Splitter einer Geschichte von royalbelial (Gemeinsame Geschichte von LadyReyna) ================================================================================ Kapitel 1: Offene Fragen ------------------------ ...Er hatte doch keinen Hüter umgebracht! Der letzte Hüter... Elenor DeFleur! Das war doch der Name seiner Mutter! Seine Mutter, die im Kindbett gestorben war... Seine Mutter, die er als Säugling umgebracht hatte... Seine Mutter, eine Frau die er im Grunde gar nicht kannte. Rufus klappte Betrayal zu und legte es neben sich aufs Bett, jedoch ohne den Blick davon zu lassen. „Wenn man den vorherigen Hüter tötet…“, wiederholte er leise. Er hatte seine Mutter durch seine Geburt das Leben gekostet… und seine Mutter, wie kam sie zu Betrayal? War Elenor DeFleur eine Mörderin? Wo war das Buch die letzten 20 Jahre und wie konnte so ein begehrtes Objekt so lange verschwunden sein? Er starrte auf den Einband und hoffte, dass sich das Buch ihm offenbaren würde, ihm erzählen würde, was er wissen wollte; doch die Schwarzen Linien tanzten nur provokativ auf dem Leder, ohne irgendwas preiszugeben. Als wollte es sagen, dass wüsstet du wohl gerne. Doch da kam ihm eine Idee! „Ich brauche was zum Schreiben!“, sagte er aufgeregt und wandte seinen Blick zu Helena. „So versessen das Buch auszuprobieren? Junger Mann, das nimmt kein gutes Ende“, sagte sie und es lag ein strenger Ausdruck in ihren eisig blauen Augen, die ihn nun unterkühlt musterten und auch der Rabe Lonán gab ein abfälliges Krächzen von sich, „Hier in der Bibliothek wirst du keinen Strich in dieses Buch schreiben!“ Offenbar hatte Rufus damit ein prekäres Thema angesprochen. „Verzeihung“, bat er leise, „Ich wusste ja nicht, dass die Benutzung der Bücher hier unerwünscht ist.“ Helena rollte mit den Augen. „Gerade die Benutzung dieser Bücher ist das, was wir verhindern wollen!“, sagte sie, „Kein Mensch sollte so in den empfindsamen Zeitfluss eingreifen können. Kein Mensch und auch kein anderes Wesen. Einfach niemand!“ „Ich verstehe… ich… wollte nur… naja“, sagte er herumdrucksend… da war er nun Hüter eines solchen Buches und er durfte es nicht benutzen. Einerseits war er neugierig, auch wenn ihm der Gedanke an das Können des Buches unheimlich war. Andererseits, hätte ihm sein Einfall auch sicher weitergeholfen. „Ich wollte Betrayal dazu bringen, dass es mir etwas über seine Zeit mit meiner Mutter und der Zeit seines Verschwindens erzählt.“ Helena seufzte hörbar. „Ich verstehe… doch das hätte ohnehin nicht geklappt. Du kannst mit Betrayal weder Struggle oder Loss und auch nicht es selbst zu irgendetwas ‚bringen‘. Das ist eine der Regeln, nach denen die Bücher funktionieren. Kein Buch kann Einfluss auf das ‚Verhalten’ der anderen nehmen.“ „Dann werde ich wohl darauf warten müssen, dass mein Stiefvater aufwacht, wenn ich etwas erfahren möchte“, schlussfolgerte Rufus, dessen Blick nun wieder auf Betrayal fiel. Geduld ist eine Tugend… stand da nun auf dem Einband. Helena nickte knapp. „So sieht es aus“, sagte sie, doch kein Wort des Bedauerns kam über ihre Lippen. Sie schien eine harte junge Frau zu sein. Mochte sie womöglich nicht viel älter sein als er, sagen konnte er es ja nicht bestimmt, so war sie dennoch viel erwachsener und reifer als er selbst mit seinen 15 Jahren. „Ich lasse dir etwas zu essen und zu trinken bringen“, sagte sie noch ehe sie sich, ohne sich zu verabschieden, entfernte und auch Lonán flatterte ihr hinterher, so dass er nun alleine