die Schere fiel ihm aus der Hand und blieb erst wenige Meter entfernt von ihm wieder liegen. Ihm blieb jedoch keine Gelegenheit, auch nur in ihre Richtung zu sehen, denn er versuchte verzweifelt, den wild knurrenden Unbekannten, der auf ihm lag, von seiner Kehle fernzuhalten. Während er seine Arme mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft gegen den Oberkörper des Angreifers stemmte, fielen ihm plötzlich unzählige Filme ein, in denen er ähnliche Situationen erlebt hatte – und in keinem war es gut ausgegangen. Der Unbekannte verfügte über erstaunlich viel Kraft, wilder Wahnsinn stand in seinem Blick, ein Versuch, normal mit ihm zu reden war mit vollkommener Sicherheit vergebliche Mühe. Allerdings machte er sich weniger Sorge um sich selbst, sondern mehr um Yuka, die diesem Kerl schutzlos ausgeliefert wäre, sobald er von ihm getötet worden war. Das durfte er nicht zulassen! „Yuka!“, stieß er hervor. „Lauf weg! Schnell!“ Er konnte den Blick nicht ihr zuwenden, um sicherzustellen, dass sie seinem Ruf auch wirklich folgte, sein Angreifer nutzte inzwischen sein Körpergewicht aus, um doch noch an Kakerus Hals zu kommen und dort ein Stück Fleisch herauszureißen und es erforderte seine ganze Aufmerksamkeit sich diesem zu erwehren. Aber er konnte hören, wie jemand die Schere aufhob, neben ihn trat – und nach einem ekelhaften Knacken, erschlaffte der Angreifer plötzlich und mit der Anspannung des Körpers, verschwand auch die Bedrohung. Kakeru schob ihn hastig von sich herunter und erkannte angewidert, dass jemand ihm die Schere mit aller Macht durch den Hinterkopf gejagt hatte. Er wandte hastig den Blick von diesem ab, ehe er zu würgen beginnen würde, stand auf und sah Yuka an. Ihre Uniform war mit Blut gesprenkelt und verriet, dass sie für diese Tat verantwortlich war, dennoch lächelte sie als befände sie sich auf einem netten Spaziergang. „Kakeru, alles in Ordnung?“ Er überlegte, sie darauf anzusprechen, dass sie gerade einen überaus brutalen Mord begangen hatte, aber dann fiel ihm nicht nur der Mann vom Hof wieder ein, er dachte auch daran, dass die Situation ohne ihr Eingreifen äußerst übel hätte enden können – und solange ihr die Ausmaße ihrer Tat noch nicht bewusst waren, empfand er es als überflüssig, sie mit dem Kopf darauf zu stoßen, vor allem da es Notwehr gewesen war. Deswegen nickte er nur, was ihr Lächeln noch eine Spur herzlicher werden ließ. „Ich bin so froh.“ Ihm war immer noch übel, nicht nur wegen der Todesart, sondern auch wegen der zuvor verspürten Furcht und seinem sicheren Ableben vor den Augen. Die Leiche hatte Yuka offenbar bereits vergessen, denn sie kehrte ohne weitere Umschweife auf ihr Bett zurück, um dort weiterhin auf die Ankunft der Ärztin zu warten. Das erinnerte den immer noch nervösen Kakeru daran, dass er noch einmal nachsehen sollte, wie die Sache auf dem Hof inzwischen aussah. Er machte einen Bogen um den Toten – für einen kurzen Moment fürchtete er tatsächlich, dass der Unbekannte nach seinem Fuß greifen und ihn zum Fallen bringen könnte – und kehrte zum Fenster zurück. Der Direktor lag reglos in einer erstaunlich großen Blutlache auf dem Boden, von dem Angreifer, dem Hausmeister oder der Ärztin war nichts mehr zu sehen, aber eine rote Spur verriet, in welche Richtung zumindest einer von ihnen gegangen sein mochte. Noch während Kakeru dieser mit den Augen zu folgen versuchte, um einen der anderen zu entdecken, bemerkte er eine Regung, die vom Direktor kam. Es waren kraftlose Bewegungen, wie bei eingeschlafenen Gliedmaßen und obwohl die Menge des verlorenen Blutes Kakeru sagte, dass er unmöglich noch leben konnte, so stand er doch plötzlich wieder aufrecht, mit leicht vornübergebeugten Oberkörper. Kakeru blinzelte mehrmals, als könne er das Bild damit vertreiben, doch er stand immer noch da – und lief im nächsten Moment sogar schwankend in irgendeine Richtung davon, seine Bewegungen erinnerten an den Angreifer von zuvor. Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, fuhr Kakeru weg vom Fenster. Dem Leichnam wieder ausweichend – plötzlich erschien ihm seine Furcht von zuvor gar nicht mehr so abwegig –, lief er hastig zu dem schwarzen Telefon, das an der Wand neben der Tür hing. Die Nummer des Notrufs war schnell gewählt, aber was er dann statt eines Ruftons oder einer routinierten Frage nach dem Grund des Anrufes hörte, ließ ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen: „Die Notrufzentrale ist aktuell überlastet. Bitte bewahren Sie Ruhe und bleiben Sie in der Leitung. Sie werden dem nächsten freien Mitarbeiter zugeteilt.“ Die weibliche Stimme, die ihm das mitteilte, klang ruhig und souverän, ein wenig blechern durch die Aufnahme vielleicht, aber nichtsdestotrotz einfach beneidenswert. Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben und nicht einfach wieder aufzulegen und neu zu wählen, in der Hoffnung, dass er vielleicht nur eine schlechte Leitung erwischt hatte. Wenn schon die Notrufzentrale überlastet war, was mochte dann im Rest der Stadt los sein, das noch nicht an ihre Ohren gedrungen war? Yuka bemerkte seine Unruhe offenbar, denn ihre nächste Frage klang tatsächlich besorgt: „Was ist los, Kakeru?“ Ihm wurde bewusst, dass einer von ihnen beiden ruhig bleiben musste, denn in Panik zu geraten brachte niemandem etwas und würde sie nur in Gefahr bringen, wenn die Stadt wirklich gerade im Chaos versank. Daher wollte er ihr sagen, dass es keinen Grund gab, beunruhigt zu sein, aber noch ehe er dazu kam überhaupt den Mund zu öffnen, hörte er aufgeregte Schreie, die durch das ganze Schulgebäude hallten. Was auch immer ihn und den Direktor angegriffen hatte, war nun dabei, die restlichen Schüler heimzusuchen – und er wusste genau, tief in seinem Inneren, dass dies erst der Anfang eines Albtraums war. 1. [Awakening of the Dead – Act 3]: School of the Dead ------------------------------------------------------ Das vorwurfsvolle Schweigen, während der Direktor in der Akte blätterte, beunruhigte Yuuto nicht im Mindesten. Er war lediglich von der Tatsache genervt, dass er nun mit schmerzenden Gliedern, geschwollener Wange und zerzaustem, kohleschwarzem Haar im Büro saß – allein. Dabei war das Geschehene nicht seine Schuld gewesen, aber es war wieder einmal typisch und genau das nervte ihn am meisten an dieser ganzen Sache, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Mit einem Seufzen schloss der Direktor die Akte, legte die Unterarme auf den Tisch und faltete die Hände. Er beugte den massigen Oberkörper ein wenig vor und blinzelte müde hinter seinen Brillengläsern. „Nun, Takamine, hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen.“ „Es war nicht meine Schuld!“ Möglicherweise war es die denkbar schlechteste Verteidigung, aber eine andere kam ihm in diesem Moment nicht in den Sinn, vor allem da es auch wirklich der Wahrheit entsprach. Wenn dieser verwöhnte Bastard ihn provozierte, musste er eben mit einer Reaktion rechnen – und an diesem Tag war es nicht bei einer verbalen geblieben, stattdessen hatte Yuuto zu einer körperlichen Maßnahme gegriffen, bis sie in eine handfeste Prügelei, mitten auf dem Schulgang, verwickelt gewesen waren. Aber immerhin konnte er nun etwas Gutes über seinen Rivalen sagen: Shun Akitsukis Schläge besaßen eine vollkommen ungeahnte Wucht. „Du willst also nicht zugeben, dass du...“ – er tat als müsste er noch einen Blick auf die Akte werfen, obwohl diese geschlossen war, dabei wusste Yuuto, dass er diesen bestimmten Namen sicher nicht einfach vergessen würde – „... Akitsuki angegriffen hast?“ „Das bestreite ich nicht“, erwiderte Yuuto. „Das habe ich getan. Aber nur weil er mich, wie jeden Tag, provoziert hat! Ich lasse mir das doch nicht ewig gefallen!“ Der Direktor räusperte sich. „Dazu kann ich nichts sagen, davon ist nichts vermerkt.“ Darüber wunderte sich Yuuto kein bisschen, immerhin waren die Akitsukis vermögend genug, um ihren Sohn aus allen Angelegenheiten, die eine Gefährdung seines Status bedeuten könnten, herauszuhalten, das war mit Sicherheit auch der Grund, warum nur er hier saß, Shun allerdings nicht. Mit toten Eltern und ebenso toten Adoptiveltern, war es eben nicht leicht, sich aus solchen Dingen freizukaufen, wenn nicht sogar vollkommen unmöglich. „Nun, Takamine, was denkst du, wie es nun weitergehen sollte?“ Yuuto presste die Lippen aufeinander, denn er wusste, egal was er sagen würde, es war zwecklos, also warum sollte er es überhaupt erst versuchen? Der Direktor schüttelte seufzend den Kopf und setzte gerade an, etwas zu sagen, als das laute Knacken der Schulsprechanlage ihm das Wort abschnitt. Sichtlich irritiert hob er den Blick zu einem Lautsprecher, der in einer Ecke des Zimmers an der Decke angebracht war. Normalerweise, so wusste Yuuto, musste jede Ansage vom Direktor genehmigt werden und wurde dann mit einer besonderen Tonfolge eingeleitet, aber bei dieser war nichts von beidem der Fall, auch wenn er das mit der Genehmigung lediglich aufgrund der Reaktion seines Gegenübers annahm. „Dies ist eine Notfalldurchsage!“ Die Stimme eines Lehrers drang blechern aus dem Lautsprecher, aber die Furcht, die er verzweifelt zu kontrollieren versuchte, war dennoch deutlich hörbar. „Soeben kam es auf dem Schulgelände zu einem tätlichen Angriff auf einen Schüler! Der Täter hält sich vermutlich immer noch im Gebäude auf, weswegen Schüler angeraten sind, ihre Klassenzimmer nicht zu-“ Die Stimme brach urplötzlich ab, als ein lautes Krachen im Hintergrund hörbar wurde, gefolgt von einigen verzweifelten Schreien, die Yuuto bislang lediglich aus Filmen kannte, hier nun aber anders, echter und damit gleichzeitig unwirklich klangen, weil er sie einen Tick anders gewohnt war. Es folgte ein lautes Krachen, vermutlich als das Mikrofon während des Kampfes zu Boden gerissen wurde, dann herrschte Stille. Unwillkürlich hielt Yuuto den Atem an, wartete darauf, dass die Durchsage weiterging und ihnen allen lachend mitgeteilt wurde, dass es nur ein Scherz gewesen war. Doch je mehr Zeit verstrich, desto klarer wurde ihm, dass es sich hierbei um die grausame Realität handelte, dass irgendein Verrückter in die Schule eingedrungen war und nun Leute umbrachte. War es vielleicht sogar... ein Amoklauf? Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab, als er sich vorstellte, wie dieser Jemand in sein Klassenzimmer eindrang und seine Freunde tötete – aber noch viel schlimmer, geradezu paralysierend, war der Gedanke, dass es genausogut seine Adoptivschwester Kaori treffen könnte. Er bemerkte erst, wie lange er in diese grausigen Vorstellungen versunken gewesen war, als der Direktor leise seufzend an ihm in Richtung Tür vorbeilief. Yuuto sprang sofort von seinem Stuhl auf. „Wohin gehen Sie?“ „Na wohin wohl?“, erwiderte der Direktor schulterzuckend. „Ich werde in den Senderaum gehen und nachsehen, was vorgefallen ist. Du wartest hier.“ Es gab keinen Grund für Yuuto, ihn davon abhalten zu wollen, immerhin wäre das seine Gelegenheit, aus dem Büro zu verschwinden und nach seiner Schwester und seinen Freunden zu suchen, in der Hoffnung, dass der Verrückte sie noch nicht erwischt hatte. Da er nichts mehr sagte, verließ der Direktor das Büro und ließ ihn allein zurück. In Gedanken zählte er bis zehn, ehe er den Brieföffner, der auf dem Tisch lag, an sich nahm. Es war nur eine reichlich stumpfe, spitz zulaufende Klinge, die ihm wohl kaum viel helfen würde, aber im Notfall könnte sie ihm doch nützlich werden – immerhin gab es genug Krimis, in denen Menschen mit genau solchen Gegenständen umgebracht wurden. Derartig bewaffnet, verließ er ebenfalls das Büro, um das Klassenzimmer seiner kleinen Adoptivschwester aufzusuchen. Doch schon nach wenigen Schritten musste er wieder innehalten. Vor ihm, mitten auf dem Gang, lag der reglose Direktor. Eine knieende Gestalt hatte sich über ihn gebeugt und – Yuuto musste mehrmals hinsehen, um es wirklich glauben zu können – versuchte an ihm zu nagen, was ihm wohl nicht wirklich gelang, so wie es aussah und wie das verzweifelte Stöhnen der Gestalt verriet. Yuuto wollte allerdings nicht wirklich herausfinden, was der Grund für sein Scheitern war, sein Bestreben war es eher, fortzukommen, so schnell wie möglich, ehe die Person auf ihn aufmerksam werden würde. Aber noch bevor er das schaffen konnte erklang ein lauter Schrei, dem sich bald schon mehrere anschlossen, ehe das Chaos loszubrechen schien. Schüler stürmten aus ihren Klassenzimmern auf den Gang, um aus dem Gebäude zu fliehen, zumindest hoffte Yuuto, dass sie derart umsichtig waren, selbst in ihrer Panik, die durch das ganze Gebäude schallte. Er glaubte sogar, leichte Erschütterungen, verursacht von unzähligen Füßen, wahrnehmen zu können. Die Gestalt hielt plötzlich inne und richtete den Oberkörper auf. In diesem Moment war es Yuuto möglich, das aschfahle Gesicht der Frau zu erkennen, es war die Sekretärin des Direktors... oder zumindest war sie das einmal gewesen, als sie noch gelebt hatte, was sie jetzt ganz offensichtlich nicht mehr tat, dazu musste er nicht einmal ihren Puls