Shinigami Haken Kyoukai desu - Shinigami Dispatch Society von Frigg ================================================================================ Prolog: Leben und Tod --------------------- London zur Zeit von Königin Viktoria. Es war eine Zeit, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich groß war. Entweder man lebte von der Hand in den Mund oder gönnte sich jeden Abend prunkvolle Feste mit leckerem Essen. Nur wenige der einfachen Schicht verdienten genug, um der Familie das Überleben zu sichern. Oft sah man Kinder auf der Straße betteln oder Lebensmittel stehlen. Die älteren Sprösslinge in der Familien wurden zur Arbeit in die Schmiede oder Webhäuser geschickt. Manch einer Frau blieb auch nichts anderes übrig, als ihren Körper in dem Stadtteil East End zu verkaufen. Es war ein gefährliches Unterfangen. In diesem Viertelt waren nicht nur Prostituierte unterwegs, sondern auch Diebe, Trunkenbolde und Mörder. Der Anblick einer Leiche war nichts Ungewöhnliches. Oft fand man einen Nachbarn oder Freund, mit dem man am Tag zuvor noch geplaudert hatte, am nächsten Morgen mit aufgeschnittener Kehle in der Gosse wieder. Niemanden kümmerte es. Sie wurden einfach unter die Erde gebracht. Es war ein rauer und kühler Herbsttag in London. Der Wind zog durch alle Ritzen und wer sich kein Holz zum Befeuern leisten konnte, musste sich mit dem wärmen, was er am Leibe trug, was in den meisten Fällen nicht sehr viel war. Oft trugen viele Leute nur einfache, abgetragene und geflickte Kleider, die nicht viel Wärme boten. Der Winter war die härteste Zeit. Dann starben die meisten Menschen wegen der Kälte. Emily Lyall führte ein solches, armes Leben. Sie war gerade Sechzehn Jahre alt und stand in der Blüte ihrer Jugend. Doch sie sah abgemagert aus. Ihre Haare waren strähnig, filzig und hatten mit Sicherheit auch Läuse. Um ihr linkes Auge hatte sie einen Verband gebunden. Ihre Eltern waren nie reich gewesen und es war ein ständiger Kampf, sie und ihre Geschwister zu ernähren. Die ganze Familie war immer froh gewesen, wenn sie es schafften, für eine Woche einen Laib Brot auf den Tisch zu bekommen. Fleisch gab es nur ganz selten. Oft gab es zu dem Brot nicht mehr als eine einfache Kohlsuppe, die ihre Mutter die ganze Woche mit immer mehr Wasser strecken musste. So etwas wie einen Apfel oder Weintrauben hatte Emily noch nie gegessen. Es war ein Traum von ihr, einmal in einen Apfel zu beißen. Sie hatte gehört, dass er sehr köstlich und süß schmecken würde. Weintrauben sollten sogar noch leckerer sein. Emily rannte durch die Straßen vom East End. Sie war keine Prostituierte, obwohl sie schon des Öfteren von einem Trunkenbold bedrängt worden war. Doch jedes Mal trat sie solch einem in seine Genitalien und rannte davon. In dem Schutz einer Hausecke hielt sie sich dann bedeckt und wartete ab. Auch jetzt versteckte sie sich wieder hinter einer Häuserecke vor solch einem Trunkenbold. Ihre Haut war bläulich angelaufen. Ein Zeichen dafür, dass sie fror. Das graue Kleid, welches sie trug, war schon mehrfach geflickt worden und schon von ihrer Mutter, Gott hab sie selig, und ihrer älteren Schwester getragen worden. Aus ihrem Ausschnitt zog sie einen Lederbeutel hervor. Diesen hatte sie erfolgreich einem Betrunkenen in einer Schenke abgenommen. Sie öffnete ihn und spähte hinein. Es waren drei 50 Pens drin. Eine gute Ausbeute. Dafür könnten sie sich zwei Laib Brot kaufen. Schnell schloss sie den Beutel und verstaute ihn wieder in ihrem Mieder zwischen ihren Brüsten. Sie kroch aus der Häuserecke hervor, sah sich um und rannte durch die Straßen. Emily wollte nur schnell nach Hause und das Geld ihrem Vater zeigen. Ihr Vater war seit dem Tod ihrer Mutter wie verändert. Das meiste Geld, was er verdiente, gab er für Alkohol aus. Emilys ältere Schwester musste hart arbeiten. Tagsüber im Webhaus und abends verkaufte sie ihren Körper, damit etwas Geld in die Haushaltskasse floss. Wenn ihr Vater wieder mal zu viel getrunken hatte, kam es durchaus vor, dass ihre Schwester auch ihn als Freier hatte. Sie hörte dann immer wie er sie schlug und ihre unterdrückten Schreie, wenn er sich an ihr verging. Es kam auch nicht selten vor, dass er auch sie oder ihre jüngeren Geschwister schlug. Erst gestern war er wieder ihr gegenüber handgreiflich geworden und hatte ihr ein blaues Auge verpasst. Aus diesem Grund trug sie einen Verband um ihr linkes Auge. Jede Nacht fürchtete sich Emily, dass ihr Vater sich auch an ihr vergehen würde. Oft genug warf er ihr einen solchen Blick zu, wie es nur Freier bei den Huren taten oder er ließ Kommentare hören, dass sie doch auch ihren Körper verkaufen sollte. Als sie sich weigerte, hatte er sie fast zu Tode geprügelt. Noch Wochen später hatten Blutergüsse und Schrammen ihren Körper gezierten und jede Bewegung zur Qual gemacht. Einige der Narben waren schon älter und erinnerten sie täglich an das, was ihr Vater tat. Schließlich hatte sie nachgegeben und ging mit ihrer Schwester jeden Abend zum East End, aus Furcht, er würde wieder schlagen. Doch verkaufen würde sie ihren Körper nie. Egal, wie wenig sie zu Essen hatte. Erfolgreich hatte sie ihren Vater bisher täuschen können, indem sie jede Nacht ein paar Pens von einem Betrunkenen auf der Straße stahl, der sie bedrängte oder wie eben in der Kneipe. Doch es war auch nicht ungefährlich. Die Strafe für Diebstahl war im East End das Ausstechen des Auges oder Handabschlagen. Das Gesetz bestrafte so etwas mit dem Tode durch den Strang. Sie rannte so schnell sie konnte. Sie wollte nur nach Hause. Auch, wenn es dort so kalt wie hier draußen war. Geschickt wich sie den Kutschen mit den Pferden aus, Trunkenbolden und anderen zwielichtigen Gestalten. Als sie das heruntergekommene, kleine Häuschen, was mehr die Bezeichnung Hütte verdient hätte, sah, machte ihr Herz einen Hüpfer. Schon bald würde sie dort sein. Vielleicht würde ihr Vater sie diese Nacht nicht schlagen. Immerhin hatte sie eine gute Ausbeute gemacht. Mit klopfendem Herzen und völlig außer Atem betrat sie die Hütte. Eine einzelne brennende Kerze spendete spärliches Licht. In der linken Ecke war die Schlafstätte von ihren Geschwistern, ihrem Vater und ihr. Es gab keine richtigen Betten. Es war ein Lager aus altem Stroh, in dem mehr Flöhe und andere Parasiten hausten als bei einem Hund, und zwei alten Decken. Ihre jüngeren Geschwister schliefen. Zumindest lagen sie auf ihren Lagern. In der anderen Ecke des Hauses gab es eine kleine Feuerstelle zum Kochen und einen kleinen Tisch mit Stühlen. Ihr Vater lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Am Boden lag eine zerbrochene Flasche. Die Scherben hatten sich über den Boden verteilt. Der zerlaufene Alkohol war in dem Boden eingesickert und der Geruch verteilte sich bereits im ganzen Haus. Erst als sie zum Herd blickte, sah sie, wie ihre Schwester am Boden lag. Panisch stürzte sie zu ihr. Schüttelte ihren leblosen Leib. Ihr Körper war eingefallen, hatte eine gräulich blaue Farbe angenommen und war kalt. Erschrocken wich sie zurück, als sie das Blut auf der Brust ihrer Schwester sah. Mitten drin ein klaffendes Loch. Auf dem Boden unter ihr hatte sich eine riesige Blutlache gebildet. Emily unterdrückte einen Schrei. Sie rannte zu ihrem Vater und schüttelte auch ihn. Er gab keine Regung von sich. Sein Hemd war blutgetränkt. Auch wenn Emily wusste, dass es nichts brachte, rannte sie zur Lagerstätte ihrer jüngeren Geschwister und versuchte auch dort ein Lebenszeichen zu bekommen. Sie erreichte nichts, als dass sie mit leerem Blick aus weit geöffneten Augen angestarrt wurde. Es gab kein Lebenszeichen mehr. Jedoch waren diese Körper noch schlimmer zugerichtet. Das ganze Lager war voller Blut und die Brustkörbe zertrümmert, wie von einer Bestie. Die Bäuche waren aufgeschlitzt und die Eingeweide hingen heraus und bildeten nur noch eine größere Blutlache. Panisch wich Emily in eine der hintersten Ecken der Hütte zurück, sank zu Boden und zitterte. Wer war das gewesen? Wie konnte jemand nur so grausam sein!? Nun hatte sie niemanden mehr. Sie war nun ganz allein. Bei dem Gedanken fing ihr Körper an zu zittern und ihre Schultern bebten. Ein Schluchzen entkam ihrer Kehle. Ihre Nase triefte und ihr Blick verschleierte sich. Die Tränen bahnten sich einen Weg über ihr schmutziges Gesicht. Sie zog die Knie an sich und legte ihren Kopf darauf. Ohne es zu merken begann sie hin und her zu wiegen. Wie sollte es nur weiter gehen? Sie war minderjährig. Man würde sie garantiert in ein Frauenhaus schicken, auf der Straße verwahrlosen lassen, in ein Arbeitshaus schicken oder sogar schlimmer noch, man würde sie selbst des Mordes an ihrer Familie bezichtigen. Egal, ob sie zu einer solchen Tat körperlich im Stande wäre, der Richter würde sie für schuldig befinden. Sie würde lebenslang in einem Gefängnis sitzen oder sogar durch den Strang sterben. Diese Vorstellung bereitete Emily noch mehr Angst und sie kroch, wenn möglich noch tiefer in den Schatten der Ecke hinein. Plötzlich ging die Tür auf. Emilys Nackenhaare stellten sich auf. Sie zitterte. Was, wenn es der Mörder war, der nun zurückkam, um auch sie zu töten? Sie durfte jetzt keinen Mucks mehr machen. Der Schein der Kerze ließ sie die drei Männer erkennen, die in die Hütte kamen. Ihre Stirn zog sich in Falten. Es waren Männer, die gut aussahen. Niemand, der im East End lebte, würde so gut gekleidet sein. Der erste Mann, der herein kam, trug einen schwarzen Anzug und ein blütenweißes Hemd. Seine Hände verdeckten schwarze Handschuhe. Seine Haare waren gewaschen, ordentlich gekämmt und frisiert. Unter dem einen Arm trug er eine Mappe und in der anderen Hand hielt er einen langen Stab. Als er sich umsah, konnte Emily das Profil erkennen. Auf seiner Nase saß eine graue Brille mit breitem Rahmen. Der Blick war kühl und was war das?! Seine Augen waren stechend grün-gelblich. So eine Farbe hatte sie bei einem Menschen noch nie gesehen. Sein Auftritt erinnerte sie an einen reichen Bankier. Dieser Mann ging zu ihrem Vater hinüber und sah etwas in seiner Mappe nach und untersuchte ihn. Der zweite Mann, der herein kam, hatte ebenfalls einen schwarzen Anzug an. Er war etwas kleiner und zierlicher als der Erste. Sein Haar war braun und auch er trug eine Brille. In seinen Händen hielt er etwas, das aussah wie ein übergroßes Messer. Der letzte Mann, der in die Hütte kam, wirkte älter als die ersten Beiden. Sein Haar war blond und an der rechten Seite schwarz. Seine Kleidung war wie die der anderen Männer und seine Brille war ein kleines Modell und recht dünn. In der Hand hatte er eine Säge. Sein Gang war lässig und locker. Emily hatte so etwas noch nie gesehen. Wer waren diese Männer und was machten sie da? Alle drei verteilten sich im Raum und untersuchten ihre Familie. „Nichts“, sagte der Braunhaarige. „Hier auch nichts.“ Der erste Mann nickte nur. „Wie ich es erwartet habe. Keine Cinematic Records. Wir müssen weiter und denjenigen finden, der sie stiehlt.“ Emily beobachtete die drei Männer genau. Alle hatten die gleiche Kleidung an und die gleichen grünen Augen und alle drei trugen eine Brille. War das so etwas wie ein Geheimbund? Und wovon redeten sie bloß? Cinematic Records? Was sollte das sein? Was wollten sie von ihrer Familie? Hatten sie womöglich sogar mit deren Tod zu tun? Emily rutschte ein Stückchen weiter. Ihr Blick war noch immer durch Tränen verschleiert. „Au! Verdammt!“, entfuhr es ihr. Sie zog eine Glasscherbe aus ihrer Hand. Es war eine der Scherben, die sich von der zerbrochenen Alkoholflasche über den Boden verteilt hatten. Das Blut lief über ihre Handfläche und sie ballte die Hand nur zur Faust. Emily merkte sofort, dass das ein großer Fehler gewesen war, laut zu fluchen. Sie schlug sich die gesunde Hand vor den Mund, doch es war zu spät. Die drei Männer hatten sie entdeckt und kamen auf sie zu. Schnell sprang sie auf und machte sich bereit, wenn nötig irgendwie zu fliehen. „Wer sind…Sie? Was….wollen…Sie hier?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Sie versuchte sich ihre Angst nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Hey, hast du denjenigen gesehen, der hier dieses Massaker veranstaltet hat? Oder warst du es am Ende sogar selbst?“, fragte der Blonde. Der Mann mit den schwarzen Haaren musterte sie kalt mit den grün-gelben Augen. Emily schüttelte energisch den Kopf. „Was fällt Ihnen ein, mir das zu unterstellen?! Ich würde nie, niemals meine Familie töten!“, rief sie zornig. „Mr. Spears, was meinen Sie?“, fragte der Brünette. Der Angesprochene mit den schwarzen Haaren, der offenbar Spears mit Nachnamen hieß, blätterte in der Mappe herum. „Wie ist Ihr Name?“, fragte er nur ungerührt. „Denken Sie, ich sag Ihnen das?! Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie hier?“ „Ah da“, sagte Spears ohne auf ihre Worte zu achten. „Und?“, fragten die beiden anderen wie aus einem Munde. „Für heute war der Tod von keinem dieser Leute vorgesehen. Wieder jemand, der nicht auf der Liste stand. Sie ist auch nicht die Person, die wir suchen. Wir haben hier nichts mehr verloren. Gehen wir.“ Die Beiden anderen nickten. Alle Drei verließen ohne weitere Worte das Haus. Emily stürmte ohne groß nachzudenken hinterher. „Wartet! Wer seid ihr?! Was meint ihr damit, sie standen nicht auf der Liste?! Soll das heißen, meine Familie sollte nicht sterben?!!“, schrie sie, doch als sie nach draußen blickte, war keiner der Drei zu sehen. Nach allen Seiten sah sie sich um. Die Nachbarn schauten sie an, doch blickten gleich wieder fort. Sie war für die Anderen nichts weiter als ein betrunkenes Mädchen, das irgendetwas vor sich hin faselte. Emily sah, aus irgendeinem inneren Impuls, nach oben und entdeckte die drei Personen auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Es war ihr schleierhaft, wie sie da oben hinkamen. Doch kaum hatte sie diese entdeckt, sprangen sie wie Dämonen von Dach zu Dach. Emily rannte ihnen hinterher. Die Kälte und der Tod waren vergessen. „Wartet!“, schrie sie und rannte keuchend hinterher. Sie hatte Mühe Schritt zu halten. Einer der drei Männer, sie glaubte, es war der Schwarzhaarige, Spears, sah zu ihr herunter. Sie rannte dennoch weiter. Plötzlich blieb sie schlitternd stehen. Spears stand vor ihr. Emilys Herz klopfte hart gegen ihre Brust und sie konnte nur noch keuchend atmen. Ihre Lunge schmerzte. Spears sah sie unverwandt an. Seine grün-gelben Augen blickten tief in ihre blau-grünen Augen. „Interessant“, meinte er und sah in seine Mappe. Er fand offenbar die Seite, die er suchte, zückte einen Stift aus der Innenseite seines Jacketts und notierte sich etwas. „Geh nach Hause“, sagte er nur und war in der nächsten Sekunde verschwunden. Emily blieb verwirrt an der Stelle stehen. Nach Hause. Das war leichter gesagt als getan, wenn sie daran dachte, was dort auf sie warten würde. Nein, sie würde nicht dorthin zurückkehren. Die Gefahr, dass man sie verurteilte war zu groß. Sie ging in eine andere Richtung als in die, aus der sie gekommen war. Weg. Das war ihr einziger Gedanke. Sie wollte nur so viel Distanz zu diesem grausamen Ort bringen wie es nur möglich war. Ihre Schritte beschleunigten sich und sie rannte blind vor Tränen. Emily war einfach zu verwirrt. Zuerst der Tod ihrer Familie und dann diese drei merkwürdigen Männer. Ohne auf den Weg und den Verkehr zu achten, rannte sie weiter. Sie hörte Hufe über die Straße galoppieren. Ein Pferd wieherte ganz in ihrer Nähe. Das Knarren einer Kutsche war ganz nah bei ihr. Als sie stehen blieb und sich die Tränen aus den Augen wischte, sah sie sich um. Ihre Pupillen weiteten sich. Der Herzschlag blieb für Sekunden aus. Adrenalin wurde in ihren Körper gepumpt, doch sie war zu perplex, um auch nur einen Finger zu krümmen, geschweige denn daran zu denken, aus dem Weg zu springen. Die Kutsche mit den Pferden raste ungehindert auf sie zu. Der Kutscher rief: „Aus dem Weg, Schlampe!“ Doch Emily konnte sich noch immer nicht rühren und der Kutscher war nicht mehr in der Lage, die Kutsche um sie herum zu lenken. Die Pferde trafen sie mit voller Wucht und warfen sie zur Seite. Die Räder rollten über ihren Leib drüber. Der Kutscher drehte sich um. „Elendes Weibsstück!“, rief er erzürnt und trieb die Pferde an. Emily lag auf dem Boden. Blut tränkte das Straßenpflaster und ihre Kleidung rot. Ihre Atmung war flach. Ihre Augen noch immer weit geöffnet. Plötzlich erschienen die drei Leute wieder um sie herum. Spears hob sie vorsichtig hoch. „Was haben Sie vor?“, fragte der Brünette. „Sie mitnehmen“, antwortete Spears. „Ist sie…?“ Emily hätte gerne gewusst, was sie war, dass dieser Spears sie mitnahm. „Ich weiß jetzt, wer ihr seid…“, flüsterte sie kaum hörbar. Es fiel ihr schwer den Blick auf Spears zu halten. „Ihr seid die Todesgötter…oder?“ Sie konnte es fühlen. Der Tod war da und würde nicht von ihrer Seite weichen, wenn sich ihre Seele vom Körper löste. Er würde ihr beistehen und sie nicht alleine lassen. Emily hatte nie groß über den Tod nachgedacht. Die Kirche sagte immer, dass die Engel des Herren jemanden holen würden, doch nun sah sie mit ihren Augen die Wahrheit. Sie würde es nur nie jemanden erzählen können. Ein Schwall Blut ergoss sich aus ihrem Mund und auf ihr Kleid. Spears nickte kaum merklich. „Sag mir jetzt deinen Namen…“ „….E..m…“, setzte sie an, doch es fiel ihr unglaublich schwer. Ihr Herz schlug schnell. Dann verschwamm das Bild vor ihren Augen. Sie fühlte nicht mehr die Kälte. Im Gegenteil. Es war warm. Ihre letzten Gedanken kreisten um ihre tote Familie. Es war besser, wenn sie tot waren. Ihr Vater konnte niemanden mehr im Rausch schlagen, er würde sich nicht an ihr vergehen und erst recht nicht mehr an ihrer Schwester. Ihre Schwester musste sich nicht mehr verkaufen und hart in dem Webhaus arbeiten. Sie wurde nicht mehr geschlagen oder vom Vater vergewaltigt. Auch ihre kleineren Geschwister hatten es jetzt sicherlich besser. Sie mussten nicht mehr Hunger leiden, betteln und Prügel ertragen. Es gab nichts mehr, wovor sie Angst haben mussten. Vielleicht würde sie sogar ihre Mutter nach all der Zeit wieder sehen? Bestand die Möglichkeit, dass sie alle im Tod wieder vereint waren? Ihr Herz tat einen letzten Schlag. Sie atmete noch einmal flach ein und aus, dann hörte der Brustkorb auf sich zu bewegen. Lily McNeil war schlagartig wach. Verwirrt fasste sie sich an die kalte Stirn. Was zum Henker war das für ein Traum? Sie hatte keine Ahnung, woher er kam oder was er zu bedeuten hatte oder wer das Mädchen war. Lily wusste nur, dass sie mit Tränen in den Augen, klopfendem Herzen und schweißnass wach geworden war. Genervt und mürrisch stand sie auf. Sie ging direkt in das angrenzende Badezimmer und duschte. Das warme Wasser tat gut und lenkte ihre Gedanken vom Traum ab. Heute würde sie ihr Semesterjahr anfangen in der Shinigami Dispatch Society und wenn sie Glück hatte und gut war, würde sie am Ende an der Abschlussprüfung teilnehmen und dann offiziell als Shinigami in die Zunft aufgenommen werden. Bei dem Gedanken stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie war schon sehr aufgeregt. Kapitel 1: Regel Nr. 1: Passen Sie gut auf Ihre Brille auf ---------------------------------------------------------- Die Welt der Shinigami war für die Menschen nicht sichtbar und nicht erreichbar. Genauso wenig konnten Dämonen oder Engel sie erreichen. Es gab nur wenige Ausnahmen der letzten Beiden. Jene waren besonders mächtige und starke Engel oder Dämonen. Doch diese hatten nie einen Grund zu den Shinigami zu gehen. So war diese Welt gut geschützt und unter sich. Doch wie auch in der Welt der Menschen, herrschte dort Wetterwechsel. Nach tagelangem Regen war es endlich einmal wieder ein warmer und sonniger Tag in der Welt der Shinigami. Der Sommer war fast zu Ende und der Herbst würde auch hier bald Einzug halten. Die Shinigami Dispatch Society war ein großes und weißes Gebäude mit vielen Glasfenstern. Eine kleine Allee von Bäumen war mit angepflanzt worden und verlieh der Kühle und Größe des Gebäudes einen warmen Anstrich. Das Hauptgebäude bestand aus mehreren Abteilungen. Alle dienten nur dazu, dass die Seelen korrekt eingesammelt wurden und keine spurlos verschwand. Neben dem Hauptgebäude gab es noch zwei weitere, ebenfalls sehr große Gebäude. Lily McNeil stand vor dem großen Anwesen der Shinigami Dispatch Society. Mit ihren grün-gelblichen Augen sah sie sich genau um. Auf dem angrenzenden Gelände tummelten sich einige Shinigami und auch einige ältere Lehrlinge. Sie gehörte zu Letzteren und heute würde ihre Ausbildung anfangen. Sie hatte endlich die Grundausbildung fertig abgeschlossen. Die Grundausbildung war für jeden Shinigami gleich und dauerte drei Jahre. Man lernte etwas über die Menschen und deren Welt, trainierte seinen Körper, lernte, wie manche Menschen auch, lesen, schreiben und rechnen. Auch wurde einem beigebracht, wie man sich verteidigte und sich und andere schützte. Es waren Dinge, die für ihre spätere Berufswahl wichtig waren. Im letzten Jahr der Grundausbildung kam dann die Orientierung, wo man später in der Society arbeiten wollte. Alle absolvierten ein Praktikum in sämtlichen Abteilungen für einen Monat, schrieben Berichte dazu und wurden in entsprechende Kurse eingeteilt, die sie auf ihre Ausbildung zum vollwertigen Shinigami vorbereiten sollten. Lily holte das Schriftstück aus ihrem Jackett und schaute noch einmal darauf. Sie sollte sich an der Rezeption melden, wo man sie zu den entsprechenden Ausbildungsräumen schicken und sie für ihr Ausbildungsjahr ausrüsten würde. Der zuständige Shinigami für die Ausbildung würde dann kommen. Nervös faltete sie das Schriftstück zusammen, ordnete noch schnell ihre Kleidung und putzte ihre Brille. Die Uniform der Shinigami war ein einfacher schwarzer Anzug mit weißem Hemd, schwarzer Krawatte und schwarzem Jackett. Für die Frauen gab es eine ähnliche Uniform. Anstatt Hosen trugen Frauen lange Röcke. Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich auf den Weg in das Gebäude und zur Rezeption. Der Frau, die dort saß, nannte sie ihren Namen und ihr Anliegen und zeigte das Schreiben vor. Ihre Augen warfen einen fragenden Blick auf das vor ihr liegende Stück Papier und anschließend auf Lily. „Ist das auch wirklich richtig? Da liegt auch sicherlich kein Missverständnis vor?“, fragte sie Lily und prüfte das Schreiben auf seine Echtheit. Lily sah die Frau fragend an. Sie verstand nicht, was daran nicht richtig sein konnte. „Natürlich ist das echt und es liegt kein Missverständnis vor. Mein Name ist Lily McNeil.“ Die Frau nickte, sah sie jedoch weiterhin kritisch an als würde sie auf einen schlechten Witz warten, als ob Lily gleich loslachen und sagen würde, dass es ein Scherz gewesen sei. Die Frau reichte ihr eine kleine Sense, die sie mit einem Halter am Gürtel tragen konnte. Der Stab der Sense war nicht besonders lang und auch die Klinge war recht klein. Die Frau an der Rezeption erklärte, dass dies die Anfängersensen seien, mit denen sie ihre Ausbildungszeit über arbeiten würde. Es fühlte sich komisch an, sie in der Hand zu halten. Es war einfach ungewohnt. „Du gehst hier den Flur entlang, bis zum Ende durch. Es ist die letzte Tür auf der linken Seite. Der für die Ausbildungsgruppe zuständige Shinigami wird auch gleich kommen. Viel Glück.“ Lily bedankte sich und ging den beschriebenen Weg entlang. Es war ein langer Flur und überall traf sie auf vollwertige Shinigami. Männer und Frauen. Doch was sie irritierte, war, dass nur die Männer meistens eine Death Scythe trugen. Bei den Frauen sah sie nie eine. Nur Mappen und Ordner. Auch ihre Brillen waren einfach und schlicht gehalten, im Gegensatz zu denen der Männer. Die Gestelle der Frauen erinnerten an die, die sämtliche Anfänger trugen. Es gab nur wenige Unterschiede. Die Anfängerbrillen waren alle rund und hatten einen dünnen Rahmen. Die Sehhilfen der Frauen, die Lily traf, hatten alle einen ovalen oder leicht eckigen, dünnen Rahmen. Plötzlich traf Lily gegen einen Widerstand. Sie stieß einen überraschten Laut aus und auch ihr Gegenüber gab einen ähnlichen Laut von sich. Durch den Stoß verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf ihren Hintern. Akten fielen auf sie nieder und verteilten sich auf dem Boden. „Aua….“, murmelte Lily und sah in das Gesicht eines rothaarigen Shinigami. Schnell richtete sie sich auf und entschuldigte sich. „Es tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen.“ „Oh...“, meinte ihr Gegenüber intelligent, „Tut mir leid, ich hab dich durch die Akten auch gar nicht gesehen.“ Der rothaarige Shinigami erhob sich und reichte ihr die Hand. Dankend nahm Lily die ihr angebotene Hand an und stand auf. „Danke“, sagte sie leicht verlegen. Es war ihr erster Tag und schon sorgte sie für Probleme. „Bist du neu hier? Ich hab dich nie hier gesehen. In welcher Abteilung arbeitest du?“ „Ja, ich bin neu hier. Heute beginnt meine Ausbildung.“ Nervös sah sie zu Boden, als der Shinigami sie musterte und sein Blick an ihrer Anfängerbrille und Anfängersense hängen blieb. Er betrachtete sie genauso wie die Frau an der Rezeption. Was hatte sie nur an sich, dass alle sie so komisch beäugten? „Ich helfe Ihnen eben beim Einsammeln der Akten", sagte sie schnell und bückte sich nach den ersten Schriftstücken, „Ich war selbst unachtsam. Wir haben beide nicht aufgepasst. Oh...da fällt mir ein, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt! Mein Name ist Lily McNeil." Auch ihr Gegenüber bückte sich wieder zu den Dokumenten hinunter, um sie wieder einzusammeln. „Oh, wie unhöflich von mir! Mein Name ist Grelle Sutcliffe, ich arbeite unter William T. Spears in der Dispatch Management Abteilung.“ Dann grinste er Lily an und sammelte die Mappen weiter ein. Als alle Akten wieder sortiert waren, verabschiedete sich Lily von Grelle und lief schnell zum Ende des Flures. Die ganze Aktion hatte sie doch einiges an Zeit gekostet. Hoffentlich war sie nicht zu spät. Die Tür zu dem Raum mit der Ausbildungsgruppe war noch offen und sie hörte munteres Stimmengewirr. Sie war also nicht zu spät. Schnell ging sie in den Raum und suchte sich einen Platz aus, wo sie warten konnte. Doch als sie ihre Ausbildungskollegen sah, wurde ihr etwas flau im Magen. Die Ausbildungsgruppe bestand nur aus Jungs. Es gab keine Frau im Team. Die Klasse bestand aus etwa zwanzig Schülern. Alle trugen sie die gleiche Uniform. Lily bildete die Ausnahme mit ihrem Rock. Lily hatte zwar damit gerechnet und wusste auch, dass niemand aus ihrer Grundausbildungsklasse dabei sein würde, aber innerlich hatte sie gehofft, dass es wenigstens ein oder zwei Frauen aus der Parallelklasse gab, die mit dabei sein würden. Hatte deshalb die Frau an der Rezeption so komisch geguckt und auch Grelle eben? Langsam verstand sie. Es gab einfach keine Frau, die in der Dispatch Management Abteilung arbeiten wollte. Deshalb hatte sie nur Männer gesehen mit Death Scythe und deshalb wurde sie auch so komisch gemustert. Aber warum wollte keine Frau in dieser Abteilung arbeiten? Ihr Entschluss stand jedenfalls fest. Sie wollte in der Dispatch Management Abteilung arbeiten und nirgendwo sonst. Plötzlich ging die Tür auf und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Die Schüler stellten sich alle ordentlich in Reih und Glied. „Sind alle anwesend?“, fragte eine kühle Männerstimme und die Tür wurde geschlossen. Vor der Klasse stand ein Shinigami mit schwarzen, ordentlich gekämmten Haaren und der klassischen Uniform. Sein Blick glitt kühl über die Reihen. In der Hand hielt er einen Lehrerstock und eine Mappe. „Mein Name ist William T. Spears“, stellte er sich vor, „Sie sind der hoffnungsvolle Nachwuchs unserer Zunft.“ William T. Spears schob sich mit dem Lehrerstock die Brille höher. Seine Augen waren auf die Gruppe gerichtet, doch es lagen keinerlei Emotionen in ihnen. Lily musterte ihn. Irgendetwas in ihr regte sich. Der Name sagte ihr etwas und auch sein Aussehen kam ihr bekannt vor. Aber das schien unmöglich zu sein. Immerhin sah sie diesen Mann heute zum ersten Mal. Sie wandte den Blick ab, bevor er merkte, wie sie ihn anstarrte. Um gar keinen Preis wollte sie am ersten Tag unangenehm auffallen. Ihr Herz zog sich plötzlich zusammen und verkrampfte sich. Das Atmen fiel ihr schwerer. Niemand bemerkte es und Lily versuchte sich zu beruhigen und aufrecht stehen zu bleiben. Was war nur auf einmal los? Ihrem Körper lief es mal warm und mal kalt den Rücken hinunter. Die Worte von William T. Spears kamen nur noch sehr leise zu ihr. Schwarze Blitze zuckten vor ihrem inneren Auge. „Während Ihrer einjährigen Ausbildungszeit werde ich Sie mit unterweisen. Wenn Ihnen etwas unklar sein sollte, können Sie mich gerne um Rat fragen. Meine tägliche Dienstzeit endet um achtzehn Uhr. Bis halb Sechs werde ich mich Ihrer annehmen. Also zuerst…“ Ein Summen hinter William T. Spears ließ ihn verstummen. Alle Augen wanderten zu der Stelle, woher die gesummte Melodie kam. William T. Spears seufzte laut und genervt auf. „Grelle Sutcliffe, sind Sie nicht ebenfalls für die Ausbildung zuständig?“ Lily sah zu dem Shinigami. Es war wirklich Grelle Sutcliffe, den sie eben auf dem Flur getroffen hatte und mit dem sie auch zusammen gestoßen war. Wann war er in diesen Raum gekommen? Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Aber sie war nicht die Einzige, die sich das fragte. Auch die anderen sahen fragend zu dem Shinigami. Lily war froh über diese Unterbrechung. Keiner schien etwas mitbekommen zu haben. Langsam beruhigte sich ihr Körper wieder und ihre Atmung ging wieder normal. Auch hörte der Wechsel von warm zu kalt auf. Sie konnte William T. Spears ansehen, ohne dass ihr Körper ausflippte. Das Gefühl, dass sie ihn kannte, verließ sie aber nicht. Grelle saß auf einem Stuhl und feilte seine rot lackierten Fingernägel. „Bedauerlicherweise gebe ich mich schon aus Prinzip nicht mit Kindern ab“, gab Grelle zur Antwort ohne ihnen allen auch nur einen Blick zu gönnen. Sein Interesse galt viel eher seinen Nägeln, doch als er mit ihrem Zustand weitestgehend zufrieden war und nichts mehr vorfand, was er hätte ausbessern können, steckte er die Nagelfeile großzügigerweise wieder weg und erbarmte sich schließlich, sich doch noch zu erheben. Geschmeidig wie eine Katze ging er zu William, während sein roter Mantel seine Beine umspielte. „Aber als ich hörte, dass du hier unterrichtest, musste ich kommen.“ Er schmiegte sich an Williams Schulter an. „Ist das nicht schön? Wir sind endlich wieder zusammen. Du freust dich doch auch, oder?“ Mit seinem Finger strich er William sanft über die Schulter. Lily beobachtete ihn neugierig. Er gab kein Zeichen der Wiedererkennung. Grelle schien ganz und gar mit dem Ausbilder beschäftigt zu sein. William trat unbeeindruckt einen Schritt zur Seite und ließ sich nichts anmerken. Nichts ließ von außen darauf schließen, wie genervt er doch von Grelle war. Lediglich seiner Stimme hörte man es an. „Was haben sich die vom Personalbüro eigentlich dabei gedacht?“ „Ach, du bist immer noch so herrlich kühl und abweisend…“ Grelles Gesicht rötete sich etwas. William T. Spears ging nicht darauf ein und ignorierte Grelles Worte. Er fuhr fort als wäre nichts gewesen. „Als erstes werde ich Sie durch unser Institut führen und die einzelnen Abteilungen erklären. Danach zeige ich Ihnen die Akademie und die Wohnräume. Später werde ich Sie auch einem vollwertigen Shinigami zuteilen, der Sie in die Praxis einführen wird.“ William wandte sich um und ging, gefolgt von der Ausbildungsgruppe, durch die Society. Grelle folgte ihnen gelangweilt und bildete den Schluss. Jeder Flur sah identisch aus. Überall hingen Bilder zur Überprüfung der Augenstärke. Auch waren überall Shinigami unterwegs, doch niemand schenkte der kleinen Gruppe Aufmerksamkeit. Es war einfach schon Routine, dass jedes Jahr aufs Neue die Ausbildungsgruppen durch das Institut geführt wurden. Obwohl außer der Gruppe noch viele Leute sich in den Gängen und Abteilungen aufhielten, kam es Lily recht leer vor. Sie hatte immer gedacht, dass es hier von Shinigami nur so wimmeln würde. Zudem konnte sie es sich auch nicht anders vorstellen. Selbst jetzt nicht, wo sie es mit eigenen Augen sah. Am liebsten hätte sie den Gruppenleiter gefragt, ob das normal war oder es einen bestimmten Grund für diese Leere gab, doch war dieser mit der Erklärung der Society beschäftigt. Sicherlich gab es später noch eine Möglichkeit ihn zu fragen. „Wir Shinigami überprüfen die Todeskandidaten anhand der uns von oben zugeteilten Listen der Seelen. Bei jedem Einzelnen werden mithilfe der Todessense die filmisch dokumentierten Erinnerungen abgerufen. Diese kinematografischen Aufzeichnungen spiegeln das gesamte Leben eines Menschen wieder. Man sieht sich diese an, entscheidet ob dieser den Tod verdient hat und sammelt seine Seele ein“, erläuterte William T. Spears und ging immer weiter durch die Flure. „Gibt es überhaupt Menschen, die den Tod nicht verdient haben?“, fragte plötzlich ein Schüler. Lily sah ihn an und musterte ihn. Er war brünett und nicht sehr groß. Er machte auch keinen besonders selbstsicheren Eindruck, wie die anderen Shinigami, die sie hier sah. Aber vielleicht würde das erst noch später kommen, wenn sie mehr gelernt hatten. William blieb plötzlich stehen und wandte sich der Gruppe zu. „Menschen, die der Welt von Nutzen sein könnten“, antwortete er emotionslos, „Wenn ihre Existenz weltbewegende Veränderungen erwarten lässt, werden sie von der Liste gestrichen und vielleicht sogar gänzlich vom Tod verschont. Aber solche Fälle kommen nur äußerst selten vor und damit uns das gar nicht erst in Schwierigkeiten bringt, kümmern wir uns nur um die Sichtung. Wir befolgen die Befehle von oben, nüchtern, sachlich und emotionslos.“ Man merkte ihm an, dass er schon lange dabei war und er schien nicht das erste Mal eine Ausbildungsgruppe zu leiten. Er verstand genau, wie man die Aufmerksamkeit auf sich zog und die Gruppe ruhig hielt. Lily dachte da an ihren Grundausbildungslehrer. Er hatte so was nicht an sich gehabt. Bei ihm wurde immer getuschelt oder Zettelchen im Unterricht geschrieben. Ruhe und Aufmerksamkeit waren selten gewesen. William T. Spears dagegen wusste, wie er mit ihnen umgehen musste. Er drehte sich wieder um und ging weiter, bis sie das Tippen von Schreibmaschinen hörten. William öffnete die Tür und trat ein, während die Gruppe in der Tür stehen blieb und in den Raum schaute. „Die Registratur. Hier werden die Listen der Todeskandidaten erstellt und die eingesammelten Seelen verwaltet.“ Lily konnte nicht sagen, wie viele Shinigami in dem Raum waren und alle blickten nicht einmal von ihrer Arbeit auf, als William die Tür geöffnet hatte und der Gruppe diese Abteilung erklärte. Es war ein großer Raum mit vielen Diagrammen und Grafiken an der Wand, dessen Bedeutung sie nicht kannte. Weiter hinten in dem Raum waren unzählige Schränke mit Ordnern und Mappen. Mehrere Schreibtische standen aneinander, jeder war gleich groß und auf ihnen standen die gleichen Sachen: eine Schreibmaschine, eine Lampe, ein Telefon und ein paar Mappen. Nachdem sie sich in der Registratur umgesehen hatten, führte er sie weiter durch die Abteilungen zur Nächsten. Sie mussten dazu durch das Treppenhaus eine Etage höher gehen. Diesmal war es eine sehr weitläufige Abteilung. Es gab mehrere Empfangsschalter. Alle waren mit dickem Glas ausgestattet. Hinter jedem Empfangsschalter saß eine Frau. An einigen standen ein paar Shinigami mit Zetteln in der Hand. Sie reichten sie der Frau und diese gab ihnen dann ihre Death Scythe. Es gab auch ein paar Sofas und Tische, wo ein paar Shinigami saßen und sich unterhielten, ihre Auftragsmappen und Death Sycthe neben sich. „Das ist die Shinigami Ausrüstungsabteilung. Hier werden die Anträge für die Todessensen eingereicht und die Todessensen ausgegeben.“ Am Empfangsschalter stand gerade ein junger, vollwertiger Shinigami. Er hatte blonde kurze Haare, doch hinten waren sie schwarz. Sein Hemd war ein wenig aufgeknöpft und die Krawatte hing ihm locker um den Hals. Er redete mit der Frau hinter der Glaswand. Wenn Lily richtig sah, flirtete er sogar ein wenig mit ihr. Nachdem er ihr einen Zettel gereicht und sich verabschiedet hatte, fiel sein Blick auf William und die Gruppe. „Hallo, Mr. Spears!“, sagte er fröhlich und trat auf die Gruppe zu und musterte alle. „Wie ich sehe, führen Sie wieder die Neuen herum!“ Der Shinigami hatte noch junge Züge an sich. Er schien noch nicht allzu lange dabei zu sein, denn er strahlte nicht das aus, was William T. Spears ausstrahlte oder manch anderer Shinigami, den Lily bisher gesehen hatte. „Guten Tag, Mr. Knox“, sagte William gelassen und wandte sich der Gruppe zu. „Das ist Mr. Ronald Knox. Er hat erst vor einem Jahr die Abschlussprüfung bestanden.“ „Werde ich auch jemanden zugeteilt bekommen?“, fragte, der ihnen als Ronald Knox vorgestellte Shinigami. William seufzte. „Sie wissen selbst, dass Sie noch nicht allzu lange dabei sind. Aber das ist auch ein Thema, was wir nicht hier besprechen sollten.“ Vor Enttäuschung verzog Ronald sein Gesicht und seine Lippen zu einem Schmollen. „Dabei mache ich meine Arbeit richtig gut. Ich muss nie Überstunden machen, bin pünktlich und die Berichte sind auch immer da.“ Grelle trat nach vorne und grinste Ronald frech an. „Ich finde, du solltest ihm eine Chance geben, William. Er macht seine Sache wirklich gut. Immerhin hast du ihn auch ausgebildet.“ Grelles Finger glitten über Williams Hals, doch dieser entzog sich den Berührungen und seufzte ergeben. „Na gut, dann kommen Sie nachher in das Akademiegebäude, fünfter Stock, Raum Nummer 55 um zwei Uhr. Dann werde ich sehen, was ich tun kann.“ Ronalds Miene hellte sich wieder auf und er machte einen kleinen Freudensprung. „Wir sehen uns dann nachher, ihr Lieben!“ Fröhlich zwinkerte er der Gruppe zu und eilte davon. Lily sah dem Shinigami ein wenig verwirrt nach. Was arbeiteten hier für Leute, schoss es ihr durch den Kopf. William führte sie ungerührt weiter, als hätte die Unterhaltung niemals stattgefunden. Die nächste Abteilung war ein weiteres Stockwerk höher. „Die Personalabteilung. Hier werden die Shinigami eingeteilt und die Anträge der Todessensen bearbeitet.“ Diese Abteilung war recht klein und es arbeiteten hauptsächlich ältere Shinigami dort. Ihre Arbeit wirkte auch sehr monoton. Sie nahmen ein Schreiben, drückten einen Stempel darauf und nahmen das Nächste. Es ging immer so weiter. Diese Arbeit war absolut nichts für Lily. Sie war froh über ihre Wahl und wenn sie die Arbeit sah, wusste sie, es war auch die richtige Entscheidung. William T. Spears führte sie weiter und erklärte die verschiedenen Abteilungen. Es gab nicht mehr viele. Sie hatten die Wichtigsten gesehen und waren jetzt ganz oben im Gebäude angekommen. „Das hier ist die Brillenabteilung. Hier wird alles bearbeitet, was unsere Brillen betrifft. Das Herzstück unserer Gesellschaft zur Entsendung der Shinigami.“ Diese Abteilung war größer als alle anderen und umfasste das gesamte obere Stockwerk. Angefangen wurde mit den Apparaten, die die Augenstärke maßen, dann den Schaubildern, um die passende Brillenstärke zu finden. Es gab gleich mehrere Apparate und Schaubilder auf einmal und an jedem stand eine lange Warteschlange. Es gab auch eine Menge Bäder, wo die Brillen gereinigt wurden. Die Vitrine mit der Brillenauswahl war riesig. Es gab alle erdenklichen Formen und Farben. Weiter hinten gab es die Gläserformen. Dort saß auch ein Mann an einem Schleifbock und bearbeitete gerade konzentriert eine Brille. Mit prüfendem Blick musterte er sie und setzte erneut zum Schleifen an. Neben ihm auf den Tisch lagen unzählige Werkzeuge. „Dieser Anblick ist jedes Mal elektrisierend!“, seufzte Grelle und sah interessiert dem Shinigami bei seiner Arbeit zu, den es nicht zu stören schien. „Wer ist das denn?“, fragte ein Schüler. Es war ein blonder Junge. Er war noch kleiner als Lily. „Das ist der Abteilungsleiter, Lorence Enderson. Aber alle nennen ihn nur Meister“, erklärte William. „Das ist er? Das ist der legendäre Meister, der die Brillen für die Shinigami herstellt?“ Die Antwort war wirklich eine Überraschung. Alle hatten von ihm gehört und jeder hatte sein eigenes Bild von diesem Meister. Der Mann sah aus wie Mitte Fünfzig. Seine Haare hatten bereits ergraute Strähnen. Er war groß gebaut und hatte breite Schultern. Seine Erscheinung war einfach nur imposant und einnehmend. „Und wir werden später auch mal seine Brillen tragen dürfen!“ Es war der brünette Junge von vorhin. Es war wirklich eine Ehre, wenn man seine Brille tragen durfte und jeder wollte so eine. Selbst Lily musste zugeben, dass sie gerne eine seiner Brillen hätte. „Also ich hätte jetzt schon gerne eine seiner Brillen. Die Brillen der Neulinge sind so gewöhnlich.“ Alle Augen wandten sich zu dem schwarzhaarigen Jungen, der zusammen zuckte. William musterte ihn kühl und der Meister warf ihm einen zornigen und strengen Blick zu. „Es werden wohl noch etliche Jahre ins Land gehen, bevor ihr eine Brille vom legendären Meister tragen dürft.“ Grelle musterte die verunsicherten Schüler und kicherte. Es war für ihn immer wieder ein Spaß, sie zu ärgern. William wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Meister zu. „Seine Brillen dürfen nur von denjenigen getragen werden, die die Abschlussprüfung bestanden haben. Kurzum, sie sind der sichtbare Beweis dafür, dass man ein vollwertiger Shinigami ist.“ „Woraus besteht diese Abschlussprüfung?“, wandte sich ein Schüler nun an William. „Ihre Noten werden aus verschiedenen Bereichen zusammengefasst. Die Bereiche umfassen: Praxis, Theorie und Ethik. Am Ende ihrer Ausbildungszeit wird jemand mit ähnlichen Noten ausgesucht und Sie werden in Zweierteams die Beurteilung einer Seele vornehmen und diese einsammeln. Das ist die Abschlussprüfung.“ „Die Beurteilung einer Seele?“ „So bald…“ Ängstlich und sichtlich verunsichert fing die Gruppe an zu tuscheln. Selbst Lily bereitete dieser Gedanke Unbehagen. Sie hatte nicht erwartet, dass sie schon nach einem Jahr die Beurteilung einer Seele vornehmen sollte. Grelle seufzte. „Diese Grünschnäbel scheinen ja nicht sonderlich tauglich zu sein.“ „Wenn sie nichts taugen, müssen sie uns eben wieder verlassen.“ Grelle schmiegte sich wieder an William an. „Du bist so gefühllos wie immer.“ Wieder ging William nicht auf Grelles Annäherungsversuch ein und ignorierte ihn stattdessen. Seine Aufmerksamkeit galt wieder der Ausbildungsgruppe. „Die Brille bekommen nur jene, die die Würde des Lebens gesehen haben. Deshalb wird die Brille der Shinigami auch die Brille des Lebens genannt.“ „Die Abschlussprüfung scheint schwierig zu sein“, merkte ein Schüler an, „Einem Menschen beim Sterben zu zusehen erfordert ganz schön viel Mut.“ Williams Augen durchbohrten die Gruppe förmlich mit dem eiskalten Blick seiner grün-gelben Augen. Auch seine Stimme war nicht anders. „Man erledigt seinen Job. Gefühle bei der Arbeit sind nur hinderlich. Wir führen einfach die vorgeschriebene Prozedur durch. Wir befolgen die Befehle von oben, nüchtern, sachlich und emotionslos.“ William ging weiter durch die Abteilung, ohne darauf zu achten, dass ihm die Gruppe beeindruckt, aber auch etwas eingeschüchtert hinterher sah. „Er ist einfach wunderbar“, seufzte Grelle und musterte Williams Rückseite. „Da wäre noch etwas.“ William blieb stehen, drehte sich noch einmal um und schob sich die Brille höher. „Achten Sie gut auf Ihre Brillen. Das ist die oberste Regel.“ Kapitel 2: Die Einweisung ------------------------- Wenn die Ausbildungsgruppe gedacht hatte, dass die Führung nach der Brillenabteilung vorbei war, dann hatte sie sich gewaltig geirrt. Es gab noch ein paar Abteilungen, die sie nicht gesehen hatten, zu denen sie jetzt William T. Spears führte. Der Vormittag war schon fast vorbei, stellte Lily mit einem Blick auf die Uhr fest. Sie erinnerte sich an Williams Worte, dass dieser Ronald Knox um zwei Uhr bei der Akademie sein sollte. Die logische Schlussfolgerung war also, dass diese Führung bald zu Ende sein würde. Die kleine Ausbildungsgruppe stand mitten in der warmen Mittagssonne, die durch die großen Glasfenster noch verstärkt wurde. Kleine Schweißperlen rannen den Lehrlingen über die Stirn, während William oder Grelle kein Zeichen von Erschöpfung oder Hitze zeigten. Lily war froh, als William mit der Gruppe ins Treppenhaus ging, wo es schön angenehm kühl war und keine Sonne schien. Er führte sie von der letzten, oberen Abteilung wieder hinunter in das Erdgeschoss. Dort war es noch wärmer und stickiger. Die Luft schien geradezu zum Schneiden dick zu sein. Doch anstatt sie nach draußen zu führen, ging William T. Spears einen Korridor entlang. Der Flur lag gegenüber dem anderen Gang, den Lily heute früh gegangen war. In diesem Gang gab es keine Türen oder Fenster und er führte geradewegs in einen anderen Teil der Society. „Ähm…Mr. Spears, wo führen Sie uns hin?“, fragte jemand aus der Gruppe. Lily konnte sein Gesicht nicht sehen. Er stand weiter vorne und hatte rötliches Haar. William wandte sich nicht um, sondern ging zielstrebig weiter. „In eine wichtige Abteilung“, gab er lediglich zur Antwort. Lily schaute William irritiert an, aber nicht nur sie war verwirrt. Was gab es denn, außer der Brillenabteilung, noch für eine andere, wichtige Abteilung? Doch die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Die kleine Gruppe erreichte das Ende des Korridors und ging durch eine große, hölzerne Flügeltür. Was sie dann sahen, verschlug ihnen allen die Sprache. Die Abteilung war riesig und voller Bücher. Alle hatten die gleiche Farbe, den gleichen Einbandrücken und die gleiche Schrift für den Titel. Jedoch waren sie alle unterschiedlich dick. Die Regale für die Bücher waren Meter hoch und an jedem standen Leitern. Lily konnte einige Shinigami sehen, welche Bücher von Wägen, die bis oben hin mit solchen voll waren, einsortierten. Die Regale erstreckten sich bis zum Dach, das aus Glas bestand und die Sonne herein schienen ließ. In den verschiedenen Ecken gab es kleine Tische, Stühle und Sofas. „Dies hier ist die Abteilung der Lebensbücher“, erklang die kalte Stimme von William, „Hier wird jedes Leben haargenau dokumentiert und aufbewahrt. In diesen Büchern steht alles über einen Menschen drin. Von seiner Geburt bis zum Tod. Hier befinden sich alle Bücher der Menschen, die einst gelebt haben und die jetzt gerade leben. Wird ein neues Menschenleben geboren, wird auch ein neues Buch angelegt. Erst nach etwa eintausend Jahren werden die Bücher vernichtet. So ist immer genügend Platz für Nachkommende vorhanden. Diese Abteilung erstreckt sich in dem gesamten hinteren Teil der Society. Dies hier ist er älteste Gebäudeteil unserer Gesellschaft.“ „Wie werden denn die Leben dokumentiert und woher weiß man, wann ein neues Buch angelegt werden muss? Woran erkennt man denn an den Büchern, dass jemand bereits tot ist? Werden auch Shinigami hier aufgelistet?“, wagte jemand zu fragen. William schenkte ihm nur einen kurzen Blick. „Die Registratur verwaltet die Seelen, wie ich vorhin erklärt habe. Jede Seele wird wiedergeboren und die Registratur bestimmt, wann und wo. Demnach werden auch hierfür Listen ausgeteilt und die Bücher angelegt. Natürlich sind hier auch die Lebensbücher eines jeden Shinigami. Die dafür vorgesehene Lebensbuchabteilung ist jedoch wesentlich kleiner als die der Menschen.“ Er ging zu einem Bücherwagen und nahm ein sehr mageres Buch aus dem Stapel. Der Einband war dunkelbraun und ledrig. Die Schrift hatte einen gold-gelben Ton, welcher stark an die Farbe von Honig erinnerte. „Hier haben wir ein gutes Beispiel. Dies ist das Buch für ein neues Leben. Es enthält am Anfang nur eine Seite. Doch es wird sich sehr schnell mit weiteren Seiten füllen. Wir verwenden dazu einen speziellen magischen Zauber. So müssen die Bücher nicht immer mit der Hand geschrieben werden. Der Einband wird sich, durch den Zauber, den Seiten anpassen und mitwachsen.“ Er legte das Lebensbuch zurück auf den Bücherwagen und zog ein sehr dickes Werk hervor. Auch dieser Einband war ledrig und dunkelbraun. Jedoch war die Schriftfarbe weiß. Die Seiten waren vergilbt und staubig. „An diesem Exemplar kann man sehr schön den Unterschied erkennen. Der Titel wird nach dem Tod des Menschen weiß. Daran können wir immer erkennen, ob der Mensch noch am Leben oder bereits tot ist.“ Auch dieses Buch legte er wieder auf den Bücherwagen. „Diese Abteilung steht jedem Shinigami zur Verfügung. Man muss sich nur vorher hier anmelden und mitteilen, dass man in den Büchern lesen möchte. Es wird dokumentiert, wie lange und welcher Shinigami hier in der Abteilung war. Die Bücher dürfen jederzeit gelesen werden, aber diese Abteilung niemals verlassen! Diese Bände sind wertvoll und dürfen niemals verloren gehen. Verstanden?“ Der Blick mit dem William T. Spears die Gruppe musterte, hätte töten können. Zum Glück starben Shinigami nicht so leicht. Die meisten starben an Altersschwäche nach mehreren Jahrhunderten. Die andere, aber sehr unwahrscheinliche Art sein Leben abzutreten, wäre durch eine Death Scythe. Die Gruppe nickte einstimmig als Zeichen, dass sie verstanden hatten. „Gut. Dann folgen Sie mir bitte. Wir werden die Society jetzt verlassen. Ich werde Ihnen nun das nächste Gebäude zeigen.“ Natürlich ging William T. Spears den Weg, den sie gekommen waren und führte sie hinaus. Lily seufzte leise, als sie die frische Luft auf ihrer Haut spürte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war außerhalb des Gebäudes wesentlich angenehmer. Die Sonne schien zwar immer noch mit all ihrer Kraft, doch der kühle Wind machte die Sache erträglicher. William führte sie aus dem Gelände der Shinigami Dispatch Society heraus und folgte einer breiten Baumallee zu einem der großen Nachbargebäude. Das Anwesen war fast so groß wie die Society und es sah genauso aus, doch wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass es um ein paar Meter kleiner war. Es war aber nicht minder beeindruckend. Gegen jegliche Erwartungen blieben sie draußen vor dem Gebäude stehen. „Das Gebäude hinter mir ist die große Bibliothek. Sie hat jetzt gerade geschlossen“, erklärte William, „In diesem Bauwerk finden Sie sämtliches Wissen. Angefangen von der Geschichte der Menschen, der Geschichte der Glaubensvorstellung, das Leben der Menschen, über Dämonen, Engel bis zu magischen Zaubern und unserer Arbeit. Die Bücher hier dürfen selbstverständlich auch ausgeliehen werden. Sie müssen sich dazu lediglich einen Bibliotheksausweis ausstellen lassen. Formulare dazu gibt es am Empfangsschalter im Gebäude. Die Öffnungszeiten stehen auf der Tür. Kommen wir nun zu unserem letzten Teil der Führung. Die Akademie.“ Lily seufzte innerlich vor Erleichterung auf. Die Führung war zum Glück bald vorbei. Sie wollte einfach nur noch das Jackett ausziehen und in der Mensa zum Mittag essen. Ihr Magen knurrte schon leise vor sich hin. Spears führte sie die breite Allee weiter, um das Bibliotheksanwesen herum und zu einem weiteren Gebäude. Es war diesmal nicht ganz so eindrucksvoll wie die anderen Beiden zuvor. Es hatte die gleiche Fassade wie die Society und die Bibliothek, jedoch nur sechs Stockwerke. William öffnete die Tür und die Gruppe trat ein. „Das hier ist die Akademie. Hier werden Sie Ihren theoretischen Unterricht absolvieren und auch ihr Training. Die Stundenpläne werde ich nachher austeilen.“ Er wandte sich zu einer großen Tür. Ein paar Stufen führten hinunter. „Dahinter befindet sich die Trainingshalle. Es gibt auch ein Gelände draußen. Am Anfang Ihres Semesters werden Sie hier üben. Später werden die Stunden nach draußen verlegt. Dann werden die Übungen mit der Anfängersense, die Sie erhalten haben, fortgeführt. Sie werden also in nächster Zeit nicht mit der Death Scythe arbeiten und können diese derweil auf Ihrem Zimmer lassen. Es wird Ihnen dann gesagt, sobald Sie sie benötigen. Aber gehen wir weiter.“ William ging in die erste Etage. Der Flur war recht klein und übersichtlich. Es gab auch nicht allzu viele Türen. Drei Stück insgesamt. „Hier befinden sich die Biologiesäle. In diesen Räumen werden Sie alles über die Welt der Menschen, deren Ökosystem und der Anatomie und Fortpflanzung erfahren. Gehen wir weiter in die oberen Etagen. Dort befinden sich die einfachen Klassenräume. In der fünften Etage sind die Lehrerzimmer. Die Räume sind nach Etagen nummeriert. Ich führe Sie jetzt in Ihr Klassenzimmer.“ William ging in die nächste Etage und schloss eine kleine Tür auf. Er schritt voran und legte sein Notizbuch und seine Mappe auf das Pult. Die kleine Gruppe folgte ihm und blieb unsicher in dem Raum stehen. Grelle gesellte sich zu William ans Pult. Der Klassenraum war groß und geräumig. Es roch nach Kreidestaub, Papier, Büchern und altem Holz. Die Luft war warm und etwas stickig. Hinter dem Lehrerpult war eine große Schiefertafel. Es gab mehrere Sitzreihen, die alle so ausgerichtet waren, dass man ohne Probleme einen guten Blick auf den Lehrer hatte. „Setzen Sie sich. Aber bitte verteilen Sie sich gut in den vorderen Reihen. Ich will nicht alle hinten sitzen sehen“, sagte William laut und deutlich, während er seine Unterlagen sortierte. Grelle hatte sich einen Stuhl herangezogen und es sich darauf bequem gemacht. Die kleine Gruppe begann sich etwas aufzulösen und jeder suchte sich einen guten Sitz. Lily nahm einen Sitzplatz in der Mitte der Reihen. Er war nicht zu weit vom Lehrerpult entfernt und auch nicht zu nah am Fenster. Als alle einen Sitzplatz gefunden hatten und es wieder totenstill war, sah William T. Spears von seinen Unterlagen auf. Er hatte eine Klemmmappe in der Hand. „Ich werde jetzt jeden einzelnen von Ihnen aufrufen und mir Ihren Sitzplatz notieren. Wenn Sie das nächste Mal hier sind, haben Sie an diesem Platz zu sitzen. Stehen Sie bitte auf, wenn Sie Ihren Namen hören. Es geht nach dem Alphabet und zwar der Nachnamen nach.“ William schob seine Brille höher und sein Blick wanderte zu der Liste vor sich. „Ackland, Dylan.“ „Hier!“ Ein Junge war aufgesprungen. Sein Gesicht war blass und voller Sommersprossen. Das Haar hatte einen roten Bronzeton. Es folgte eine kurze Notiz ehe sich der Junge wieder setzen konnte und der Nächste aufgerufen wurde. „Adams, Oliver.“ „Hier!“ „Bloomfield, Kayden.“ „Anwesend.“ „Burton, Rayan.“ So wurde die Liste alphabetisch fortgeführt. Jedes Mal, nachdem die genannte Person aufgestanden war, machte sich William T. Spears eine Notiz und rief den Nächsten auf. Es war nicht mehr weit bis zu ihrem Nachnamen. Lily wurde schon ganz flau im Magen. Bisher war es niemandem aufgefallen, dass sie als einzige Frau dabei war. Sicherlich lag es daran, dass ein paar Jungs in der Klasse ebenfalls lange Haare hatten und die Uniformen sich ähnelten, zumindest am Oberkörper. „,McGowen, Liam.“ „Hier!“ „McNeil…“ William unterbrach sich. Lily konnte deutlich auf seiner Stirn sehen, wie sich diese in Falten legte und die Augen das Blatt kritisch ansahen. Er glaubte also auch, es läge ein Fehler vor. Es half ihrem Magen nicht minder sich weiter zu beruhigen. Im Gegenteil. Wenn es möglich war, wurde ihr sogar noch übler. „McNeil, Lily.“ William T. Spears sah sich in dem Saal genau um. „Anwesend.“ Lily stand von ihrem Stuhl auf und sah geradewegs William an, der sie mehr als unmissverständlich musterte. Deutlich spürte sie nun auch die Blicke ihrer Ausbildungskollegen. Auch sah nun Grelle zu ihr herüber. Er hatte die ganze Zeit über geschwiegen und sich wieder seinen Nägeln und deren Pflege zugewandt. „Ach, da bist du ja!“, trällerte er fröhlich und grinste ihr zu, „Ich habe dich überhaupt nicht gesehen und dachte schon, du wärst in einer anderen Gruppe oder es läge doch ein Fehler vor und du bist gar nicht in dieser Ausbildungsgruppe!“ William warf einen kurzen Seitenblick zu Grelle und schob sich wieder die Brille höher. „Sie kennen sich?“, fragte er kühl. Lily nickte schüchtern. Es störte sie nicht, dass Grelle sie einfach so duzte. „Ja, wir sind uns heute zufällig über den Weg gelaufen und zusammengeprallt.“ William ließ von der Namensliste und der Sitzplatzordnung ab. Er ging um das Pult herum und schlug das Notizbuch auf. Seine Augen wanderten über die Namensliste. „McNeil, Lily…“, murmelte er laut genug, dass es alle hören konnten und sah sie dann wieder an, „Sie stehen tatsächlich mit auf der Ausbildungsliste. Jetzt erinnere ich mich auch, dass ich mit Ihrem Grundausbildungslehrer gesprochen, ihre Berichte zum Praktikum und die Beurteilungen dazu gelesen habe. Es liegt also kein Fehler vor. Sie gehören in diese Klasse.“ „Können Sie mir dann bitte erklären, wieso alle denken, dass es ein Fehler sei?“ Es war Lily nun langsam mehr als lästig, dass jeder so dachte. William nickte. „Natürlich kann ich das. Es liegt an dem, was wir tun.“ Grelle kicherte leise und lehnte sich leicht auf Williams Schulter. „Was er damit sagen will, ist, dass Frauen das meist nie durchstehen.“ Lily sah William und Grelle verwirrt an. William räusperte sich und trat zur Seite, um sich von Grelle los zu sagen. „In der Vergangenheit zeigte sich deutlich, dass Frauen beim Einsammeln einer Seele viel emotionaler vorgehen als Männer. Sie hatten Probleme mit den Lebensaufzeichnungen. Sie ließen sich zu sehr von ihnen gefangen nehmen und wehrten sich nicht. So konnte die Seele entwischen. Viele gaben die Arbeit dann auf und machten lieber die Büroarbeit im Innendienst, verwalteten mit die Listen oder die Lebensaufzeichnungen. Sollten Sie Ihre Abschlussprüfung erreichen, woran ich keinerlei Zweifel habe, bin ich sicher, dass Sie es noch verstehen werden.“ William wandte sich nun wieder der Namensliste und der Sitzplatzordnung zu. Für ihn war das Gespräch beendet. „Ich bin sicher, dass du stark genug dafür bist, Süße!“, munterte Grelle sie auf und klang dabei ernst. Er zwinkerte ihr fröhlich zu und nachdem er von William einen mahnenden Blick einfing, wandte er sich wieder seiner Nagelpflege zu. Immerhin glaubte einer an sie. William machte mit der Liste weiter. „Perlman, Nathan.“ „Hier!“ Es ging noch ein paar Namen so weiter. Die Liste war nicht mehr lang gewesen und William wandte sich wieder der Klasse zu. Er hatte einige Zettel in der Hand und reichte diese Grelle, damit dieser sich nützlich machen konnte. „Sie erhalten jetzt Ihren Stundenplan, die benötigten Lehrbücher, ein Schreiben über die Regeln, ein Geländeplan und einen Plan über den Ausbildungsinhalt. Wenn etwas unklar ist, melden Sie sich. Ansonsten werden wir gleich nach oben gehen, in die fünfte Etage. Dort warten die vollwertigen Shinigami und Sie werden jemandem zugeteilt. Nach der Zuteilung haben Sie frei. Sie können sich die Abteilungen noch mal ansehen oder ins Wohngebäude gehen. Es steht Ihnen frei. Wo sich Ihre Apartments im Wohngebäude befinden, erfahren Sie am Empfangsschalter, an dem Sie auch Ihre Anfängersensen bekommen haben. Ihre Schlüssel erhalten Sie ebenfalls dort. Alles Weitere steht in den Schreiben, die Sie bekommen.“ Grelle verteilte die Pläne und Schreiben, während William die Bücher verteilte. Es waren etwa fünf Seiten, die sie erhielten. Bücher waren es jedoch ein paar mehr. Zum Glück sah sie, dass sie nicht alle am Tag brauchte, sondern es gut über die Woche aufgeteilt war. „Wir werden dann jetzt, wenn keine Fragen mehr sind, nach oben gehen. Benehmen Sie sich und seien Sie ruhig. Nehmen Sie auch direkt Ihre Lehrbücher mit.