mit dem Buch war. So viel zu seiner tollen Idee. Es blieb zu hoffen, dass sich sein Stiefvater gesprächsbereiter zeigte als in den letzten Jahren. Wann auch immer das Wort auf seine leiblichen Eltern, seine Mutter im besonderen, zu sprechen kam, war er immer noch garstiger und verhärteter geworden, als es ohnehin schon der Fall gewesen war. Hoffentlich würde ihm Helena sofort bescheid geben, wenn sein Stiefvater bereit war mit ihm zu reden und auch mit ihr selbst wollte er sich nochmals unterhalten. Seine Glieder und sein Kopf schmerzten immer noch und er legte sich wieder auf seine Liegestätte. Betrayal lag an seiner Seite. Er nahm es wieder zur Hand. Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Doch höchstwahrscheinlich würde Helena ihn bald wieder an sich nehmen. Wahrscheinlich hatte sie es jetzt nur vergessen, weil er sie verärgert hatte. Auch wenn er nicht glaubte, dass sie jemand war, der so wichtige Dinge üblicherweise vergas. Er nahm das Buch wieder zur Hand. Immer noch verlautete der Einband, Geduld sei eine Tugend. „Geduld, Geduld, Geduld… kaum warst du aufgetaucht, musste ich in aller Hektik aufbrechen… da war keine Zeit sich zu gedulden, aber ich soll nun schmoren, wie?“, giftete er und war versucht das Buch, aufgewühlt und verwirrt wie er war, in die Ecke zu pfeffern. Da hielt er inne. Betrayal zeigte die Zukunft… vielleicht hatte es das Gespräch mit seinem Stiefvater schon aufgezeichnet? Er war versucht den Schlüssel umzudrehen, doch dann beschloss er es zu lassen. Darin zu lesen war ihm vielleicht gestattet, aber wenn es schon verboten war es zu benützen, war es zu lesen wohl ebenso wenig gern gesehen. Er wollte seine Gastgeber nicht unnötig verärgern. Außerdem schmerzte sein Kopf immer noch, und sich auf seine Krakelschrift zu konzentrieren würde ziemlich anstrengend sein – wieso hatte er nicht auf seinen Lehrmeister gehört, als er ihn dazu anhielt sich in Schönschrift zu üben? „Dann warte ich halt“, murrte Rufus. Guter Junge… teilte ihm das Buch mit. „Blödes Buch“, erwiderte Rufus und steckte Betrayal und dessen Schüssel unter sein Kissen. Er ging in Gedanken noch mal die letzten Ereignisse durch. Das Auftauchen des Buches; die Truppe von Männern, die gemeinsam versuchte das Buch aus der Villa zu entwenden und über deren Identität ihm noch nichts weiteres zugetragen wurde. Vielleicht waren sie ein Geheimbund oder so? Eine Truppe mörderischer Gesellen, die nun hinter dem Buch und damit auch hinter ihm als dessen Hüter herwaren; die überstützte Flucht, die ihm sein Stiefvater Sir Vacé ermöglicht hatte und schließlich seine Rettung durch Helena und die Bibliothek der schwarzen Vögel. Neben seinen schmerzenden Gliedern machte sich nun auch sein Magen bemerkbar und er hoffte, dass sein Essen bald kommen würde. Kapitel 2: Der Verbleib von Sir Vacé ------------------------------------ „Elender Verbrecher!“, durchbrach Sir Vacés Stimme die stickige Luft wie ein Hammerschlag. Ihm gegenüber stand der Eindringling mit den leuchtend grünen Augen, die nun stechender als noch eine Sekunde zuvor wirkten. „Ihr bekommt ihn nicht, ihn nicht und dieses verdammte Buch erst recht nicht!