Des Unheils Lauf... von Frostkatze ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Rufus konnte nicht anders – er klappte die Kinnlade herunter und bekam sie einfach nicht mehr zu. Was? Was sollte das? Getötet? Sollte das heißen, diese vermummten Gestalten waren hinter ihm her? Und, Moment... Er hatte doch keinen Hüter umgebracht! Der letzte Hüter... Elenor DeFleur! Das war doch der Name seiner Mutter! Seine Mutter, die im Kindbett gestorben war... Seine Mutter, die er als Säugling umgebracht hatte. Dem Jungen war deutlich anzusehen wie er sich fühlte; nämlich schuldig. Er ließ den Kopf hängen und beachtete nicht einmal Lonán als dieser sich von seinem Platz entfernte und neben den nackten Füßen des viel zu jungen Hüters landete. Helena streckte ihre Hand nach ihm aus, berührte seine Schulter und sprach mit ruhiger Stimme zu ihm. „Rufus...?“ sagte sie und versuchte einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen dass von den dichten, langen Strähnen, die sich gelöst hatten und nun einen braunen Haarschleier bildeten, verdeckt wurde. Sie drückte seinen Kopf mit sanfter Gewalt hoch und zuckte zusammen als sich ein glitzernder Tropfen von seiner Nasenspitze löste und mit einem leisen Pitschen auf den Steinfliesen zerschellte. Einen atemlosen Moment lang starrte sie den Fleck an, dann sah sie in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Doch es war kein Körperlicher Schmerz der ihn plagte. Helena wusste von ihrem Meister, dass Lady DeFleur bei der Geburt des Jungen gestorben war und konnte sich nur schwer vorstellen wie es wohl war ohne Mutter aufzuwachsen. Geschweige denn wie es war, zu wissen, dass man sie umgebracht hatte. Sie zückte ein beiges, schlicht besticktes Taschentuch aus den Tiefen ihrer Kleidung und hielt es ihm hin. Er nahm es dankbar an und drückte den Stoff auf seine feucht glänzenden Augen. Unterdrückte Schluchzer ließen seinen Körper beben und sorgten dafür dass sich im Hals des Mädchens ein dicker, schmerzhafter Kloß bildete. Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippen; sie hatte keine Ahnung wie sie nun mit ihm umgehen sollte. Sie warf Lonán einen hilfesuchenden Blick zu. Der Rabe zuckte mit seinen Flügeln, anstelle von einem Schulterzucken, und sprach nach einem kurzen Krächzen in der alten Sprache, die Sir Vacé seinem Stiefsohn anscheinend nicht beigebracht hatte, zu ihr. „Ich will nicht taktlos sein,“ sagte er und drehte den Kopf in Richtung Regal, „Aber wir sollten so schnell wie möglich weiterziehen. Unsere Verfolger werden nicht eher ruhen bis sie das Buch in ihren Besitz gebracht haben.“ Helena nickte zustimmend und legte die Hand auf die Schulter des Jungen. „Rufus... Ich würde dir gerne mehr Zeit geben um dich von den letzten Stunden zu erholen, aber wir müssen weiter. Du bist hier nicht sicher. Wir werden dich in die Bibliothek bringen.“ sagte sie und versuchte dabei ruhiger zu klingen als sie war. Je länger sie sich an einem Ort aufhielten, desto größer war die Gefahr dass Arphas und seine Männer sie entdeckten. Den Fehler, Betrayal nicht stetig zu bewegen, hatte schon Sir Vacé begangen als er das Buch in sein Haus bringen ließ. Zwar hatte er es in einer mit Schutzzaubern versehenen Kiste bringen lassen, aber trotzdem war es dem verfluchten Jäger gelungen es zu orten. Helena vermutete, dass er sich Hilfe gesucht hatte, in Gestalt eines Hexers oder gar eines Dämons. Helena kniete sich vor das Bett, neben Rufus, und zog eine flache Kiste unter der Schlafstätte hervor. Daraus nahm sie neue Kleider für den Jungen. Sie hatte die Sachen nach Augenmaß gekauft und die alten, unrettbar verdreckten und zerrissenen Klamotten entsorgt. Die Montur bestand aus einem Paar schwarzer Stiefel, einer hellen Hose, Gürtel, einem schlichten Hemd und einem dunklen Umhang mit Kapuze. Sie legte die Sachen neben Rufus auf das Bett und wandte sich ab. „Zieh dich um.