Almosen von Riku ================================================================================ Kapitel 1: Almosen ------------------ Almosen Der Klingelbecher war so gut wie leer. Ein paar Cent tat sie immer am Anfang des Tages hinein, damit es so aussah, als ob sich ihr bereits ein paar Passanten erbarmt hätten, aber das hatte heute nicht viel gebracht und mit den fünfzig Cent vom Morgen hatte sie insgesamt erst drei Euro zusammen. Das reichte vielleicht für zwei belegte Brote am Bahnhofskiosk. Oder für eine große Dose Hundefutter. Sie saß auf einer Decke vor den Drehkreuzen und pulte sich die Kletten aus den langen, blonden Haaren, die in ihrer Jugend so beneidend bewundert worden waren. Wie ein unbarmherziger Schneesturm stoben die Menschen an ihr vorbei, passierten die Drehkreuze und taten so, als ob sie nicht existierte, um nicht angesprochen zu werden. Ein kleiner Junge, der sich an die wulstigen Fleischerfinger seiner Mutter klammerte und in eiligem Tempo auf die Drehkreuze zumarschiert kam, schien einfach durch sie hindurch zu blicken. “Entschuldigung”, krächzte sie mit heiserer Stimme und hielt ihren Becher empor. “Haben Sie vielleicht ein paar Cent übrig?” Die Mutter geriet mit ihren hochhackigen Schuhen auf dem glatten Boden leicht ins Schlittern, als sie ein Ausweichungsmanöver in Richtung der anderen Durchgänge ausführte. Sie nahm den Jungen an ihre rechte Hand und floh wie eine Katze, die beim Anblick eines großen Hundes die Straßenseite wechselt. In diesem Moment resignierte sie. Es hatte bessere Tage gegeben und dabei dachte sie nicht an die, in denen sie zehn oder fünfzehn Euro hatte erbetteln können. Noch einmal sorglos leben können, dachte sie. Noch einmal Geld ausgeben, ohne sich darum sorgen zu müssen, ob man am nächsten Tag noch genug hat, um sich etwas zu Essen leisten zu können. Sie legte die alte Wolldecke zusammen und wollte das Geld aus ihrem Becher gerade in die Innenseite ihrer Jacke stecken, als ihr etwas ins Auge fiel. Auf der anderen Seite des Durchgangs wühlte ein dicklicher, kleiner Anzugträger verzweifelt in seinen Taschen. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Drei oder viermal ging er alle Fächer seiner Aktentasche durch, suchte in seiner Hose, dann lockerte er seine Krawatte und blickte nervös um sich. “Verzeihen Sie, könnten Sie mir helfen?” fragte er einen vorbeigehenden Geschäftsmann, der plötzlich sein Mobiltelefon ans Ohr hob und so tat, als würde er ein Gespräch führen. “Entschuldigung, ich bin bestohlen worden!” sprach er eine Frau in dunkelblauem Blazer an, welche die Stirn runzelte, abwinkte und eilig weiterging. Der Anzugträger blickte auf seine Armbanduhr, verglich die Uhrzeit mit der Bahnhofsuhr und fasste sich an seine schweißglänzende Halbglatze. “Könnten sie mir ein paar Cent leihen? Für eine Fahrkarte; ich brauche doch nur eine Fahrkarte!” Eine Sturmflut gehetzter Menschen brach von beiden Seiten auf den Durchgang zwischen Hauptstraße und Bahngleisen ein. Wie Treibholz ließ sich der verzweifelte Anzugträger hin und her werfen. Sein dicker Oberlippenbart begann zu zittern. Die Beobachterin stand auf. Die alte Wolldecke überm Arm schwamm sie gekonnt durch die Menschenmassen, ihr Kleingeld in der geschlossenen Faust. “Ich habe nichts”, hauchte der Mann erschöpft, als sie vor ihm auftauchte. “Ich auch nicht”, erwiderte sie und öffnete ihre Hand. Das Kleingeld glitzerte wie Gold in seinen Augen. “Nehmen Sie es dennoch.” Der Mann zögerte. Wieder blickte er auf seine Armbanduhr. “Nehmen Sie es einfach. Ich leihe es Ihnen. Wenn Sie möchten, können Sie morgen vorbeikommen und es mir wiedergeben.” Mit fahrigen Händen griff der Mann nach dem Geld, drehte sich zu den Fahrkartenautomaten um und zog sich ein Ticket. Als er sich wieder umdrehte, lächelte er zittrig. Seine Ohren hatten die Farbe von reifen Kirschen angenommen. “Danke”, wisperte er und tauchte mit geducktem Kopf in den Strom der Menschen ein, die in die Richtung der Drehkreuze pilgerten. Sie hätte nicht geglaubt, dass er wiederkommen würde und um ein Haar wäre sie am nächsten Tag zu einem ganz anderen Bahnhof gegangen, um sich dort auf ihre Wolldecke zu setzen und ihr Glück zu versuchen, doch am späten Nachmittag passierte der Anzugträger vom Vortag ein Drehkreuz, blickte sich um und kam dann sehr zielstrebig auf sie zu. Er sah heute anders aus. Seine Halbglatze war matt und seine Krawatte saß so fest und gerade, wie sie nur eine liebende Ehefrau binden konnte. Mit dem breiten Lächeln auf seinen Lippen und dem buschigen, grauen Schnurrbart sah er aus wie ein glückliches Walross. Wortlos holte er eine scheinbar nagelneue Brieftasche hervor. “Sie sind gestern noch pünktlich zu Ihrem Termin erschienen?” fragte sie sehr höflich und legte ihren Kopf schief. “Was? Oh ja!” sagte er und zeigte beim Lächeln seine weißen Zähne. “War ein sehr wichtiges Vorstellungsgespräch.” “Und haben Sie den Job?” Er zückte einen Hunderteuroschein, beugte sich hinab und steckte ihn in den sehr übersichtlich gefüllten Klingelbecher. “Raten Sie mal.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)