“ Mit einem Sirren fuhr die Klinge, die er vom König erhalten hatte, auf den Räuber nieder, doch dieser parierte den Schlag mit seiner Eigenen Waffe. Er schaffte es den Hausherren von sich selbst hinfort gegen die Dachschräge zu stoßen. Gerade noch rechtzeitig konnte Sir Vacé durch eine halbe Drehung verhindern, das sich der gezahnte Säbel in sein Fleisch bohren konnte. Stattdessen steckte die Klinge nun im Dachbalken. Mit einer schnellen Bewegung war Vacé nun hinter dem Angreifer. Bevor dieser seinen Säbel wieder aus dem Holz bekam, wurde er von Sir Vacé mit der flachen Seite seines Schwertes niedergeschlagen. Der Räuber ging zu Boden. Sofort war Sir Vacé über ihm und drehte ihn zu sich herum. „Na, dieses dämliche Gesicht kenne ich doch“, knurrte er und hielt dem Eindringling die Klinge an die Kehle, „Aus einem wie dir konnte ja nichts anderes werden, Jared.“ Die erste Antwort war ein abfälliges Schnauben. Jareds Lippen waren zu einem spöttischen Lächeln verzogen. „Ja, aus der Sicht des großmütigen und edlen Sir Vacé mag ich vielleicht nicht viel geworden sein, aber es ist alles eine Sache des Blickwinkels“, sagte er leise und unaufgeregt, so als würde man ihm nicht gerade ein Schwert an den Hals halten. „In deiner Position solltest du deine Zunge hüten!“, entgegnete der Hausherr, „Steh auf.“ Langsam befolgte Jared diese Anweisung, als ein gellender Schrei ertönte und Sir Vacé herumwirbeln ließ. Außer sich bereits wieder lichtendem Rauch in der Luft, war jedoch nichts zu sehen und das nächste was er wahrnahm war das schmerzende Gefühl eines gezahnten Säbels, der sich in seine Schulter fraß. „Der älteste Trick im Buch“, zischte ihm Jared, dessen freie Hand sich schraubstockartig um das Handgelenk seines Schwertarmes krallte, ins Ohr, „Solche und noch viele andere nette Tricks lernt man, wenn aus einem so etwas wie ich wird.“ Die Tür zum Dachboden wurde aufgestoßen und einer der Kameraden Jareds kam hereingestürmt. Dieser entriss den immer noch mit seinem Angreifer ringendem Sir Vacé das Schwert. Das nächste und letzte was Sir Vacé spürte, war ein heftiger Schlag an den Kopf. „Habt ihr den Jungen?“, fragte Jared der über dem bewusstlosen Sir Vacé stand. Er musterte das Gesicht des Mannes auf dem Boden. Ein Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte. Ein verbitterter Mann, der nicht nur einen einzelnen herben Verlust hatte einstecken müssen. Ein Gefühl, dass auch er selbst kannte. „Nein, noch nicht“, bekam Jared zur Antwort. Das wollte er nun wirklich nicht hören. Jetzt musste er schon in dieses verhasste Haus kommen und dann würde er auch noch mit leeren Händen zurück kommen. „Was machst du dann hier?“, herrschte er seinen Kumpan übelgelaunt an. Er spürte Kopfschmerzen aufkeimen. Selbst so kleine Anwendungen wie dieser Schrei eben, forderten gleich ihren Tribut. „Der Schrei“, sagte der Mann kleinlaut und erkannte seinen Irrtum umgänglich, daher sprach er auch schon gar nicht mehr weiter. „Ein Ablenkungsmanöver… genau“, sagte Jared und massierte seine Schläfen. „Ich geh dann…“, wollte der andere sagen, doch da fiel ihm Jared ins Wort: „Nein, kümmer dich um Vacé, er weiß so einiges, was uns noch nützlich sein könnte, lass uns einfach hoffen, dass die anderen den Bengel geschnappt haben.