“ Es gab ein lautes Geräusch von raschelndem Papier, Scharren von Stühlen und Schritten. Ronald Knox war außer sich vor Freude. Wenn er Glück hatte, würde er heute seinen ersten Lehrling bekommen! Inständig hoffte er es. Er hechtete die Treppen der Akademie hoch. Sein Zeitplan war etwas durcheinander gekommen und nun war es kurz vor zwei Uhr. Hoffentlich war die Ausbildungsgruppe noch nicht oben! Er durfte einfach nicht zu spät sein, sonst würde William ihm niemals einen Lehrling an die Seite stellen. Nur noch eine Etage. Seine Lunge brannte und sein Atem ähnelte schon stark einem Keuchen. Wieso gab es in dieser Akademie keine Fahrstühle?! Kleine Schweißperlen rannen seine Stirn hinunter und er blieb keuchend vor der Tür stehen. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, die andere lag auf seinem Knie. Er atmete tief durch. Niemand sollte bemerken, wie abgehetzt er doch war. Als Ronald wieder einigermaßen Luft bekam, wischte er sich den Schweiß von der Stirn und lauschte an der Tür. Es war ein leises Murmeln zu hören. Er hatte also Glück. Vorsichtig drückte Ronald den Türgriff nach unten und trat ein. Sofort blieb er stehen, als alle Augen sich neugierig ihm zuwandten. „Hallo“, murmelte er und sah sich um. Es waren etwa zwanzig vollwerte Shinigami in dem Raum. Alle wirkten schon reifer und erfahrener. Sicherlich hatten sie bereits einige Lehrlinge gehabt. Doch wie sagte man so schön, irgendwann ist immer das erste Mal und jeder, in diesem Raum, hatte mal angefangen. „Was ist? Sollen wir doch nicht hier warten?“, fragte ein Shinigami mit braun gebrannter Haut und roten Dreadlocks. Ronald schüttelte verwirrt den Kopf. Er hielt ihn tatsächlich für einen Boten, der ihnen eine Nachricht überbringen sollte. „Nein. Ich warte auch hier.“ Die Augen wandten sich wieder von ihm ab und Ronald suchte sich einen freien Platz. Als er sich gesetzt hatte, sah er sich erst einmal in Ruhe um. Der Raum war nicht besonders groß. In der Mitte des Raumes war Platz geschaffen worden. Dort würden gleich die Lehrlinge stehen. Unter dem Fenster war eine Reihe von Stühlen für die vollwertigen Shinigami aufgestellt worden. „Ronald, was machst du hier?“, fragte plötzlich eine männliche Stimme neben ihm. Erschrocken fuhr der Angesprochene zusammen und sah in das Gesicht von Eric Slingby. Eric Slingby war schon lange dabei. Er war groß gewachsen und hatte blonde Haare. Jedoch waren die Haare über seinem rechten Ohr schwarz und zu Rasta Zöpfen geflochten worden. An seinem Kinn hatte er einen kurzen Bart und in seinen Ohrenläppchen stecke jeweils ein kleiner Ohrring. Sein Hemd war immer bis zur Brust aufgeknöpft und die Krawatte hing ziemlich locker um seinen Hals. Die Brille hatte einen dünnen Rahmen und ovale Gläser, die, ganz leicht dunkel, getönt waren. „Hallo, Eric“, grüßte Ronald zurück, „Ich habe vorhin William mit der Gruppe getroffen und ihn gefragt, ob er mir auch einen Lehrling zuteilt. Er sagte, er will sehen, was er tun kann und dass ich hier warten soll. Das ist alles.“ „Dann hoffen wir das Beste!“ Eric klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür und die Gespräche verstummten. Williams Auftritt war wie immer emotionslos und sachlich. Er führte die Gruppe in den Raum, wo sich die Lehrlinge, in einer Reihe, vor den Shinigami aufstellten. Grelle bildete den Schluss und setzte sich auf einen freien Stuhl in der Ecke. William selbst blieb stehen. „Wenn alle Shinigami nun versammelt sind, werde ich jetzt die Zuteilung vornehmen“, begann William und schritt die Reihe der Lehrlinge durch. Ronald hatte nun endlich Gelegenheit, jeden Einzelnen zu begutachten. In der Gruppe war dies nicht möglich gewesen. Die Augen waren von jedem gleich, grün-gelb. Jeder Shinigami, egal ob er ein Vollwertiger oder noch ein Lehrling war, hatte diese Augenfarbe. Alle hatten diese. Alle Lehrlinge schauten unsicher und man merkte ihnen die Nervosität an. Ronald dachte an sein Lehrjahr zurück. Er hatte dort auch gestanden und sicherlich auch so nervös geguckt. Auch die Uniformen waren bei jedem gleich und hatten sich nicht verändert. Jedoch fehlte diesen Lehrlingen das, was nur mit der Zeit kommen konnte. Der Geruch, der jeder Shinigami irgendwann einmal bekommen würde. Es war ein Geruch, der nicht wahrgenommen wurde von Menschen. Nur Engel oder Dämonen und natürlich die Shinigami selbst, konnten ihn bemerken. Dieser Duft beschrieb jeder anders und an jedem haftete er stärker oder schwächer an. Es war das Aroma des Todes. Jemand beschrieb diesen Duft einmal wie vergilbtes, brüchiges Papier, getrocknete Blumen oder Kräuter, welkes Herbstlaub und Asche. Es war einfach die Vergänglichkeit, die an ihnen haftete und nach wenigen Seelen automatisch zu einem gehörte. Er ließ sich auch durch noch so viel Parfüm oder Seife nicht entfernen. Auch der Blick würde sich verändern. Er würde härter werden, wenn es darum ging, jemanden abzuholen. Wichtig war jedoch in diesem Beruf niemals zu ernst zu werden und es zu nah an sich heran zu lassen, sonst verfiel man dem Wahnsinn. Es galt im inneren Einklang zu bleiben. Plötzlich ertönte neben ihm ein Pfeifen. Ronald sah zu Eric herüber, dessen Blick auf einen der Lehrlinge fiel. Er kannte Eric und wusste auch um seine lockere Art. Dennoch hätte er nie gedacht, dass er bei etwas Wichtigem, wie diesem, anfangen würde zu pfeifen. Ronald sah Eric fragend an, auch die anderen Shinigami sahen zu ihm. Eric deutete mit dem Kopf nach vorne und die Anderen folgten seinem Blick. Wieso war es ihm nicht vorhin schon aufgefallen, als er die Gruppe getroffen hatte oder als sie sich eben vor ihnen aufgestellt hatten? Direkt vor seiner Nase stand ein junges Mädchen in der Uniform. Seine Augen wanderten über ihren Körper. Ihre Haare waren blond bis hellbraun. Es kam darauf an, wie die Sonne darauf fiel. Sie reichten ihr bis zu den Schultern. Ihre Augen waren, wie die der anderen Shinigami, grün-gelb. Ihre Wangen waren rot angelaufen. Es war ihr sichtlich unangenehm, dass Eric gepfiffen hatte und nun alle Augen auf sie, der einzigen Frau in der Gruppe, gerichtet waren. Sie biss sich auf die Unterlippe und hielt den Blick gesenkt. Ihr Gesicht war blass, blasser als sonst. Sie sah aus, als wäre ihr schlecht. Sicherlich lag es an der Nervosität. Sie trug die Uniform der Shinigami. An ihrem Gürtel steckte die Anfängersense. Ihr Körperbau war normal. Er hatte noch restliche jugendliche Züge an sich, doch das würde die Zeit schon noch ausbessern und ihn erwachsener machen. Er verstand nicht ganz, wieso Eric gepfiffen hatte. Dieses Mädchen war doch gar nicht sein Typ. Eric war zwar als Frauenheld verschrien, doch war sein Typ ganz klar. Es waren zierliche und erwachsene Frauen. Auch sein Typ war sie nicht. Sie war viel zu jung und ihr fehlten noch die nötigen Reize. Plötzlich ertönte ein lautes Seufzen aus der Ecke. Es kam von Grelle. „Jetzt macht nicht so ein Drama, dass eine Frau die Ausbildung machen will!“, stöhnte er und sah dabei die anderen mit wachsamen Augen an. Er ging grazil durch die Reihe auf das Mädchen zu und legte einen Arm um ihre Schulter. „Mein liebster William hat schon alles geprüft und es hat alles seine Richtigkeit. Also lasst sie in Ruhe. Sie ist doch schon nervös genug. Ich bin auch ziemlich sicher, dass sie nicht versagen wird.“ Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und sie nickte daraufhin. Grelle ließ von ihr ab und gesellte sich zu William. Ronald hätte zu gerne gewusst, was er ihr ins Ohr geflüstert hatte, doch das würde er sicherlich nie erfahren. Nun richtete sich die Aufmerksamkeit der Shinigami wieder auf William. Alle warteten darauf, dass er Grelles Behauptung bejahen würde. William Schritt die Reihe durch. „So ungern ich es auch sage, aber Mr. Grelle Sutcliffe hat Recht. Es hat alles seine Richtigkeit und ich wäre wirklich dankbar, sicherlich auch die junge Dame, wenn niemand darüber ein Aufsehen machen würde. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, aber so sind die Dinge nun mal. Ich werde jetzt da weitermachen, wo ich aufgehört habe, bevor ich unterbrochen wurde.“ William ging die Namen der Lehrlinge durch und teilte jedem einen vollwertigen Shinigami zu, bis er zu dem Namen des Mädchens kam. „McNeil, Lily...mhm…“ Er ging die Namensliste der vollwertigen Shinigami durch und urteilte nach ihren Leistungen, wer der richtige Lehrmeister sein könnte. Es waren nicht mehr viele Lehrlinge übrig. Eric hatte seinen schon zugeteilt bekommen, ob Grelle jemanden bekommen würde, wusste er nicht, doch sicher war, dass William einen Lehrling bekam. Ronald drückte für sich selbst die Daumen, dass er jemanden bekommen würde. „Ja, ja das dürfte gehen…“ William sprach mehr zu sich selbst als zu der Gruppe. „Ronald Knox, Sie werden der Mentor von Lily McNeil sein. Da es aber Ihr erster Lehrling ist, werde ich die Arbeit mit überwachen.“ Ronald sprang vor Freude auf und machte einen Luftsprung. Dass William seine Arbeit mit überwachen würde, störte ihn nicht im Geringsten. Er hatte einen Lehrling und dazu auch noch das einzige Mädchen der Gruppe! Wenn das mal kein toller Tag war. Interessant war es obendrein und er hoffte sehr, dass sie nicht zu viel rumjammern würde. Sein Blick ging kurz zu ihr und merkte, wie sie ihn verwirrt ansah. „Freut mich Sie kennen zu lernen“, sagte er schnell und reichte ihr die Hand. Der Händedruck war nicht allzu fest, aber für einen Lehrling, der gerade bloß gestellt worden und nervös war, fest genug. Sie würde sicherlich ein paar Probleme kriegen und sich unter den vielen Männern behaupten müssen. Doch er sah ihrem Blick an, dass sie es mit der Ausbildung ernst meinte. Lily war einfach nur froh, als alles vorbei war und sie gehen durfte. Als sie dort vor den anderen Shinigami gestanden hatte, war ihr wieder so komisch geworden. Ihr Körper hatte das Gleiche gemacht, wie bei William am Morgen. Doch diesmal hatte es an jemand anderem gelegen. Diesmal hatte ihr Körper auf den Shinigami neben ihren Mentor Ronald Knox reagiert. Es war nicht ganz so schlimm gewesen wie bei William und es war auch nur halb so lang gewesen. Heute früh hatte es ein paar Minuten gedauert, eben waren es nur ein paar Sekunden gewesen. Was war nur los mit ihr? Lily dachte ein wenig darüber nach und hoffte, dass es sich von alleine lösen würde und nur durch die Nervosität kam. William hatte noch ein paar abschließende Worte gesagt und erklärt, wo die Lehrlinge sich morgen, bei ihren Mentoren einfinden sollten. Es war keine schwere Entscheidung, wo Lily als Erstes hinwollte, nachdem sie die Akademie verlassen hatte. Die Mensa! Ihr Magen hing bereits irgendwo an den Knien und sie war froh, dass er nicht während der Zuteilung geknurrt hatte. Ihr Mentor war also Ronald Knox. Sie konnte den jungen Mann schwer einschätzen. Er hatte sie genauso beäugt wie die anderen. Hätte sein Sitznachbar nicht gepfiffen, wäre es nur halb so schlimm gewesen. Da war sie sich sicher. Lily merkte schon, dass sie es schwer haben würde. Die Schilderung führte sie direkt zur Mensa. Der Geruch von warmem Essen verteilte sich über den ganzen Flur und als sie die Mensa betrat, roch es sogar noch intensiver. Es war der Geruch von Braten, gekochtem Gemüse und Kuchen. Die Kantine war groß und einladend. Die Wände waren weiß und die Fenster waren groß und ließen viel Sonnenlicht herein, so dass der Raum in ein warmes Gelb fiel. Die große Fensterfront ließ einen Blick auf den Garten der Wohnanlage zu. An den Wänden waren Sitzecken angebracht. Ansonsten gab es bequeme Stühle. Auch gab es Stehtische. Das Essenbuffet war riesig. Es herrschte ein großer Andrang. Lily nahm sich ein Tablett, legte ihre Bücher darauf und ging durch die verschiedenen Auslagen. Angefangen mit einfachen Broten und Brötchen, über Salate, warmen Speisen und Getränken. Sie nahm sich einen Salat, ein Sandwich und einen grünen Tee. Schnell bezahlte sie das Essen und sah sich nach einer guten Sitzgelegenheit um. Alle Tische waren belegt, auch die Stehtische waren fast voll. Unsicher sah sie sich um, als sie plötzlich jemanden ihre Namen rufen hörte. Ihr Blick glitt durch die Kantine und fiel auf Ronald Knox, der an einem Ecktisch, mit zwei weiteren Shinigami, saß. Einen der Beiden erkannte sie wieder. Es war der Shinigami, der gepfiffen hatte, als er sie gesehen hatte. Den anderen Shinigami kannte sie nicht. Ronald Knox winkte sie zu sich und Lily folgte der Aufforderung. Es wäre unhöflich gewesen, wenn sie es nicht getan hätte, doch machte sie der Gedanke nervös mit ihrem Mentor und zwei anderen, fremden Shinigami zu essen. „Setzen Sie sich und essen Sie mit uns.“ Ronald zog einen Stuhl für sie heran und sie ließ sich darauf nieder. „Miss McNeil, darf ich Ihnen Eric Slingby vorstellen? Eric kennen Sie sicherlich noch von eben.“ Ronald deutete auf den groß gewachsenen Shinigami. Der als Eric Slingby vorgestellte Shinigami grinste sie lässig an. „Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Lily nahm seine Hand freundschaftlich an und nickte nur. Zum Glück blieb ihr Körper diesmal ruhig. Ronald deutete auf den unbekannten Shinigami. „Das ist Alan Humphries. Alan ist im Innendienst tätig.“ Alan war zierlicher gebaut als Ronald oder Eric. Sein Blick war auch freundlich und nicht so kühl wie der von William. Alan hatte brünette, kurze Haare. Seine Brille war ein einfaches Modell mit dünnem Rahmen. Anstatt einer Krawatte trug er ein Bolotie, oder Cowboy-Krawatte wie manche sie auch nannten, mit einer silbernen Totenkopfbrosche. Lily reichte auch diesem Shinigami ihre Hand. Kaum berührte sie ihn, fühlte es sich an wie ein Stromschlag, der sie durchfuhr. Innerlich stöhnte sie auf. Ihr Körper fing schon wieder an verrückt zu spielen. Es fing alles wieder an. Der Temperaturwechsel, die kleinen schwarzen Blitze, das Zusammenziehen des Herzens und das Gefühl ihn zu kennen. Lily ließ sich nichts anmerken, denn es war genauso schnell wieder vorbei, wie es gekommen war. Es war merkwürdig. Nur bei diesen drei Shinigami überkam sie das Gefühl sie zu kennen und nur bei William hatte es etwas länger gedauert. Lily war mehr als verwirrt, doch hoffte sie, dass es niemandem auffiel und man es auf ihre Nervosität schieben würde. Ein Blick in die Runde sagte ihr, dass keiner der drei etwas bemerkt hatte. „Tut mir leid, dass ich eben gepfiffen habe“, sagte Eric plötzlich und nahm einen Bissen von seinem Braten, „Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“ „Warum…warum haben Sie dann überhaupt gepfiffen?“, fragte Lily nervös und sie wusste, dass ihr Gesicht rot war. „Du hast gepfiffen?!“, fragte Alan empört dazwischen und Eric nickte schuldbewusst. „Das lässt sich schwer erklären…“, sagte Eric auf ihre Frage hin und wandte sich wieder dem Essen zu. Lily nickte nur und beließ es dabei. Immerhin hatte er sich entschuldigt. „Haben Sie sich schon die Regeln durchgelesen, Miss McNeil?“ Lily sah auf zu Alan. Er sah sie freundlich, aber neugierig an. Alan aß gerade von seinem Salat. Lily schüttelte nur den Kopf. Ihr Herz klopfte. Sie war einfach zu nervös. „N…nein, noch nicht“, stammelte sie. Jetzt dachten sie sicherlich, dass sie auch noch sprachgestört sei. Das wurde ja immer schlimmer. Lily sah auf das Essen. Ihr Magen knurrte wirklich und verlangte nach Nahrungsaufnahme. Sie konnte ihn deutlich rebellieren hören. Doch sie wusste, sie würde vor Nervosität an ihrem Essen eher ersticken. „Wollen Sie nichts essen?“, fragte Ronald Knox und sah sie wartend an, „Sie haben doch sicherlich Hunger, oder? Die Führung hat den ganzen Vormittag, Mittag und den halben Nachmittag gedauert. Als ich damals mit meiner Führung fertig war, hatte ich riesigen Hunger!“ Lily nickte nur und sah auf ihren Schoß. „Doch, aber…“ „Aber?“, hakte Eric nach. „Ich bin zu nervös…“, stieß sie schnell hervor und lief, wenn es ging, noch röter an, als die drei Shinigami sie musterten. Plötzlich fingen sie an zu lachen, was das Ganze nicht besser machte. Es war zum Glück kein gehässiges oder fieses Lachen. Es war ein amüsiertes und kurzes Lachen. Alan klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Es gibt keinen Grund nervös zu sein! Wir beißen nicht.“ „Das ist zu niedlich, wenn die Lehrlinge nervös sind“, lachte Eric und trank einen Schluck aus seiner Flasche. Lily konnte nicht erkennen, was es für ein Getränk gewesen war. Ronald sah sie besorgt an. „So schlimm? Ich dachte, dass sich die Nervosität gelegt hätte.“ Lily schüttelte nur den Kopf. Ihre Wangen brannten vor Wärme. Alans Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. „Hören Sie mir zu. Atmen Sie ein und aus. Tief ein und ausatmen.“ Lily sah Alan an und atmete ein und aus, so wie er es gesagt hatte. „Besser?“, fragte er, nachdem sie die Übung gemacht hatte. Lily schüttelte mit dem Kopf. Plötzlich erschien vor ihrem Gesicht eine Flasche. „Hier. Trinken Sie einen Schluck davon. Vielleicht hilft das. Nur zu.“ Eric hielt ihr die Flasche hin und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Vorsichtig nahm Lily ihm die Flasche aus der Hand und trank einen vorsichtigen Schluck daraus. Sofort verzog sie das Gesicht und reichte die Flasche zurück an Eric. Noch bevor Eric sie greifen konnte, nahm Alan ihr die Flasche ab und las das Etikett, was Eric mit seiner Hand verborgen hatte. „Bier?“, stieß er hervor und funkelte Eric böse an, „Du kannst ihr doch kein Bier geben! Erst recht nicht auf nüchternen Magen!“ „Bist du verrückt?! Wir wollen sie doch nicht noch aufs Zimmer tragen müssen! Wenn William das mitbekommt, dass ich zugelassen habe, dass sie Alkohol trinkt, bringt er mich um! Du weißt genau, dass er meine Arbeit überwachen wird!“ Eric sah entschuldigend und lässig in die Runde, nahm Alan die Flasche wieder aus der Hand und trank einen Schluck daraus. „Was regt ihr euch so auf? Es war doch nicht viel und seine Wirkung hat es nicht verfehlt.“ Alle sahen Lily an, die vom Sandwich abbiss und danach vom Salat aß. „Der Geschmack war einfach zu eklig“, antwortete sie auf die fragenden Blicke und nahm den nächsten Bissen. Danach verlief das Mittagessen nicht mehr ganz so angespannt für Lily und ihr Magen bedankte sich für die Speise, indem er aufhörte zu rumoren und sich beruhigte. Sie war zwar noch immer nervös, aber nicht mehr ganz so sehr, wie am Anfang. Als Alan, Eric und Ronald wieder zurück an die Arbeit mussten, stand auch Lily auf und verabschiedete sich. Sie ging zur Rezeption und nannte der Frau ihren Namen und Anliegen. Es war diesmal eine andere Frau als am Morgen. Diese Frau gab ihr einen kleinen Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln daran und nannte ihr die Zimmernummer. Es war ein Apartment im neunten Stock, Zimmernummer dreiundneunzig. Lily machte sich mit ihren Büchern auf den Weg dahin. In dem Schreiben, das sie bekommen hatte, hieß es, man würde ihre Habseligkeiten aus den Wohnhäusern der Grundausbildungsakademie hierher bringen. Ob diese wohl schon da sein würden? Mit dem ersten Schlüssel schloss sie die Eingangstür auf. Der Fahrstuhl brachte sie schnell in den neunten Stock. Der lange Flur war schlicht gehalten. Neben dem Fahrstuhl standen zwei Palmen und am Ende gab es einen Automaten mit Snacks und Getränken. Ansonsten gab es nichts Dekoratives. Auch das Zimmer war nicht schwer zu finden. Lily schloss mit dem zweiten Schlüssel ihr Zimmer auf. Das Zimmer war groß und geräumig. Es gab ein großes Ecksofa in der Mitte des Raumes und einen niedrigen Tisch dazu. Die Vorhänge an der Terrassentür reichten bis zum Boden und waren aus Baumwolle. Der Farbton war ein dunkles Weinrot. An der einen Zimmerwand standen mehrere Regale für ihre privaten Habseligkeiten und Bücher. Neben der Fenstertür, gab es noch ein kleines Fenster. Darunter stand ein geräumiger Schreibtisch. Ein Bartresen trennte die kleine Küchennische vom Rest des Zimmers. Mit zwei Kochplatten, einem Spülbecken und Hängeschränken, war es wirklich nur eine kleine Küche. Neugierig schaute Lily in die Schränke. Darin standen ein paar Gläser, Tassen, Teller und in einer Schublade fand sie Besteck. Ein kleiner Schrank mit Speisen war auch vorhanden. Interessiert ging sie durch das Apartment. Ihre Habseligkeiten waren auch schon da. Es waren lediglich drei Koffer. Zwei mit ihren Kleidungsstücken und der andere mit ihren Büchern und Schulzeug. Lily ging in den hinteren Teil der Wohnung, wo eine Tür war. Sie öffnete sie und spähte in den Raum dahinter hinein. Es war ein kleiner Schlafraum mit einem Doppelbett, Kleiderschrank und Nachttisch. Sie verließ das Zimmer und ging in das daneben Liegende. Es war das Badezimmer. Dieser Raum war mit weisen Fliesen ausgelegt worden. Es gab eine Toilette, Waschbecken, Wandspiegel, einen kleinen Schrank und eine Dusche. Neugierig öffnete Lily auch die Terrassentür und trat nach draußen. Ihre Nachbarn hatten alle eine kleine, eigene Terrasse. Sie fragte sich ja, wer neben ihr wohnte, doch das würde sie sicherlich noch früh genug herausfinden. Der Ausblick war jedoch einwandfrei. Sie hatte einen ungestörten Blick auf den angelegten Garten. Nun, wo Lily alles gesehen hatte, macht sie sich an die Arbeit ihre Sachen unterzubringen und sich häuslich einzurichten. Danach kümmerte sie sich um die Unterlagen, die sie am Nachmittag bekommen hatte und las sich diese durch. Es war auch eine kleine Hausordnung für das Wohngebäude dabei. Darin stand, dass es in der Waschküche Maschinen für die Wäsche gab und jeder selbst für seine Kleidung zuständig sei. Genug Maschinen seien vorhanden. Auch gab es, jeweils für Männer und Frauen, ein großes Gemeinschaftsbad. In jeder ungeraden Etage befanden sich diese. Dann gab es noch die üblichen Klauseln, wie keine Zerstörung der Einrichtung, Ordnung halten und viele andere. Nachdem Lily die Hausordnung gelesen hatte, schaute sie sich ihre Schulbücher und ihren Stundenplan genauer an. Die Woche war so aufgeteilt, dass sie je zwei volle Tage Theorie im Akademiegebäude hatte und zwei volle Tage in der Society mit ihrem Mentor arbeitete. Ein Tag war aufgeteilt worden. Vormittags hatte sie Schule und am Nachmittag arbeitete sie. Lily stieß ein Gähnen aus. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet, dass sie sich langsam fürs Bett fertig machen sollte. Sie ging in das angrenzende Badezimmer, duschte und ging danach ins Schlafzimmer. Lily hatte das Bett frisch, mit ihrer Bettwäsche, bezogen und nun konnte sie es kaum erwarten, endlich darin einzuschlafen. Müde kuschelte sie sich in die Decke ein und schloss die Augen. In Gedanken ging sie den Tag noch einmal durch. Er war wirklich ereignisreich gewesen. Sie gähnte verschlafen und nur kurze Zeit später war sie auch schon im Land der Träume. Kapitel 3: Der erste Schultag ----------------------------- Lily rannte. Ihre Schultasche schlug ihr unangenehm gegen das rechte Bein, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie hatte an ihrem ersten Schultag verschlafen und durfte es sich nicht leisten, zu spät zu kommen. Der verdammte Wecker hatte einfach nicht geklingelt! Ihre ersten Tage in der Shinigami Dispatch Society hatte sie im Archiv verbracht und Akten geordnet. Ronald Knox war ein netter Mentor. Er war bestimmt, aber auch freundlich. Im Gegensatz zu William T. Spears. Er war kühl und abweisend. Seine Arbeit erledigte er nüchtern und sachlich. Lily fragte sich ja, ob er privat genauso war. Sie hatte die letzten Tage auch wieder mit Alan, Eric und Ronald zu Mittag gegessen. Es war angenehm, mit ihnen zu essen und etwas über ihre Arbeit zu erfahren. Mit einem ihrer Lehrlingskollegen hatte sie bisher keine Bekanntschaft machen können, auch hatte sie noch nicht herausfinden können, wer noch alles in der gleichen Etage wohnte wie sie. Wenn sie in den Flur kam, traf sie niemanden an. Die Glocke der Akademie ertönte und kündigte damit den baldigen Beginn der ersten Stunde an. Lily rannte durch das Eingangstor der Akademie und blieb kurz stehen, um nach Luft zu schnappen. Ihr Atem glich einem Keuchen. Doch sie konnte sich jetzt keine Pause erlauben und rannte in das Gebäude, die Stufen hinauf zum Klassenzimmer. Schliddernd blieb sie vor dem Zimmer stehen und konnte durch die geschlossene Tür die Unruhe hören, die darin herrschte. Schnell richtete sie ihre Kleidung und öffnete die Tür. Innerlich wappnete sie sich gegen alles. Immerhin waren, außer ihr selbst, nur Jungs in ihrer Klasse. Lily hatte keine Ahnung, mit was sie alles rechnen musste. Vorsichtig ging sie in den Klassenraum. Die Gespräche verstummten, doch als alle sahen, dass nur sie es war und nicht der Lehrer, fingen die lauten Gespräche und das Gelächter wieder an. Lily sah sich unsicher um. Sie waren schlimmer als ein Rudel Hyänen. Eine Papierkugel traf sie hart am Kopf und alle brachen in Gelächter aus. Finger zeigten auf sie. Aus dem Augenwinkel sah sie eine weitere Papierkugel auf sich zukommen. Schnell duckte sie sich und konnte ausweichen. Doch eine Dritte ließ nicht lange auf sich warten. Die Schultasche wurde schnell zu einem Schild umfunktioniert, mit der sie die Kugel abwehrte. Wachsam schaute sie ihre Mitschüler an. Niemand schien mehr eine Papierkugel bereit zu halten, dennoch wurde sie von allen beobachtet. Lily wollte jetzt nur noch schnell zu ihrem Platz, ehe den Jungs etwas Neues einfiel, mit dem sie sie piesacken könnten. Vorsichtig, aber bestimmt, ging sie zu ihrem Tisch, landete jedoch plötzlich hart auf dem Boden. Jemand hatte ihr ein Bein gestellt. Lily spähte auf und sah in das Gesicht eines schwarzhaarigen Jungen. Er beugte sich zu ihr herunter. „Nur weil du eine Frau bist, bekommst du keine Sonderbehandlung“, flüsterte er und sah sie mit kühlem und herablassendem Blick an. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht dauerte nur für den Bruchteil einer Sekunde an, aber er war von einer Intensität, die sie schaudern ließ. Lily ließ sich nichts anmerken und stand auf. Sofort kam ein Junge an ihre Seite und lachte lauthals. Für eine Sekunde dachte Lily, sie würde taub werden von der Lautstärke. Er legte ihr seinen Arm um die Schulter und deutete mit dem Finger auf sie. „Ich glaube, nun ist sie wütend!“ Lily warf dem Jungen nur einen Seitenblick zu. Er war ein Stück größer wie sie und hatte rötlich braune Haare. Genervt und mit einem tiefen Atemzug nahm sie seine Hand von ihrer Schulter, während er noch immer lachte. „McNeil! McNeil!“, rief ein anderer und schien sich kaum noch halten können vor Lachen, „Bist du auch ok?“ Wieder brachen alle in lautes Grölen aus. Lily verstand absolut nicht, was daran witzig war. Sicherlich war es diese Art von Humor, für den sie ein Y-Chromosom benötigte, wie die Jungs es hatten, um ihn zu verstehen. Der erste Schultag begann ja schon mal nicht so gut. Genervt ließ sich Lily auf ihren Platz nieder und legte ihre Tasche ab. „Ihre Beine sehen aus, als könnte sie schnell laufen. Sicherlich schneller als Nakatsu!“ Lily hörte nur mit halbem Ohr zu und warf einen Blick zu dem Jungen. Sie war nie schnell im Laufen gewesen und sicherlich würde sie nicht schneller als ein Junge sein. Ihr Blick fiel auf den Jungen mit dem rotbraunen Haar, der ihr den Arm umgelegt hatte. Sein Gesichtsausdruck war ungläubig. Doch alle starrten zu ihren Beinen, die ab den Knien unbedeckt waren. Deutlich spürte sie, wie das Blut wieder in ihre Wangen schoss. Plötzlich wurde sie von hinten unter den Armen gepackt und vom Sitz hochgezogen. „Was soll das?!“, stieß sie hervor und versuchte ihre Arme frei zu bekommen, „Lass mich los!“ Der Junge verstärkte seinen Griff, als sich jemand vor ihr kniete und ihre Waden betastete. Lily wurde rot. Der Junge konnte gerade noch ausweichen, als sie ihm einen Tritt verpassen wollte. „Hört sofort auf mit dem Unsinn und lasst mich, verdammt noch mal, los!“ „An den Beinen ist nichts Besonderes“, sagte er, als würde er so etwas öfters tun und wandte sich ab. Alle Augen waren noch immer auf Lily gerichtet, der man deutlich ansehen konnte, wie unangenehm es ihr war. „Man kann es normalerweise eher an der oberen Körperhälfte sehen. Vielleicht hat sie aber auch Armmuskeln!“, feixte ein anderer. „Ich werde es prüfen!“, meinte der Junge mit den rotbraunen Haaren. Er stand von seinem Platz auf und kam geradewegs auf sie zu. So gut es ging, versuchte Lily, sich noch mehr zu wehren. Vergebens. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Sekunden zogen sich dahin. „Lass mich los! Hört auf damit!“, schrie sie, doch niemand schenkte ihren Worten Beachtung. Als der Junge direkt vor ihr stand, hörte sie auf, sich zu wehren und sah ihm wie versteinert in die Augen. Ihr Blick war panisch, aber auch wütend. Ihre Atmung wurde flacher. Seine Hände legten sich auf ihren Bauch und tasteten ihn ab, bedacht unterhalb ihres Brustkorbes zu bleiben. Danach suchte er ihre Oberarme nach Muskeln ab. Überrascht sah er sie an. „Da ist ja gar nichts!“, rief er laut, „Das sind Mückenmuskeln!“ Lily knurrte und trat dem Jungen hinter ihr mit ganzer Kraft auf den Fuß. Ihre Absätze machten es für ihn nur umso schmerzhafter. Mit einem unterdrückten Aufschrei ließ er sie los und Lily funkelte ihn mit wütendem Blick an. Dann sah sie zu dem anderen und trat ganz dicht an ihn heran. „Was willst du, Mückenmuskel?“, fragte er gelangweilt, aber auch herausfordernd, „Willst du dich jetzt mit mir anlegen? Mir in die Eier treten?“ „Auf so etwas lasse ich mich nicht ein“, sagte sie nur und drehte ihm den Rücken zu. Doch sofort packte er ihren Arm und drehte ihn auf den Rücken. Ein überraschter Laut entfuhr ihr. „Was soll das denn heißen?“ Der Griff war schmerzhaft, aber ertragbar. „Sind wir dir nicht fein genug? Sind wir dir zu primitiv? Willst du das damit sagen?“ „Los, Nakatsu!