fühlen. Einen Augenblick lang kniete sie einfach neben dem toten Direktor und tat nichts außer zu lauschen, wie es schien. Yuuto konnte sie nur entgeistert anstarren, wartend und hoffend, dass sie ihn nicht bemerken würde. Er versuchte sich nicht einmal in die Illusion zu fliehen, dass dies nur ein Traum war, dafür war das schmerzhafte Ziehen in seinem Inneren, das Unverständnis, das hinter seiner Stirn pochte und vor allem jedes einzelne Geräusch viel zu real. Außerdem waren seine Gedanken klar, anders als sie in einem Traum sein dürften und... Ihm fielen keine weiteren Gründe ein, die dagegen sprachen, dass dies ein Traum war, obwohl er sich genau das eigentlich wünschen sollte, wie er wusste. Plötzlich richtete sich die Sekretärin mit einem Jaulen auf und schlurfte in die Richtung davon, aus der die lautesten Geräusche kamen, was glücklicherweise nicht in seine war. Er hoffte nur, dass die anderen Schüler schlau genug waren, ihr aus dem Weg zu gehen. Für einen Moment blieb er noch stehen und wartete, versuchte zu verarbeiten, was er gerade gesehen hatte und eine vernünftige Erklärung zu finden, wenn sein Gehirn ihm schon die Wahrscheinlichkeit eines Traums verweigerte. Hängt es mit dieser seltsamen Krankheit zusammen?, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht greift sie ja das Gehirn der Erkrankten an? Doch es war nicht der passende Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Noch immer hörte er das entsetzte Kreischen der anderen Schüler, die hastigen Schritte und er fragte sich, warum sie so lange brauchten, um zu entkommen – und warum er immer noch hier stand. Yuuto fuhr herum und rannte den Gang hinunter, der trotz der Schülermassen von kurz zuvor nun wieder leer war, was nur dafür sprach, wie panisch sie davonrannten, um fortzukommen. Als er einen Blick in eines der Klassenzimmer warf, hielt er erschrocken wieder inne. Auf einem der Tische lag ein Schüler mit blutdurchtränkter Kleidung, die Bauchdecke war aufgerissen – und über ihn lehnten sich zwei andere Schüler und ein Lehrer, die seine Innereien zu fressen schienen. Das ist der Grund, warum sie wegrennen! Diese Dinger sind schon längst überall! Aber obwohl er wusste, dass es unter diesen Umständen hoffnungslos und auch obwohl er sicher sein konnte, dass für diesen Schüler jede Hilfe zu spät kam, konnte er nicht einfach nur zusehen oder sogar weitergehen als hätte er nichts gesehen. „He! Das reicht! Lasst ihn in Ruhe!“ Die drei Wesen – er konnte sie einfach nicht mehr als Menschen bezeichnen, nicht einmal in Gedanken – hielten in ihrer Tätigkeit inne und hoben gleichzeitig die Köpfe, um ihn anzusehen, aber obwohl sie in seine Richtung blickten, bekam er den Eindruck, dass ihre milchigen Augen ihn nicht fixieren konnten, denn jeder von ihnen schien ein wenig an ihm vorbeizuschielen. Das weckte einen gewissen Verdacht in ihm, dem er sofort nachzugehen versuchte. So lautlos wie möglich griff er nach einem Schuh, den einer der Flüchtenden verloren haben musste und warf ihn ins Klassenzimmer hinein. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden – und sofort gingen die Blicke aller Wesen in genau diese Richtung. Sie sind blind! Das erklärte immerhin auch, weswegen die Sekretärin ihn nicht bemerkt hatte, obwohl er nur wenige Schritte neben ihr gestanden hatte. Sie achteten nur auf die Geräusche, die ihre Beute verursachten und orteten sie anhand dieser – auch wenn ein nur nach einer ersten Beobachtung vielleicht doch zu viel gesagt war. Aber es war besser, wenn er sich erst einmal auf diese Information verließ, bis er eine neue bekam. Was er damit allerdings nun anfangen sollte, wusste er auch nicht so recht. Sie mochten vielleicht keine Menschen mehr sein, keine richtigen jedenfalls, aber sie sahen noch aus wie solche und vor gar nicht allzu langer Zeit waren sie auch noch welche gewesen – also konnte er sie nicht einfach töten. Noch dazu da sie zu dritt waren und er allein und ohne jede vernünftige Waffe. Egal wie blind oder langsam sie waren, er war ganz klar im Nachteil. Also tat er das einzige, was ihm in dieser Situation logisch erschien: Er rannte davon. Es hatte keinen Zweck, sein Leben zu riskieren, besonders wenn es nur einen Ort gab, zu dem er nun wollte, eine Person, die er suchen und retten musste. Hinter sich hörte er ein klagendes Stöhnen und schlurfende Geräusche, als diese Wesen ihm zu folgen versuchten. Er war sich bewusst, wie gefährlich es war, sie zu Kaoris Klassenzimmer zu führen, aber er musste auf dem schnellsten Weg dorthin, bevor ihr etwas geschah. Während er lief, kam er immer wieder an einzelnen Schuhen, Blutlachen oder sogar ganzen Körperteilen vorbei und all diese Dinge malten ihm ein grausiges Bild davon, wie schlimm die Lage in Wirklichkeit gerade war und dass es mehr als ein Dutzend dieser Angreifer geben musste, wenn sie in derart kurzer Zeit ein solches Massaker veranstalten konnten. Immerhin fand er aber keine weiteren Wesen, offenbar waren sie alle dem Kreischen der Schüler gefolgt. Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigte ihn darin – aber er zeigte ihm auch, dass die anderen Schüler weniger Skrupel als er kannten, denn der ein oder andere befand sich tatsächlich in einem erbitterten Kampf mit diesen Wesen. Vielleicht sehen sie aber nur die Gelegenheit, sich an jenen zu rächen, die sie nicht mochten... Würde Shun sich in ein solches Wesen verwandeln, er wüsste nicht, ob er dann nicht ebenfalls mit geradezu bestialischer Freude den Schädel seines Feindes einschlagen würde. Doch er verscheuchte den Gedanken erst einmal, als er endlich das Klassenzimmer seiner Schwester erreichte – nur um festzustellen, dass es leer war. Die Enttäuschung in seinem Inneren ließ einen Kloß in seinem Hals entstehen, obwohl er eigentlich bereits gewusst hatte, dass sie nicht hier sein würde. Sie war sicherlich mit den anderen geflohen und er hoffte, dass sie schnell und geschickt genug war, um zu überleben. Immerhin war dieses Klassenzimmer sauber, es gab kein Blut, keine verlorenen Gegenstände... vermutlich hatte es in Kaoris Klasse keinen Angreifer gegeben und ihre Flucht war daher wesentlich geordneter abgelaufen. Er drehte sich um, damit er wieder gehen und sich den anderen Schülern auf dem Schulhof anschließen könnte, da bemerkte er eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Gerade wollte er sich in Kampfstellung begeben, als ihm bereits bewusst wurde, dass diejenigen, die da auf ihn zukamen, keine Angreifer waren, sondern Personen, die er nur zu gut kannte. „Yuu!