“ Als er seine Augen wieder Aufschlug sah er das erste Trübe Morgenlicht durch die Gitterstäbe seines Käfigs kriechen. Ihm war Übel vom Blutverlust, aber sein Befinden war das letzte, was ihn jetzt sorge. Wo war Rufus? Wo war das Buch? Ging es dem Jungen gut? War er überhaupt noch am Leben? Mühsam richtete er sich auf und lehnte sich gegen die Gitterstäbe. Seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. Die Wunde an seiner Schulter hatte man ziemlich fachkundig versorgt. Dennoch plagten ihn Schmerzen. Im Zwielicht versuchte er zu erkennen wo er sich befand. Er erkannte Bäume und Zelte. In etwas Entfernung konnte er den schwachen Schein eines ausgehenden Feuers erkennen. Offenbar hatte man ihn mit ins Lager der Banditen genommen. Ein dumpfes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er drehte den Kopf zu der Quelle des Tons und sah in das Gesicht des Kerls, der nach Jareds „Ablenkungsmanöver“ – wie er es genannt hatte – aufgetaucht war. Er hatte mit einem Knüppel gegen die Gitterstäbe geschlagen. „Na, schon wach alter Sack?“, fragte er und grinste fies, „Jared meinte ja, du seist zu was nütze. Aber er hat das ja nicht zu entscheiden.“ Sir Vacé sah von einer Erwiderung ab. Wozu sollte er das Wort an diesen Kerl richten, der nebenbei bemerkt, stank wie ein ganzer Misthaufen. „Morgens nicht so gesprächig, wie?“, plapperte der Bandit weiter. Hinter ihm erklang ein Räuspern. Es war Jared. „Wachablöse, Sal“, sagte er schlicht. Seine grünen Augen glommen schwach in der Dämmerung. Sal guckte skeptisch, da seine Schicht unmöglich schon vorbei sein konnte, doch er wollte keinen Streit beginnen. Jared setzte sich ihm gegenüber im Schneidersitz auf den Boden und sie schwiegen einander eine Zeit lang an. „Eigentlich sollte ich dir ja dankbar sein“, fing Jared schließlich an, „Um ein Haar hätte ich dieses Buch am Hals gehabt. Hatte beinahe vergessen, wie dieses verfluchte Teil den Besitzer wechselt.“ „Niemand besitzt das Buch“, sagte Sir Vacé kühl, „und jeder der es freiwillig besitzen möchte ist ein Narr.“ Jared zuckte mit den Schultern. „Dann war deine geliebte Fleur also eine Närrin?“, fragte er und sah mit Genugtuung wie der Schmerz der verlorenen Liebe über das Gesicht seines Gegenübers huschte. „Sie wollte das Buch nie!“, entgegnete der Gefangene ihm sofort, „Es war ein Unfall.“ „Das ist es, was sie dir wohl erzählt hat“, meinte Jared geheimniskrämerisch, „Aber sieh der Wahrheit ins Gesicht Hector, diese Frau war eine Mörderin, eine Ehebrecherin und nicht zuletzt eine Lügnerin. Sie hat dein Leben zerstört, das Leben meines Bruders, sogar das ihres Kindes, letzteres sicher nicht gewollt, aber dennoch. Und wofür das Ganze? Für Betrayal, um es zu besitzen.“ „Sprich nicht von ihr, als hättest du sie gekannt!“, schrie er und ein paar Leute streckten ihre Köpfe aus den Zelten, „Selbst wenn es wahr wäre, du selbst hättest deinen eigenen Neffen getötet, um das Buch zu bekommen!“ „Was ein dummes Missgeschick gewesen wäre und nichts weiter“, sagte er und dachte an den Jungen, er hatte nie wirklich die Absicht gehabt ihn zu töten, aber das brauchte Sir Vacé nicht zu wissen. Genauso wenig brauchte er zu wissen, wieso er das Buch stehlen wollte. „Er ist das Kind deines Bruders und es wäre nichts weiter gewesen als ein Missgeschick?! Du bist noch verkommener, als ich immer angenommen habe Jared“, entrüstete sich Sir Vacé. „Und dennoch verdankst du mir dein Leben“, sagte Jared und abermals lächelte er spöttisch, „Zumindest vorerst, um es weiter zu erhalten, solltest du schön mit uns kooperieren.“ „Mit einem Pack gemeiner Räuber?“, spie Hector Jared entgegen. „Wie immer siehst du nur die Oberfläche der Dinge“, antwortete Jared ruhig und seufzte leise, „Das war schon immer einer deiner Fehler.“ „Mein Größter Fehler war es dich und deinen Bruder jemals die Schwelle meines Hauses übertreten zu lassen“, bekam Jared daraufhin zu hören. „Diesen Fehler hast du ja sehr schnell behoben“, erwiderte er bitter, „Aber darum geht es nicht. Ich rate dir nochmals dich kooperativ zu verhalten.