“, rief der Junge, der ihr das Bein gestellt hatte. Wenn sie bei der Namensliste richtig aufgepasst hatte, war sein Name Kayden Bloom. Lily wandte sich unter dem Griff und drehte sich zur Seite, so dass ihr Arm nun nicht mehr auf dem Rücken lag. Nakatsu ließ ihre Hand los und legte seine stattdessen auf ihren Rücken, während er mit seinem Bein gegen ihre Kniekehle drückte, um ihr so das Gleichgewicht zu nehmen. Lily beugte sich nach hinten, spürte eine flüchtige Bewegung der Finger an ihrem Rücken während Nakatsu mit seinem Bein ihren Fuß weg zog, so dass sie unsanft auf dem Boden landete. Lautes Gelächter brach wieder los und Beifall wurde geklatscht. Der Junge wandte sich gelangweilt von ihr ab. Sie war keine Konkurrenz für ihn, das ließ er sie spüren. Schnell stand Lily auf und befühlte die Stelle, die Nakatsu berührt hatte. Eine kurze Schamesröte überzog ihr Gesicht, wurde aber von der Wut, die in ihr aufkochte, schnell beseitigt. Dieser Nakatsu hatte ihr tatsächlich einen der beiden Verschlüsse ihres BHs geöffnet. Lily warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den er mit einem frechen und überheblichen Grinsen erwiderte. Sie ließ sich auf ihren Platz fallen und war froh, als William T. Spears in den Raum kam und alle sofort auf ihren Plätzen waren. Wenigstens jetzt würde sie ihre Ruhe haben. Der Vormittag ging schnell vorbei. Ihre ersten Stunden bestanden daraus, wie die Menschen lebten, die Wirtschaft der Shinigami, Datenverarbeitung, Rechnungswesen und einer Lesestunde. Viele Dinge, wie das Leben der Menschen und Wirtschaftskunde, waren Wiederholung. Die Datenverarbeitung brachte neues Wissen mit sich. In diesem Bereich lernten sie die wichtigsten Berichte zu schreiben und Anträge auszufüllen. Das Fach Rechnungswesen beschäftigte sich mit der Abrechnung der Lohnkosten, Ausgaben der Society, Unkosten bei den Aufträgen und Umbuchungen zu den einzelnen Abteilungen. Die Lesestunde befasste sich mit der menschlichen Literatur. Sie mussten Texte von berühmten Autoren lesen und besprechen. Hauptsächlich ging es dabei um Religion oder Liebe. Lily verbrachte ihre Mittagspause in der Gartenanlage. Die Mensa war zu voll gewesen und sie brauchte eine Pause von ihren Kollegen. Ronald, Alan und Eric hatte sie auch nicht gesehen. Sie hatte es nicht eilig. Ihre Pause dauerte noch eine ganze Stunde und die wollte sie in vollen Zügen auskosten. Immerhin war es wieder ein sonniger Tag und auch die Temperatur war angenehm. Lilys Blick fiel auf eine Bank und sie war froh, ein nettes Gesicht zu sehen. Zielsicher ging sie auf den Shinigami zu. „Hallo, Mr. Humphries“, sagte sie und beugte sich über die Rückenlehne, doch der Anblick ließ sie verstummen. Alan Humphries lag ausgestreckt auf der Sitzgelegenheit. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht wirkte friedlich. Lily war sich nicht sicher, ob er schlief. Sie biss sich auf die Unterlippe, wollte sie ihn doch nicht wecken. Lily ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und lehnte sich gegen die Bank. Es war vielleicht besser, wenn sie ihn aufweckte. Wer wusste schon, wie lange er dort lag und ob er nicht bereits seine Arbeitszeit verschlief. Vorsichtig beugte sie sich über die Lehne und berührte Alan an der Schulter. „Mr. Humphries?“, fragte sie vorsichtig und schreckte mit einem leisen Aufschrei zurück, als er plötzlich seine Augen öffnete und sie ansah. Doch schnell wurde klar, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf die Lehne der Sitzbank zu stützen. Die Bank kippelte und fiel mit Lily zu Boden. Alan wurde unsanft von seinem Platz geworfen und landete hart auf ihr. Kurz keuchte Lily vor Überraschung, sowie mangelnder Luft auf. Alan blickte sie verwirrt an. Leise stöhnte er vor Schmerz. „Es…es tut mir leid…“, stammelte Lily schnell. Alan ging von ihr herunter und richtete sich auf. Er war noch immer recht verwirrt, reichte Lily aber die Hand und half ihr aufzustehen. „Sie sind echt merkwürdig…“, murmelte er und strich sich das Gras von der Kleidung. Lily schaute Alan mit rotem Gesicht an. „Ich wollte nicht…ich meine…es tut mir leid…“ Der Shinigami sah Lily an und musste lachen. „Es ist doch nichts passiert!“, wehrte er ab und richtete die Bank wieder auf. Alan ließ sich darauf nieder und deutete Lily Platz zu nehmen. Unsicher ließ sie sich auf den, ihr dargebotenen Sitz nieder. „Wie war Ihr erster Schultag?“, fragte er plötzlich. „Oh…ähm…“ Lily überlegte. Sollte sie ihm wirklich die Wahrheit sagen oder lieber die Vorfälle am Morgen verschweigen? Ein Blick zu ihm sagte ihr, dass er es merken würde, würde sie lügen. Die Halbwahrheit sollte reichen. „Ganz okay. Es ist nicht leicht so unter den ganzen Jungs. Aber ich komme schon irgendwie klar.“ „Ich verstehe. Welche Fächer haben Sie noch heute?“ Lily zog ihren Stundenplan aus der Tasche und warf einen Blick darauf. „Noch zwei Stunden Biologie, eine Stunde Geschichte der Menschen und zwei Stunden Training.“ Alan nickte. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen ein paar Tricks zeige, wie Sie sich gegen die Jungs wehren können?“ Überrascht sah sie Alan an. „Woher…? Ich meine, ich sagte doch gar nichts davon, dass die Jungs mir etwas getan haben. Wie kommen Sie darauf?“ Alan erwiderte ihren Blick wissend, lehnte sich zurück und lächelte sie freundlich an. „Vergessen Sie nicht, ich war auch einmal jung und ein Lehrling. Wir haben uns auch immer gegenseitig geneckt und Kräftemessen veranstaltet. Sie werden da keine Ausnahme bilden in der Klasse, nur weil Sie eine Frau sind. Die Jungs werden Sie prüfen und testen, wie weit sie gehen können. Wenn Sie sich nicht wehren, haben Sie keine Chance in der Abteilung.“ „Oh…okay…Dann zeigen Sie mir bitte ein paar Tricks.“ „Wir haben noch etwas Zeit. Das reicht für ein paar grundlegende und einfache Techniken.“ Alan nickte zufrieden und stand von der Bank auf. Er deutete Lily ebenfalls aufzustehen. Sie stellte sich neben ihn und er legte gleich damit los, ihr die Kniffe zu zeigen. Es fing damit an, wie man sich aus einem Schwitzkasten befreite und sich gegen jemanden wehrte, der einem die Arme festhielt. Alan zeigte ihr ebenfalls, wie man jemanden mit wenigen Bewegungen zu Boden bringen konnte. Als die Mittagspause vorbei war, was recht schnell passierte, bedankte sie sich herzlich bei ihm und lief zurück zur Akademie. Sie war jetzt besser gerüstet, sollten ihre Klassenkameraden noch einmal solche Dinge vorhaben, wie am frühen Morgen. Doch gegen jegliche Erwartung lief der Rest des Tages friedlich ab. Lily saß abends an ihrem Schreibtisch und arbeitete an den Schulaufgaben. Es war nicht wenig, was Mr. Spears ihnen aufgegeben hatte. In jedem Fach hatte er ihnen Aufgaben gegeben. Die meisten mussten bis zum nächsten Tag erledigt werden. Seufzend lehnte sich Lily in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Müde nahm sie ihre Brille ab und fuhr sich über die Augen. Sie brannten ein wenig. Erschöpft vom Tag fuhr sie sich durch ihre langen Haare und setzte sich wieder die Brille auf. Sie brauchte dringend eine Pause. Sie ordnete die Papiere und stand auf. Es war Zeit für eine Erfrischung. Lily ging gerade in die kleine Küche und holte sich eine Flasche mit Mineralwasser, als es an der Tür klopfte. Sie stellte die Flasche auf ihren Schreibtisch und öffnete die Tür. Ein kleiner Schrei entfuhr ihr. Schnell drehte sie sich um und hielt sich schützend die Hand vor Augen. Sie ging ein paar Schritte zurück. Der schwarzhaarige Junge, der in der Tür stand, hatte nur eine etwas längere Unterhose mit Leopardenmuster an. Sein gesamter Oberkörper war unbekleidet und um den Hals trug er eine Kette mit einem kleinen silbernen Kreuzanhänger. „Ist Nakatsu hier?“, fragte der Junge und sah sich in ihrem Apartment neugierig um. „Nein…“, presste Lily hervor und hoffte, dass er schnell wieder gehen würde. Er stöhnte auf und sah sich noch einmal kurz um. „Ich wollte mir nur sein Shampoo leihen. So ein Mist!“, meinte er und ging dann wieder. Lily wollte gerade die Tür schließen, als der nächste Junge vor ihr stand. Dieser trug statt einer Unterhose nur ein großes Duschhandtuch mit Totenköpfen darauf um die Hüften, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. Was war das für eine Etage, schoss es Lily durch den Kopf ehe sie sich erneut umdrehte und dem Jungen den Rücken zuwandte. „Hast du Shampoo? Weißt du wo Nakatsu ist? Das hier ist doch sein Zimmer, oder?“, fragte er und noch ehe sie ihm eine passende Antwort an den Kopf werfen und die Tür zuschlagen konnte, kam der nächste Junge herein. Ebenfalls nur mit einem großen, bunten Handtuch um den Hüften und der gleichen Frage, ob sie Shampoo habe und wisse, wo dieser Nakatsu sei. „Nein, habe ich nicht und jetzt raus hier! Das ist mein Zimmer und einen Nakatsu findet ihr hier garantiert nicht!“, schrie sie wütend und versperrte ihnen den Weg. Als die beiden fort waren, warf sie die Tür zu. Es gab einen lauten Knall und sie seufzte, ging zum Schreibtisch und trank einen Schluck aus der Wasserflasche. Wie kamen sie nur darauf, dass dieser Nakatsu hier wohnte? Wenn sie nicht alles täuschte, waren es ausnahmslos alles Jungs aus ihrer Klasse gewesen. Der Tag schien immer merkwürdiger zu werden. Unruhig und noch immer sauer wippte sie mit dem Fuß. Wenn sie nur an diesen Nakatsu dachte, hätte sie vor Wut laut aufschreien können. Lily stand auf und ging selber unter die Dusche. Sie versicherte sich, dass sie die Tür auch richtig geschlossen hatte und ging dann ins Badezimmer. Das warme Wasser tat gut und ließ sie ein wenig entspannter werden. Lily hörte, wie jemand an ihre Zimmertür klopfte, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie genoss das warme Wasser. Die Tür war zu und ohne Schlüssel konnte diese von außen auch nicht geöffnet werden. Doch Lily ahnte nicht, wer da vor ihrer Tür stand. Es war Nakatsu, ebenfalls nur mit einem großen Handtuch bekleidet, wie die anderen Jungs vor ihm auch. Er klopfte mehrmals gegen die Tür, doch niemand öffnete ihm. Deutlich vernahm er das Geräusch der Dusche. Es war kalt im Flur und er wollte sich nur eine Kleinigkeit ausleihen. „Als ob mich das aufhält…“, murmelte er und zog einen Toupierkamm an seiner Hüfte hervor. Er zog ein paar Haare daraus. Die Spitze, um die Haare voneinander zu trennen, war dünn genug, um in das Schloss zu passen. Er kniete sich vor das Türschloss und schob die Spitze hinein. Es dauerte auch nicht lange, da hörte er den Riegel aufgehen. Er schob sich durch den Türspalt und schloss diese wieder leise. Seinen Kamm verstaute er wieder an seiner Hüfte. Nakatsu sah sich in dem Zimmer um. Alles war sauber und ordentlich. Er fragte sich, welchem Jungen aus der Klasse dieses Zimmer gehörte. Alle hatten gemeint, es sei seines, doch sein Zimmer lag daneben. Es hatte die Nummer vierundneunzig und nicht dreiundneunzig. Niemand wusste also, wem es gehörte. Die Zimmer der vollwertigen Shinigami auf dieser Etage waren einundneunzig, zweiundneunzig und siebenundneunzig. Im Zimmer Nummer einundneunzig wohne William T. Spears. Das Zimmer zweiundneunzig bewohnte Ronald Knox und siebenundneunzig gehörte Alan Humphries. Es musste also jemandem aus der Klasse gehören. Nakatsu ging auf leisen und nackten Sohlen schnell durch das Zimmer. Das Badezimmer zu finden, war nicht schwer und es war auch nicht abgeschlossen. Er öffnete die Tür und warmer Wasserdampf schlug ihm entgegen. Hinter der milchigen Glaswand der Duschkabine konnte er eine Gestalt erahnen, jedoch nicht sagen, wer es war. Er öffnete die Kabine einen Spalt und griff mit der Hand blind zur Ablage für die Shampoo-Flaschen und fand auch eine. „Ich leih mir das mal aus“, sagte er, nahm die Flasche an sich und schloss wieder die Kabinentür. Er verließ das Zimmer genauso schnell, wie er gekommen war. Lily hörte deutlich, wie die Badezimmertür geöffnet wurde und ihr Herz blieb stehen. Wie kam derjenige nur herein? Wer war das überhaupt? Sie horchte und wartete ab, was passieren würde. Ihr Herzschlag war unnatürlich schnell. Die Kabinentür wurde einen Spalt geöffnet und eine Hand tastete blind nach der Ablage. Lily drückte sich an die Wand und wartete ab. Sie konnte gepflegte Nägel erkennen und ein kleines, schwarzes Armband. Die Finger waren fein und gelenkig. Das Handgelenk war schmal, aber eindeutig das eines Mannes. Ihre Atmung ging flacher und panisch starrte sie die Hand an, die nach dem Shampoo griff. Lily konnte einen rotbraunen Haarschopf erkennen. Nakatsu! Das würde er ihr büßen! Nakatsu war der einzige Junge mit solchen Haaren. Am liebsten wäre sie ihm sofort hinterher gerannt und hätte ihm ins Gesicht geschlagen. Aber sie zügelte sich. Immerhin würde sie ihm nur mit einem Handtuch bekleidet gegenüberstehen. Lily brummte unverständlich vor sich hin und beendete ihre Dusche zügig, ehe noch weitere Klassenkameraden auf die Idee kommen würden, in ihr Zimmer einzubrechen. Sie würde ihre Zimmertür zukünftig abschließen müssen. Ein Blick auf den Schreibtisch sagte ihr, dass sie eigentlich noch lernen müsste, doch ihr Magen verlangte nach Nahrung. Sie würde erst einmal in die Mensa gehen und zu Abend essen, sonst würde sie sich gar nicht mehr auf Schularbeiten konzentrieren können. Sie öffnete die Tür, als sie plötzlich Nakatsu davor stehen sah. In seiner Hand hielt er ihre Shampoo-Flasche. Seine Kleidung bestand aus einem weißen Hemd und einer dunkelblauen Hose. Sicherlich mehr als er vorhin getragen hatte. Er starrte sie entgeistert an. „Oh…McNeil…ist das dein Zimmer?“, fragte er und spähte an ihr vorbei, als würde er hoffen, noch jemanden zu sehen. Nakatsus Anblick brachte die Wut wieder in ihr hoch, die sich den ganzen Tag angestaut hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, ballte sie die Hand zur Faust und schlug zu. Sie traf genau seine Nase. Er stolperte ein wenig zurück, die freie Hand auf die Nase gedrückt und ein überraschtes Keuchen entfuhr ihm. Mit seinen Fingern tastete er nach Blut, fand aber keines. Entgeistert sah er sie an. „Ja, das ist mein Zimmer!“, schrie sie wütend zur Antwort und wartete auf eine andere Reaktion von ihm, als seinen fassungslosen Blick. „Und was fällt dir überhaupt ein, in mein Zimmer einzubrechen?!“ Nakatsu schien nicht zu wissen, was er sagen sollte, also machte er eine Geste, dass sie sich beruhigen sollte. „Komm runter, McNeil…Ich…ähm…wollte dir dein Shampoo zurückbringen…“ Er reichte ihr die Flasche, die sie daraufhin sofort an sich nahm. Sie fühlte sich vom Gewicht her fast leer an. Sicherlich hatte die halbe Klasse damit geduscht. „Ich wusste nicht, dass es dein Zimmer ist. Ich dachte, es gehöre jemand anderem aus der Gruppe. An dich hat irgendwie keiner dabei gedacht…“ Nervös fuhr er sich durch die nassen Haare und sah sie mit roten Wangen an. „Hast du kurz eine Minute? Ich würde gerne kurz mit dir reden.“ Lily zog ungläubig die Augenbrauen nach oben, trat aber einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Mit einer einladenden Geste wies sie ihn hinein und schloss die Tür hinter sich. Sie war schon sehr gespannt und wollte es nur schnell hinter sich bringen. „Was möchtest du denn?“, fragte sie desinteressiert und verschränkte die Arme. Nakatsu stand im Zimmer, trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Seine Hände hatte er in den hintersten Hosentaschen gesteckt, nahm sie dann aber heraus und hielt sie vor seinen Körper. Er schien nicht zu wissen, wohin mit ihnen. „Erst mal, guter Schlag. Der kam wirklich überraschend und tat auch weh.“ Nachdrücklich betastete er noch einmal seine Nase. „Aber was ich eigentlich will, ist…ähm…Ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut.“ Ihr Blick ging kalt über sein Gesicht. „Was genau meinst du? Dass du mich heute früh zum Narren gehalten und mich bloßgestellt hast? Dass du versucht hast, mir den BH zu öffnen? Dass du in mein Zimmer eingebrochen bist? Dass du einfach so in mein Badezimmer gekommen bist und dich an meinen Sachen bedient hast? Was von all dem? Sag es mir.“ Ihre Stimme war abweisend und ließ deutlich hören, dass sie sich von ihm beleidigt fühlte und wütend war. Sie stemmte die Hände in die Hüfte. „Wegen heute früh und auch wegen eben. Ich wäre nie rein gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass es deins ist.“ Sie atmete tief durch und rief sich zur Ruhe. Immerhin hatte er den Anstand, sich zu entschuldigen. Geduldig wartete sie ab, was er noch zu sagen hatte. „Ich wollte dir auch noch sagen, dass ich ziemlich beeindruckt bin.“ Sein Blick glitt kurz zu ihr. „Heute Nachmittag beim Training. Die ganze Gruppe hat gedacht, du würdest die vielen Runden vom Trainer nicht durchhalten. Aber du hast dich gut gehalten und das hat mich beeindruckt. Dein Schlag von eben war auch nicht von schlechten Eltern. Ich dachte, du seist so ein Mädchen, das bei jedem bisschen gleich jammert und rumflennt. Deswegen haben wir dich heute früh auch so auf die Schippe genommen. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel?“ Lily war sich nicht sicher, was sie von den Worten halten sollte. Sie trat näher an Nakatsu heran und verschränkte die Arme. „Das soll ich dir glauben?“ „Ich respektiere dich wirklich. Lass uns noch einmal von vorne anfangen und Freunde werden!“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Nakatsu Shinamoto. Mein Name ist komisch, ich weiß. Mein Vater ist aus Asien. Er wurde hierher versetzt und lernte hier meine Mutter kennen. Was soll man machen, wenn einem die Eltern so einen Namen geben?“ Er zog die Schultern hoch und blickte sie erwartungsvoll an. Nakatsu lächelte sie an und es wirkte ehrlich. Lily beäugte ihn noch einen Moment misstrauisch, dann nahm sie seine Hand an. „Na gut. Ich nehme deine Entschuldigung an. Aber wehe du brichst noch mal in mein Zimmer ein, dann setzt es mehr als nur einen Schlag!“ Nakatsu lachte und legte ihr, wie am Morgen, einen Arm um die Schulter. Er sah sie an und es hatte den Eindruck, als würde er sie das erste Mal richtig ansehen. „Nein, das werde ich nicht. Ich hoffe, wir werden gute Freunde.“ Lily beobachtete ihn und fragte sich, wie lange er sie noch so im Arm halten wollte, als ihr auffiel, dass er einen verträumten Blick angenommen hatte. Er schien zu bemerken, dass er sie zu lange ansah und wandte schnell den Blick ab. Sein Arm verschwand auch von ihrer Schulter. Nakatsu wippte kurz auf und ab. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. „Also, wenn du nichts dagegen hast, werde ich jetzt zur Mensa gehen, wie ich es eben schon vor hatte.“ „Oh…ähm…ja…okay…Wir sehen uns dann!“ Er ging an ihr vorbei und verschwand mit schnellen Schritten aus ihrem Zimmer. Verwirrt sah sie ihm nach. Das war mehr als komisch gewesen, aber vielleicht war er auch nur so. Lily zog die Schultern hoch und verließ ihr Zimmer. Sie ging gerade die Treppe hinunter und war im Flur des achten Stockes, als ihr Alan über den Weg lief. Er sah müde aus und wankte beim Gehen ein wenig. Seim Hemd war ein Stück offen. „Mr. Humphries, ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. „Ja“, gab er nur zurück und ging an ihr vorbei. Lily sah ihn besorgt an. Er sah gar nicht gut aus. Sie zögerte. Ihr Magen knurrte fürchterlich, doch konnte sie Mr. Humphries nicht so alleine durch die Gegend torkeln lassen. Lily biss sich kurz auf die Lippen. Sicher war sicher. Sie folgte ihm zurück zu den Treppen, was sich als richtig erwies. Denn nur wenige Augenblicke später brach er vor den Stufen zusammen. Panisch stürzte Lily zu ihm und drehte ihn auf den Rücken. Er atmete noch. Sie konnte es gut daran erkennen, wie seine Brust sich hob und senkte. „Mr. Humphries? Hören Sie mich?“, fragte sie ängstlich und tippte mit der Hand gegen seine Wangen, wie sie es im Erste Hilfe Kurs gelernt hatte. Sie berührte ihn an der Schulter und schüttelte ihn leicht. Doch er gab nur ein Brummen von sich. Wenigstens schien er sie zu hören. Sicherlich war er nur übermüdet. Erleichtert atmete Lily auf und stellte beruhigt fest, dass er seine Augen einen Spalt öffnete. Alan hob den Kopf. Ihre Hand lag noch immer auf seiner Schulter, während er sich aufrichtete und wieder die Augen schloss. Plötzlich spürte sie seine Lippen auf ihren. Lilys Augen weiteten sich. Der Kuss dauerte auch nicht lange und er ließ sich wieder zu Boden sinken. Lily wich erschrocken zurück und berührte ihre Lippen. Sie verstand nicht, was passiert war. Ihr Herz hämmerte. Ihr Blick ging zu Alan, der am Boden lag und ein Schnarchen von sich gab. „Er schläft…?“, murmelte sie ungläubig. „Lily?“ Erschrocken sprang Lily auf und sah in die Richtung aus der die Stimme gekommen war. Am Treppengeländer, das nach unten führte, standen Eric Slingby und Ronald Knox. „Oh…hallo“, brachte sie hervor und hoffte, dass niemand den Kuss mitbekommen hatte. „Lily? Ich dachte, du wolltest in die Mensa?“, hörte sie plötzlich eine andere vertraute Stimme. Lily wandte den Kopf. Vor ihr stand Nakatsu und sah auf die Gruppe. „Hab ich etwas verpasst?“, fragte er und seine Augen gingen zwischen ihr, Alan und Eric und Ronald hin und her. Die letzten beiden Stufen ignorierte er und sprang sie hinunter. Eric ging auf Alan zu, zog aus seiner Jacketttasche einen Schlüssel, warf ihn Lily zu und nahm die Arme des am Boden Liegenden. Ronald half ihm und hob Alans Beine hoch. „Schließ sein Zimmer auf“, sagte Eric nur. „Was ist mit ihm passiert?“, fragte Lily vorsichtig, während die beiden Shinigami Alan die Treppe hinauf trugen. Sie folgte den beiden und sah auf den Anhänger für die Zimmernummer. Alan wohnte in derselben Etage wie sie und das gar nicht weit weg von ihr. Als sie mit Alan vor dessen Tür standen, schloss Lily schnell auf und Ronald und Eric brachten ihn in sein Schlafzimmer. Nakatsu war ihnen neugierig gefolgt und sah Lily fragend an, die nur die Schultern hochzog und ihn ahnungslos ansah. „Danke“, sagte Eric und zog Alan das Jackett aus. „Was ist mir ihm passiert?“, fragte Lily erneut und betrachtete den schlafenden Shinigami. „Er hat getrunken“, antwortete Ronald nüchtern. „Aber ich rieche keinen Alkohol“, gab sie zurück und erinnerte sich an den Kuss. Sie hatte überhaupt keinen Alkohol an ihm riechen können. „Es war auch nicht viel“, gab Eric zu und klopfte dem schlafenden Alan aufs Bein, „Er hat nur ein Glas Wodka getrunken. Aber Alan trinkt nie. Er muss die Gläser verwechselt haben. In seinem war nur Wasser und in meinem war der Alkohol. Er verträgt einfach nichts. Das eine Glas reicht aus, um ihn betrunken zu machen.“ Ronald nickte zustimmend. „Wenn Alan trinkt, lässt er seine Hemmungen fallen und sagt oder tut Dinge, die er nie tun würde.“ „Zum Beispiel?“, wagte Lily zu fragen. „Er fängt an Dinge zu sagen, die er nie sagen würde. Das erste Mal, als ich ihn betrunken erlebt habe, hat er einer Frau die Meinung gesagt. Sie ging uns allen ziemlich auf die Nerven, doch haben wir es ihr nie gesagt. Das war vor zwei Jahren etwa. Ich hatte gerade mit meiner Lehrzeit angefangen und die Frau ebenfalls. Doch sie hatte erhebliche Probleme, die Sachen zu verstehen und Alan war für sie zuständig. Sie löcherte ihn ständig mit Fragen, sodass er Schwierigkeiten hatte, seine eigene Arbeit zu verrichten. Ständig machte sie Fehler und verstand die einfachsten Dinge nicht. Bis Alan ihr die Meinung auf unserer Weihnachtsfeier sagte“, erzählte Ronald, „Jemand musste ihm heimlich Fusel in sein Getränk gegeben haben. Denn wir alle haben gesehen, dass er nur alkoholfreie Sachen zu sich genommen hatte. Wir wissen jedoch bis heute nicht, wer es war. Jedenfalls hatte er mehr als ein Glas mit Alkohol getrunken und ziemlich einen im Tee. Er ging dann auf sie zu und sagte ihr die Meinung, aber richtig und ohne irgendwelche Verschönerungen. Danach lief sie weinend aus der Society. Sie erschien danach auch nicht mehr zum Dienst. Wir wissen nicht, was aus ihr geworden ist, aber wie ihr euch denken könnt, hat sie aufgehört. Alan hat das ziemlich mitgenommen. Seitdem ist er vorsichtig, wenn er auf Feiern etwas trinkt, damit so etwas nicht noch mal passiert. Aber ab und zu passiert es halt doch, dass er Alkohol trinkt.“ Lily und Nakatsu nickten. „Oder er fängt an zu küssen“, sagte Eric plötzlich. „Was?!“, stieß Nakatsu aus. „Ja, egal, ob Mann oder Frau. Er fängt dann an zu küssen. Wir haben ihm schon heimlich den Spitznamen Knutsch-Monster gegeben. Aber egal, was er tut oder sagt, er kann sich am nächsten Tag an nichts erinnern“, erzählte Eric. „Mich hat er auch schon geküsst. Auf der eben erwähnten Weihnachtsfeier. William und Grelle ebenfalls“, sagte Ronald. „Mich ebenso“, fügte Eric hinzu und sah zu Lily. „Sie haben ihn doch gefunden, oder? Hat er irgendetwas gemacht?“ Lily lief rot an und dachte wieder an den Kuss. Er hatte also nichts zu bedeuten. „Ähm….“ „Es ist nichts, wofür man sich schämen muss!“, sagte Ronald und klopfte ihr auf die Schulter. Er musste ein wenig lachen. „Er hat Sie also geküsst!“ Zaghaft nickte Lily und stand auf. Ihr war eindeutig der Appetit vergangen. Sie wollte nur noch zurück in ihr Zimmer, doch auch auf die Schularbeiten würde sie sich nicht mehr konzentrieren können. Sie verabschiedete sich von ihrem Mentor und Eric und verließ, gefolgt von Nakatsu, das Apartment. „Er hat dich also wirklich geküsst?“, fragte er, als sie im Flur waren. Lily nickte. „Erzähl es aber niemanden, bitte.“ Nakatsu nickte. „Klaro! War dein Erster, oder?“ Wieder nickte sie und schloss ihr Zimmer auf. Lily verabschiedete sich auch von ihm. In ihren sicheren vier Wänden seufzte sie auf und lehnte sich an die Tür. Was war das nur für ein Tag gewesen? Lily ließ sich zu Boden gleiten und sah nachdenklich auf das Laminat. Nakatsu stand vor Lilys Tür und lehnte sich mit einem Arm dagegen. Er biss sich auf die Unterlippe. Was war nur los mit ihm? Er stieß sich ab und ging mit schnellen Schritten in sein eigenes Zimmer. Unruhig ging er darin auf und ab. „Nein. Nein. Nein. Das kann nicht sein! Ausgeschlossen!“ Seine Gedanken kreisten und schlugen Purzelbäume. Sein Atem ging schneller als gewöhnlich und sein Herz schlug so schnell, als wäre er einen Marathon gelaufen oder erneut die einhundert Runden in der Trainingshalle wie am Nachmittag. Verstört, ängstlich und von einer leichten Panik erfüllt, blieb er am Fenster stehen und griff sich an die Brust. Genau an die Stelle, wo sein Herz war. Nakatsu konnte fühlen, wie schnell es gegen seine Brust schlug. Jeden einzelnen Herzschlag fühlte er genauso stark im Hals. „Warum schlägt mein Herz so schnell?“ Seine Stimme klang leicht abgehakt und es hatte den Anschein, als würde er keuchen. Er atmete schnell ein und aus und schüttelte den Kopf. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Hier lief etwas ganz und gar nicht so, wie es sein sollte. Kapitel 4: Tag und Nacht ------------------------ Es war ein nebeliger Nachmittag in London. Die Luft hing schwer und feucht über der Stadt mit ihren vielen Menschen. Die Zeiten waren trostlos und schwer. Der Kampf in britischen Kolonien in Amerika und auch in Afrika kostete vielen Menschen das Leben. Einige dieser Kriegsverwundeten fand man auf den Straßen Londons im East End, dem Armenviertel. Oft fehlten den Menschen, die in den Kämpfen dabei gewesen waren, Arme, Beine oder Augen. Der Wahnsinn stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch auch allerlei andere verarmte Menschen trieben sich in dem Stadtteil herum und bettelten um jede einzelne Mahlzeit. Emily, die gerade einmal zehn Jahre alt war, hielt ihren kleinen Bruder im Arm. Er selbst war noch ein Baby und schrie wie am Spieß, während sie keine Ahnung hatte, was sie mit ihm tun sollte. Ihre ältere Schwester war im Webhaus und ihr anderer Bruder, der ihr sowieso keine Hilfe gewesen wäre, irgendwo in dem Stadtviertel mit seinen Freunden. Ihre Mutter war bei der Geburt ihres Bruders gestorben und manchmal fragte sie sich, ob er schuld an ihrem Tod war. Ihr Vater hatte Emily mit ihm fort geschickt, als er von seinem Tagwerk zurückgekommen war. In der Hand hatte er bereits eine halb leer getrunkene Alkoholflasche gehabt. Sie hatte ihren Bruder nur genommen und war mit ihm hinausgegangen. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sich ihr Vater sehr verändert. Er war fast nur noch betrunken und verschwand oft für Tage. Seine Arbeit wechselte und oft hatte er gar keine. Wenn er betrunken war, war es besser, das zu tun, was er sagte, denn er wurde sehr schnell gewalttätiger. Emily war so lange mit ihrem Bruder draußen gewesen, wie es ihr möglich gewesen war. Sie hatte sogar versucht ihn zu beruhigen, als er angefangen hatte zu schreien, doch er hörte einfach nicht auf. Nun rannte sie durch den Nebel, der die Straßen Londons füllte, zu der kleinen Hütte, in der sie lebte. Ihr Weg führte vorbei an Dieben, Trunkenbolden, Bettlern, Huren und anderem Gesindel. Ihr Bruder schrie aus vollem Leibe, als sie die Tür aufstieß und die Hütte betrat. „Papa?“, fragte sie, „Viktor schreit die ganze Zeit. Ich hab versucht, ihn zu beruhigen, aber er will nicht aufhören! Es tut mir leid, bitte, schlag mich nicht!“ Ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie Angst vor ihrem Vater hatte. Emily sah sich in der Hütte um, ihren Bruder fest im Arm. Es war dunkel und das Licht fiel von draußen nur spärlich herein. Aus der Schlafecke hörte sie Geräusche. Es klang nach einem Keuchen und Stöhnen, aber auch nach einem unterdrückten Wimmern. „Papa?“, fragte sie erneut und vorsichtig. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte eine Gestalt ausmachen. „Emily!“, blaffte eben diese und drehte sich zu ihr um. Es war ihr Vater. „Ich hab dir doch gesagt, dass du weggehen und nicht vor Sonnenuntergang zurückkommen sollst! Ich muss dir wohl wieder eine Tracht Prügel verpassen!“ Er stand vom Lager auf und schwankte, als hätte er Probleme, sein Gleichgewicht zu halten. Auch sein Gang war nicht besonders sicher, während er seinen Gürtel aus dem Hosenbund zog. Ängstlich wich Emily zurück, als sie auf einmal ihren Namen hörte. Es war eine weibliche und vertraute Stimme, die jedoch etwas kratzig und schwach klang. „Maria, Schwester, was machst du denn hier?