“ meinte sie und trat vor das breite Regal. Ihre Hand fand zielsicher das eine Buch mit dem sich der versteckte Mechanismus betätigen ließ. Sie kippte den Band und lauschte dem leisen Klicken als sich die geheime Drehtür zu bewegen begann. Die Bodenplatte, auf der das Regal stand, bewegte sich mit einem leisen, malmenden Geräusch und brachte die junge Frau in eines der Kellerzimmer des Wirtshauses in dem sie untergekommen waren. Sie warf der sich mit einem leisen Klicken schließenden Wand einen kurzen Blick zu; durch die gezielt platzierten Einkerbungen in der Wand und runden Bodenplatten war die Tür nicht als solche zu erkennen. Und wer würde schon vermuten, dass sie sich in einem Wirtshaus mitten in der Stadt abgesetzt hatten? Mit einem leichten Schmunzeln wandte sie sich der Zimmertür zu und trat in den Flur hinaus, ging die Kellertreppe hoch und betrat den großzügigen Schankraum mit dem langen Tresen und der Balustrade auf Höhe des ersten Stocks. Sie steuerte die privaten Räumlichkeiten des Wirtes an um noch etwas mit dem ehemaligen Rabenritter zu bereden und bemerkte dabei nicht, dass ein Augenpaar ihre Bewegungen aufmerksam verfolgte. Er war frustriert gewesen, als er sich mit seiner Vertrauten in dem Wirtshaus niedergelassen hatte um seine Wunde von ihr versorgen zu lassen. Doch jetzt, als er die violette Tücherrobe der jungen Frau sah, die gedankenverloren und unbewaffnet durch den unteren Teil des Schankraumes lief, hellte sich seine finstere Miene auf. Ein gemeines Grinsen trat auf das düstere Gesicht des Mannes mit der feinen Narbe auf der Wange und das Leuchten seiner grünen Augen wurde intensiver. Die junge Frau mit den hüftlangen weißen Haaren, die gerade eine tiefe Schnittwunde verband, die sich von seiner Schulter aus quer über seine Brust zog, folgte seinem Blick und sah ihn dann stirnrunzelnd an. „Ist die nicht ein wenig zu jung für dich?“ fragte sie und wickelte den Verband ein letztes Mal um den Brustkorb des Jägers. Sie verknotete die Stoffstreifen und begutachtete den bandagierten Bereich. Dabei blieb ihr Blick unwillkürlich an dem roten Stern hängen, der über seinem Herzen prangte, ein wenig unter dem hellen Stoff hervorlugte und der nicht nur ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Auch andere Gäste starrten den neunzackigen Stern mit den Symbolen in den Spitzen an. Einige neugierig, andere nervös. „Was denkst du nur von mir? Nein, sie ist aus einem anderen Grund interessant... Ich glaube wir haben unser Ziel gefunden. Sie trägt die Farben dieser komischen Bibliothek.“ meinte er und zog seinen dunklen Mantel wieder an um nicht oben ohne dazusitzen und um den Blick auf das Brandzeichen zu versperren. „Luna, tu mir den Gefallen und versuch' das Buch zu orten.“ bat der Mann seine Begleiterin und zog eine gefaltete Karte aus der Innentasche seines Mantels. Er breitete sie auf der Tischplatte aus und sah gespannt dabei zu wie die junge Frau das als Armband getarnte Pendel von ihrem Handgelenk löste, ein gravierter Onyx in Tropfenform an einer dünnen Silberkette, und über die Karte schweifen ließ. Sie führte den schwarzen Stein in kreisenden Bewegungen über das Papier und genau an dem Punkt, an dem sie sich gerade befanden, blieb die Spitze des Onyx hängen. Ihre blassblauen Augen sahen wieder dem blonden Mädchen in dem lilanen und schwarzen Tücherwirrwarr hinterher. Es stand am Fuß der Treppe, die hoch auf die Balustrade führte und unterhielt sich mit einem älteren Mann mit Halbglatze und kleiner Bierwampe; dem Wirt. Er nickte und führte sie dann in eines der Hinterzimmer. „Sagtest du nicht dass ein Junge das Buch mitgenommen hat?