“ „Ich werde Rufus nicht verraten. Ich habe Fleur geliebt und auch dein Bruder hat sie geliebt… Rufus ist ihrer beider Sohn“, sagte Hector und klang matt und kraftlos. „Hector, versuchst du an mein Gewissen zu appellieren?“, sagte Jared und lachte freudlos auf, „Schau doch mal in meine Augen und du siehst, wie es um mein Gewissen bestellt ist.“ Verständnislos sah Sir Vacé Jared an. Dieses abnorme grüne Leuchten… er hatte sich schon gefragt, was es zu bedeuten hatte. Kapitel 3: Wer bist du? ----------------------- Es blieb keine Zeit noch irgendetwas mit zunehmen und so reisten sie mit dem was sie am Leibe trugen und das war nicht viel. Helena hatte nur ihren Bogen und ein paar Pfeile dabei und der Hüter nur sein Buch – sein Buch, dass er nie gewollt hatte. So schlichen sie wie schwarze Schatten durch die Gänge, nachdem Rufus mit Betrayal dafür gesorgt hatte, dass sie unbehelligt ihren Weg hinausfanden. Eine leichte Übelkeit hatte Rufus befallen, die er der Aufregung der jüngsten Ereignisse zuschob. Draußen angekommen dämmerte bereits ein junger Morgen, sofort flog Lonán hoch in den Himmel und drehte seine Kreise. Sie hatten keine Zeit zu verschnaufen. „Und wohin gehen wir jetzt?“, fragte Rufus Helena, die sich wieder in ihre Tücher gehüllt hatte. Alles was er sehen konnte waren ihre eisblauen Augen, deren Ausdruck der Junge als Traurigkeit deuten würde. Was sie wohl dachte? Immerhin hatte sie wohl gerade ihr zuhause verloren, die Männer, die sie jahrelang ihre Brüder genannt hatte, waren jetzt ihre Feinde und es war seine Schuld. Wieso hatte sie das getan? Sie schuldete ihm nichts. „Lonán kennt den Weg“, antwortete Helena leise, ihre Stimme war gedämpft von den Tüchern. Rufus Blick wanderte zu dem Raben am Himmel, der gen Westen flog, weg von der Aufgehenden Sonne in ihrem Rücken, die sich langsam über das Felsmassiv schob, in dem die Bibliothek der Schwarzen Vögel verborgen lag. Hatte er vor wenigen Stunden noch gedacht, dass er dort Schutz und Antworten finden würde, so wurde ihm nun schmerzlich bewusst, dass er dort erneut nur Feinde gefunden hatte. Rufus vertrieb die dunklen Gedanken schnell und folgte Lonán. Im Gehen wollte er erneut das Buch aufschlagen und ihr weiteres sicheres Vorankommen sichern. „Nein“, sagte Helena bestimmt, klang dabei jedoch eher besorgt als befehlend, „Wir wissen nicht, was die Benutzung des Buches kostet.“ „Was die Benutzung kostet?“, fragte der junge Hüter nach. Was sollte das nun wieder bedeuten? „Nichts im Leben ist umsonst“, antwortete Helena, „Nichts passiert umsonst und man bekommt auch nichts, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Du bist der Hüter des Buches, nicht sein Herr. Deine Aufgabe ist es zu schützen, nicht es zu beherrschen und je mehr du es benutzt, desto höher wird der Preis sein, denn es irgendwann einfordern wird.“ Rufus nickte matt. Wie hatte er nur annehmen können, so eine Macht würde nichts kosten? Er musste endlich lernen kritischer zu werden, skeptischer. Er musste anfangen, die Dinge mehr zu hinterfragen, besonders in der Position, in der er sich jetzt befand. Seine unüberlegte Art an die Dinge heranzugehen, hatte ihn schon zu oft in Gefahr gebracht und ab jetzt würde er auch Helena gefährden, die sich ihm angeschlossen hatte. Auch für sie musste er vorsichtiger sein, hatte sie doch ein großes Opfer für ihn gebracht, wenn er auch nicht begriff wieso. War Helena einfach nur eine besonders herzensgute junge Frau? Er war sich sicher, dass sehr viel mehr hinter ihr steckte als das. Kurz sah er noch einmal nach Osten, zurück zur Bibliothek, doch niemand schien ihnen zu folgen. „Sie werden uns nicht folgen“, sagte Helena, die seinem Blick bemerkt hatte, „Nicht, auf diesem Wege, aber glaub mir, wenn ich dir sage, wir haben nicht zum letzten Mal einen Bruder der Bibliothek gesehen und Gefahren, gibt es auch hier draußen genug.