“, fragte Emily verblüfft. Sollte sie nicht im Webhaus sein? Was war passiert, dass sie schon so früh zu Hause war? Mit ihren vierzehn Jahren war Maria nur wenige Jahre älter als Emily. „Em, tu was Vater sagt! Verschwinde von hier!“, rief sie und klang voller Sorge und Angst. Maria stand vom Lager auf und packte ihren Vater an der Hüfte. Sie versuchte ihn aufzuhalten. „Los, geh schon, Emily! Nimm deinen Bruder und hau ab!“ Emilys junges Herz klopfte. Ihre Schwester Maria nannte sie nur bei ihrem vollen Namen, wenn es wirklich wichtig war. Dies schien so ein Moment zu sein. Sie wandte sich um, schlang die Arme fester um ihren Bruder und rannte aus der Hütte. Emily hatte noch erkennen können, wie sich ihr Vater umgedreht, ihre Schwester von sich geschoben und ihr einen Fausthieb verpasst hatte. Dann hatte er sich über sie geworfen. Der Weg durch die Straßen war leicht und Emily achtete nur wenig darauf. Sie kannte die Stadt mit ihren Gassen und Straßen. Als Kind war es obendrein sehr leicht, sich durch die Menschenmenge zu quetschen und den Kutschen schnell auszuweichen. Einige der Menschen warfen ihr fragende Blicke zu, wie sie mit ihrem schreienden Bruder durch die Straßen lief, doch niemand sagte oder tat etwas. Ehe sie wusste, wohin sie lief oder wie sie überhaupt dahin gekommen war, stand Emily auf dem Friedhof mit seiner Kirchenkapelle. Die lauten Glocken ertönten über das ganze Feld und ließen sie aufschrecken. Ihr Herz klopfte und in ihren Augen standen Tränen. Sie strich sich eine schwarze Haarsträhne zur Seite und sah sich auf dem Friedhof mit den alten Gräbern um. Den Namen, der auf dem Grabstein vor ihr stand, konnte sie nicht entziffern. Emily hatte nie lesen oder schreiben können, doch sie konnte sich Dinge merken. Zu diesen Dingen gehörten das Aussehen der Kirchenkapelle von dem Friedhof, auf dem ihre Mutter lag und die Form ihres Grabsteines. Der Turm der Kirche war groß und hatte ein dunkles Dach mit einem Wetterhahn auf der Spitze. Die Fassade der Kapelle war weiß und es gab unzählige bunte Glasfenster. Über der Tür, welche schwarz und alt war und deren Scharniere mit Rost überzogen waren, prangten zwei Löwen. Ihr Blick war so ausgerichtet, dass sie auf denjenigen hinabsehen konnten, der vor der Tür stand. In der Mitte stand ein Text, den Emily nicht lesen konnte. Sie hatte nur einmal gehört, dass er auf Latein war. Auf der anderen Seite der Kirche war an der Fassade das Bildnis einer heiligen Frau angebracht. Der Nebel war auf dem Friedhofsfeld immer noch sehr dicht. Nur vage erkannte sie die anderen Gräber. Alles war ruhig und beängstigend. Emily ließ sich auf den feuchten und kalten Boden nieder. Ihre Arme taten inzwischen weh, weil sie ihren Bruder so lange gehalten hatte. Vorsichtig ließ sie ihn auf den Boden nieder und bewegte ihre Arme. Sie wollte nicht daran denken, wo sie war, doch konnte sie den Blick kaum von dem Grab vor ihr abwenden. Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass sie die Gedanken und das Wissen, wo sie sich befand, nicht verdrängen konnte. Es war das Grab ihrer Mutter. Sie sehnte sich nach ihrer Liebe und Zärtlichkeit. Ihre Mutter hatte sie immer angelächelt und in den Arm genommen. Die Haut war warm gewesen und sie hatte immer ein wenig nach Kohl, Schmutz und Schweiß gerochen. Als sie ihren kleinen Bruder im Bauch gehabt hatte, hatte sie immer kleine Lieder während der Hausarbeit gesungen. Emily hatte oft an dem Bauch hören und fühlen dürfen. Ihre Freude war immer groß gewesen, wenn er sich bewegt hatte. Abends hatte sie neben ihrer Mutter gesessen und ihrem Bruder Geschichten von ihrem Tag erzählt. Auch wenn sie arm waren, hatte ihre Mutter ihr nie das Gefühl gegeben, sie nicht zu lieben. Tränen sammelten sich in ihren Augen und ohne es zu wollen, schluchzte sie leise. Emily vermisste ihre Mutter sehr. Ihr Bruder hatte inzwischen aufgehört zu schreien, quengelte aber immer noch vor sich hin. „Na“, sagte plötzlich eine Stimme, die einen belustigten Unterton hatte und das Wort in die Länge zog, „Was macht denn ein kleines Kind, wie du, mit einem Baby am Ort der letzten Ruhe? Solltest du nicht lieber spielen und dich deines Lebens erfreuen?“ Emily schreckte auf und sah einen Mann über sich aufragen. Das hüftlange Haar des Mannes war grau und eine Strähne war geflochten. Der Pony war lang und verdeckte seine Augen. Er trug einen Zylinder, welcher, genauso wie das von ihm herabhängende lange Stück Stoff, schwarz und alt war. Auch sein dunkler Mantel schien nicht mehr der neueste zu sein. Die Ärmel reichten weit über seine Arme. Um seine Hüfte trug er einen Gürtel aus Amuletten in verschiedenen Formen. Über seine linke Schulter hing eine graue Schärpe und um seinen Hals eine Perlenkette. Über seinem Gesicht und seinem Hals war eine große Narbe. In seinen Arm hielt er einen großen Strauß Lilien. Sein Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen. Emily hatte ein wenig Angst vor ihm und warf einen Blick auf den Grabstein. Der fremde Mann folgte ihrem Blick. Er grinste ein wenig breiter. „Der Verlust eines geliebten Menschen“, sagte er und schien die Worte mehr zu sich selbst zu sagen, „Sag mir, ist es deine Mutter? War deine Mutter Viktoria Lyall?“ Emily nickte nur und starrte ihn an. Ein Kichern entfuhr dem Fremden und aus den langen Ärmeln seines Mantels erschien eine blasse Hand. Die Nägel waren lang und schwarz. Auch an einem der Finger hatte er eine Narbe und er trug einen goldenen Ring mit einem weißen Stein. Er legte einen Finger an die Lippen. „Ich erinnere mich an ihren Körper. Die arme Frau hatte furchtbar viel Blut verloren. Es war eine Menge Arbeit, sie wieder herzurichten.“ „Woher wissen sie das?“, wagte Emily zu fragen. „Meine Wenigkeit hat sie bestattet“, sagte der Fremde und kicherte, „Mein Name ist Undertaker und meine Wenigkeit führt ein Bestattungsinstitut. Sagst du meiner Wenigkeit auch deinen Namen?“ „Emily…“, sagte sie schüchtern und wusste nicht, was sie von diesem Bestatter halten sollte. Er wirkte verrückt. „Das ist mein Bruder Viktor.“, fügte sie schnell hinzu. Zum ersten Mal schien der Mann seine Aufmerksamkeit auf ihren Bruder zu lenken, doch auch der Anblick des Babys ließ sein Grinsen nicht verblassen. „Der Kleine scheint etwas zu wollen.“ „Aber ich weiß nicht was. Und ich darf nicht nach Hause, ehe es dunkel geworden ist." „Bedauerlich“, war das Einzige, was er dazu sagte. Emily sah zu Boden. Es war erbärmlich, wie sie hoffte, der Fremde könnte ihr helfen. „Hier“, sagte er plötzlich, „Nimm das, damit du wenigstens etwas auf das Grab legen kannst.“ Als Emily aufsah, hielt er ihr eine einzelne Lilie hin, welche er aus dem Strauß genommen hatte und die sie nun vorsichtig nahm, um sie auf das schmucklose Grab zu legen. „Danke“, nuschelte sie, „Haben Sie auch hier jemanden liegen?“ Undertaker nickte. „Meine Wenigkeit hat diese Person schon lange verloren.“ Seine Stimme klang ein wenig traurig, als würde die Erinnerung schmerzen. „Wer ist es?“, fragte sie neugierig, „Ich meine, nur wenn ich es wissen darf.“ „Immerhin hast du Manieren“, sagte er und drehte sich um. Sein Gang war ruhig und gelassen, als hätte er alle Zeit der Welt. „Du darfst mir gerne folgen.“ Emily nahm ihren Bruder und folgte ihm zu einem Grab mit schlichtem Holzkreuz. Undertaker legte den Strauß auf die Erde und sah sich das verwitterte Holz des Kreuzes an. Emily blieb in einiger Entfernung stehen und wartete darauf, dass der Mann etwas sagte. „Ihr Name war Alyssa“, fing er plötzlich an und Emily hätte schwören können, dass für wenige Sekunden das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand, „Wir waren immer zusammen. Meine Wenigkeit hat sie sehr gern.“ Dieser Mann schien den Verlust noch immer nicht überwunden zu haben, da war sich Emily sicher, doch sie sagte nichts. „Was hast du nun vor, Kleines?“, fragte er und kam auf sie zu. Emily zog die Schultern hoch. Sie hatte wirklich keine Ahnung, was sie tun sollte. Undertaker verzog etwas das Gesicht. „Du bist echt arm dran. Komm mit. In meinem Geschäft habe ich Tee und Kekse.“ Emily wollte protestieren. „Ich…aber…ich habe gar kein Geld…“ Undertaker lächelte wieder breit und lachte auf. „Alles hat seinen Preis, das ist richtig. Aber mach dir darüber keinen Kopf.“ Sie folgte dem Bestatter zu seiner Kutsche. Er half ihr, sich auf den Kutschbock zu setzten und gemeinsam fuhren sie durch die Straßen zu seinem Geschäft. Das Bestattungsinstitut befand sich in einem schlichten Gebäude, an dessen Wand ein Schild hing. Es trug den Namen des Inhabers und einen Totenkopf. Die Räumlichkeiten in dem Haus waren dunkel und voll mit Särgen. An den Wänden standen Regale, die gefüllt waren mit Büchern und Flaschen. In einer Ecke standen das Anatomiemodel des menschlichen Skeletts und ein kleineres Model der menschlichen Muskulatur. „Setz dich irgendwohin.“, sagte Undertaker und ging in einen der hinteren Räume. Emily sah sich um. Sie fragte sich, worauf sie sich setzen sollte. Es waren nur Särge da. Unsicher ließ sie sich auf einem von diesen nieder und wiegte ihren Bruder im Arm, der erneut angefangen hatte zu schreien. „Hier“, sagte Undertaker und reichte ihr einen Messbecher, der gefüllt war mit einer ihr unbekannten Flüssigkeit. „Das ist Tee. Er wärmt dich auf. Gib auch deinem Bruder davon, wenn er etwas kühler geworden ist.“ „Danke.“ Emily roch daran. Es war ein ihr bislang unbekannter Geruch. Vorsichtig pustete sie und trank einen Schluck. Undertaker sollte Recht behalten. Er wärmte sie wirklich und schmeckte obendrein auch noch sehr gut. Undertaker kniete sich vor ihr hin und beobachtete sie. Sein Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter bis er sich ein lautes Auflachen nicht mehr verkneifen konnte. „Was ist los?“, fragte Emily sichtlich verunsichert. Undertaker lachte und schien sich kaum beruhigen zu können. Es dauerte mehrere Minuten bis dieser sich wieder beruhigt hatte. Er griff nach einer Urne und nahm den Deckel ab. Darin befanden sich Kekse in Form von Knochen. Er nahm sich einen heraus und hielt die Urne dann Emily hin. „Nimm ruhig. Es sind keine echten Hundekuchen“, sagte er auf ihren fragenden Blick hin und biss von dem Keks ab. Unsicher nahm sich Emily einen Keks und biss hinein. Er schmeckte köstlich. „Was war denn so lustig?“, fragte sie, nachdem sie den Keks gegessen hatte. Undertaker kicherte erneut. „Nichts. Es ist nur so, dass jemand einen großen Fehler gemacht hat und es sicherlich jede Menge Ärger und Tumult geben wird.“ Emily verstand nicht, was daran so lustig sein sollte und legte den Kopf schief. Der Bestatter winkte ab und trank einen Schluck seines Tees. „Nicht so wichtig für dich.“ Die Zeit verging und als es immer dunkler wurde, verabschiedete Emily sich von Undertaker. „Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wie kann ich mich nur bedanken?“, sagte sie und nahm Viktor wieder in den Arm. „Du kannst meine Wenigkeit und das Geschäft jederzeit besuchen.“ Undertaker verschränkte die Finger und erneut überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. „Dein Dank wird mir sicherlich später einmal zuteil.“ Verwirrt nickte Emily, auch wenn sie die Worte nicht verstand. Sie verließ das Institut und lief nach Hause. Der Nebel hatte sich etwas aufgelöst und sie beeilte sich, so schnell es eben ging mit einem Baby im Arm, nach Hause zu kommen. Vor der Tür blieb Emily jedoch stehen, machte einen Schlenker um die Hausecke und spähte durch das einzige Fenster in das Zimmer hinein. Nachdem ihr Vater am Nachmittag so betrunken war, wollte sie ihn diesmal nicht erneut auf falschem Fuß erwischen. Eine kleine Kerze brannte in dem Zimmer. Auf dem Tisch stand eine leere Flasche. Von ihrem Bruder war nichts zu sehen und auch ihren Vater oder ihre Schwester konnte sie nirgendwo entdecken. Emily ging zurück zur Haustür und öffnete sie. Sofort schlug ihr der Gestank von Alkohol entgegen und sie vernahm keuchende Laute und das Rascheln von Stroh. „Maria?“, fragte sie vorsichtig und legte ihren Bruder in das Lager in der Ecke. Sie hörte ein lautes Stöhnen und einen schnell gehenden Atem. „Wo warst du?“, blaffte die Stimme ihres Vaters und sofort verkrampfte sich ihr Körper. Seine Stimme klang sicher und fest. Sie konnte seine Gestalt auf einem der Lager ausmachen, die sich erhob und auf sie zukam. Diesmal schien ihr Vater nüchtern zu sein. Er packte sie am Kragen ihres Kleides und drückte sie gegen die Wand. „Nicht…“, flehte sie und kniff die Augen fest zusammen. Die raue Hand ihres Vaters schloss sich fest um ihren Hals. Es schmerzte und sie konnte kaum atmen. Die Luft wurde knapp und sie krallte sich an die Hand, die um ihren Hals lag. Tränen der Angst rannen ihr Gesicht hinab. Ihr Blick wurde unklarer. Dumpf hörte sie die Stimme ihrer Schwester über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hinweg. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Dann wurde alles schwarz. Nakatsu lag noch wach im Bett. Er konnte nicht einschlafen. Warum, konnte er selbst nicht sagen. Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere oder stand auf. Und wenn er doch mal einschlief, dann war es eher ein unruhiger Halbschlaf. Seine Gedanken kreisten immer wieder um seine Nachbarin. Er konnte tun, was er wollte. Sie ließen sich nicht vertreiben. Nakatsu dachte an das Training. Es war wirklich beeindruckend gewesen, wie gut Lily durchgehalten hatte. Dennoch gab es mehr, was ihn so sehr an sie denken ließ. Sie war seine Mitschülerin, Kollegin und auch als Frau schätzte und respektierte er sie. Das war alles, aber immer wieder kehrten Bilder von ihr in seinen Kopf zurück und ihm war unbegreiflich, was der Grund war. Er richtete sich auf und schlug genervt die Decke zurück. An Schlaf war nun gar nicht mehr zu denken. „Du kleines Biest…“, murmelte er und es entfuhr ihm ein leises, kurzes Lachen. Er konnte die Bilder einfach nicht aus seinem Kopf vertreiben. Abermals stand er auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab, während er an sie dachte. Nur eine dünne Wand trennte ihn von Lily. Bei diesem Gedanken schlug sein Herz wieder wie wild und seine Handflächen wurden feucht. In seinem Magen machte sich ein merkwürdiges Gefühl breit. Nakatsu seufzte und strich sich durch die Haare. Seine Reaktion am frühen Abend war ihm ebenfalls unverständlich. Zuerst dachte er, er hätte eine Herzkrankheit. Aber woher sollte diese kommen? Er war jung, lebte gesund und hielt seinen Körper in Form. Ein erneuter Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es bereits nach drei Uhr war. Die Nacht war also fast vorbei und er hatte vielleicht drei Stunden geschlafen. In vier Stunden würde es Frühstück geben. Nakatsu gab es auf und ging duschen. An Schlaf war wirklich nicht mehr zu denken und sein Gehirn war hellwach. Er hoffte, durch das Wasser nicht nur den körperlichen Schmutz, sondern auch die Bilder aus seinem Kopf vertreiben zu können. Als er fertig war, war er auch mit den Nerven am Ende. Je mehr er es versuchte zu verdrängen, desto mehr dachte er an seine Nachbarin. Es führte dazu, dass er wieder nur an sie dachte, an ihr Lächeln, wie sie sich durch die Haare strich und viele andere kleine Dinge. „Was hat die kleine Hexe nur mit mir gemacht?“, murmelte er in die Stille seines Wohnzimmers und rieb sich mit dem Handtuch die Haare trocken. Er brauchte dringend frische Luft und zog die Vorhänge zur Seite. Die Terrassentür war schnell geöffnet und auf nackten Sohlen ging er hinaus. Der Steinboden war kühl, was ihn allerdings nicht besonders interessierte. Viel lieber genoss er die angenehme, frische Luft. Plötzlich erhellte ein Lichtstrahl die Terrasse neben ihm. Sein Herz fing wieder an zu klopfen. Lily war ebenfalls wach. Er konnte ihren Schatten auf dem Terrassenboden erkennen. Nur wenige Sekunden später hörte er die Tür aufgehen und Lily trat an das Geländer. Sie bemerkte ihn nicht und sah in die dunkle Nacht. Sein Blick fiel auf ihre nackten Beine und Füße. Er musste sich anstrengen, um den Blick abwenden zu können. Ihre Haare lagen offen auf ihrem Rücken. Sie trug nur eine kurze Hose und ein kurzes Oberteil. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu sehen und ihr Gesicht war eingefallen. Sie rieb sich über die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich hatte auch sie schlecht geschlafen, doch es kratzte nicht im Geringsten an ihrer Schönheit. Nervös überlegte Nakatsu, ob er etwas sagen oder lieber wieder hineingehen sollte. „Guten Morgen, Dornröschen!“, sagte er grinsend und mit stark pochendem Herzen zu ihr. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer. Erschrocken und verwirrt fuhr Lily zu ihm herum. Es war offensichtlich, dass sie ihn nicht erwartet und er sie in ihren Gedanken gestört hatte. „Hast du schlecht geschlafen oder warum bist du nicht im Bett?“ „Ich glaube, das geht dich gar nichts an“, erwidert sie nur leise und mied seinen Blick. Nakatsu verstand. Sicherlich war es etwas, worüber sie nicht reden wollte, also suchte er nach einem anderen Thema. „Wann glaubst du, machen wir die ersten praktischen Übungen?“ Lily zog die Schultern hoch und trat näher an die Abgrenzung zwischen ihren Terrassen. Sie legte müde und geschafft den Kopf an die Wand. Für wenige Sekunden schloss sie die Augen. „Ich weiß es nicht. Ein bisschen warten werden wir wohl noch müssen.“ Ihre Stimme klang genauso müde, wie sie aussah. Nakatsu blickte über seine Schulter hinunter. „Wie tief, glaubst du, wird das ganze hier sein?“ „Ich denke, einige hundert Meter sicherlich.“, murmelte sie mit geschlossenen Augen. „Wenn man da runterfällt…“, begann er. „Dann wirst du dir einiges brechen“, beendete sie den Satz. Ihren Kopf hatte sie zu ihm gedreht und schenkte ihm ein kleines Lächeln, was Nakatsu sofort in Übermut verfallen ließ. „Nun gut, dann lass uns mal sehen, ob ich zu dir rüberkomme, ohne dass ich zerquetscht werde“, erklärte er und grinste breit. „Was?“, fragte sie etwas verwirrt und sah ihn erschrocken an, während er das Geländer musterte. „Du weißt, dass es Türen und Flure gibt, oder?“, hakte sie noch einmal nach. „Schon, aber das hier ist doch viel lustiger“, sagte er. „Also ich rette dich nicht, wenn du runterfallen solltest.“, kommentiert sie nur, doch das war ihm egal. Er stand schon auf dem Geländer, zwischen den Terrassen war etwa ein Meter kein Boden und kein Netz, das ihn auffangen würde. Er nahm noch nicht einmal Anlauf und landete, fast schon elegant, auf ihrem Geländer. „Voila!“, rief Nakatsu aus und verbeugte sich. „Bitte ein Applaus für den Meister Nakatsu! Reservierungen für eine Wiederholung werden jederzeit entgegengenommen.“ Lily musste ein wenig grinsen, griff nach seinem Hemd und zog ihn von dem Geländer herunter. „Genug jetzt!“, sagte sie bestimmt, „Sonst brichst du dir noch den Hals!“ Sie ließ ihn auch sofort los, als er von dem Geländer herunterkam und wandte ihm den Rücken zu. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr und Nakatsu hätte gern gewusst, was es war. Er war sich aber sicher, dass sie es nicht so einfach erzählen würde. „Ach, lass dich drücken, du Trauerkloß!", sagte er und drückte sie an sich. Ihr Duft stieg in seine Nase. Er war süßlich, fruchtig und auch ein wenig würzig. Sie roch auch ein wenig nach Schlaf und ihre Haut war warm. „Hey, was soll der Unsinn?“, rief sie und versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. „Du bist so ein Spielverderber…“, brummte Nakatsu und ließ sie los. Lily verschwand wieder in ihr Apartment und er folgte ihr. „Ist irgendwas passiert?“, wagte er zu fragen, als er im Wohnzimmer stand und die Terrassentür geschlossen hatte. „Nein, nein…“, murmelte sie und setzte sich auf das Sofa. Lily lehnte sich zurück und starrte die Decke an. Nakatsu setzte sich neben sie. Sein Blick war besorgt. „Du hast doch was.“ „Ich hab nur schlecht geschlafen. Das ist alles.“ Ungläubig zog er eine Augenbraue nach oben. „Du siehst aus, als hättest du geheult.“ Lily blickte ihn an. „Wirklich?“ Er nickte nur. „Scheiße…“, fluchte sie leise und wandte wieder den Blick ab. „Also was ist los?“, hakte er erneut nach. „Ich hab einfach nur schlecht geschlafen. Glaub mir.“ Ihre Stimme klang ein wenig kratzig. Ein Seufzen entfuhr ihr. Sie ließ sich ins Sofa zurücksinken und schloss die Augen. Besorgt sah Nakatsu sie an. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er sie in den Arm nehmen und trösten oder lieber alleine lassen? Es war zum Verrücktwerden! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und auf seinen Handflächen bildete sich ein feiner Schweißfilm. Nervös blickte er zu ihr, ehe er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Es schien ihr unangenehm zu sein und er wollte sie einfach nicht anstarren. Unauffällig wischte er sich mit den Händen über die Hose, um den Schweiß los zu werden, legte dann einen Arm um sie und zog sie an seine Brust. Mit einer Hand strich er ihr tröstend über einen ihrer nackten Arme. Gerne würde er ihr helfen, wusste jedoch nicht wie und wenn Lily nicht darüber reden wollte, war es eh hoffnungslos. Nakatsu wusste auch nicht, was er sagen sollte. Jedes Wort schien ihm nicht passend genug zu sein. Er schwieg stattdessen einfach und genoss den Moment, Lily im Arm halten zu dürfen, auch wenn sie sicherlich seinen schnellen Herzschlag hören würde. Die Stille senkte sich über beide. Doch war es kein peinliches, unangenehmes Schweigen. Es war eher eine angenehme Ruhe, die zur Entspannung beitrug. Worte waren in diesem Moment einfach nicht nötig. „Lily?“, fragte Nakatsu nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens und der Ruhe. Er blickte in ihr entspanntes Gesicht, während sie mit geschlossenen Augen ruhig durch den leicht geöffneten Mund atmete. In seinem Gesicht bildete sich eine leichte Röte. Der Anblick war einfach zu verführerisch. Seine Augen starrten auf den geöffneten Mund. Sein Kopf spielte mit dem Gedanken, was wohl passieren würde, wenn er sich zu ihr herunterbeugen und seinen Mund auf ihren legten würde. Nur schwer verdrängte er diese Vorstellung und schüttelte den Kopf. Wie kam er nur auf solche Ideen? Er kannte Lily nicht einmal richtig und lange schon gar nicht. Wieso sollte er sie dann küssen wollen? Immerhin war er nicht in sie verliebt. „Ähm…Lily…?“, fragte er erneut und bekam wieder keine Antwort. Nakatsu seufzte, schob einen Arm unter ihre Kniekehle und den anderen unter ihren Rücken. Mit einem kurzen kraftanstrengenden Laut hob er sie vom Sofa hoch. Lily war nicht besonders schwer, aber es kostete ihn dennoch Kraft, sie auf den Weg ins Schlafzimmer nicht fallen zu lassen. Es war nie so wie in romantischen Büchern, wo der Held die Prinzessin locker auf den Händen trug. Im Gegenteil. Es war recht mühsam, sie so zu tragen, dass das Gewicht ihn nicht nach vorne und er Lily nicht auf den Boden fallen ließ. Mit dem Fuß drückte er die Türklinke nach unten und öffnete die Tür. Das Bett war nicht mehr weit und als er davor stand, war es auch mit seiner Kraft vorbei. Das Gewicht zog ihn nach vorne und Lily landete härter als beabsichtigt auf dem Bett. Mit beiden Händen konnte sich Nakatsu gerade so abfangen, anstatt mit seinem ganzen Gewicht auf ihr zu landen. Sein Atem ging ein wenig schneller. Mit der Zunge fuhr er sich kurz über die Lippen. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von ihr. Lily hatte nur ein kurzes Aufstöhnen von sich gegeben, schlief aber weiter. Nakatsu atmete erleichtert aus, erhob sich und legte ihr die Decke über. Er strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht und seine Hand ruhte für einige Sekunden auf ihrer Wange. Erschrocken fuhr Nakatsu zurück, als Lily sich zur Seite drehte und sich tiefer in die Decke kuschelte. Ein leichtes Lächeln legte sich über seine Lippen. „Schlaf gut, du kleines Biest…“, murmelte er, verließ kurz den Raum, um das Licht im Wohnzimmer zu löschen und setzte sich dann auf die Bettkante. Eine ganze Weile saß er nur still da und beobachtete Lily, wie sie schlief. Es schien ein Alptraum zu sein, denn sie jammerte und bewegte sich unruhig. Nakatsu ergriff ihre Hand. „Hey…ganz ruhig…“ Ein wenig beugte er sich zu ihr herunter. Ihr Gesicht war angespannt, als hätte sie Schmerzen. „Lily, hörst du mich? Ich bin bei dir…“ Unruhig warf sich Lily zur Seite, ihr Arm schwang durch die Luft und traf Nakatsus Hals, der durch den unerwarteten Schwung umgerissen wurde und mit dem Gesicht neben ihr landete. Ihr Arm blieb auf seinem Rücken liegen. „Du bist echt unmöglich…“, flüsterte er und legte einen Arm um Lily. Er schloss die Augen und lauschte ihrer Atmung. Kapitel 5: Das Problem mit dem Wasser ------------------------------------- Als Nakatsu am nächsten Morgen erwachte, war es nicht wegen den einfallenden Sonnenstrahlen, sondern wegen einem erschrockenen Aufschrei dicht an seinem Ohr. Er lag noch immer in der gleichen Position, in der er auch eingeschlafen war. Ganz nah bei Lily, welche ihn doch in der Nacht umgehauen hatte. Der Aufschrei ließ ihn jedoch sofort mit einem Schlag wach werden und senkrecht im Bett sitzen. War es überhaupt seines? Er erinnerte sich nicht daran, dass er schwarzes Bettzeug besaß. Seine Gedanken rasten und deutlich merkte er, dass sein Gehirn noch im Tiefschlaf war. So geweckt zu werden, war einfach nur grausam. Verschlafen rieb er sich über die Augen und die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte zurück. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er schaute verschlafen in Lilys gerötetes und erschrockenes Gesicht, während sie die Decke fest an ihren Körper presste. Es war ihr verdammt peinlich. Mehr als das sogar. Ihm machte es jedoch nicht so viel aus, wenn man seinem Grinsen nach urteilte. Lily starrte ihn nur an und ihr Gesicht hatte, wenn das überhaupt möglich war, an Farbe zugenommen. „Guten Morgen, Prinzessin auf der Erbse!“, grinste Nakatsu, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und setzte sich im Schneidersitz hin. Lily saß einfach nur auf dem Bett und starrte ihn entgeistert an. In ihrem Blick konnte man deutlich die Verwirrtheit und auch die Scham sehen. „Jetzt guck doch nicht so, als wäre ich der böse Wolf, der das Rotkäppchen frisst“, lachte Nakatsu, stand vom Bett auf und streckte sich ausgiebig. Er strich Lily durch die unordentlichen Haare. „Wir sollten uns langsam fertig machen, wenn wir nicht zu spät zur Schule kommen und von Spears eine Strafarbeit aufgebrummt kriegen wollen.“ Mit diesen Worten verließ er das Schlafzimmer und ging auf die Terrasse. Es dauerte nicht lange, bis auch Lily nach draußen kam. Sie hielt ihn am Ärmel fest. „Was ist gestern Nacht passiert?“, fragte sie und in ihrer Stimme konnte man deutlich hören, dass sie Angst hatte, dass etwas passiert war, was nicht hätte passieren sollen. Ein freches Lächeln stahl sich auf Nakatsus Gesicht und er zwinkerte ihr zu. Mit einem Bein war er schon auf dem Geländer. „Das verrate ich dir später“, antwortete er ihr, stellte sich auf das Geländer und sprang zu seiner Terrasse herüber. Ohne einen weiteren Blick auf Lily zu werfen, ging er in sein Apartment und schloss die Tür zum Balkon. Ihr Anblick warf ihn aus der Bahn und innerlich atmete er erleichtert auf. Wie kam er nur dazu, sie Prinzessin auf der Erbse und Rotkäppchen zu nennen? So eine Anrede war vollkommen untypisch für ihn. Er warf einen Blick auf die Uhr, die ihm deutlich anzeigte, wie spät es war. Wollte er nicht zu spät kommen, musste er sich beeilen. Das Frühstück musste wohl ausfallen. Schnell putzte er sich die Zähne und frisierte seine Haare, ehe er sich die Uniform anzog und die Wohnung verließ. Im Flur traf er auf Lily, die auf ihn zu warten schien. „Was machst du denn noch hier, Alice?“, fragte er überrascht, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen, „Bist du nicht schon viel zu spät?“ „Das sagt mir gerade der Richtige, weißes Kaninchen. Lauf lieber schnell los, bevor die rote Königin dir den Kopf abschlägt“, gab sie neckisch zurück. Nakatsu sprang kurz in die Luft und rannte um sie herum. „Zu spät! Zu spät! Ich bin zu spät!“ Lily lachte kurz auf und schüttelte ungläubig den Kopf dabei. „Okay, Spaß beiseite, Hutmacher“, lachte sie und ihre Stimme wurde ernster, „Wieso lagst du neben mir? Was ist passiert?“ „Hast du deshalb auf mich gewartet, Däumeline?“ Lily boxte Nakatsu leicht in die Schulter. „So klein bin ich nun auch nicht!“ Zusammen gingen sie die Treppen hinunter. Ihre Schritte waren schnell und zügig, da es nur noch fünfzehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn waren. „Also“, begann Nakatsu auf dem Weg nach unten, „Ich hätte niemals neben dir geschlafen, wenn du mich nicht wie Dornröschen in den Tiefschlaf versetzt hättest.“ „Ich?!“, stieß Lily empört aus, „Was habe ich damit zu tun?“ „Nachdem das kleine Schneewittchen eingeschlafen war, hab ich es ins Bett getragen, zum Dank hat es mich umgehauen und nicht mehr losgelassen.“ „WAS?“ Lilys Augen waren geweitet und ihr Gesicht hatte die Farbe einer überreifen Tomate angenommen. „Wieso hast du mich nicht geweckt?“ „Weil du wie Dornröschen gepennt hast. Was hätte ich tun sollen? Dich wachküssen?“ Letzteres betonte er absichtlich so, als würde ihm der Gedanke missfallen. Er verschwieg besser, dass er am gestrigen Abend mit dem Gedanken gespielt hatte. „Garantiert nicht, Romeo!“ Lily schnaubte abfällig. „Also beschwer dich nicht, Julia!“ Lily grummelte leise etwas, was Nakatsu nicht verstand. Sie kamen beide in den Eingangsbereich, in dem sich eine große Traube von Shinigami versammelt hatte und neugierig auf das Informationsbrett starrte. „Was ist denn da los?