“ Freudestrahlend warf das Mädchen mit dem kurzen braunen Haar sich ihm um den Hals. „Du lebst, ich bin so froh, du Idiot!“ Ein wenig ungelenk erwiderte er die Umarmung und da fiel ihm erstmals auf, wie verkrampft er den Brieföffner bislang in der Hand gehalten hatte, so dass er den Griff sofort lockerte. „Kyouko“, entfuhr es ihm erleichtert, ehe er den Blick hob und auch den seltsam amüsiert schmunzelnden blonden Schüler an ihrer Seite musterte. „Kouin... ihr seid am Leben, was für ein Glück.“ Kyouko Misaki und Kouin Midori waren schon seit Jahren seine besten Freunde und er schämte sich ein wenig dafür, dass er in dieser Situation bislang kaum an die beiden gedacht hatte. Aber nun da sie wieder beide vor ihm standen, fühlte er sich wesentlich erleichterter als zuvor, ein schweres Gewicht schien von seiner Brust genommen worden zu sein – und wie so oft hatte er das Gefühl, mit den beiden alles erreichen zu können, auch das Überleben in dieser Apokalypse, die hoffentlich keine war. Die Kleidung der beiden war blutig, aber es war derart wenig, dass es von keiner eigenen Verletzung zu stammen schien, wie üblich trug Kyouko einen weißen Fächer bei sich, an dem an diesem Tag Haare und auch etwas Blut klebte. Der Baseballschläger in Kouins Hand wiederum, sah schon eher so aus als hätte jemand ihn benutzt, um damit mehrmals auf jemanden einzuschlagen. Yuuto wollte gar nicht wissen, was sie durchgemacht hatten. „Wisst ihr, wo Kaori ist?“, fragte er hastig, als Kyouko sich von ihm gelöst hatte. Beide nickten, wirkten dabei aber auch ein wenig zerknirscht. „Es wird dir allerdings gar nicht gefallen.“ Yuuto fürchtete bereits, dass sie ein Opfer oder gar selbst eines dieser Wesen geworden war, doch als die beiden fortfuhren, war er sich gar nicht mehr so sicher, ob das nicht vielleicht doch die bessere Alternative gewesen wäre: „Shun ist mit ihr geflohen, die beiden sind schon vom Schulgelände weg und vermutlich auf dem Weg zu seinem Haus.“ Er runzelte missbilligend die Stirn, aber ihm blieb keine Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern, denn Kouin wurde bereits ungewöhnlich ernst: „Aber nun mal etwas anderes, Yuuto.“ Kouin hob den Baseballschläger und deutete damit direkt auf seinen Freund, der ihn mit angehaltenem Atem anstarrte und hoffte, dass er gerade nur einen schlechten Witz zu machen versuchte. Doch Kouin blieb weiterhin ernst und seine Stimme war eiskalt, als er fortfuhr: „Wurdest du gebissen?“ 2. [Escaping the Dead – Act 1]: Deceiving Hideaway -------------------------------------------------- Unruhig blickte Nozomu aus dem Fenster auf die Straße hinab. Es war etwas mehr als eine Stunde her, dass sie sich aus dem Laden im Erdgeschoss in den ersten Stock des Gebäudes zurückgezogen hatten. Es war ein Aufenthaltsraum, bestückt mit einem einfachen Tisch, mehreren grauen Klappstühlen, aber auch einem Fernseher, einem Telefon, einem Herd, einer Spüle, einem Kühlschrank und einem Vorratsschrank. Zetsu hatte vorhin in beides hineingesehen und dabei festgestellt, dass sie – sofern sie zu viert bleiben würden – Vorräte für ein paar Tage besaßen. Nozomu hoffte allerdings, dass sie nicht so lange bleiben müssten, auch wenn diese Hoffnung mit jeder verstreichenden Minute weiter schwand. Zu Beginn waren auf der Straße noch Menschen umhergelaufen, Autos waren gefahren, abgesehen von Kleinigkeiten hatte alles normal gewirkt. Doch inzwischen sah er nur noch selten Menschen, die meisten Wesen, die dort herumschlurften waren einmal menschlich gewesen, aber nun waren sie... untot. Zombies, wie Zetsu und der Ladenbesitzer – Sudou-san – sie genannt hatte, auch wenn Nozomu dieses Wort nicht verwenden wollte. Das würde bedeuten, das normale Leben würde enden und sie befänden sich direkt in einem Horrorfilm für den er nie einen Vertrag unterschrieben hatte. Nein, er wollte das Wort vermeiden, so lange es ging. Aber er konnte nicht verleugnen, dass diese Wesen ihm Furcht einjagten, obwohl sie nicht sonderlich schnell zu sein schienen und sich nur an Geräuschen orientierten. Aber die Beharrlichkeit, mit der sie sich vorwärts bewegten und das leise, seelenlose Stöhnen, das sie dabei ausstießen, jagten ihm etliche Schauer über den Rücken und ließen ihn immer wieder wünschen, nach der Fernbedienung greifen und einfach umschalten zu können. Während er am Fenster stand, saßen Zetsu und Sudou auf zwei Klappstühlen, die Köpfe in den Nacken gelegt, um zu dem an der Decke angebrachten Fernseher hinaufzusehen. Jeder einzelne Sender zeigte den aktuellen Stand der Dinge in der Stadt – offenbar empfing das Gebäude nur lokale Sender – und verriet, an welchem Ort die meisten Wesen gesichtet waren, um die Zuschauer zu warnen, sich von diesen fernzuhalten. Irgendwo hatten die Reporter bereits Experten gefunden und ins Studio eingeladen, um sich dort mit ihnen zu unterhalten, aber viel Wissenswertes gaben sie nicht von sich. Nozomu war sogar davon überzeugt, dass einer dieser Experten lediglich jede Menge Zombiefilme angesehen hatte, während ein anderer wohl nur ein Priester oder sonst etwas war und deswegen immer wieder die Bibel, die Hölle und irgendwelche Sünden in seine Antworten einflechtete. Zwischendurch waren Regierungsvertreter zu sehen, die versuchten, das alles herunterzuspielen und nach logischen Ausflüchten suchten, aber das hinderte in dieser Situation keinen Sender daran, seine Nachrichten weiter zu zeigen. Während Sudou das alles interessiert betrachtete, war Zetsu deutlich anzumerken, dass er nur etwas benötigte, um sich von seinen Gedanken abzulenken. Obwohl er zum Fernseher hinaufsah, betrachtete er einen Punkt direkt daneben, hinter seiner Stirn arbeitete es und Nozomu konnte sich denken, worum es ging. Es waren dieselben Gedanken, die auch Nozomi sicherlich durch den Kopf gingen. Sie saß abseits von den anderen, den Rücken zum Fernseher und auch zum Fenster gewandt und starrte auf das Handy, das sie in der Hand hielt. Nozomu warf einen Blick über ihre Schulter und bemerkte, dass ihr Display verriet, dass auch das Handynetz überlastet war und es ihr unmöglich machte, ihre Eltern zu erreichen. Andersherum selbstredend genauso. Als sie bemerkte, dass Nozomu hinter ihr stand, hob sie den Blick und sah ihn aus herzerweichend traurigen Augen an. „Nozomu-chan... denkst du, meinen Eltern geht es gut?“ „Natürlich“, versicherte er ihr hastig, auch wenn er sich da gar nicht so sicher war. „Sie sind bestimmt in Sicherheit und machen sich furchtbare Sorgen um dich. Und nicht mehr lange, dann seid ihr wieder zusammen.