“ Sofort erinnerte sich Rufus an die Räuber, besonders jenen mit den leuchtend Grünen Augen und seinem gezahnten Schwert. Diese waren auch hinter ihm her und mit Sicherheit auch noch andere, von denen er noch gar nichts wusste und alles was sie an Waffen bei sich hatten war Helenas Bogen. Dazu kam, dass sie zu Fuß unterwegs waren und nicht besonders schnell. Lonán über ihnen drehte immer wieder Kreise und Schlaufen, damit sie nicht den Anschluss verloren. Wohin er sie wohl führte? Nach Helenas kryptischer Antwort, dass ihr gefiederter Freund den Weg kenne, hatte Rufus nicht weiter nachfragen wollen. Vielleicht wusste sie selbst nicht so genau, wohin ihr treuer Begleiter sie führte. Die Sonne stieg immer Höher, bis sie schließlich den Rand eines Waldes erreichten. Lonán hatte sich auf einem der Äste niedergelassen. Und krächzte ihnen etwas zu, woraufhin Helena ihm in der merkwürdigen Sprache, mit der sie sich stets mit ihm unterhielt, antwortete. „Wir machen hier eine kleine Rast“, wandte sie seit langem wieder das Wort an Rufus. Zwischen den Bäumen entsprang eine Quelle, die einen Bachlauf speiste, der durch den vor ihnen liegenden Wald plätscherte. Seine Schmerzenden Füße von sich Streckend, lies sich Rufus auf dem weichen Waldboden nieder und schöpfte mit der Hand aus der Quelle. Das Buch hatte er dabei zwischen seine Knie geklemmt. Dabei bemerkte er nicht, wie Helena ihn sorgenvoll beobachtete. Sicher, ihr Meister – ihr ehemaliger Meister, nach ihrem Ungehorsam würde sie nicht wieder zu ihm zurückkehren können – hatte sicher Recht. Dieser Junge hier war trotz seiner 15 Jahre noch immer mehr Kind als Mann und auch von seinem Wesen her nicht der geeignetste Hüter, doch das war kein Grund ihn zu töten! Auch sie kniete sich nun an die Quelle und zog einige der Stofffalten von ihrem Kopf, um selbst auch zu trinken. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich, dass hatte Lonán, ihr eben gesagt. Wenigstens auf den treuen Lonán konnte sie sich verlassen. Er war nicht einfach ihr Rabe – das war vollkommen falsch, Lonán gehörte ihr nicht. Er war ihr Begleiter, ihr Partner, er war ein Freund und ein Mitstreiter für das, was sie als Gut und Recht erachteten. Bis vor kurzem hatte sie noch geglaubt, das dies die Dinge waren, die die Bibliothek vorgab. Doch jetzt hatte sie erkannt, dass nur sie selbst für sich entscheiden konnte, was Gut und Recht war und niemand sonst. „Helena?“, sprach Rufus sie nun an. Sie knieten immer noch nebeneinander an der Quelle und waren jetzt auf Augenhöhe. „Wer bist du eigentlich?“ Helena blinzelte ihn an und lächelte dann für einen Moment ein kleines, trauriges Lächeln. „Wer ich bin? Nun, die Geschichte ist nicht unbedingt lang... aber aus welchem Grund sollte ich sie dir erzählen?“, antwortete sie und mit einem schmunzeln bemerkte sie Rufus' entschlossenen Blick. „Ich bin ein gefragter und gefährdeter Mann, ich habe lange genug alles nur hingenommen ohne zu hinterfragen, wenn du also willst, dass ich weiterhin Lonán und dir folge, will ich wissen, wer du bist!