“, fragte Lily leicht verwirrt. „Keine Ahnung, lass uns lieber gehen. Wir kommen zu spät.“ „Ach was!“, wehrte sie ab, „Sieh nur, Mr. Spears steht auch dort. Wenn wir uns beeilen, sind wir vor ihm im Unterricht.“ Nakatsu seufzte, gab aber nach und folgte ihr zum Informationsbrett. Er drängte sich durch eine freie Lücke nach vorne und überflog das rote Blatt mit der weißen Schrift. „Was?!“, stieß Nakatsu ungläubig aus, „Ein Rohrbruch in der elften Etage! Ein Wasserschaden in der zehnten und elften Etage!?“ „Nicht nur das“, sagte Lily, „Die Leute aus der elften Etage werden mit auf die zwölfte Etage aufgeteilt und die aus der zehnten Etage mit auf unsere!“ Nakatsu nickte und las sich die Namensliste durch, wer ab sofort mit in den Zimmern war. „Das ist ja großartig“, sagte eine vertraute Stimme und ließ beide zusammenzucken. Ein Blick zur Seite verriet, dass es Lilys Mentor Ronald Knox war. Er hatte sich unbemerkt neben Lily gestellt. „Es ist nicht mal nach Geschlechtern getrennt“, stöhnte Lily, als sie auf der Liste sah, dass sie sich das Zimmer mit einem ihr unbekannten Shinigami teilen musste. „Was?!“, stieß Ronald aus und warf einen Blick auf die Liste. „Das kommt gar nicht in die Tüte!“, rief Nakatsu empört, „Du bist eine Frau! Das geht doch gar nicht!“ Lily rollte mit den Augen. „Ist ja auch kaum zu übersehen, dass ich eine bin. Aber so wie es aussieht, hab ich keine Wahl.“ „Du schläfst garantiert nicht mit einem fremden Mann in einem Zimmer! Wer weiß, was alles passieren kann! Er könnte dich überfallen, vergewaltigen, ausrauben oder oder oder!“ Nakatsu hatte sich in Rage geredet. Die Vorstellung, dass sie das Bett mit einem Fremden teilte, machte ihn wütend. „Komm runter!“, sagte sie ruhig, „Er wird garantiert nicht neben mir im Bett schlafen, sondern auf dem Sofa und ich kann ja die Schlafzimmertür abschließen. Außerdem kann ich mich gut alleine verteidigen.“ „Vielleicht können Sie ja mit der Verwaltung reden, dass eine Frau in Ihr Zimmer kommt oder zumindest eine Ihnen vertraute Person“, schlug Ronald Knox vor. „Vielleicht kann ich ja in dein Zimmer ziehen?“, überlegte Nakatsu, „Du kennst mich immerhin und du bist nett, stubenrein, hübsch….“ Schnell merkte Nakatsu, dass er ins Schwärmen geriet und räusperte sich verlegen. „Klingt ja fast so, als wäre ich ein Tier…Na toll.“ Lily verschränkte die Arme und rollte mit den Augen. Ronald kicherte leise. „Reden Sie nachher einfach mal mit der Verwaltung. Vielleicht ist ein Wechsel möglich. Aber ich muss jetzt los und Sie beide sollten auch schnell zum Unterricht.“ Lily und Nakatsu nickten und liefen los, ehe sich William auf den Weg machen konnte. Nach diesem Morgen verging der Rest des Tages wie im Fluge und vor allem die Mittagspause war schnell vorbeigegangen. Nakatsu hatte es sogar geschafft, mit der Verwaltung zu reden und eine Zusage zu bekommen, mit Lily das Zimmer zu teilen. Ihm war auch schon ein Zweitschlüssel ausgehändigt worden. Lily wusste von alldem noch nichts. Er wollte sie am Abend mit dieser Botschaft überraschen. Es stand nur noch eine Schulstunde auf dem Plan: Schwimmunterricht und das auch gleich zwei geschlagene Stunden. Jeder schien sich zu freuen und es wurde sich eilig umgezogen, damit der Unterricht beginnen konnte. Die Badehosen seiner Kollegen waren bunt gemischt und auch unterschiedlich geschnitten. Seine Schwimmhose war dunkelblau und ähnelte vom Schnitt her einer längeren Unterhose. Seine Kleidung verstaute er in einem der Schließfächer, nahm ein Handtuch und ging in die Schwimmhalle. Er fragte sich ja, was Lily tragen würde. Vielleicht einen Einteiler oder doch einen Zweiteiler? Die Frage wurde Nakatsu sofort beantwortet, als er die Halle betrat. Lily hatte sich gar nicht umgezogen und stand in der Uniform in der Halle. Sie hatte sich lediglich das Jackett aus- und einfache Sandalen angezogen, um nicht auf den kalten und nassen Fliesen laufen zu müssen. Sofort legte Nakatsu sein Handtuch zu denen der anderen und ging zu ihr. Seine Kollegen löcherten sie bereits mit Fragen, die sie einfach nicht beantworten wollte. William T. Spears war noch nicht da. „Hast du deine Tage oder was?“, hörte er jemanden sagen. „Oder ist es dir nur zu peinlich, Haut zu zeigen?“ Die anderen Jungs umkreisten sie förmlich. Es war schlimmer als bei einem Rudel hungriger Wölfe. „Hey, lasst sie in Ruhe“, mischte er sich ein und stellte sich schützend an ihre Seite, „Ihr geht es nicht so gut. Sie hat ein wenig Fieber.“ „Ach ja?“, fragte einer ungläubig und trat aus der Gruppe hervor, „Das will ich testen.“ Er stellte sich direkt vor Lily hin, die ihn ängstlich ansah, dann legte er eine Hand auf ihre Stirn. „Fieber ist keins da. Im Gegenteil. Du siehst sogar ziemlich gut aus für eine kranke Person.“ Deutlich konnte Nakatsu sehen, wie sie ängstlich schluckte. Er hatte sie nicht in Schwierigkeiten bringen wollen. „Dann wird es Zeit für eine Bestrafung!“, rief ein anderer. Sofort wurde Lily von zwei Jungs an den Armen gepackt und zwei andere hoben ihre Beine hoch. „Hey! Lasst mich runter! Hört sofort auf damit!“, rief sie und versuchte sich zu befreien. Nakatsu wollte ihr helfen, doch ein anderer hielt ihn zurück. Die Gruppe bewegte sich auf den Beckenrand zu. Im Chor wurde „Bestrafen“ gerufen und zur Anfeuerung geklatscht. Je näher sie dem Beckenrand kam, desto mehr fing Lily zu zappeln an. Sie rief immer lauter und er hörte deutlich einen ängstlichen Unterton. Am Beckenrand angekommen, blieben sie stehen und begannen, Lily hin und her zu schaukeln. „Eins!“, rief die Gruppe im Chor und Lily wurde zum Wasser hin geschaukelt. „Zwei!“ Sie wurde zurück gependelt. „Drei!“ Ein letzter Schwung wurde genommen und die Gruppe warf sie mit aller Kraft soweit es ging in das Becken hinein. Es gab ein lautes platschendes Geräusch, als sie fast mittig im Becken auf das Wasser auftraf. Das Wasser schwappte unruhig auf und nieder und trat über den Beckenrand. Die Tiefe des Beckens war gut drei Meter. Ihre Gestalt war unter Wasser nur schwer zu erkennen, doch konnte man sehen, dass sie unruhig zappelte. „Was ist hier los?“, fragte plötzlich die kalte Stimme von William T. Spears. Sofort wurde Nakatsu losgelassen und er musterte den Shinigami in seiner schwarzen Badehose. Es war ein befremdlicher Anblick, den Ausbilder so zu sehen. Sein Oberkörper war nackt und seine Beine, die einen Überzug feinen Haarflaums hatten, waren frei zu sehen. Nakatsu musste sich ein Grinsen verkneifen. Diese Aufmachung stand ihm gar nicht. „Nichts…“, murmelte jemand, doch wurde seine Lüge sogleich von Lily aufgedeckt, die mit einem lauten Platschen und Luftschnappen aus dem Wasser auftauchte. „Lily!“, rief Nakatsu panisch und sah sofort zu der Stelle, an der sie abgetaucht war. Lily schnappte nur kurz nach Luft ehe sie wieder unter die Wasseroberfläche und zu Boden sank. Wieso tauchte sie nicht auf und schwamm zurück ans Becken? Nervös sah Nakatsu auf das sich stark bewegende Wasser. Kleine Luftblasen stiegen auf. „Das sieht mir gar nicht nach Nichts aus. Ich will eine sofortige Erklärung!“, sagte die kühle Stimme von William. Es schien fast so, als könnte Nakatsu den kalten Blick spüren, mit dem er die Gruppe musterte. Undeutliches Nuscheln brach aus. Niemand wollte Ärger bekommen. Aber es interessierte ihn nicht. Er wollte nur, dass Lily so schnell es ging auftauchte. „Shinamoto!“, hörte er die Stimme des Ausbilders sagen, „Was ist passiert?“ Nakatsu wandte nur ungern den Blick ab und schilderte in knappen Worten, was geschehen war. Kaum hatte er geendet, fiel William T. Spears in eine Schimpftirade aus und verhängte Strafarbeiten über die Gruppe. Nakatsu hörte nur mit halbem Ohr zu. Langsam, aber sicher stieg Panik und Angst in ihm auf. Sein Herzschlag ging schnell. Selbst sie als Shinigami brauchte Luft, auch wenn sie als übermenschliches Wesen länger die Luft anhalten konnte. Nur noch vereinzelt stiegen Luftblasen auf, wurden jedoch immer weniger. Selbst das Wasser war wieder zur Ruhe gekommen und auch William sah besorgt auf die Oberfläche. Die letzte Luftblase war schon aufgestiegen, doch Lily machte noch immer keine Anstalten, aufzutauchen. Als hätte man ihm einen Schlag verpasst, ging Nakatsu ein Licht auf. „Oh verdammt!“, rief er, rannte auf den Rand zu und sprang mit dem Kopf voraus in das Wasser, noch ehe er den Beckenrand überhaupt erreicht hatte. Das Wasser traf kühl auf seine Haut und für wenige Sekunden setzte sein Herz aus, schlug dann aber schnell weiter. Als er auftauchte, prustete er das Wasser aus und schwamm in schnellen Zügen zu Lily. „Mr. Shinamoto, kommen Sie sofort hierher! Miss McNeil wird schon von alleine auftauchen!“, rief William erzürnt vom Rand aus. „Nein!“, rief er zurück, „Sie wird nicht von alleine auftauchen! Sie kann nicht schwimmen!“ Nakatsu hätte meinen können, dass die Stimmung in der Gruppe von Gehässigkeit in Fassungslosigkeit umschlug. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, aber er glaubte zu hören, dass selbst William T. Spears scharf die Luft einzog. Er holte ein letztes Mal Luft und tauchte ab. Das Wasser rauschte in seinen Ohren und brannte in seine Augen, als er sie vorsichtig öffnete. Nakatsu konnte ihre Gestalt ausmachen, schwamm ein wenig tiefer, packte sie unter den Armen und stieß sich am Boden ab, um wieder auftauchen zu können. Er durchdrang die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Lily gab keinen Laut von sich. Er packte sie um die Hüfte und schwamm auf dem Rücken zurück an den Rand. William hatte sich hingekniet und nahm Lily entgegen. Er zog sie schnell aus dem Wasser und legte sie ruhig auf den Boden. Schnell stieg Nakatsu aus dem Wasser und kniete sich auf die andere Seite neben Lily. William versuchte bereits, sie anzusprechen, doch sie gab keine Reaktion von sich. „Sie atmet nicht!“, stieß er leise hervor, jedoch hörte Nakatsu es deutlich, „Shinamoto, Sie machen Mund-zu-Mund-Beatmung und ich mach die Herzmassage!“ Nakatsu nickte und William legte ihren Kopf leicht in den Nacken. „Halten Sie die Nase zu und dann beatmen Sie sie“, erklärte William und sah genau zu, „Los!“ Ohne zu zögern, hielt er ihr die Nase zu und presste seinen Mund auf ihren. Als er sich löste, legte William seine Hände zwischen ihre Brüste, genau auf die Stelle, wo das Herz war und drückte auf den Brustkorb. „Komm schon…“, murmelte Nakatsu, „Halt durch!“ Gerade als er sich erneut über sie beugen wollte, riss Lily die Augen auf, drehte sich zur Seite und hustete einen Schwall Wasser aus. Ihre Lunge versuchte gleichzeitig Luft zu atmen, während sie das Wasser ausspuckte. Erleichtert atmete Nakatsu aus und auch William stieß einen erleichterten Seufzer aus. Er stand schnell auf, holte sein Handtuch und legte es ihr um die Schultern. Als Lily ihn dankend ansah, konnte er deutlich erkennen, wie mitgenommen sie war und dass sie Angst gehabt hatte. Er konnte diesen Blick nicht ertragen. „Lily, du bist keine Meerjungfrau! Du kannst nicht unter Wasser atmen!“, neckte er sie sofort und erntete einen amüsierten, aber noch immer mitgenommenen Blick. Sie schlang sich das Handtuch enger um den Körper, während von ihren Haaren Wasser tropfte und ihre Kleidung nass an ihrer Haut klebte. Die weiße Bluse war durchsichtig geworden und ihre blasse Haut schimmerte durch. „Das weiß ich auch, Froschkönig.“, gab sie zur Antwort. Immerhin war ihr Humor nicht verloren gegangen. „Geht es dir gut?“, fragte er nun vorsichtig und wieder ernster. Nakatsu legte schützend einen Arm um sie, während Lily schwach nickte. „Mr. Shinamoto, bringen Sie Miss McNeil auf ihr Zimmer. Sie beide sind vom restlichen Unterricht befreit.“, sagte William und richtete sich auf. Sofort ging er zu seinem Klemmbrett und machte eine Notiz darauf. „Miss McNeil, wenn es Ihnen besser geht, gehen Sie zu Ihrem Mentor und sagen Sie ihm, dass er Ihnen Schwimmunterricht geben soll.“ Nakatsu half Lily beim Aufstehen und nickte nur, als Zeichen, dass er die Anweisung verstanden hatte und auch Lily nickte William zu. Gemeinsam verließen sie die Halle. Er holte lediglich seine Sachen aus dem Spind, während Lily auf ihn wartete. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzuziehen. Es war ihm egal, dass er nass war und mit nacktem Oberkörper durch die Gegend lief. Als er seine Sachen geholt hatte, legte er einen Arm um Lily und führte sie auf ihr Zimmer. Sie hielt noch immer sein Handtuch fest umschlungen. Der Tag neigte sich dem Ende zu und die Shinigami traten ihren wohlverdienten Feierabend an, wenn nicht gerade wieder so viel zu tun war, dass Überstunden gemacht werden mussten. Leider war es eine Seltenheit, dass keine anfielen und man die Society pünktlich verlassen konnte. Nakatsu war in seinem Zimmer und packte seine Sachen zusammen. Alles, was er für die eine Woche brauchen würde, hatte er in eine Tasche gepackt. Er faltete seine Decke zusammen und legte das Kopfkissen mit drauf. Nun war alles fertig und die anderen beiden, fremden Shinigami konnten sein Zimmer haben. Mit einem letzten Blick suchte er den Raum ab und ging in Gedanken seine Sachen noch einmal durch, ob er auch nichts vergessen hatte. Er hatte Kleidung, Bücher, Schulmaterial, Geld und seine Sachen fürs Bett. Zufrieden nickte Nakatsu, warf sich seine Tasche über die Schulter, nahm das Bettzeug, verließ sein Zimmer, welches er noch aufgeräumt hatte und ging zur Nachbartür. Seine Sachen balancierte er kurz auf seinem linken Arm, während er in seiner Hosentasche nach dem Zweitschlüssel kramte. Nakatsu schob den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn herum und zog die Tür auf. „Heeeeyyyy!“, rief er erfreut und strahlte über das ganze Gesicht, während Lily ihn überrascht und verwirrt ansah, „Vielen Dank für die Herberge!“ Er trat in das Zimmer ein, legte seine Sachen auf das Sofa ab und setzte sich. „Nakatsu…“, begann Lily noch immer recht durcheinander, „Was machst du hier? Was ist mit dem aus der zehnten Etage? Sollte nicht jemand anderes zu mir ins Zimmer kommen?“ „Das war so“, begann Nakatsu, sah zur Seite und mied es, Lily direkt anzusehen. Er überlegte fieberhaft, wie er es ihr am besten sagen sollte und legte den Kopf ein wenig schief. Immerhin konnte er schlecht sagen, dass er den Shinigami auf Knien angebettelt hatte, mit ihm zur Verwaltung zu gehen und einen Zimmertausch vorzuschlagen. Nervös fuhr er sich durch die Haare und ihm kam eine zündende Idee. Sofort sah er Lily wieder an und lächelte frech und zufrieden. „Er hatte mich gefragt, ob ich zu dir ins Zimmer möchte“, sagte er dann schlicht und nickte nachdrücklich. Lily seufzte kurz und zog die Schultern hoch. „Mir egal, solange es keine Probleme gibt. Ich bin dann unter der Dusche.“ Kurz ging sie ins Schlafzimmer, um sich frische Kleidung zu holen, ehe sie in das Badezimmer ging und die Tür hinter sich zu zog. Nakatsu wartete auf das Geräusch, das ihm zeigte, dass sie abgeschlossen hatte, aber es blieb aus. Offenbar hatte sie es vergessen oder sie vertraute ihm soweit, dass er nicht hereinkommen und spannen würde. Es dauerte nicht lange bis er deutlich den Laut von plätscherndem Wasser in der Dusche hören konnte. Gebannt starrte er auf die Tür und lauschte den Geräuschen. Die Versuchung war groß, die Tür zu öffnen und nur einen kurzen Blick auf ihre nackte Haut zu werfen. Wenn er es leise anstellte, würde Lily es nicht einmal bemerken. Es war verlockend, sie zu ärgern, aber er schaffte es, seinen Blick von der Tür zu nehmen und wandte dem Badezimmer den Rücken zu. „Nein, nein, nein, nein.“, murmelte er und verschränkte trotzig wie ein kleines Kind die Arme. Doch ein Blick über die Schulter zur Tür ließ sich nicht vermeiden. „Komm runter“, flüsterte er zu sich selbst, „Sie ist deine Freundin. Du hast extra getauscht, um ausschließen zu können, dass mehr ist. Genau. Es gibt also keinen Grund nervös zu sein.“ Nakatsu schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Was wäre, wenn er hineingehen würde, sich schnell irgendetwas aus der Dusche nahm und einen kurzen Blick auf ihren Körper warf? Natürlich würde sie ihm eine Standpauke halten und anschreien, aber danach würde er mit Sicherheit wissen, was mit ihm los war. Das Risiko, dass sie ihn anschreien würde, musste er in Kauf nehmen. Nakatsu wandte sich um und ging zielstrebig auf die Tür zu. Auf seinem Gesicht war ein breites und selbstzufriedenes Grinsen. Die Idee gefiel ihm und er war stolz auf diesen Einfall. Kurz bevor er die Tür erreichte, ging sie auf und Lily kam frisch geduscht heraus, zusammen mit ein wenig Wasserdampf. Sie hatte ihn nicht bemerkt, da ihre Sicht von einem Handtuch verdeckt wurde, mit dem sie ihre Haare trocken rieb. Ihre Kleidung bestand nur aus einer alten Hose und einem Oberteil. Schnell drehte sich Nakatsu um und tat so, als würde er etwas in seiner Tasche suchen. „Du warst aber schnell…“, bemerkte er und hoffte, dass es ganz belanglos und beiläufig klang. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und kalter Schweiß rann seinen Rücken hinunter. Seine Körpertemperatur war um einige Grad gestiegen. Erleichtert atmete er leise aus und war froh, dass sie nichts bemerkt hatte. Lily ging an ihm vorbei und setzte sich an den Schreibtisch. Sie sagte kein Wort und das Schweigen machte ihn nervös. Sein Blick war ununterbrochen auf sie gerichtet, während Lily sich über ein Buch gebeugt hatte und nachdenklich mit dem Stift in der Hand spielte. „Nakatsu?“, fragte sie plötzlich und drehte sich etwas auf dem Stuhl herum, so dass sie ihn ansehen konnte, „Sag mal, kann es sein, dass du verliebt bist?“ „Ich bin nicht verliebt!“, stieß er ohne zu zögern erschrocken aus, kaum dass sie die Frage gestellt hatte. Deutlich spürte er seinen schnellen Herzschlag und fühlte sich bei etwas ertappt, was gar nicht sein konnte. Er starrte sie an und wusste genau, dass seine Reaktion viel zu schnell und zu heftig gekommen war. Nervös sah er zu Boden und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Ähm…wie kommst du darauf?“ Lily legte den Stift zur Seite und drehte sich soweit es ging auf dem Stuhl und mit ihrem Oberkörper herum, dass sie ihn genauer ansehen konnte. „Naja…es ist nur so, dass die Jungs mir erzählt haben, dass du verliebt seist und ich bin ein bisschen neugierig geworden.“ Verlegen lächelte sie ihn an, stand auf und ging ins Badezimmer. „Also? Ist an dem, was sie gesagt haben, was dran?“, rief sie aus dem Badezimmer heraus und kam nur wenige Sekunden später wieder. In der Hand hielt sie eine Haarbürste und kam direkt auf das Sofa zu. Geschmeidig setzte sie sich im Schneidersitz hin und bürstete ihre nassen Haare. „Also? Ich warte auf eine Antwort. Stimmt es? Wenn ja, wer ist sie oder er?“ Nakatsu beobachtete sie dabei, wie sie in gleichmäßigen Abständen mit der Bürste durch ihre Haare ging. „Ähm….“ „Hör auf, mich so anzusehen!“, sagte sie plötzlich und hielt in ihrer Tätigkeit inne. „Was meinst du? Wie sehe ich dich denn an?“, wollte er wissen und sah sie perplex an. Nakatsu war sich sicher, dass er sie nicht angestarrt hatte. „Du weißt schon. So, als ob ich ein Außerirdischer wäre!", murrte Lily, „Oder auch so, als ob du in mich verliebt wärst!" „Nein, ich bin nicht verliebt!“, stieß er erneut aus und auch diesmal kam die Reaktion viel zu schnell und viel zu erschrocken. „Wirklich?“, hakte Lily nach und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, „Wie gesagt, die Jungs sagten, du seist verliebt. Das Gerücht geht in der ganzen Klasse herum. Es wundert mich, dass du nichts davon mitbekommen hast. Aber in der Klasse geht noch ein ganz anderes Gerücht herum.“ „Was denn noch für eins?", wollte er unbeeindruckt wissen, doch innerlich wollte er wissen, wie schlimm es war. „Naja…“, begann Lily und legte die Haarbürste zur Seite, „Einige denken, dass du…“ „Was denken sie?“, fragte Nakatsu neugierig und beugte sich ein wenig zu Lily herüber. Sein Blick war nur auf das Mädchen vor ihm gerichtet, während sein Gesicht sich leicht rötete und sein Herz schneller schlug. „Sie sind viel zu nah an Miss McNeil, Mr. Shinamoto“, unterbrach plötzlich jemand seine Gedanken und Nakatsu fuhr erschrocken zurück. In der Tür stand Lilys Ausbilder Ronald Knox. Unter seinen Armen hatte er Decke und Kissen geklemmt und in der Hand hielt er eine kleine Tasche. Er trat in das Zimmer ein und ging auf das Sofa zu. Nakatsu glaubte auf dem Gesicht von Mr. Knox eine leichte Röte zu erkennen, aber als er seine Sachen abgelegt hatte und sie beide ansah, war nichts davon zu sehen. „Was…was machen Sie denn hier, Mr. Knox?“, fragte Lily verwirrt. „Ich werde die Woche ebenfalls hier verbringen und aufpassen, dass nichts passiert.“ Kapitel 6: Asyl --------------- Das waren ja großartige Aussichten für die kommende Woche. Zuerst zog Nakatsu in ihr Zimmer und jetzt auch noch ihr Mentor! Wenn das nicht vielversprechend klang, wusste Lily auch nicht mehr. So viel Glück konnte doch nur sie haben! Lily warf Nakatsu einen Seitenblick zu. Sie konnte deutlich merken, dass seine lockere Haltung einer Anspannung gewichen war. Als er ihren Seitenblick erwiderte, konnte sie sehen, dass er genauso begeistert war wie sie. Es passte ihm überhaupt nicht, dass Mr. Knox den Anstandswauwau spielen würde. Leise seufzte Lily und stand auf. Nervös verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken und spielte mit dem Saum ihres Oberteils. „Ähm…kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Mr. Knox?“ Ronald sah sich in dem Apartment um, fuhr sich durch die Haare und ließ sich zufrieden aufs Sofa fallen. „Gerne. Haben Sie Wasser da?“ Ihn schien es nicht im Geringsten aufzufallen, dass er sie beide nervös machte. Seine Stimmung war wie immer fröhlich, gut drauf und er genoss den Feierabend ohne Überstunden. „Ja, habe ich. Einen Moment bitte.“ Nervös und mit stark klopfendem Herzen ging sie zu der kleinen Küchenecke. „Nakatsu, möchtest du auch etwas trinken?“ „Nein, danke. Ich geh eben duschen.“, gab er zur Antwort und nur wenige Sekunden später konnte sie die Badezimmertür zugehen hören. Lily holte zwei Gläser aus dem Schrank und eine große Flasche Wasser. Noch immer sehr unruhig ging sie zurück zu dem Sofa, stellte die Gläser ab und füllte sie mit Wasser auf. „Mr. Knox, wieso sind Sie hier?“, fragte sie vorsichtig und saß viel zu verkrampft neben ihrem Mentor, „Ich meine, nur wenn ich den Grund wissen darf.“ Ronald trank das Glas in einem Zug leer und stellt es zurück auf den Tisch. Dann schlug er seine Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. „Ich habe heute Mittag zufällig mitbekommen, wie ihr guter Freund, Mr. Shinamoto, mit dem Shinigami, der eigentlich hier sein sollte, zur Verwaltung gegangen ist, um das Zimmer zu tauschen. Ich hielt es daher nur für angebracht, wenn ich ein wenig auf Sie aufpasse.“ Was sollte sie dazu sagen? Ihr Mentor durfte nicht die Woche in ihrem Apartment verbringen! Es machte sie viel zu nervös und sie würde sich gar nicht mehr auf die Schularbeiten konzentrieren können. Es reichte außerdem schon, wenn Nakatsu sie von ihrer Arbeit ablenkte. „Mr. Knox, was macht es denn für einen Unterschied, welcher Shinigami in meinem Zimmer wohnt?“ „Gar keinen. Es geht ums Prinzip.“, sagte er und lächelte frech. Innerlich seufzte Lily, aber sie würde nicht aufgeben. Vielleicht schaffte sie es ja, ihn zu überreden, wieder auszuziehen und ihn ganz davon zu überzeugen, dass er nicht den Aufpasser spielen musste. Plötzlich kam ihr eine Idee. „Ich sag es auch nur ungern, aber ich habe nicht genug Schlafplätze. Auf dem Sofa kann nur eine Person schlafen und ich glaube kaum, dass Sie mit Nakatsu zusammen im Bett schlafen wollen, oder? Außerdem frage ich mich, wie ich mich unter den Männern in der Abteilung behaupten soll, wenn Sie auf mich aufpassen?“ Ronald Knox legte den Kopf leicht in den Nacken und einen Finger nachdenklich an die Lippen. Er ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen, während sein Finger gegen seinen Mund tippte. „Stimmt. Das würde ich wirklich nur ungern tun. Ich teile das Bett nur mit Frauen. Sie haben Recht. Wenn Sie selbstständig werden und sich behaupten wollen, sollte ich nicht noch auf Sie aufpassen. Ich werde dann wieder in mein Zimmer ziehen.“ Innerlich stieß Lily einen Freudenschrei aus. Es war nicht so, dass sie ihren Mentor nicht mochte und nicht gerne mit ihm arbeitete, aber als Zimmergenossen musste sie ihn nicht haben. Ronald stand gerade vom Sofa auf und wollte seine Sachen nehmen, als die Tür zum Badezimmer aufging. Sofort ging Lilys als auch Ronalds Blick zu Nakatsu, der jedoch alles andere als bekleidet im Wohnzimmer stand. Sein Oberkörper war nackt und um die Hüfte hatte er nur ein großes Handtuch gebunden. Kaum hatte Lily einen Blick auf ihn geworfen, drehte sie sich sofort mit dem Rücken zu ihm und lief rot an. „Lily, ich leih mir mal dein Shampoo. Meins ist leer. Erinnere mich bitte daran, dass ich mir Neues kaufe“, sagte Nakatsu und machte wieder die Tür zum Badezimmer zu. „Ja, ja!“, sagte sie nur zur Antwort und legte die Hand beschämt und verzweifelt über die Augen. So viel zu ihrem genialen Plan, ihren Mentor aus dem Zimmer zu bekommen. In Gedanken erwürgte sie Nakatsu gerade für dieses super Timing. Lily wusste genau, dass ihr Mentor Nakatsu ungläubig angestarrt hatte. Sicherlich würde er jetzt erst recht bleiben. „Nun“, begann er und stellte seine Tasche wieder auf den Boden ab, „Nach dieser kurzen Demonstration halte ich es für angebracht, doch zu bleiben. Wer weiß, was in er in der Nacht anstellt, wenn er schon halbnackt durch Ihr Apartment läuft.“ „Mr. Knox, das hat nichts zu bedeuten!“, versuchte sie schnell die Situation zu retten, „Nakatsu ist nur ein guter Freund und ich bin davon überzeugt, dass er das nicht dauerhaft macht, sondern dass es nur eine Ausnahme war! Es kommt nicht noch einmal vor!“ Mit einem kritischen und nicht überzeugten Blick wurde sie von ihrem Mentor gemustert. „Wirklich.“, fügte sie hinzu und hörte wie die Tür zum Bad aufging. Lily drehte sich um und wäre Nakatsu in diesem Moment am liebsten an die Kehle gesprungen. Er kam nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Bad! Dabei hatte sie gerade laut geschworen, dass es nur eine Ausnahme war und es nicht noch einmal vorkommen würde. Lily wollte nur noch im Boden versinken. „Was ist los, Lil? Du siehst so niedergeschlagen aus“, fragte Nakatsu besorgt und ahnungslos darüber, was er gerade angerichtet hatte. „Nichts…“, murmelte sie und legte ihre Hände an die Schläfe, „Es ist nichts…“ „Sehr überzeugend, Miss McNeil“, sagte Ronald und setzte sich wieder auf das Sofa, „Ich bleibe bei meinem Entschluss.“ „Habe ich etwas verpasst?“, fragte Nakatsu verwirrt. „Nein“, antwortete Lily schnell, ehe es Ronald tun konnte. „Zieh dich lieber an.“ „Na gut. Wenn keiner mit mir reden will…“, sagte er leicht schmollend und wühlte in seiner Tasche nach frischen Sachen, „Ach Lil, hast du Mr. Knox schon wegen den Extra-Stunden gefragt?“ Nun wurde ihr Mentor hellhörig und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lily zu, während Nakatsu in ihr Schlafzimmer ging und sich umzog. „Extra-Stunden?“, fragte er und seine Stimme hatte einen leicht tadelnden Unterton. „Gibt es ein Problem, von dem ich wissen sollte? Worum geht es?“ Ergeben seufzte Lily und lehnte sich zurück. „Ja, wenn man es so nennen will, hab ich ein Problem.“ „Erzählen Sie.“, forderte er sie auf und beugte sich nach vorne. Ronald war ernst geworden, ganz in die Rolle des Mentors vertieft. „Na ja…“, fing sie an und überlegte, wie sie es sagen konnte, ohne dass es allzu unangenehm werden würde. „Sag doch wie es ist und drucks nicht rum!“, rief Nakatsu aus dem Schlafzimmer. „Ruhe auf den billigen Plätzen!“, gab sie als Antwort mit roten Wangen zurück. „Was ist los, Miss McNeil?“, fragte Ronald, Nakatsus Zwischenruf ignorierend. „Also…“ „Sag doch einfach, dass du heute im Schwimmunterricht fast abgesoffen wärest, ein Wiederbelebungsbussi brauchtest und nicht schwimmen kannst!“ „Ruhe hab ich gesagt!“, rief sie zurück und ihre Wangen fingen an zu glühen. „Sie können nicht schwimmen und mussten wiederbelebt werden?“, fragte Ronald dazwischen und klang besorgt. „Ja, ich kann es nicht und Mr. Spears sagte, Sie sollen mir Unterricht geben.“ Lily war es mehr als nur peinlich, ihren Mentor darum bitten zu müssen und Nakatsu war auch keine Hilfe dabei. Ronald nickte und legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Wir fangen morgen an. Ich werde es Ihnen schon beibringen. Es gibt keinen Grund zu verzweifeln.“ „Danke“, sagte sie leise und war froh, es endlich hinter sich gebracht zu haben. Erneut merkte Lily, dass sie sehr viel Glück hatte mit ihrem Ausbilder. Er lachte nicht und riss auch keine Witze darüber. Er nahm seine Aufgabe ernst. „Hey, nachdem das geklärt ist, sollten wir mal klären, wer heute Nacht wo schläft“, sagte Nakatsu, als er aus dem Schlafzimmer kam und lehnte sich an die Rückenlehne des Sofas. „Es steht ganz außer Frage, dass ich neben meiner Schülerin schlafen werde. Nachdem Sie hier halbnackt durch ihr Apartment laufen, werde ich kein Risiko eingehen. Nachher beschuldigt mich William noch, nicht gut genug auf meine Schülerin aufgepasst zu haben.“ „Was soll denn das heißen?“, fragte Nakatsu aufgebracht, „Ich würde Lily nie weh tun. Außerdem bin ich ihr bester Freund, daher sollte ich besser neben ihr schlafen. Wenn Sie neben ihr liegen, kriegt sie ja kein Auge zu.“ Ronald stand aufgebracht auf. „Was?!“, stieß er empört aus, „Wie reden Sie mit mir? Und überhaupt, neben mir konnte bisher jede Frau schlafen.“ „Genau das macht mir Sorgen.“, sagte Nakatsu, „Sie sind ihr Mentor und sollten doch gerade deshalb nicht ein Bett mit ihr teilen.