“ In diesem Moment hoffte und glaubte Nozomu noch, dass die Polizei und das Militär eingreifen und die Zivilisten in Sicherheit bringen würden, auch wenn ihm bewusst war, dass es sich dabei um keine leichte Angelegenheit handelte. In den Nachrichten war jedenfalls noch nichts von irgendwelchen derartigen Aktionen zu hören. Nozomi lächelte nach seinen Worten ein wenig zuversichtlicher, aber ihre traurigen Augen veränderten sich kein bisschen, was ihm einen leichten Stich in die Brust versetzte. „Denkst du, Satsuki-senpai ist auch in Ordnung?“, fragte sie leise. Nozomu rief sich die energische Schulsprecherin mit dem flammend roten Haar und den türkisfarbenen Augen ins Gedächtnis und nickte dann lächelnd. Doch ehe er etwas sagen konnte, ergriff Zetsu das Wort: „Die Zombies haben vermutlich mehr Angst vor ihr, als alle anderen vor denen. Also ich würde es jedenfalls.“ Das beruhigte sie allerdings nicht sonderlich, weswegen Zetsu überraschend sanft lächelte. „Nein, wirklich. Senpai wird schon durchkommen. Außerdem weißt du ja gar nicht, wie schlimm es an unserer Schule aussieht.“ Von diesem Raum aus konnten sie nicht zur Monobe Akademie sehen, weswegen keiner von ihnen wusste, wie es dort aussehen mochte. Nozomu hoffte, dass die Schule annähernd sicher war. Sie war umgeben von hohen Mauern und besaß Vorräte für mehrere Tage, sogar Wochen, wenn es sein musste. Solange kein Infizierter auf dem Gelände gewesen war... „Mit den anderen ist sicherlich alles in Ordnung“, sagte Nozomu. „Bestimmt sind wir die einzigen Schüler, die in Gefahr sind.“ Er lächelte ein wenig, um sie von ihren Sorgen abzubringen, aber obwohl sie das Lächeln erwiderte, war sie weiterhin unruhig, aber das war verständlich. Er fühlte sich ebenfalls rastlos und zumindest Zetsu machte auf ihn denselben Eindruck, während Sudou wirkte, als ob er sich regelmäßig in derartigen Situationen befinden würde. Etwas, worum er ihn nicht beneidete. Mit einem tiefen Seufzen erhob Zetsu sich von seinem Stuhl und trat an das Telefon, das an der Wand neben der Tür angebracht war. Einst war es wohl mal weiß gewesen, aber inzwischen erinnerte die Farbe viel mehr an beige, es war wohl schon sehr lange an diesem Ort. Zetsu störte sich nicht daran und nahm den Hörer ab. Prüfend hielt er sich diesen ans Ohr und betätigte dann einige der Tasten, was Nozomu sagte, dass es funktionierte, denn er erkannte schnell die Nummer, die er wählte. Kaum hatte er die letzte Ziffer eingegeben, hielt er sich den Hörer erneut ans Ohr und wartete. Unwillkürlich stellte Nozomu fest, dass er den Atem angehalten hatte, genau wie Nozomi, die Zetsu anstarrte und darauf wartete, was geschehen würde. Es dauerte nicht lange, bis er plötzlich Luft holte und dann zu sprechen begann: „Nagamine-san, hier ist Akatsuki.“ Er lauschte einen Moment den Worten der anderen Person, während Nozomi sich aufgeregt von ihrem Stuhl erhob und mit raschen Schritten durch den Raum lief. „Ja, sie ist auch hier, Moment.“ Zetsu reichte ihr den Hörer, als sie bei ihm angekommen war, damit sie sich mit ihren Eltern unterhalten könnte, was sie auch sofort tat, während Zetsu sich zu Nozomu stellte und sie aus wenigen Schritten Entfernung beobachtete. „Seit wann kennst du die Nummer der Nagamines auswendig?“, fragte Nozomu mit gerunzelter Stirn. „Eifersüchtig?“, konterte Zetsu lächelnd und zwinkerte ihm zu. „Ich nehme dir Nagamine schon nicht weg.“ Eine typische Reaktion, weswegen er dafür nur ein Augenrollen erntete. „Nun schau nicht so. Ich war es nur leid, dass sie ständig auf ihr Handy gestarrt hat.“ „Machst du dir keine Sorgen?“ Diese Frage ließ Zetsus Lächeln erlöschen. Unangenehm berührt wandte er den Blick ab, antwortete aber dennoch: „Natürlich bin ich besorgt. Ich hoffe, dass meine Mutter und meine Tante in Sicherheit sind und dass dort, wo mein Vater und mein Onkel ist, keine Zombies herumrennen. Aber es nützt nichts, wenn ich deswegen auch alle anderen in Panik versetze.“ Nozomu sah ihn nur schweigend an und versuchte, sich etwas zu überlegen, was seinen Freund aufmuntern könnte, aber bei diesem war es wesentlich schwerer, als bei Nozomi, weswegen er nichts zu sagen wusste. Doch noch ehe ihm etwas einfallen könnte, lächelte Zetsu wieder. „Machst du dir um irgendetwas Sorgen?“ Nozomu runzelte die Stirn, während er die Arme vor der Brust verschränkte. „Natürlich. Um uns, unsere Mitschüler, Sanae-sensei, deine Familie, Nozomis Familie...“ Er hoffte wirklich, dass es den anderen in der Monobe Akademie gut ging, aber viel mehr Personen gab es nicht um die er sich sorgen musste. Seine Eltern waren schon vor mehreren Jahren spurlos in einem Kriegsgebiet verschwunden und seine Sorgen um sie war schon lange vergangen. Er war der Überzeugung, dass sie tot waren und deswegen gab es keinen Grund, nun an sie zu denken und sich vielleicht vorzustellen, wie sie gerade um ihr Überleben kämpften, wie sie gebissen wurden, wie sie sich verwandelten... Er schüttelte hastig den Kopf, um die Gedanken zu verdrängen und stellte fest, dass Nozomi das Gespräch beendet hatte und sich umdrehte, sie lächelte. „Meinen Eltern geht es gut, sie haben sich zu Hause verbarrikadiert und sagen, ich soll hier bleiben, wenn ich hier in Sicherheit bin und darauf warten, dass sich die Situation wieder beruhigt.“ Sie wirkte deutlich erleichtert, was Zetsu zu beruhigen schien und Nozomu doch verwunderte. Er konnte sich nicht entsinnen, dass die beiden sich irgendwann einmal so gut verstanden hätten. Aber das schien gerade auch nicht weiter wichtig. „Sind wir hier denn sicher?“ Alle drei blickten zu Sudou hinüber, der nachdenklich die Stirn runzelte. „Wir haben alle Türen unten verschlossen und Nachrichten geschrieben, falls etwaige Überlebende vorbeikommen. Solange die Zombies also nicht lesen können...“ Er unterbrach sich selbst, als ein lauter Knall aus dem Nebenraum erklang. Sofort schienen sie allesamt einzufrieren, ihre Blicke auf die Tür konzentriert. Nach einer kurzen Pause ertönte es ein weiteres Mal, worauf die folgende Stille umso drückender wirkte. Dann knallte es wieder. Und wieder. Und wieder. „Was ist das?“, wisperte Nozomi ängstlich. „Es klingt, als würde jemand versuchen, durch die Wand zu brechen“, antwortete Zetsu leise. „Er kennt die Tür nicht.“ Das war es, was ihnen allen verriet, dass es sich dabei nicht um einen Menschen, einen Überlebenden handelte, sondern um etwas ganz anderes. Sudou runzelte abfällig die Stirn. „Verdammt, ich hatte gehofft, dass heute noch keiner da von denen da war.