“, erklärte er. Helena stand auf und hielt ihm die Hand hin. „Das sind wahre Worte, endlich scheinst du etwas an Verstand zu gewinnen“, sagte sie immer noch schmunzelnd, auch wenn da immer noch ein Hauch Traurigkeit in ihren Augen lag, „Nun gut, ich will dir von mir erzählen, aber lass uns dabei weiter gehen. Wie du sagtest... du bist ein gefragter Mann“ Rufus ergriff ihre Hand und ließ sich von ihr hochziehen, auch wenn es ihm nicht gefiel, wie sie auf spöttische Art und Weise das Wort „Mann“ aussprach. Lonán krächzte und erhob sich erneut in den Himmel. Damit sie ihm immer im Auge behalten konnten, gingen sie am Rand des Waldes entlang. Und Helena begann von sich zu erzählen: „Wo soll ich nur beginnen?“, fragte sie und haderte. Sie erzählte nicht gerne von sich selbst, aber Rufus hatte recht. In seiner Position musste er sehr genau abwägen, wem er trauen konnte und wem nicht. „Du wolltest wissen wer ich bin... ich bin Helena, ehemalige Schwester der Bibliothek der Schwarzen Vögel... doch bevor ich zu einer Schwester wurde, lebte ich in einem Land, das hinter dem Meer liegt, eine kleine Insel. Ein Königreich. Es ist nicht arm und es ist auch nicht reich. Es kommt mit dem Zurecht, was sein Boden und das Meer ihm bietet. Ein friedlicher Ort. Zumindest ist es das, was ich mir in Erinnerung behalten will. Ich sagte 'es ist'... doch das stimmt nicht... ich sollte eher sagen 'es war'. Das Königreich existiert seit einigen Jahren nicht mehr. Sein Name war Ilsa Jeriva.“ Rufus brannte es auf der Zunge zu fragen, was passiert war, als Helena nun beim erzählen eine wehmütige Pause machte. „Vor 6 Jahren landeten Piraten auf der Insel. Freibeuter unter der Flagge eures Königs und sie unterwarfen alles und jeden. Jeden kleinen Bauern, jeden Fischer, die Landbesitzer wurden enteignet und wer sich wehrte gnadenlos hingerichtet. Wir lebten wie Sklaven in unserem eigenen Land, wir schufteten und ackerten, doch die Früchte unserer Arbeit wurden regelmäßig von den Piraten eingeheimst. Man ließ uns gerade genug zum Leben.“ Wütend und Traurig zugleich dachte Helena an ihre Heimat zurück, die jetzt noch immer unter den Piraten litt. Ganz besonders rief sie sich einen Tag ins Gedächtnis, der nun mehr viereinhalb Jahre zurücklag. Ihr Vater hatte nicht genug Gold um die Steuern an die Piraten zu Zahlen. Der Kapitän höchstpersönlich war bei ihnen aufgetaucht. Angewidert dachte Helena an den hochgewachsenen Mann, der mit überheblicher Mine ihre Mutter zur Seite geschubst hatte und sich breitbeinig in ihrer Kleinen Wohnstube positionierte. Hinter ihm zwei hagere, krumme Gestalten, das Gesicht des einem glich einen Wiesel, das des anderen kam keiner Beschreibung gleich. Vor ihnen wirkte der Kapitän noch um einiges eindrucksvoller. Sein Aussehen war herb und wild, aber weniger abstoßend als das seiner Begleiter. Sein Haar war schmuddelig und zerzaust. Er trug es zu einem Pferdeschwanz gebunden, so dass man den zugespitzten Knochensplitter sehen konnte, den er sich durch sein Ohrläppchen gesteckt hatte. Seine Kleidung war auch weniger schäbig als die seiner Begleiter. Er trug einen Säbel bei sich und mehrere Musketen und etwas Merkwürdiges; ein kleines Buch, eingebunden in graues Leder. Er trug es in einem extra angefertigten Halfter neben seiner Pistole. Auch wenn Helena es damals noch nicht wusste, sie hatte gerade ihren ersten Blick auf das Buch Loss geworfen. „Er hatte Loss bei sich?