“ „Sie als ihr bester Freund sollten das dann auch nicht tun, wenn Sie weiterhin Freunde bleiben wollen. Es ist schon viel passiert, wenn Freunde das Bett geteilt haben.“ Lily schüttelte den Kopf. Genau das hatte sie vermeiden wollen. Das war einfach nur demütigend. Sie stand vom Sofa auf und musterte zuerst Ronald und dann Nakatsu. Beide sahen sich herausfordernd an und hatten sie vollkommen vergessen. „Hallo!“, warf sie in das Geplänkel der beiden Männer ein und stieß auf taube Ohren, „Ich kann ja auch auf dem Sofa schlafen und ihr beide in meinem Bett. Dann hat sich die Frage erledigt, wer neben mir schläft.“ „Abgelehnt!“, kam es direkt von beiden synchron. „Eine Frau sollte nie auf dem Sofa schlafen“, sagte ihr Mentor mit ernstem Gesicht. „Das hier ist deine Wohnung, Lil, da solltest du nicht das Sofa beziehen müssen“, meinte Nakatsu. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn jemand so über einen bestimmte und in diesem Fall waren es gleich zwei Personen, die über sie bestimmen wollten. Nakatsu als ihr Freund und Ronald als ihr Mentor. Es war schlimmer als bei ihrer Mutter und ihrem Vater, die sie ihr ganzes Leben behütet hatten. Was sollte sie nur tun? Ihre Meinung war einfach nicht gefragt und sie fühlte sich, als wäre sie wieder ein kleines Kind. Mit wachsender Neugier beobachtete Lily die Männer. Sie benahmen sich wie zwei kleine Kinder, die um ein Spielzeug stritten oder wie zwei Hunde, die um ein saftiges Stück Knochen kämpften. Keine dieser beiden Vergleiche gefiel ihr. Sie war weder ein Spielzeug noch ein Stück Knochen. „Ich stehe in der Society über Ihnen!“, kam es von Ronald, „Deshalb werden Sie tun, was ich sage!“ Nakatsu schnaubte. „Es geht aber nicht um Arbeit, sondern um einen Schlafplatz und als bester Freund sollte es mir zustehen, im Bett zu schlafen.“ „Sie haben Ihr eigenes Zimmer!“, gab Ronald zurück. „Sie doch auch.“, konterte Nakatsu. „Ich brauche Platz in der Nacht!“, kam das nächste Argument von ihrem Mentor. „Ich bin zu groß für das Sofa!“, kam es direkt danach von Nakatsu. „Unsinn! Sie haben genau die richtige Größe dafür.“, wehrte Ronald ab und musterte Nakatsus Größe und dann die Länge des Sofas. „Ich drehe mich oft in der Nacht und brauche Platz!“, versuchte es Nakatsu weiter. Lily rollte mit den Augen. So etwas konnte sie sich nicht weiter antun. „Hört mal, ich gehe jetzt. Wenn ihr euch entschieden habt, dann sagt mir Bescheid.“ Lily öffnete die Zimmertür und wartete noch einen kurzen Moment, doch weder Nakatsu noch Ronald hielten sie auf oder unterbrachen ihre Streiterei. Bei diesem Anblick konnte sie nur noch mit dem Kopf schütteln und zog die Tür zu. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihr. Die Ruhe im Flur war eindeutig eine Wohltat. Niemand stritt und versuchte, den anderen zu übertrumpfen. Lily überlegte, ob sie in die Gartenanlage gehen und dort die Stille genießen sollte. Ein kleiner Imbiss in der Mensa klang aber auch gut. „Na, wenn das nicht Ronalds Schülerin ist!“, hörte sie plötzlich und sah auf. Am Treppenabsatz standen Alan und Eric und beide lächelte sie freundlich an. „Hallo.“, sagte sie und hoffte, sie klang nicht allzu niedergeschlagen. „Was für eine Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“, fragte Eric und wirkte besorgt. „Sie sehen wirklich nicht gut aus. Gibt es ein Problem?“ Lily musterte die beiden Shinigami und überlegte, ob sie sich ihnen anvertrauen oder lieber schweigen und ein angenehmes Bad nehmen sollte. Wortfetzen der noch immer angehenden Diskussion von Nakatsu und Ronald drangen an ihr Ohr und sie entschied sich, dass Alan und Eric als Gesellschaft eine gute Ablenkung waren. Vielleicht konnten die beiden Shinigami die beiden Streithähne in ihrem Zimmer zur Vernunft bringen oder hatten eine Lösung für sie. „Na ja“, fing sie an und deutete auf ihre Zimmertür, „Ich hab da drin zwei Streithähne.“ Erics Augen weiteten sich neugierig und Alan schaute sie überrascht an. „Kommen Sie mit in mein Zimmer. Dann reden wir in Ruhe darüber“, sagte Alan und ging zu seiner Zimmertür, schloss sie auf und winkte Lily herein. Ohne groß zu zögern folgte sie den beiden in das Apartment. Neugierig sah sie sich um. Alans Wohnung war nicht anders aufgebaut als ihre. Es standen nur wenige persönliche Dinge in den Schränken und dennoch konnte sie sagen, dass sie Alan gehörte. Eric hatte es sich breitbeinig auf dem Sofa bequem gemacht, sich entspannt zurückgelehnt und öffnete gerade eine Bierflasche. „Es geht doch nichts über ein kleines Feierabendbierchen“, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. „Setzen Sie sich“, sagte Alan und stellte ihr ein Glas mit Orangensanft auf den Tisch. Er wandte sich Eric zu. „Übertreib es nicht mit dem Bier. Ich kenne dich, Eric, und ich will dich hier nicht betrunken erleben.“ „Keine Sorge“, sagte Eric und nahm einen Schluck aus der Flasche. Lily ließ sich neben Eric auf das Sofa nieder und nahm einen Schluck aus dem Glas. Als sie die beiden Shinigami musterte, fiel ihr wieder auf, wie unterschiedlich die beiden doch waren. Alan wirkte manchmal so feminin und zierlich mit seiner glatten Haut, auf der niemals ein Bartstoppel oder eine Unebenheit zu sehen war. Oder mit seinen schmalen Schultern, seiner schmalen Hüfte und den gepflegten Händen und Nägeln. Seine vollen, rosa Lippen, die auch bei einem ernsten Ausdruck den Hauch eines Lächelns hatten und sich zu einem spitzen Mund bildeten, trugen ebenfalls zu seinem leicht weiblich wirkenden Aussehen bei. Auch seine Augen waren größer als die von manch einem anderen Mann und strahlten Freundlichkeit und Erfahrung aus. Seine Stimme war auch nicht ganz so tief wie bei den meisten Männern. Gleichzeitig aber hatte er die eindeutigen Züge eines Mannes, wie das kantige Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen oder den deutlich sichtbaren Adamsapfel. Aber auch sein Blick war manchmal sehr durchdringend und kritisch, der einen dann glauben ließ, Alan könnte mit ihm direkt in die Seele sehen. Lily konnte jedoch nicht sagen, wie trainiert sein Körper war, denn die Kleidung verbarg jeden möglichen Muskel. Eric dagegen war durch und durch ein Mann. An ihm gab es nichts, was auch nur annähernd weiblich wirkte. Seine Haut glänzte manchmal fettig und zeigte etwas größere Poren, dennoch sah sie fest und gespannt aus. Oft genug waren Bartstoppeln an den Wangen und dem Kiefer zu erkennen, während sein Kinnbart erhalten blieb. An seinem Hals erkannte man gut seinen Adamsapfel, der seiner Stimme die Tiefe verlieh. Die Schultern waren breit und er hatte eine ausgeprägte Muskulatur. Seine Hände waren größer und breiter. Wenn er lächelte, bildeten sich um seinen Mund herum markante Lachfalten. Aber oft genug war der schmale Mund zu einem leichten, selbstsicheren Lächeln verzogen, das man schnell übersehen konnte, sah man nicht ganz genau hin. Erics Augen sprachen von Erfahrung, Offenheit, einer leichten Strenge und einem unbeugsamen Geist, der gerne die Oberhand hatte und die Herausforderung liebte, sowie das Spiel mit dem Gegner. Sie sprachen auch von Erhabenheit, die man mit Überheblichkeit verwechseln konnte. Obwohl Alan und Eric sich wie ein altes Ehepaar benahmen, fühlte Lily sich zwischen den beiden sehr wohl. Diese Art von Streit war anders als der, der bei ihr gerade im Zimmer stattfand. Er war nicht ernst gemeint und blieb freundschaftlich. „Was ist los, Miss McNeil? Gibt es Probleme mit dem Shinigami aus der zehnten Etage?“, fragte Alan und unterbrach ihre Gedanken. Er setzte sich in den kleinen Sessel, die Beine zusammen und nur die Füße überschlagen. Lily schnaubte abfällig. „Ich glaube, der würde mir weniger Probleme bereiten.“ Eric war hellhörig geworden, genauso wie Alan. „Wer ist dann in Ihrem Zimmer?“ „Nakatsu Shinamoto und Ronald Knox.“ „Ronald und Mr. Shinamoto?“, fragte Alan und zog die Stirn nachdenklich in Falten. „Aber die beiden haben doch ihre Zimmer auf dieser Etage“, merkte Eric an. „Ich weiß“, gab Lily zur Antwort, „Nakatsu hat mit dem Shinigami getauscht, so dass er in meinem Zimmer ist und der andere Shinigami seins dafür belegen kann. Mr. Knox hat wohl Wind davon bekommen und spielt jetzt den Aufpasser.“ Alan konnte sich ein Kichern nicht verkneifen und Eric lachte laut auf. „Oje“, entfuhr es Alan, „Da haben Sie ja das Glückslos gezogen.“ „Und jetzt streiten Ronald und ihr Freund Nakatsu?“, fragte Eric. Lily nickte. „Sie streiten darum, wer heute Nacht neben mir schlafen darf.“ Jetzt, wo sie mit jemanden darüber reden konnte, fühlte sie sich einfach nur noch gedemütigt. „Was?“, entfuhr es Alan, der sie mit entgeistertem und verständnislosem Blick anstarrte, „Warum? Die beiden könnten doch in einem Bett schlafen und Sie auf dem Sofa.“ „Ich weiß.“ „Und wo ist dann das Problem?“, fragte Alan verwirrt. „Dieser Vorschlag wurde abgelehnt“, seufzte sie. Daraufhin schwieg Alan und Eric konnte einen Lachanfall nicht mehr unterdrücken, trotz des mahnenden Blickes seines Freundes. „Ist schon gut“, wehrte Lily ab und trank einen weiteren Schluck Orangensaft, „Wenn ich nicht mitten drin stecken würde, würde ich sogar selbst darüber lachen.“ „Mhm“, kam es von Alan und er schien eine Idee zu haben, „Vielleicht hilft Ihnen das ja. Es wäre nur für eine Nacht, aber vielleicht haben sich die beiden bis dahin eingekriegt.“ „Was denn?“ Ein Hoffnungsschimmer keimte in Lily auf. Konnte es sein, dass Alan eine Lösung hatte? „Sie könnten ja heute Nacht hier schlafen. Eric kann zu mir ins Bett. Dann haben Sie das Sofa für sich.“ „Wirklich?“ „Ja!“, sagte Alan und lächelte sie aufmunternd an. „Sie kann doch auch bei dir im Bett schlafen, Alan“, kam es von Eric und Lily kam es vor, als wäre sie vom Regen in die Taufe gekommen. Wenn es zwischen Alan und Eric jetzt auch eine Diskussion geben würde, würde sie draußen im Garten übernachten. Das schwor sie sich. „Wenn Sie nichts dagegen haben, soll es mir recht sein.“, sagte Alan und wartete auf ihre Antwort. Lily war in Gedanken, weshalb sie die kurze Unterhaltung nicht ganz mitbekommen hatte. „Wie Sie wollen. Hauptsache ich habe Ruhe. Mir ist gerade alles recht.“ „Okay. Dann ist es abgemacht. Sie schlafen bei Alan und ich auf dem Sofa und wenn sich die beiden bis morgen nicht beruhigt haben, reden wir mal mit ihnen“, sagte Eric. „Danke!“, brachte sie hervor und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Wieso konnten Nakatsu und Ronald nicht so wie Alan und Eric sein? Immerhin hatten die beiden es geschafft, sich in wenigen Sekunden zu einigen. Es gab keine endlose Diskussion und niemand versuchte den anderen mit Argumenten zu übertrumpfen. Plötzlich klopfte es an der Tür und in ihrem Magen machte sich ein ungutes Gefühl breit. Lily wusste nicht wieso, aber das schnelle und laute Klopfen klang nicht gut. Ihr Herz schlug schneller. Alan stand auf und öffnete die Tür. Das ungute Gefühl wuchs zu einem Geschwür heran, das ihren Magen verknotete und einen Kloß im Hals bildete. Am liebsten wäre sie mit dem Sofa verschmolzen oder unsichtbar. Ihr Mentor stand in der Tür, den Blick fest auf sie gerichtet und er sah nicht begeistert aus. „Wieso haben Sie nicht gesagt, dass Sie weggehen?“, fragte er und trat in das Wohnzimmer ein, ohne Alan oder Eric zu begrüßen. „Ich habe es gesagt.“ Wut stieg in ihr auf und sie hatte Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten. Langsam war es Lily leid. Er war zwar ihr Mentor, aber einen Babysitter brauchte sie garantiert nicht. „Aber Sie und Nakatsu waren so sehr in ihrem Gespräch vertieft, dass weder Sie noch er es mitbekommen haben.“ Alan warf Eric einen vielsagenden Blick zu, woraufhin er nur nickte. „Wie dem auch sei. Kommen Sie mit.“, sagte er nur und stemmte die Hände in die Hüften, „Ich habe extra Ihretwegen mein Date heute Abend abgesagt.“ „Nein“, sagte Lily trotzig und blieb auf dem Sofa sitzen. „Was?“, kam es ungläubig von Ronald. „Ich bleibe heute Nacht hier, bis Sie sich mit Nakatsu einigen können.“ „Oh nein. Das kommt gar nicht in Frage!“ „Ronald, beruhige dich doch mal!“, sagte nun Eric und stand auf. Er legte dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter. „Genau!“, sagte Alan, „So kennt man dich gar nicht.“ „Mr. Knox, solange Sie sich nicht einigen können, werde ich keinen Fuß in mein Zimmer setzen.“ „Sie hat Recht. Die Diskussion ist völlig unnötig. Lass sie heute Nacht hier schlafen, neben mir im Bett und Eric schläft auf dem Sofa, dann könnt ihr zwei euch einigen“, pflichtete Alan bei. „Eric schläft auch hier?“, rief er überrascht aus, „Dann erst recht nicht. Eric ist ja ein noch schlimmerer Frauenheld als ich!“ „Hey!“, sagte Eric mit einem leichten Warnton in der Stimme. „Schlimm genug, dass du mit meiner letzten Beute abgezogen bist, da wirst du dich erst recht nicht an meiner Schülerin vergreifen! Wenn ich sie hier lasse, ist ihre Unschuld schneller weg, als wenn ich bis drei gezählt habe!“ Bei diesen Worten musste Eric grinsen. „Wenn du nicht aufpasst, kann ich doch nichts dafür, wenn das Mädel lieber mit mir mitgeht. Aber um deine Schülerin brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie ist mir viel zu jung, obwohl sie gar nicht so schlecht aussieht. Da könnte ich sogar eine Ausnahme machen.“ Eric zwinkerte Lily verschwörerisch zu, während Ronald mit den Zähnen knirschte und Alan ihn mit dem Ellenbogen in die Seite boxte. „Ronald, du nimmst die ganze Sache viel zu ernst“, sagte Alan beschwichtigend und deutete ihm, dass er sich beruhigen sollte, „Du sollst deine Schülerin nicht in Watte packen!“ „William überwacht meine Arbeit. Wenn auch nur eine Sache schiefgeht, entzieht er mir die Ausbildung sofort.“ „William ist zwar streng, aber doch nicht so sehr!“, merkte Eric an. „Versuch, ein bisschen lockerer zu werden in dieser Aufgabe. Du sollst sie ausbilden und nicht Babysitter spielen. Lass McNeil heute Nacht hier bei uns und du kannst dich dann mit Shinamoto einigen.“ Ronald musterte Eric lange und dann Alan kurz. Auf seinem Gesicht zeichnete sich deutlich ab, dass er sich mehr Sorgen darum machte, dass Eric eher etwas mit ihr anstellen würde als Alan. Er wog auch kurz ab, ob er wirklich Alans Angebot annehmen sollte, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein. Nettes Angebot, Alan, aber Miss McNeil kommt zurück in ihr Zimmer.“ Unsanft packte Ronald Lily am Handgelenk und zog sie vom Sofa hoch, dann beugte er sich kurz nach vorne und zog sie über seine Schulter. Seine Arme umfassten ihre Oberschenkel. Erschrocken keuchte Lily auf. „Mr. Knox, was soll denn das? Lass Sie mich sofort runter!“, schrie sie und versuchte, von seiner Schulter herunterzurutschen, doch er hielt sie eisern an den Oberschenkeln fest. Alan und Eric sahen Ronald ebenfalls erschrocken an. „Mr. Humphries!“, flehte sie, „Mr. Slinby! Helfen Sie mir!“ „Tut mir leid, Miss McNeil, aber mit Ronald möchte ich mich jetzt nicht anlegen“, sagte Alan entschuldigend und warf ihr auch einen verzeihenden, mitleidigen Blick zu. „Ronald, lass sie runter!“, mischte sich wenigstens Eric ein. „Nein.“, sagte er stur, wandte sich um und verließ Alans Apartment. Lily konnte beim Hinausgehen noch Erics und Alans Blicke sehen, die ihr sagten, dass sie es schon schaffen würde, auch wenn es nicht leicht war. Es waren einfach nur aufmunternde und mitleidige Blicke. „Mr. Knox, lassen Sie mich runter!“, protestierte sie erneut. „Das Ganze ist doch lächerlich!“ Wenn ihr schon niemand half, würde sie sich eben selbst helfen. Mit oder ohne Erfolg. Kampflos würde sie nicht aufgeben! Sie strampelte mit den Beinen und flehte ihn immer wieder an, sie runterzulassen. Doch Ronald achtete nicht auf ihre Worte. Es war ein Wunder, dass niemand die Tür öffnete und sie so gedemütigt sah. Ihr Mentor stieß mit dem Fuß die angelehnte Zimmertür auf. „Hab sie gefunden“, sagte er nur zu Nakatsu, machte aber keine Anstalten, sie runterzulassen. Nakatsu stand neben der Tür und schloss diese. Als sie ihn vorwurfsvoll ansah, da er ihr nicht half, stemmte er nur die Hände in die Hüfte. „Du kannst doch nicht einfach so abhauen!“, meinte er und schüttelte seinerseits missbilligend den Kopf. Lily traute ihren Ohren nicht. Jetzt sollte sie das böse Mädchen sein, was abgehauen war und Ärger verursachte. Das war ja wohl die absolute Höhe! Ronald stieß erneut eine Tür mit dem Fuß auf und nur kurze Zeit später kam die Erlösung aus dieser unangenehmen Situation. Er ließ sie herunter. Er beugte sich einfach nach vorne und ließ sie fallen. Hart landete Lily auf ihrem Bett und richtete sich sofort auf, um lautstark mit ihrem Mentor zu streiten, doch dieser hatte sich abgewandt und stand in der Tür. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und seine Aufmerksamkeit galt Nakatsu. „Ich wünsche eine gute Nacht“, sagte er zu ihm und schloss die Tür. Lily hörte, wie er den Schlüssel herumdrehte und im nächsten Augenblick, wie Nakatsu an der Tür klopfte. „Machen Sie die Tür auf!“, rief er und drückte die Klinke mehrmals herunter. „Damit hätten wir das Problem gelöst!“, sagte Ronald, wandte sich ihr zu und grinste zufrieden. Lily schaute ihren Mentor nicht begeistert an. Diese Aktion hatte sie nun nicht von ihm erwartet. Doch es schien ihn nicht zu stören oder gar zu interessieren, was sie dachte. Er war mit sich und der Lösung des Problems zufrieden. „Musste das sein?“, fragte sie mit einem Vorwurf in der Stimme. „Besser, als wenn wir weiter diskutiert hätten“, antwortete er und zog sich das Jackett aus. Lily wandte schnell den Blick ab, als sich ihr Mentor entkleidete und erst als sie das Rascheln der Decke hörte, wagte sie es, ihn wieder anzusehen. Er hatte es sich unter der Decke bequem gemacht und lag auf der Seite. Sein Blick war auf sie gerichtet. Kurz ließ Lily den Blick durch den Raum schweifen und ihr fiel auf, dass er keine Sachen von sich hier im Zimmer hatte, außer denen, die er gerade ausgezogen hatte. Weder sein Kissen oder seine Decke noch andere Kleidung war hier. Lily wurde rot und sie schluckte schwer. „Mr. Knox, bitte sagen Sie mir, dass Sie mehr als nur Ihre Unterhose anhaben!“, flehte sie und verkrampfte sich auf dem Rand des Bettes, wo sie saß. Das Herz in ihrer Brust schlug laut und schnell. „Nein, habe ich nicht.“, gab er zur Antwort. „Okay…“, stieß Lily schnell hervor und sprang vom Rand des Bettes auf, „Ich hole Ihnen eben was zum Anziehen!“ „Wozu?“, fragte er verwirrt, ehe sie die Tür aufschließen konnte. Nakatsu schien es inzwischen aufgegeben zu haben, denn es war ruhig auf der anderen Seite der Tür. „Sie können doch nicht nur in Ihrer Unterhose schlafen!“, protestierte Lily, wagte nicht ihren Mentor anzusehen und wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie er nur in Unterwäsche aussah. „Ich schlafe aber immer so. Ist das ein Problem für Sie? Drehen Sie sich bitte um, wenn Sie mit mir reden. Es ist unhöflich, den Gesprächspartner nicht anzusehen.“ Lily seufzte und drehte sich widerwillig um. Natürlich war es ein Problem für sie! Fieberhaft suchte sie nach den richtigen Worten, um ihren Ausbilder nicht in Verlegenheit zu bringen. „Na ja“, fing sie an und merkte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Es gab keine passenden Worte, also blieb ihr nur übrig, es direkt zu sagen. „Eigentlich schon…“ „Verstehe“, sagte Ronald und richtete sich etwas auf. Die Decke fiel ein Stück herunter und sie hatte freie Sicht auf seinen nackten Oberkörper. Ronalds Oberarme waren nicht stark trainiert, aber sie konnte deutlich den Bizeps erkennen. Seine Brust war unbehaart und auf seinem Bauch zeichnete sich ganz leicht die Partie feiner Muskeln ab, auch wenn es wirklich nicht viel war und kaum zu erkennen. Er war nicht übertrainiert und sein Oberkörper hatte eine normale Statur. Lily sah schnell aus dem Fenster, bevor Ronald Knox bemerken konnte, wie sie ihn anstarrte. Ihr Gesicht nahm an Röte zu, wenn es möglich war. „Aber ich fürchte, wenn ich jetzt rausgehe und mich umziehe, wird Ihr Freund wieder anfangen zu diskutieren und ich glaube kaum, dass Sie das wollen, oder? Denn auch ich bin diese Unterhaltung leid.“ „Stimmt.“ Daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie war froh, dass diese Streitigkeit aufgehört hatte und wollte alles Mögliche tun, damit es nicht erneut dazu kam, zumindest für den Rest des Abends nicht. Ergeben seufzte Lily leise. „Drehen Sie sich bitte um.“, bat sie. „Wozu?“ „Ich will mich umziehen.“ „Oh, natürlich.“ Ronald drehte sich im Bett herum, so dass er mit dem Rücken zu ihr lag. „Und wehe Sie gucken!“ Lily zog schnell ihre Sachen aus und schlüpfte in die kurze Hose und das kurze Oberteil, welche sie immer zum Schlafen trug. „Bin fertig“, sagte sie und stieg in das Bett. Es gab wohl keine andere Möglichkeit, als dass sie neben ihren halbnackten Mentor schlief. Zumindest für die eine Nacht. Irgendwie würde sie das schon überleben. Sie drehte sich schnell zur Seite, so dass sie mit dem Rücken zu Mr. Knox lag und schlang die Decke um ihren Körper, während sie vor Nervosität zitterte und ihr kalt wurde. Lily presste die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten. „Ist Ihnen kalt?“, fragte die Stimme von Ronald Knox. „…Etwas…“, brachte sie hervor und schloss die Augen, „Mir wird gleich warm.“ „Okay“, sagte ihr Mentor und sie spürte, wie sich die Matratze bewegte und hörte die Decke rascheln, als er sich bewegte, „Miss McNeil…“, ein leises Seufzen, „…schlafen Sie gut.“ „Gute Nacht“, flüsterte sie und winkelte die Beine an, so dass sie dalag wie ein Fötus im Mutterleib, während ihr Körper zitterte und ihr Herz schlug, als hätte sie einen Marathon gelaufen. Kapitel 7: Perspektive ---------------------- Der Garten des Hyde Parks war der einzige Zufluchtsort für Emily. Zwischen den hohen Bäumen und gestutzten Rosenbüschen konnte sie ihren Gedanken nachhängen und brauchte sich keine Sorgen über ihren jüngsten Bruder Viktor oder ihren Vater zu machen. Hier konnte sie Kind sein und herumtoben und lachen. Leider waren es nur wenige Momente in ihrem Leben, in denen sie hierher kommen konnte. Die meiste Zeit brachte sie damit zu, sich um ihren Bruder zu kümmern und im Haushalt zu helfen. Es war oft schwer, erwachsener zu sein, als es dem Alter entsprach, doch so war das Leben nun einmal, wenn man nicht viel besaß und von der Hand in den Mund lebte. Selbst das Kleid, das sie am Körper trug, war ihr zu klein und reichte gerade so bis zu den Knien. Eigentlich bräuchte sie ein Neues, da sich ein so kurzes Kleid nicht für ein heranwachsendes Mädchen ziemte, jedoch war dies ihre geringste Sorge. Viel wichtiger war es, dass etwas zu essen auf den Tisch kam, aber wenn ihre Familie sich das schon kaum leisten konnte, war etwas Neues zum Anziehen lediglich ein Traum, an den sie nicht denken mochte. Ihr blieben folglich nur die abgetragenen Kleider, die inzwischen aus mehr Flicken als Stoff bestanden. Oft dachte Emily an den freundlichen Bestatter zurück und fragte sich, ob sie ihn nicht besuchen sollte. Leider fehlte ihr jedes Mal, wenn sie Zeit hatte, der Mut, in sein Geschäft zu gehen. Sie wollte ihm nicht zur Last fallen und ihn von seiner Arbeit abhalten. Innerlich wusste sie, dass es nur ein Vorwand war, doch den wahren Grund konnte sie selbst nicht definieren. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in seiner Nähe zu sein, so als ob sie etwas miteinander teilten und eine Verbindung hätten, die sie nicht benennen konnte. Gleichzeitig fühlte sie ihm gegenüber auch eine gewisse Scham für ihre Situation. Er sollte nicht den Eindruck bekommen, dass sie ihn zur Hilfe nötigte, nur weil sie ein Kind war. Emily hielt sich also von seinem Geschäft fern und verbrachte ihre Zeit mit den anderen Kindern, die auf der Straße aufgewachsen waren. Sie verstanden ihre Gefühle und Gedanken, denn ihnen erging es ähnlich. Es war ein warmer und sonniger Tag in London. Eine Seltenheit in der Stadt, die im Frühling meist verregnet und neblig war. Der Hyde Park bot bei diesem Wetter nicht nur die perfekte Gelegenheit zum Spielen für die Kinder, sondern auch für ein Picknick der vornehmeren Gesellschaft im Grünen. Selbstverständlich befand sich der Adel im gepflegteren Bereich des Parks, während die Kinder in dem leicht heruntergekommenen und ungepflegten Teil spielten, in dem auch Hunde und Katzen ihre Geschäfte verrichteten. Selbst Diener des Adels brachten die feinen Hunde hierher, damit sie dort ihre Bedürfnisse verrichten konnten und nicht im gepflegten Teil. Natürlich gab es auch Wachmänner, die ihren Rundgang machten und dafür sorgten, dass niemand die feinen Herren und Damen störte. So war es auch an diesem Tag nicht anders. Emily spielte mit den anderen Kindern in dem heruntergekommenen Teil des Parks. Im Staub waren Kästchen gezeichnet worden, auf die die Mädchen abwechselnd einen kleinen Stein warfen, bevor sie zu dem Feld, auf dem er gelandet war, hin und wieder zurück hüpften. Die Jungen spielten Bockspringen. Auch gab es zwei Gruppen von jüngeren Kindern, die Verstecken und Fangen spielten. Der Teil des Parks war erfüllt von fröhlichem Kinderjauchzen und Lachen. Der Geruch von den Hinterlassenschaften der Hunde und Katzen war schnell vergessen und wurde nach wenigen Minuten auch nicht mehr wahrgenommen. Nur kurz wurde es ruhig in dem Park. Dies geschah in den Momenten, wenn ein Butler mit gerümpfter Nase und angewidertem Blick mit einem Hund oder gar mehreren durch diesen Teil gehen musste. Sie alle schenkten den Kindern nur angeekelte Blicke und gingen schnell weiter. Jeder wusste, dass sie die Sorge hatten, sie würden sich zusammentun und dem Dienstboten die Kleidung vom Leibe oder gar der Herrin liebsten Hund das mit Juwelen besetzte Halsband stehlen. So war es auch in diesem Moment. Ein Butler ging mit einem Hund durch die Gruppe Kinder, die sofort aufgehört hatten zu spielen. Der Hund, den der Butler durch den Park führte, war nicht besonders groß, aber auch nicht sonderlich klein. Sein gepflegtes Fell glänzte und an jedem Baum oder Gebüsch blieb er stehen und schnüffelte ausgiebig, während der Butler an der Leine zog. Missmutig folgten die Kinder dem Butler mit Blicken und warteten, bis er außer Hörweite war. Der Hund hob gerade das Bein und urinierte an den Stamm eines Baumes, wie viele andere vor ihm auch. Nur wenige Schritte weiter blieb er erneut stehen und es sah aus, als würde er sich hinknien. Der Schwanz hob sich und im nächsten Moment zierte ein weiterer Hundehaufen das Gras. Der Butler machte einen erleichterten Gesichtsausdruck und ging mit schnellen Schritten aus dem Teil des Parks. „Ist ja mal wieder typisch“, sagte ein Junge, „Die Köter aus der Oberschicht kommen her, um sich auszuscheißen!“ „Damit wird uns gezeigt, wo wir uns in der Gesellschaf befinden“, sagte ein älteres Mädchen, doch schon bald war dieser Vorfall vergessen und das Spielen ging weiter. Emily verstand die Worte nicht ganz, wusste aber, dass es damit zu tun hatte, dass sie arm waren und die anderen reich. Es war eben normal und niemand konnte etwas dagegen tun. Lange hielt das Spielen wieder nicht an. Ein weiterer Butler betrat den heruntergekommenen Teil und ging direkt auf die Gruppe von Kindern zu. Seine Kleidung war schwarz und aus teuren Stoffen genäht worden. Sein Mantel war hoch geschlossen und sein Gesicht zeigte keinerlei Emotionen. Selbst der beißende Geruch in dieser Gegend schien ihn nicht zu interessieren. Sein rötliches Haar war ordentlich geschnitten und frisiert. Lediglich die Spitzen bewegten sich im Wind und bei jedem Schritt. Das merkwürdigste war jedoch, dass dieser Butler keinen Hund oder dergleichen bei sich hatte, welchen er ausführen sollte. Er war alleine und kam dennoch in diesen Teil. Vor der Gruppe der Kinder blieb er stehen und drehte den Kopf stumm herum. Natürlich folgten die Kinder neugierig den Blick des Butlers. Ganz am Rand des Parks, wo sich der Eingang für den Adel befand, stand eine große prunkvolle Kutsche. Sie war aus einem hellen Holz gefertigt und vier schwarze Pferde waren vor sie gespannt. Auf der Tür war ein goldenes Wappen zu sehen. Es bestand aus einer Art Ritterhelm mit viel Federschmuck und dem Abbild eines Löwen. Vor der Kutsche stand ein kleines Mädchen mit blonden Locken und blauen Schleifen in den Haaren. Ihr Kleid war in einem hellen gelb gehalten und knielang. Selbst von weitem konnte jeder sehen, wie edel der Stoff davon war. Die Strümpfe des Mädchens waren weiß wie Schnee und die Schuhe glänzten wie neu. In der Hand hielt das Mädchen eine Puppe, sicherlich aus Porzellan. Die Haare der Puppe waren genauso gepflegt und auch das Kleid wirkte teuer. Der Adel konnte sich eben alles leisten. Das Mädchen nickte dem Butler nachdrücklich zu und er drehte sich wieder zu den Kindern herum. Sein Blick heftete sich auf Emily, die ängstlich zurückwich. „Das Fräulein Tochter meines Herren wünscht Sie zu sehen. Sie werden mich jetzt begleiten, kleine Lady.“ Emily sah den Butler nur entgeistert an und schüttelte den Kopf, während die anderen Kinder, die die Worte vernommen hatten, laut lachten. „Emily, eine Lady?!“ „Die ist doch keine Lady!“ Ein Junge trat neben sie und machte einen übertriebenen Knicks. Seine Stimme verstellte er um einige Töne höher. „Oh, junge Lady, Sie sehen heute ja sehr bezaubernd aus.“ Emily schupste ihn grob an der Schulter zu Boden. „Miss, ich fürchte, das war keine Bitte, sondern ein ausdrücklicher Befehl“, sagte der Butler. „Ich werde Sie jetzt mitnehmen.“ Emily schüttelte energisch den Kopf und trat einen Schritt zurück. Der Butler streckte seine Hand aus, umfasste ihr Handgelenk und zog sie mit. „Nein!“, schrie Emily und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, „Lass mich los! Ich will nicht!