“ „Vielleicht ist es der Hausmeister?“, vermutete Nozomu. Sudou fluchte leise und erhob sich von seinem Stuhl. „Wir können ihn da nicht einfach herumlaufen lassen. Wer weiß, ob dieser Zombie nicht noch andere anlockt.“ Er nahm den Revolver, den er auf dem Tisch abgelegt hatte und ging mit diesem im Anschlag zur Tür. „Ihr bleibt hier“, wies er sie an. „Ich brauche niemanden, der mir möglicherweise im Weg steht, wenn ich schießen muss.“ Alle drei Anwesenden nickten zustimmend, auch wenn Nozomu es recht überraschend fand, dass Nozomi nichts dazu sagte, sonst war sie wesentlich empfindlicher, was Gewalt anging – aber vielleicht war sie auch schon weiter als er gedacht hätte und betrachtete diese Wesen wirklich als Lebensform, auf die man keine Rücksicht nehmen musste. Angespannt blickten sie zur offenen Tür, die einen verlassenen Gang zeigte und lauschten auf das, was Sudou tat. Als seine Schritte verstummten, glaubte Nozomu, regelrecht sehen zu können, wie er vor der anderen Tür erst einmal innehielt, und tief durchatmete, während das Etwas immer noch gegen die Wände knallte, in einer Lautstärke, als würde es mit dem Kopf direkt dagegenrennen und Nozomi jedes Mal zusammenzucken ließ. Plötzlich ertönte ein Schuss, gefolgt von einem erfreuten Heulen, hastigen Schritten und im nächsten Moment erklang ein lautes Fluchen von Sudou. Die Geräusche, die sie hören konnten, verrieten, dass etwas schief gegangen und er in einen Nahkampf geraten war. Ein Kampf, der sich anscheinend nicht positiv für Sudou entwickelte, wie aus einem plötzlich, von Schmerzen erfüllten Schrei zu hören war. Ein weiterer Schuss erklang, dann ein leises Röcheln und damit schien der Kampf beendet. Aber Sudou kam nicht zurück. Nozomu und Zetsu warfen sich einen Blick zu, beide wussten genau, was der jeweils andere dachte und nickten sich gegenseitig zu. Während sein Freund vorauslief, wandte Nozomu sich vorher noch einmal an Nozomi, die sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt. „Du wartest hier, verstanden? Wenn etwas Außergewöhnliches passiert, schrei.“ Sie nickte knapp, worauf er herumfuhr und Zetsu in den Nebenraum folgte. Es war vielmehr ein Lagerraum, in dem allerlei Putzutensilien aufbewahrt wurden, nur wenige Schritte von der Tür entfernt lag eine leblose Gestalt in einem blauen Overall, offenbar wirklich der Hausmeister. Sudou hockte neben der Tür, eine heftig blutende Verletzung am Hals, die durch den Angriff verursacht worden sein musste. Zetsu kniete neben ihm und der Blick in seinen Augen verriet Nozomu, dass es keine Hoffnung für Sudou gab und es besser war, ihn aufzugeben. „Das war es dann wohl“, bemerkte der Mann mit einem bitteren Lächeln auf dem Gesicht. „War keine lange Zeit für uns, was?“ Keiner der beiden Jungen sagte etwas. Nozomu kannte ihn kaum, aber seine Anwesenheit war beruhigend gewesen. Der Mann hatte Sicherheit ausgestrahlt, nichts schien ihn zu überraschen... ohne ihn wären sie wieder nur drei Jugendliche, die versuchen mussten, sich in einer untergehenden Welt durchzuschlagen. „Ihr müsst hier verschwinden“, sagte Sudou. „Nehmt euch Rucksäcke, Vorräte, versucht, zu euren Familien zu kommen. Irgendwohin, wo ihr sicherer seid.“ Nozomu hatte gehofft, dass es ohne den Hausmeister wieder sicher wäre und das wollte er auch gerade sagen, als plötzlich ein dumpfer Schlag aus dem oberen Stockwerk erklang, gefolgt von weiteren, die teilweise gleichzeitig erklangen und damit verrieten, dass es mehrere waren, die dort oben nach einem Weg zu ihnen suchten. Sie waren an diesem Ort wirklich nicht sicher. „Aber wir können Sie nicht einfach hierlassen“, erwiderte Nozomu. „Sie müssen-“ „Red nicht so viel, Junge!“, unterbrach Sudou ihn ungeduldig. „Du weißt doch selbst, was mit jenen passiert, die gebissen wurden.“ Er wollte widersprechen, dass sie sich da nicht sicher sein konnten, dass es durchaus möglich war, dass dieser Mann anders infiziert worden war, aber er tat es nicht. Sudou würde so oder so sterben, das war gewiss. Würden sie ihn mitnehmen, wäre er lediglich ein unnötiges Gewicht, selbst wenn er sich nicht verwandelte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihn zurückzulassen. Zetsu stand widerwillig auf, um die Rucksäcke an sich zu nehmen, die sich ebenfalls im Lager befanden. „Komm jetzt“, sagte Zetsu ruhig, als er an ihm vorbeiging und den Raum verließ. Nozomu neigte den Oberkörper vor Sudou und folgte seinem Freund dann, nachdem der Mann ihm ungeduldig mit der Waffe zu verstehen gab, dass er verschwinden sollte. Sie waren nur wenige Schritte gelaufen, als erst ein leises Klicken und dann ein lauter Schuss ertönte – im nächsten Moment gab es ein dumpfes Geräusch, als der Revolver auf dem Boden landete. Nozomu und Zetsu blieben zeitgleich stehen, sahen aber weder zurück, noch blickten sie sich gegenseitig an. Sie starrten geradeaus und zumindest Nozomu spürte ein flaues, bitteres Gefühl in seinem Magen. In so kurzer Zeit hatte er den Tod zweier Menschen beigewohnt und obwohl er sie beide nicht näher gekannt hatte, erfüllte es ihn mit Bitterkeit und der unangenehmen Erkenntnis, dass das Leben, so wie er es kannte, wirklich vorbei war. Der Chor an verzweifeltem Stöhnen und lautem Klatschen aus der oberen Etage gab ihm dabei recht. Zetsu senkte den Kopf ein wenig. „Es wird Zeit, dass wir verschwinden.“ 2. [Escaping the Dead – Act 2]: Bloody feast -------------------------------------------- Es sah aussichtslos aus. Immer noch erfüllten Schreie das Schulgebäude, Kakeru wusste nicht, ob es die verzweifelten Rufe von jenen waren, die angegriffen wurden oder ob sie von denen stammten, die panisch die Flucht ergriffen und den innigen Drang verspürten, ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Das einzige, was er ganz sicher sagen konnte war, dass es sich dabei um keine Laute der Untoten handelte, diese gaben lediglich ein seelenloses Stöhnen von sich und manchmal ein Fauchen, wann immer sie zum Angriff übergingen. „Was sollen wir tun, Kakeru?“, murmelte Yuka. Er hörte deutlich die Sorge in ihrer Stimme, etwas, was er nur allzugut verstehen konnte. Dementsprechend musste er tapfer sein für sie und sich etwas ausdenken. „Wir gehen ins Lehrerzimmer“, schlug er vor. „Die Lehrer müssen wissen, was los ist und sicher gibt es dort einen Fernseher.