“, fragte Rufus erstaunt und Helena nickte düster. „Ja, es muss wohl Loss gewesen sein, auf dem grauen Ledereinband tanzten Linien in verwaschenen Brauntönen, ähnlich den schwarzen von Betrayal. Aber lass mich weiter erzählen. Mein Vater konnte den Mann also nicht bezahlen... da fiel sein Blick auf mich – nie werde ich diese Augen vergessen. Sie waren beinah so schwarz, wie die See bei Nacht... und wie er mich so ansah, meinte er, dass, wenn er schon kein Gold bekommen würde... würde er eben das Mädchen mit den goldenen Haaren mitnehmen. Bevor mein Vater auch nur irgendetwas tun konnte, war er mit mir zur Tür hinaus und ich schrie und trampelte... doch es half nichts. Schon war ich auf dem Schiff in einem kleinen Käfig, zusammen mit zwei anderen Gefangenen. Wir setzen über... mir wurde auf dem Schiff kein Haar gekrümmt, doch mein Stolz war zutiefst verletzt. Ich schwor mir, dass ich stark werden würde. Gelegentlich sah der Kapitän nach mir, er war sogar recht freundlich, für einen Piraten, aber ich habe ihn gehasst und hasse ihn auch heute noch.“ Sie machte eine Pause und über ihnen hörte man Lonán in einer melodischen Folge krächzten – wobei seine Laute eigentlich kaum noch etwas mit dem krächzen eines Raben gemein hatten, jedoch viel Rufus einfach kein besseres Wort dafür ein. Helena murmelte etwas in der fremden Sprache und erzählte dann weiter: „Kaum waren wir an Land, war ich schon entkommen, ich lief direkt in die Arme eines Bruders der Bibliothek, der in der Hafenstadt Takala Erledigungen machte. Er nahm mich mit sich, als ich ihm – ich weiß gar nicht mehr wieso – von dem Buch an der Seite des Kapitäns erzählte. Man versprach mir, dass man mir helfen würde, wenn ich zu einer Schwester werden würde. Ich lernte Lonán kennen, ich lernte seine Sprache, ich lernte alles bekannte über die Bücher, ich arbeitete hart an mir. Doch den Piraten bekam ich nie wieder zu Gesicht, denn kaum war ich eine Schwester der Bibliothek, segelten die Piraten unter einem anderen Kapitän und der Verbleib von Loss war und ist unbekannt... nichts desto trotzt war ich nun der Bibliothek und den Büchern verpflichtet.“ Rufus hatte Helena gebannt zugehört und er betrachtete sie nachdenklich. Von wegen keine lange Geschichte, das war nun doch ganz schön viel auf einmal. Zwar hatte er gewusst, dass das Königreich eine Kolonie auf einer Insel mit dem Namen Ilsa Jeriva hatte, das hatte er aufgeschnappt, als sich sein Vater mal wieder mit einem Boten des Königs unterhielt, doch von Piraten und Kindesverschleppung hatte er nichts gehört. Das klang alles sehr schrecklich in seinen Ohren. Bestimmt hatte Helena immer noch schwer an ihrem Schicksal zu tragen... ob sie wohl Heimweh hatte? Ob sie oft an den Piraten und die Fahrt auf den Schiff dachte? Ob sie sich rächen wollte? „Aber jetzt bist du keine Schwester mehr“, sagte Rufus, „Du musst dich nicht mit mir herumschlagen. Du kannst gehen, wohin du willst. Du bist mir nichts schuldig.“ Helena lächelte ihn überlegen an. „Das nicht, aber DU bist mir etwas schuldig, schließlich habe ich dir nun schon mehrmals dein Leben gerettet.“ Rufus sah sie fassungslos an. Er hatte doch schon schwer an der Bürde von Betrayal zu tragen und überhaupt, wie sollte er seine Schuldigkeit bei Helena begleichen? Wollte sie etwa, dass er ihr dabei half ihre Heimat zu befreien? Das würde bedeuten, er müsse sich gegen den König stellen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)