“ fragte Luna und legte das Pendel wieder als Armband um ihr erschreckend bleiches Handgelenk. „Meine Männer berichteten mir, dass jemand dem Knirps zur Flucht verhalf. Jemand in lilanen Sachen. Ich hätte nur nicht erwartet dass sich ein Mädchen unter den Stoffschichten verbirgt.“ antwortete er und griff nach seinem Glas. Er kippte die grüne Flüssigkeit, Absinth, auf Ex und knallte das Glas auf die Karte, dann erhob er sich entschlossen und drückte seiner Begleiterin sein zerschnittenes Hemd und seine ebenso ruinierte Weste in die Hände. „Geh' schon mal.“ meinte er und nahm sein Schwert, das er neben sich an das Geländer der Balustrade gelehnt hatte. „Ich erledige das schnell.“ Mit diesen Worten ging er rüber zur Treppe und hinunter, auf sein Ziel zu. Nachdem Helena das Zimmer durch die Geheimtür verlassen hatte saß Rufus noch eine Weile trübsal blasend auf dem harten Bett und verfluchte sich in Gedanken selbst. Er hatte seine Mutter umgebracht; gut, er hatte das nicht gewollt aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er es getan hatte. Abwesend legte er Betrayal zur Seite und begann damit sich umzuziehen, er begrub das Buch unter seinem Schlafanzug und dachte über das nach, was er nun schon alles erfahren hatte. Man musste den Hüter nur töten um Herr über das Buch zu werden. Folglich konnte er keinem trauen. Er warf Lonán einen leicht misstrauischen Blick zu. Der Rabe war vom Boden auf das Bett gehüpft und zupfte mit seinem Schnabel an den Sachen die über dem Buch lagen. Als er bemerkte dass Rufus ihn ansah legte er den Kopf schief und hüpfte auf den Jungen zu. Er krächzte und sagte etwas in der befremdlichen Sprache in der er sich immer mit Helena unterhielt. Rufus schüttelte den Kopf. „Sprich meine Sprache oder halt deinen Schnabel...“ murrte der Junge und schlüpfte in Hose und Hemd. Er legte den Gürtel um und schnürte die Stiefel zu. Zuletzt warf er sich den Umhang über die Schultern und zog die Kapuze auf. Mit einer Hand strich er die langen, braunen Haarsträhnen zurück hinter seine Ohren und rieb sich über das Gesicht. Er fühlte sich alt, müde und hilflos. Um ein Haar wäre er umgebracht worden. Er hatte sein Heim und seinen letzten Angehörigen innerhalb weniger Minuten hinter sich lassen müssen und befand sich nun in der Gesellschaft eines mysteriösen Mädchens und eines seltsamen Raben und wurde von finsteren Gestalten gejagt die höchstwahrscheinlich seinen Tod wollten. „Warum konnte das nicht jemand anderem passieren...?“ fragte er sich selbst laut und drehte sich wieder zum Bett um. Lonán hatte derweil seine Bemühungen, das Buch aus dem Stoffhaufen zu bergen, aufgegeben. Der Rabe hockte daneben und blickte Rufus erwartungsvoll an. Rufus zog das Betrayal unter den hellen Sachen hervor. Er strich mit der Hand ein paar Fusseln von dem Einband und las die Worte welche sich auf dem dunkelroten Leder bildeten. Brich so schnell es dir möglich ist auf... stand in geschwungener Schreibschrift auf dem Band. „Hetzt mich doch alle nicht so!“ sagte Rufus mit trotzigem Unterton und warf Betrayal leidenschaftslos wieder auf das Bett. Er drehte sich erneut um und suchte nach etwas in das er das Buch stecken konnte, eine Tasche oder wenigstens ein großes Tuch. Mit einem so begehrten Ding konnte er nicht einfach so durch die Straßen wandern. Dabei entging ihm die nächste Zeile, die sich hastig an die Vorherige anfügte. Eine Warnung, die Rufus nicht beachtete als er das Buch in eine Umhängetasche stopfte, die er neben der flachen Kiste unter dem Bett fand, und sich dann dem Regal widmete. Irgendwo musste doch der Schalter sein... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)