“ Es bestand immerhin eine realistische Wahrscheinlichkeit, dass es nicht nur in ihrer Schule derart zuging, besonders wenn er den Mann von zuvor bedachte. Sie müssten also Informationen sammeln und dann überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Möglicherweise war die Schule in einem solchen Fall dann immerhin der sicherste Aufenthaltsort, trotz der aktuellen Lage. Aber um das in Erfahrung zu bringen, mussten sie erst einmal die Krankenstation verlassen. Der Gang vor der Tür war jedenfalls leer. Keine Schüler waren zu sehen, keine Lehrer, keine ... was-auch-immer sie waren. Er wusste nicht, wie lange das noch so bleiben würde, weswegen er hier die Möglichkeit sah, endlich zu gehen. „Bist du bereit, Yuka?“ Er war besorgt, dass ihr Zustand es ihr nicht erlauben würde, zu fliehen, aber er wollte sie auch unter keinen Umständen zurücklassen. Zu versuchen, die Krankenstation gegen einen unbekannten Feind zu verteidigen, erschien ihm jedoch genauso sinnlos und es auszusitzen, ohne zu wissen, wie es überall anders aussah, hielt er für nicht sonderlich angebracht. Und dann war da immer noch die Leiche, die ihn skeptisch sein ließ. Sie mussten hier auf jeden Fall fort, zumindest in einen anderen Raum. Yuka schien sich den Ausmaßen inzwischen bewusst geworden zu sein, sie nickte mit ernstem Blick. „Lass uns gehen.“ „Und denk daran“, mahnte er ein letztes Mal, „sei leise.“ Er öffnete die Tür und trat hinaus. Yuka folgte ihm sofort, auch als er den Gang hinablief und sich dabei aufmerksam in alle Richtungen umsah. Wenn er sich nicht täuschte, würden die meisten Schüler versuchen, über die Haupttreppe in den Hof zu fliehen, was wiederum auch all diese Wesen dorthin locken würde, wenn sie dem Lärm zu folgen versuchten. Sie müssten also die hintere Treppe nehmen, wenn sie ins Lehrerzimmer wollten – und dabei hoffen, dass die Lage dort wesentlich besser aussah. Kakeru hoffte zumindest, dass die Erwachsenen das alles ein wenig besser organisiert angegangen waren, als die Schüler. Eine offene Tür, auf ihrem Weg zur hinteren Treppe, ließ Kakeru innehalten. Er lauschte, um zu wissen, ob sich in diesem Raum irgendjemand befand, der ihnen gefährlich werden könnte, aber es war nichts zu hören. Er schlich näher und warf einen Blick hinein, doch niemand war in diesem Klassenzimmer zu sehen. Jedenfalls niemand, der sich bewegte. Auf dem Boden lagen die blutigen Überreste einer Person, die mal eine Schülerin gewesen sein mochte, jedenfalls ausgehend von der Uniform. Anhand des Klumpens war nichts mehr bezüglich des Geschlechts, Alter oder sogar der genauen Identität zu erkennen. Kakeru verspürte den innigen Wunsch, sich zu übergeben, beherrschte sich aber noch einmal und wandte stattdessen lieber den Blick ab. Yuka sah ihn fragend an, er winkte aber sofort ab. „Es ist schon gut“, flüsterte er. „Lass uns weitergehen. Anscheinend sind wir hier gerade noch sicher.“ Sie folgte ihm, als er weiterlief und blickte dabei nicht einmal in das Klassenzimmer hinein. Je weiter sie in Richtung der Hintertreppe liefen, desto leiser schienen die Schreie vom Hof zu werden. Als es ihm das erste Mal auffiel, glaubte Kakeru noch, dass dies normal sei, da sie sich immerhin entfernten, doch inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher. Jedes Fenster in diesem Gang oder den dazugehörigen Klassenzimmern, zeigte immerhin auf den Hof, also sollten die Geräusche eigentlich dennoch zu hören sein. Dass sie eben immer leiser wurden, verriet ihm, dass die Lage angespannt war und sich wirklich in hoffnungslos wandelte. Mit jedem Schritt schwand auch der Glauben daran, dass sie im Lehrerzimmer sicher sein würden. Aber einen anderen Plan hatte er gerade nicht, deswegen musste dieser erst einmal genügen. Als die Tür zur hinteren Treppe endlich in Sicht kam, verdrängte Kakeru den finsteren Gedanken und ließ sich von neuer Hoffnung durchströmen – doch als er die Tür öffnete, erstarb diese sofort wieder. Vor ihm standen mindestens ein Dutzend dieser seelenlosen Gestalten und sie alle starrten in seine Richtung. Er glaubte, sie waren genauso blind wie jenes Exemplar, mit dem er gekämpft hatte, aber das Geräusch beim Öffnen der Tür musste deutlich genug gewesen sein, um jegliche Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben. Und wenn nicht das, dann half ihnen sicherlich Yuka dabei, die ein erschrockenes Geräusch von sich gab. Glücklicherweise schafften die Wesen es im Moment noch nicht, sie anzugreifen, denn sie schienen akute Schwierigkeiten damit zu haben, sich darauf zu einigen, wer von ihnen als erstes durch die Tür gehen durfte, so dass mehrere von ihnen stöhnend im Rahmen steckenblieben. Kakeru wollte Yuka bereits zurechtweisen, ungeachtet des Lärms, den er dabei zusätzlich machen würde, aber als er sah, was ihren Schreck verursacht hatte, blieb ihm fast das Herz stehen: Ein weiteres dieser Wesen war plötzlich hinter ihnen aufgetaucht und hielt nun ebenfalls auf sie zu. „Was tun wir jetzt?“, fragte sie leise, mit zitternder Stimme. Er konnte nicht antworten, er war ratlos. Die hintere Treppe war keine Option, die Haupttreppe ebenfalls nicht und der Hof schon gleich gar nicht. Mussten sie hier nun etwa aufgeben? Yuka drängte sich schutzsuchend an Kakeru, der wiederum versuchte, sie und sich von den ausgestreckten Händen der gierigen Meute fernzuhalten. Das andere Wesen, das sich gerade auf sie zubewegte, musste einst ein Schüler gewesen sein, jedenfalls verriet das die Uniform, aber es war niemand, den Kakeru kannte. Er hatte einen Schuh verloren und eine klaffende Bisswunde im Hals. Das war etwas, das noch einmal bestätigte, dass diese Verwandlung schnell vonstatten ging und gleichzeitig die Erklärung, warum die Situation so schnell außer Kontrolle geraten war. Doch gerade als Kakeru beschloss, dass er etwas tun sollte, um zumindest Yuka die Flucht zu ermöglichen, hörte er sich nähernde Schritte, deren Gleichmäßigkeit verrieten, dass sie von einem Menschen stammten – und im nächsten Augenblick sah er eine Schülerin aus einem Nebengang auftauchen. Ein weißes Band war in ihr langes, rotes Haar geflochten, ihre violetten Augen blickten ihm kühl entgegen, aber das Auffallendste an ihr war das Schwert, das sie in ihrer rechten Hand hielt. Getrocknetes Blut klebte an der Klinge und Kakeru hoffte inständig, dass es sich dabei um das von diesen Wesen und nicht von anderen Menschen handelte. „Senpai!“, rief Yuka aus. „Hilf uns!“ Woher sie wusste, dass die Fremde sich in der Oberstufe befand, wusste Kakeru nicht, aber diese Aufforderung half offenbar, denn die Schülerin setzte sich sofort in Bewegung. Es kostete sie nur einen kurzen Schwertstreich, dann lag das Wesen kopflos auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Direkt danach strebte sie an ihnen vorbei und schlug die Tür zur Treppe wieder zu, ohne darauf zu achten, dass sie dabei, mit einiger Anstrengung, ein paar Arme abtrennte. Erst dann wandte die Ältere sich ihnen wieder zu und bedeutete ihnen mit einer knappen Handbewegung, ihr zu folgen, was die beiden auch sofort taten. Kakeru blieb dabei aber immer noch angespannt. Er wusste gar nichts über diese Person, weswegen er lieber auf der Hut bleiben wollte, besonders in dieser schlimmen Situation. Die Schülerin führte sie in ein leeres Klassenzimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Yuka setzte sich auf einen Stuhl, die andere Schülerin lehnte sich gegen den Lehrertisch, Kakeru blieb zwischen ihnen beiden stehen. „Wer seid ihr beiden?“, fragte die Ältere schließlich, nachdem es so aussah, als hätten sich alle wieder ein wenig beruhigt. „Ich bin Kakeru Satsuki und das ist Yuka Minase. Wir waren auf der Krankenstation, als ...“ Er brach ab und schüttelte nur ein wenig den Kopf. Er konnte es immer noch nicht glauben und er verstand es auch nicht so recht. Solche Dinge geschahen normalerweise nur in Horrorfilmen, aber doch nicht im echten Leben. „Mein Name ist Misuzu Kusakabe“, erwiderte die andere Schülerin. „Warum seid ihr noch hier? Solltet ihr nicht lieber verschwinden?“ Kakeru deutete mit dem Daumen in Richtung Fenster. „Da draußen scheint es auch nicht wirklich sicher zu sein, oder?“ Misuzu folgte seinem Fingerzeig und runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie noch nicht nach draußen gesehen, was sie nun aber nachholen wollte, weswegen sie ans Fenster trat, gefolgt von Kakeru, bei dem die Neugier nun doch die Furcht überwog. Doch schon im nächsten Moment bereute er das bereits wieder. Der Schulhof glich einem Schlachtfeld. Überall lagen tote Schüler oder Lehrer herum, von denen einige schlimmer aussahen, als andere. Um so manchen waren diese Wesen geschart, die zu fressen schienen, andere Leichen wiederum erhoben sich ungelenk vom Boden, genau wie der Direktor zuvor, um nun selbst Jagd auf andere Überlebende zu machen. Von diesen war allerdings niemand mehr zu sehen, die Schreie waren auch längst verstummt, es schien, als wäre da draußen absolut keiner mehr, außer ihnen, noch am Leben. Hastig wich er zurück, um sich das nicht mehr ansehen zu müssen, Misuzu dagegen blieb stehen und sah weiterhin nach draußen. „Was geht hier eigentlich vor?“, fragte Kakeru. „Was ist geschehen?“ Yuka blickte besorgt zu ihm herüber, aber im Moment ignorierte er sie, um weiterhin die ältere Schülerin ansehen zu können, in der Hoffnung, dass sie eine Antwort für ihn haben würde. „Ich weiß es nicht so genau“, erwiderte Misuzu. „Ich war bereits im Lehrerzimmer und habe die Nachrichten gesehen, aber man weiß dort auch nicht viel mehr. Sicher ist nur, dass es in der gesamten Stadt passiert.“ „Wir hatten auch vor, ins Lehrerzimmer zu gehen“, sagte Yuka. Misuzu schüttelte mit dem Kopf. „Das solltet ihr nicht tun. Dort ist es auch nicht mehr sicher. Die Wesen sind schon überall in der Schule.“ „Dann müssen wir das Gelände verlassen“, schloss Kakeru. „Aber wie sollen wir das tun?“ „Und wo sollen wir hin?“, fügte Yuka hinzu. Wenn es überall in der Stadt so aussah, schien es wirklich aussichtslos. Fast schon war Kakeru geneigt vorzuschlagen, dass sie einfach bleiben sollten, aber das war keine Möglichkeit. Glücklicherweise war nun Misuzu bei ihnen, so dass sie einen Vorschlag machen konnte: „Ich lebe im Kusakabe-Tempel, am Stadtrand. Dort gibt es wenig Menschen, vielleicht ist es dort sicher.“ Kakeru hatte nicht einmal gewusst, dass es den Kusakabe-Tempel gab, aber das hörte sich nun wirklich wie eine gute Lösung an. Jedenfalls vorerst. Wenn sie in Sicherheit waren, konnten sie immer noch darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Er nickte, aber Yuka übernahm das Wort: „Führ uns bitte hin, Misuzu-senpai.“ „Sollen wir nicht vielleicht noch andere überlebende Schüler suchen?“, fragte Kakeru, obwohl er nicht wirklich glaubte, dass es noch welche von ihnen gab. „Es gibt keine mehr“, erwiderte Misuzu. „Ich war in der gesamten Schule, aber ihr seid die einzigen beiden, die ich finden konnte.“ Yuka hielt sich die Hand vor den Mund und stieß einen erstickten Schrei aus. Kakeru schüttelte dagegen sofort mit dem Kopf. „Das kann doch nicht sein! Wir können nicht die einzigen sein, die noch leben!“ Er weigerte sich einfach, zu glauben, dass alle ihre Mitschüler, alle Lehrer, einfach jeder, den sie kannten, tot sein sollte. Und zu seinem Glück bestand Misuzu nicht darauf, dass es so war: „Ich denke, anfangs konnten viele fliehen. Die Wesen sind nicht sonderlich schnell und sie sehen nichts, also dürfte es einigen gelungen sein, zu verschwinden.“ Bei diesen Worten atmete Yuka erleichtert auf, aber Kakeru blieb weiterhin pessimistisch. Wenn es überall in der Stadt so aussah, war die Wahrscheinlichkeit, dass selbst die Geflohenen inzwischen tot waren, viel realistischer als die Möglichkeit, dass sie immer noch lebten. Das sagte er Yuka allerdings nicht, es war besser, wenn sie zumindest eine Weile noch optimistisch blieb. In Misuzus Augen konnte er aber sehen, dass sie genau dasselbe dachte wie er. „Wollen wir dann gehen?“, fragte sie, statt den Gedanken auszusprechen. „Bleibt einfach immer hinter mir, seid leise und schnell – dann werden wir es gemeinsam in Sicherheit schaffen.“ Dabei klopfte sie vorsichtig mit dem blutigen Schwert gegen ihr Bein. Und zum ersten Mal an diesem Tag, glaubte Kakeru wirklich, dass sie es schaffen würden, alles zu überleben, solange sie nur bei Misuzu blieben. Mit neuer Zuversicht erfüllt, verließe er gemeinsam mit den beiden Mädchen das Klassenzimmer. Die Wesen im Treppenhaus klopften noch immer gegen die Tür, aber sie ignorierten das allesamt und strebten in die andere Richtung davon. Doch schon nach wenigen Schritten erklang ein leiser Schrei aus einem der Seitengänge, der sie allesamt innehalten ließ. „Da hat doch jemand überlebt“, flüsterte Yuka. „Wir müssen ihnen helfen.“ Misuzu seufzte leise, nickte allerdings und lief sofort in die Richtung los, aus welcher der Schrei gekommen war. Kakeru zögerte nicht und folgte ihr sofort, immer mit der Hoffnung in seinem Inneren, dass er die betreffende Person nicht kennen würde, dass niemand, den er mochte, gerade in Gefahr war – und dass sie hier nicht gerade selbst einfach nur in eine Falle liefen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)