“ Der Butler drehte sich jedoch nur wortlos herum und zog sie mit sich. Emily versuchte, ihn zu kratzen und wehrte sich mit allen Mitteln, doch der Mann zog sie einfach weiter. Ihn interessierte es nicht, wie laut sie schrie und dass die anderen Adeligen sie anstarrten. Sie wollte nur fort und zurück zu den anderen Kindern. Emily wollte nicht wieder fort geschleppt werden. Ihr Herz schlug schnell, während sie einfach nur schrie, weinte und Versuche unternahm, sich zu befreien. Die anderen Kinder standen abseits und wussten genau, dass sie ihr nicht helfen konnten. „Su!“, schrie Emily mit Tränen überströmtem Gesicht, als der Butler mit ihr fast die Kutsche erreicht hatte. „Sag Maria wo ich bin!“ Ein Mädchen nickte, während Emily in die Kutsche gezerrt wurde. Das blonde Mädchen hüpfte fröhlich um den Butler und Emily herum, als sie näher gekommen waren und strahlte über das ganze Gesicht. Kaum war Emily in der Kutsche, stieg auch sie ein und der Butler setzte sich auf den Kutschbock und fuhr los. Emily registrierte kaum, was gesagt wurde oder wohin die Kutsche fuhr. Der einzige Gedanke, der sie einnahm, war der, dass sie erneut von ihrer Familie getrennt wurde. Selbst die hohe und laute Stimme des jungen Mädchens vermochte sie nicht aus den Gedanken zu holen. Auch interessierte sie nicht, wer der Mann neben dem Mädchen war. Sie wollte einfach nur fort. Erst als die Kutsche anhielt und das Mädchen sie mit ihrer freudigen lauten Stimme ansprach, wachte Emily aus ihren Gedanken auf. „Steig schon aus, du dummes Ding!“, sagte sie lachend. „Komm schon! Hier wirst du ab jetzt leben!“ Emily stieg nur widerwillig aus der Kutsche aus. Sie wollte doch nur nach Hause. Das Mädchen sprach von leben. Wenn Emily noch Tränen gehabt hätte, hätte sie wieder angefangen zu weinen. „Jetzt guck nicht so traurig!“, flötete das Mädchen und zog sie an der Hand zum Eingang der Villa, „Komm mit! Dustin zeigt dir das Haus!“ Emily hatte nur einen kurzen Blick auf die Fassade geworfen. Sie war weiß gewesen und das Anwesen schien unendlich groß. Wo war sie? War sie eigentlich noch in London? Doch viel Zeit, sich umzusehen hatte sie nicht, denn das Mädchen zog sie die Stufen hinauf zum Eingang. „Rebecca, Liebes, mach langsam“, sagte der Mann, der ebenfalls in der Kutsche saß. „Wir sollten deine neue Spielgefährtin doch erst einmal baden und neu einkleiden. Denkst du nicht auch?“ Das Mädchen, das offenbar Rebecca hieß, blieb vor der Eingangstür stehen und sah den Mann mit schmollendem und trotzigem Blick an. Sie schob die Unterlippe vor und stampfte mit dem Fuß auf. „Ich will ihr aber das Haus zeigen!“, rief sie wütend, „Ich will! Ich will! Ich will!“ „Rebecca, Liebes, das läuft doch nicht weg“, sagte der Mann ruhig und schon fast liebevoll. Emily verstand nicht, wieso sich dieses Mädchen so aufregte. Aber es war sicherlich etwas, was man nur verstand, wenn man reich war. „Daddy! Ich will aber!“, schrie sie und im nächsten Moment beugte sie sich nach vorne und fing an zu husten. Es war ein sehr tiefer und schwerer Husten. „Rebecca, Liebes!“, rief der Mann besorgt und eilte die Stufen hinauf zu seiner Tochter, „Du weißt doch, du darfst dich nicht aufregen, sonst bekommst du wieder einen Anfall.“ „Dann sorge dafür, dass ich mich nicht aufrege!“, stieß Rebecca hervor und hustete erneut, „Daddy, es tut weh, wenn ich huste…“ Emily wusste nicht, was sie von dieser Szene halten sollte. Auf der einen Seite war dieses Kind verwöhnt und auf der anderen tat sie so hilflos. „Schon gut, mein Liebling. Dann führe deine neue Freundin eben mit Dustin durch das Haus. Aber anschließend baden, frisieren wir sie und kleiden sie neu ein. Du willst doch, dass deine Freundin gut aussieht, oder?“ Er stupste ihr mit dem Finger liebevoll gegen die Nase. Das Mädchen hörte mit dem Husten auf und sah ihren Vater an. Sie richtete sich auf und lächelte siegreich. Ihre ganze Haltung ließ nichts darauf schließen, dass sie eben einen angeblichen Anfall hatte. Emily kannte dieses Mädchen zwar nicht, war sich aber sicher, dass sie die Anfälle oft nur vortäuschte, um ihren Willen zu bekommen. Rebecca war blass, sehr blass und sie schien auch wirklich krank zu sein, dachte Emily und fragte sich, was noch auf sie zukommen würde. Die große Eingangstür öffnete sich und sofort kamen zwei junge Beagle auf Rebecca zu. Ihr Kläffen war fröhlich und ihr Schwanz schwang freudig hin und her. Das Fell war sauber und glänzend. Die beiden Hundewelpen waren weiß und hatten braune Flecken. Sie sahen sich sehr ähnlich. Mit großen braunen Augen sahen sie Rebecca erwartungsvoll an. Emily hätte am liebsten aufgequiekt und die beiden Hunde sofort gestreichelt, doch sie gehörten ihr nicht und wer wusste schon, was passieren würde, wenn sie die beiden ohne Erlaubnis streichelte. Rebecca neben ihr stieß einen kurzen Schrei aus. „Geht weg!“, schrie sie und stieß die Hunde mit den Füßen weg. Auch als sich die beiden Hunde erwartungsvoll an Emily wandten, trat sie mit dem Fuß nach den Welpen. „Geht weg, ihr garstigen Biester! Haut schon ab!“ Die beiden Tiere taten Emily leid, doch sie schwieg und ein Dienstmädchen eilte herbei. Sie führte die Hunde sofort aus dem Eingangsbereich. Emily sah sich nun abermals in der Eingangshalle mit schachbrettartigem Boden und schwebendem Kronleuchter um. Zwischen dicken, dunkelblauen Vorhängen drang trübes Tageslicht in den Raum. An jeder Seite führte eine Treppe nach oben zum Ost- und zum Westflügel. Eine große Standuhr stand neben der Treppe und das Messingpendel schwang träge hin und her. Das Klacken schien laut in dem Raum widerzuhallen. Emily folgte dem Butler und Rebecca durch das Haus. In jedem Zimmer hielten sie an und jedes hatte seinen Namen und sein eigenes Thema. „Hier sehen Sie die von-Canter-Bibliothek“, sagte er, als sie einen achteckigen Raum mit einem dunklen Holzfußboden und endlosen Regalen voller Lederbände betraten. Sie gingen weiter zum Roten Salon, einem mit Samt ausgekleidetem Wohnzimmer, offensichtlich für Damen. Der Butler hielt die Tür auf, während die beiden Mädchen hineingingen und er draußen wartete. Es gab plüschige Sofas und winzige Beistelltische, auf denen gerade Mal eine Teetasse Platz hätte. Danach kam das Pergamentzimmer, ein Arbeitszimmer. Auf dem dunklen Schreibtisch lagen Pergamentpapiere, ein Gefäß mit einer Schreibfeder und einem Tintenfass. Es ging weiter durch ein Labyrinth von Räumen, einer prächtiger als der andere. Emily versuchte, sie auseinander zu halten, aber in ihrem Kopf schwirrten die Namen ebenso schnell durcheinander wie der Butler sie verkündete: „Der Spielsalon.“ „Der Kristall- und Mamorsaal.“ „Die Gemäldegalerie.“ „Der Rauchsalon.“ „Der Weinkeller zur Einkehr.“ Und schließlich: „Das Wohnzimmer.“ Der Butler führte die Mädchen zurück in die Eingangshalle. „Nun wirst du gebadet! Dann kleiden wir dich ein!“, sang Rebecca und tanzte um Emily herum als wäre sie ein Maibaum. „Du wirst danach zauberhaft aussehen! Wie eine Puppe!“ „Wo bin ich eigentlich?“, wagte Emily nun zu fragen. „Das weißt du nicht?“, fragte Rebecca. „Im Haus meines Vaters! Baron von Canter! Ich bin Rebecca von Canter!“ Der Name von Cater sagte ihr gar nichts. Aber sicherlich war es eine reiche Familie, die in den Adelskreisen bekannt war. „Oh...ähm…ich bin Emily.“ „Ich weiß, wer du bist! Und endlich habe ich dich gefunden! Wir werden viel Spaß zusammen haben! Wir werden Teepartys machen, reiten, zusammen im Unterricht sein!“ Der Butler achtete wenig auf die Worte und führte sie zu einer Tür links vom Eingang. „Papa erlaubt mir leider nicht, dass du eines der größeren Bäder benutzt, solange du noch so schmutzig bist. Deshalb wirst du im Bad der Dienstboten gewaschen. Aber keine Sorge! Ich werde dich unterhalten, dann fällt dir sicherlich nicht auf, wie unkomfortabel das Bad ist!“ „Rebecca!“, unterbrach die Stimme des Herren die beiden Mädchen, „Du musst deine Medizin nehmen. Der Doktor kommt auch jeden Moment. Du musst dich fertig machen.“ „Aber Daddy!“, protestierte Rebecca. „Ich will dabei sein!“ „Keine Widerworte!“, sagte er diesmal streng. „Das Dienstmädchen wird deine kleine Gefährtin schon herrichten.“ Rebecca schob trotzig die Unterlippe vor. „Sehr wohl, Daddy“, sagte sie und wandte sich noch kurz an Emily. „Ich muss leider zu dieser Untersuchung. Ich bin sehr erfreut, dich später erneut zu treffen.“ Emily sah noch zu, wie Rebecca von ihrem Vater und einem Dienstmädchen fortgebracht wurde, ehe sie dem Butler durch einen Gang folgte, der die Unterkunft der Dienstboten beherbergte. Er öffnete eine Tür zu einem Badezimmer mit weißen Kacheln. Kalte Luft strömte ihr entgegen und in dem Raum stand ein Dienstmädchen bereit. In der Mitte stand eine Wanne gefüllt mit klarem Wasser. An der Seite des Raumes waren kleine Schränke, auf denen Seife, Schwämme, Bürsten und Handtücher lagen. Ein Spiegel stand auf einem der Schränke und in einer Ecke stand ein kleiner Hocker. Der Butler schob sie in den kalten Raum hinein und schloss die Tür. Emily war nun mit dem Dienstmädchen alleine, das die Nase rümpfte und auf sie zukam. Ohne zimperlich zu sein, zog sie ihr das Kleid aus, während sich Emily dagegen wehrte. Sie wollte nicht in einem kalten Raum stehen ohne Kleider und das auch noch vor einer fremden Frau. Doch es half nichts. Nur wenige Minuten später stand sie ohne Kleidung in dem Badezimmer und umklammerte ihren Körper. Ihre Zähne klapperten und das Dienstmädchen schob sie zur Wanne. Ein Hocker stand davor, der ihr half, hinein zu steigen. Das Wasser war kalt und brachte Emily noch mehr zum Zittern. Ungeduldig griff das Dienstmädchen nach ihrem Arm und fing an, sie mit einer Bürste, welche rau und hart war, zu schrubben. Nach wenigen Sekunden war ihre Haut gerötet. Plötzlich wurde von einem zweiten Dienstmädchen ein Eimer Wasser über ihrem Kopf geleert. Es war genauso kalt wie das Wasser in der Wanne und es ließ sie noch mehr zittern. Emily presste die Augen fest zu und ließ die Prozedur stumm über sich ergehen. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sich neue Tränen einen Weg über ihr Gesicht bahnten. Es war einfach nur schrecklich. Mitten in der Nacht erwachte Ronald Knox und sofort war ihm klar, dass es nicht sein eigenes Zimmer war, in dem er schlief. Sein erster Gedanke war, dass er bei einer seiner Verabredungen war und dort eingeschlafen war. Schnell fiel ihm aber ein, dass er bei der Verwaltung gewesen war und darum gebeten hatte, im Zimmer seiner Schülerin wohnen zu dürfen, um ein Auge auf sie zu haben. Die Umrisse des Zimmers waren nur schwer zu erkennen. Es roch fremd und nach einer Frau. Ronald mochte den Duft. Er war anders und er grub seine Nase tiefer in das Kissen. Wohlig seufzte er auf und drehte sich auf die Seite. Es war also nicht der Geruch von einem seiner Dates, sondern der von Lily. Ronald war es egal. Dann mochte er eben den Geruch seiner Schülerin. Es war nichts dabei, solange er nichts für sie empfand und das würde auch nicht passieren. Nun wo sein Gehirn angefangen hatte zu denken, war Ronald wach und seine Gedanken folgten ihrem eigenen Weg. Er konnte nicht schlafen, wenn sein Kopf dachte. Aber wer konnte das schon? Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Streit mit Nakatsu. Er war wirklich lächerlich gewesen und auch unnötig. So ungern Ronald es auch zugab, aber es wäre wirklich besser gewesen, wenn er nicht das Bett mit Lily geteilte hätte. Er war immerhin ihr Mentor und sie seine Schülerin. Eine gewisse Distanz sollte gewahrt bleiben. Doch immer, wenn er daran dachte, wie Nakatsu hier neben ihr liegen würde, machte sich ein ungutes Gefühl in seiner Brust breit und ein Risiko wollte er auf keinen Fall eingehen. Gerne hätte er sich vorhin bei ihr entschuldigt, als sie sich im Bett herumgedreht und sich gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten. Seine Hand hatte fast ihre Schulter berührt und die Worte hatten bereits auf seiner Zunge gelegen, doch im letzten Moment hatte er einen Rückzieher gemacht. Ronald wollte vor ihr nicht als nachgiebig dastehen oder schwach. Aber innerlich wusste er, dass dies nur ein Vorwand für etwas anderes gewesen war, was er selbst nicht benennen konnte. Plötzlich spürte er neben sich eine Bewegung. Es war Lily, die sich bewegte, doch dann hörte er leise tapsende Schritte und Sekunden später war das Geräusch der sich öffnenden Tür zu hören. Gerade wollte er etwas sagen und ihr nachgehen, als ihm Alans Worte einfielen und Ronald schwieg. Er durfte seine Schülerin nicht in Watte packen und sich wie ein Babysitter aufführen! Außerdem würde sie sicherlich keinen Gefallen daran finden, wenn er sie auf Schritt und Tritt verfolgte und beobachtete. Was sollte sie obendrein in der Nacht schon großartig tun, außer auf die Toilette zu gehen? Tief atmete der Shinigami ein und aus und lauschte. Er zählte die Sekunden, die zu Minuten wurden und wartete, dass Lily zurück ins Bett kam. In der Stille und Dunkelheit zog sich das Warten endlos in die Länge und er fragte sich, wie man nur so lange auf der Toilette bleiben konnte. Nach weiteren Minuten des Wartens und das Gefühl, seit Stunden wach zu sein, hörte er wieder leise Schritte und das Geräusch der Tür, wie sie wieder abgeschlossen wurde. Weitere gedämpfte Schritte und dann merkte er, wie sich die Matratze bewegte und hörte ein ersticktes Geräusch. „Was haben Sie solange gemacht? Waren Sie so lange auf der Toilette?“, fragte er leise in die Dunkelheit. „Mr. Knox…“, brachte seine Schülerin hervor. Ihre Stimme klang ein wenig erstickt und im nächsten Moment hustete sie kurz. „Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht wecken.“, flüsterte sie zurück mit noch immer leicht kratzig klingender Stimme. „Sie haben mich nicht geweckt. Ich war schon vorher wach.“, gab er zur Antwort. „Oh…na dann. Ich war nur noch etwas trinken.“, hörte er sie sagen, „Wir sollten weiter schlafen.“ Ronald brummte zustimmend und hörte die Decke rascheln. Dann war es wieder still. Er hörte seinen Atmen und den von Lily. Seine Stirn zog sich in Falten. Etwas stimmte nicht. Die Atmung seiner Schülerin war unregelmäßig, nicht so wie es sich für eine entspannte Person anhören sollte. Im Gegenteil. Es klang eher so, als würde sie versuchen, lautere Geräusche zu unterdrücken. „Miss McNeil?“, fragte er vorsichtig und drehte sich zu ihr herum. Sie gab keine Antwort und blieb ruhig. Auch hörte die unregelmäßige Atmung auf. „Alles in Ordnung?“, fragte Ronald weiter und versuchte, in der Dunkelheit ihre Konturen zu erkennen. Er legte seine Hand auf die Stelle, an der er ihre Schulter vermutete. Zum Glück hatte er richtig geraten. Der Körper seiner Schülerin bebte und sie war unter seiner Berührung zusammengezuckt. „Was ist los? Reden Sie mit mir!“, bat er und es wunderte ihn selbst, wie viel Besorgnis in seiner Stimme mitschwang. „Es ist nichts. Ich hatte eben nur schlecht geträumt“, krächzte sie leise. „Soll ich das Licht anmachen?“, fragte er und wandte sich kurz ab. Seine Hand tastete bereits nach dem Lichtschalter der kleinen Lampe, die auf dem Nachttisch stand, als sie ihn zurückhielt. „Nein…bitte nicht.“ Ronald nickte, was sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, weshalb er schnell hinzufügte: „In Ordnung.“ Was sollte er tun? Neben ihm lag seine Schülerin und schien offenbar vor etwas Angst zu haben und den Tränen nahe zu sein. Er war damit vollkommen überfordert! Durfte er sie denn als Mentor tröstend in den Arm nehmen oder überschritt das seine Befugnisse? Aber er konnte sie auch nicht einfach so neben sich liegen lassen und tun als wäre nichts. Allzu nahe sollte er ihr allerdings auch nicht kommen. Die Distanz sollte gewahrt bleiben! Es war eine Zwickmühle. „Wollen…wollen Sie darüber reden?“, wagte Ronald einen erneuten Vorstoß. „Nein“, brachte sie hervor und ihre Stimme klang noch schlimmer als vor wenigen Sekunden. Auch ließ sich ein Schluchzen von ihr nicht mehr unterdrücken. Fieberhaft überlegte Ronald, was das Richtige war. Er wollte gegen keine Regel verstoßen oder sonstiges. „Darf ich?“, fragte er vorsichtig und doch wartete er keine Antwort ab. Er legte einen Arm um die Hüfte seiner Schülerin und zog sie eng an seinen Körper. Sicherlich überschritt er damit seine Autorität, aber wenn sie und er darüber schwiegen, würde niemand etwas jemals davon erfahren. „Mr. Knox…nicht…“, sagte sie und versuchte, sich aus seiner Umarmung zu befreien. „Alles ist gut“, unterbrach er leise ihren Protest und schob seinen anderen Arm unter ihren Körper durch, um sie mit beiden Armen festhalten zu können. Lily war nun so dicht an ihm, dass er jede Regung ihres Körpers spüren konnte. Besonders deutlich konnte er ihre Atmung fühlen. Seine Hände lagen auf ihrem Bauch und dieser bewegte sich bei der schnellen Atmung mit. Für Ronald Knox war es ein befremdliches Gefühl, ihr so nahe zu sein, gleichzeitig aber auch sehr angenehm. Er verstand, dass sie sich nach Nähe und Wärme sehnte, auch wenn er nicht wusste, was genau in ihr vorging. Es war angenehm, den Duft ihrer Haare zu riechen, die leicht an seiner Nase kitzelten. Ronald wusste kaum etwas über Lily, hatte er doch nur erst ein paar Tage mit ihr gearbeitet und zu Mittag gegessen. Die meiste Zeit hatten sie über die Ausbildung oder die Arbeit geredet, aber nie über etwas Privates. Vorsichtig umfasste er ihre Hand und strich beruhigend über ihren Handrücken. Diese kleine Berührung reicht aus, um die restlichen Hemmungen von ihr fallen zu lassen und sie fing an zu weinen. Ronald drückte sie ein wenig enger an sich und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Es schien nur wenig zu helfen, denn das Mädchen in seinen Armen beruhigte sich nur langsam. Aber er war froh, dass er so gehandelt hatte. Es ignorieren zu müssen, wäre schrecklich für ihn gewesen und für Lily sicherlich auch. So hatte sie wenigstens eine tröstende Schulter. Ronald lauschte den Geräuschen und wartete geduldig. Er war müde und wollte schlafen, doch Lily jetzt alleine lassen konnte er nicht, auch wenn ihr Körper ruhig war und ihre Atmung gleichmäßig. Erschöpft schloss auch er die Augen. Nur für einen kurzen Augenblick, um Kraft zu sammeln. Seine Hand hatte schon längst aufgehört, ihren Handrücken zu streicheln und hielt sie nur weiterhin fest. Die Atmung des Shinigami wurde langsamer und tiefer, während sein Geist in den Schlaf abtauchte. Der nächste Morgen brach wie immer viel zu früh an. Müde drehte sich Ronald herum und legte seinen Arm über das restliche Bett, doch anstatt in die Leere zu greifen, umschlang sein Arm einen warmen Körper. Es war merkwürdig. Seit wann hatte er denn ein Heizkissen? Noch dazu ein so schön warmes und weiches? Sofort schmiegte er sich näher heran und zog die Person zu sich. „Du riechst so gut“, seufzte er und fuhr mit der Hand zärtlich über den Rücken des Mädchens in seinen Armen. Ronald genoss diesen Moment und fuhr vorsichtig mit den Fingern über ihren Hals. Das Mädchen brummte verschlafen und schmiegte sich an ihn. Er richtete sich etwas auf, beugte sich über das Mädchen und küsste ihren Hals. Seine Lippen berührten ihre Haut nur flüchtig und verführerisch. „Guten Morgen, mein süßer kleiner Todesengel“, flüsterte er verschlafen und biss zärtlich in den Hals. „Mr. Knox, ich unterbreche Sie nur ungern, aber…“ Das Mädchen räusperte sich und Ronald hielt sofort in seinem Tun inne. Seine Augen öffneten sich schlagartig und er wich schnell von dem Körper neben sich zurück. Ronald bemühte sich um eine ruhige Atmung, obwohl sich seine Brust stark hob und senkte. Sein Gesicht fühlte sich warm an, aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, sich in einem schrecklichen Alptraum zu befinden. Was hatte er getan? Was sollte er sagen? Es gab nichts, was sein Verhalten rechtfertigen würde. Nur ungern sah er seine Schülerin an, die die Decke fest an sich gepresst hatte und mit hochrotem Gesicht auf das weiße Laken sah. Dieser Anblick war einfach nur schrecklich und Ronald konnte ihn kaum ertragen. Dabei wollte er sie vor Nakatsu schützen und jetzt hatte er sich tatsächlich selbst an sie rangemacht. Wenn William davon erfuhr, würde er seine Stelle als Mentor sofort verlieren. „Miss McNeil…“, brachte er mit zitternder Stimme hervor, „Ich…ähm…ich wusste nicht…ich wollte nicht…“ Das war vielleicht ein Schlamassel und er wusste keinen Ausweg daraus. Ronald überlegte, was er tun sollte, fand aber keine passenden Worte. Vorsichtig hob er die Hand und Lily zuckte zurück. Sofort ließ er sie wieder sinken und fuhr sich unschlüssig durch die zerzausten Haare. „Miss McNeil…“, fing er wieder an, „Ich wollte wirklich nicht…es…es tut mir leid…“ Ronald erkannte jedoch deutlich an ihrem Blick, dass egal, was er sagte, es keinen Sinn haben würde. „Ich…werde dann eben duschen gehen und mich anziehen“, sagte er und stand auf. Ronald ging schnell um das Bett herum und schloss die Tür auf, hielt jedoch noch mal kurz inne. „Es tut mir wirklich leid“, sagte er noch einmal und verließ das Schlafzimmer. Kapitel 8: P5 ------------- Ronald schloss die Tür vom Schlafzimmer und lehnte sich dagegen. Die dunkelroten Vorhänge waren noch zugezogen. Nur schwach fiel das Licht durch den dicken Stoff. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ein tiefes Seufzen entfuhr ihm. „Was für ein Mist…“, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. „Wehe Sie haben auch nur eine Ihrer schmutzigen Finger an Lily gelegt!“, hört er eine laute Stimme keifen. Innerlich stöhnte Ronald auf. Das hatte ihm zu seinem Glück auch noch gefehlt. Nakatsu hatte er total vergessen und auch, dass er nur in Unterhose bekleidet aus dem Schlafzimmer gekommen war. Auf einen erneuten Streit hatte er absolut keine Lust. Er wollte einfach nur noch schnell unter die Dusche und den Vorfall vergessen. Aber morgens direkt angeschrien zu werden machte seine Laune nicht besser. Im Gegenteil. Nun bekam Nakatsu seinen Unmut zu spüren. „Regen Sie sich ab“, gab Ronald genervt zurück. Er öffnete die Augen, die er kurzzeitig geschlossen hatte. Seine Stimme war eiskalt. „Denken Sie ich bin scharf auf sie? Miss McNeil ist nur meine Schülerin, nichts weiter.“ Nakatsu biss die Zähne zusammen und gab einen missmutigen Laut von sich. Die Empörung und der Protest standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Sie ist noch ein halbes Kind und hat für mich keine körperlichen Reize. Also gibt es keinen Grund eifersüchtig zu sein. Obendrein bin ich auch nicht besonders erfreut, die Anstandsdame zu spielen bei euch beiden, aber ich bin nun einmal ihr Mentor und es ist meine Pflicht dafür zu sorgen, dass meinem Schüler nichts passiert, was die Ausbildung gefährdet.“ Es war ihm egal, dass er gerade schlimmer klang als William, aber sein Morgen hatte ziemlich bescheiden angefangen und er hatte keine Lust sich von einem Lehrling zusammenstauchen zu lassen, weil er nur in Unterwäsche geschlafen hatte. Wäre der Streit auch nicht gewesen, hätte er zumindest noch die Chance gehabt sich angemessen zu kleiden. So trug Nakatsu zu einem Teil der Schuld mit. Aber er schwieg, denn eine neue Diskussion wollte er nicht entfachen. Genervt ging er zu seiner Tasche und holte frische Sachen daraus. Es war ihm im Moment mehr als egal, was der andere Shinigami dachte. Missmutig ging Ronald ins Badezimmer und schlug die Tür zu. Erneut seufzte er auf, stützte sich auf das Waschbecken und betrachtete sein Spiegelbild. „Was habe ich nur getan?“, flüsterte er, bevor er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Brille noch im Schlafzimmer lag. Es war ihm nicht aufgefallen, weil seine Sehstärke nicht so schwach war wie bei einigen anderen. „Egal…“, nuschelte er. Seine Brille konnte er auch noch nach dem Duschen holen. Ronald zog die Unterhose aus und stellte das Wasser an. Gerade als er unter den warmen Wasserstrahl der Dusche gehen wollte, fiel ihm ein, dass dies nicht sein Badezimmer war und sein Shampoo noch in seiner Tasche lag. Bemüht ruhig zu bleiben über diesen schrecklichen Morgen, atmete er tief ein, stellte das Wasser ab und band sich ein Handtuch um die Hüfte. Genervt öffnete Ronald die Tür und ging wieder ins Wohnzimmer. „Mr. Shinamoto, Sie bleiben aus dem Schlafzimmer draußen!“, sagte Ronald streng, als er sah, wie Nakatsu zum Schlafzimmer gehen wollte. „Lassen Sie Miss McNeil auch Freiraum. Sicherlich zieht sie sich gerade an und es wäre verdammt peinlich für Sie beide, wenn Sie dabei zusehen oder dergleichen. Also warten Sie gefälligst ab bis ihre Freundin raus kommt.“ Zielstrebig ging er auf seine Tasche zu und kramte darin nach seinen Badutensilien herum, während Nakatsu vor sich hin murmelte, in dem Glauben, er würde nicht zuhören oder es nicht verstehen. „Lehrer muss man sein…denkt, der kann sich alles erlauben…Läuft hier oben ohne rum und nur im Handtuch. Kommandiert rum…“, hörte Ronald ihn brummen. „Das habe ich gehört“, sagte er nur emotionslos, als Nakatsu offenbar seine Schimpftirade beendet hatte. Er ging zurück ins Badezimmer. Ronald schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. „Streitet ihr zwei schon wieder?“, hörte er plötzlich die Stimme von Lily fragen und die Tür vom Schlafzimmer zugehen. „Wir streiten nicht!“, rief Ronald genervt. Seine Stimme hallte in dem Badezimmer leise wieder. Er nahm das Handtuch von seiner Hüfte und kletterte in die Kabine. „Dann ist gut“, hörte er Lily zur Antwort rufen. Ehe er das Wasser wieder anstellte, konnte er leise hören, wie Nakatsu mit Lily sprach. Es ging, wenn er richtig hinhörte, um die vergangene Nacht, wo seine Schülerin aus dem Zimmer gegangen war. Gespannt lauschte Ronald und stand in der Duschkabine. Er wagte nicht das Wasser an zu stellen. Seine Neugierde war zu groß. Vielleicht erfuhr er so etwas über ihren Traum, der sie zum Weinen gebracht hatte. Nakatsu fragte, ob es ihr gut ging und ob sie die restliche Nacht noch gut hatte schlafen können. Lilys Antwort kam leise. Viel zu leise, als dass er hätte etwas verstehen können und gab es auf. Außerdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, er lauschte, was er allerdings in gewisser Weise bereits tat. Ronald stöhnte mittlerweile richtig wütend über sich und den Morgen auf, drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser auf sich nieder prasseln. Sein Kopf legte sich automatisch in den Nacken. Ein befreiter Seufzer entfuhr ihm. Das warme Wasser tat gut auf seiner Haut während sich sein Körper entspannte. Natürlich war nichts besser als ein heißes Bad, um zu entspannen, aber bei diesem grauenhaften Morgen war eine Dusche genauso wohltuend. Der Ärger schien mit dem Wasser im Abfluss zu verschwinden. Mit den Fingern fuhr er sich durch die nassen Haare und lehnte seinen Kopf an die kühlen Fliesen. Seine Gedanken rasten, genauso wie sein Herz. Was sollte er nur tun? Er musste die Sache unbedingt mit McNeil klären. Sie durfte die Sache nicht falsch verstehen und es durfte sich auch nicht herumsprechen, dass er sie am Hals geküsst hatte. Die Folgen, wenn sich die Situation herumsprechen würde, wären enorm. William würde ihn zur Schnecke machen. Er könnte seine Stelle als Mentor verlieren, sogar seine Stelle als Shinigami. Ganz zu schweigen von den Gerüchten, die er und seine Schülerin zu ertragen hätten. Ronald liebte seine Arbeit. Er war glücklich über die neue Verantwortung und die neuen Aufgaben, die die Arbeit als Mentor mit sich brachte. Er wollte nicht mehr als Küken in der Abteilung gelten und wenn er diese Arbeit vermasselte, wären alle nur noch mehr davon überzeugt, dass er noch zu jung für einen Schüler wäre. Die Anspannung, die eben von seinen Schultern gefallen war, kehrte bei dem Gedanken, die Arbeit zu verlieren, sofort zurück. Fasziniert starrte er auf einen Fleck auf den Fliesen, während seine Gedanken rasten. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken, während das warme Wasser seinen Körper entlang glitt. Was sollte er nur tun? Den Vorfall melden, bevor William davon erfuhr? Es verschweigen? Mit seiner Schülerin reden? Es einfach abtun und nichts machen? „Mr. Knox?“, rief plötzlich die Stimme seiner Schülerin auf der anderen Seite der Tür. Ronald schreckte aus seinen Gedanken auf und rutschte kurz auf dem nassen Boden mit den Füßen aus. Zum Glück fand er noch rechtzeitig sein Gleichgewicht wieder. „Was ist?“, rief er und strich sich die nassen Haare nach hinten, die bei dem Beinahe-Sturz in sein Gesicht geklatscht waren. „Ich bin unter der Dusche!“ „Brauchen Sie noch lange? Ich würde mir gerne noch die Zähne putzen und die Haare kämmen. Wenn wir dann noch frühstücken wollen, müssen wir langsam los!“ „Gehen Sie ins Gemeinschaftsbad. Dort sind Spiegel und Toiletten. Ich brauch noch einen Moment. Von mir aus kann Ihr Freund eben schnell reinkommen und Ihre Sachen holen.“ Kaum hatte er dies gesagt, ging die Tür einen Spalt auf und Ronald drehte sich zur Wand. Er hörte wie jemand etwas schnell zusammenkramte und dann wieder ging. Als die Tür geöffnet wurde, entwich die warme Luft und kalte strömt herein. Die Kühle nahm dem Duschen das Angenehme und er wollte nun nur noch fertig werden. „Nakatsu und ich gehen danach schon mal zum Frühstück in die Mensa! Wir halten Ihnen einen Platz frei!“, rief seine Schülerin. „Ist gut!“, rief er zurück und er fragte sich, wie lange er schon unter dem warmen Wasserstrahl stand. Ronald ließ etwas kaltes Duschgel auf seine Handfläche gleiten und verrieb es in seinen Haaren. Sofort bildete sich ein wohlriechender, weißer Schaum. Dann rieb er mit einem neuen Klecks Duschgel seinen Körper ein. Wie er es doch hasste, dass das Gel immer so kalt war. Sein Körper suchte die Wärme des Wassers, während er den Schaum aus den Haaren und von seiner Haut wusch. Nur ungern stellte er die Dusche ab. Ronald griff schnell nach dem Handtuch, schlang es um seinen Körper und trocknete sich ab. Er hasste es aus einer warmen Dusche zu kommen und dann zu frieren. Darin war er etwas penibel, wenn nicht sogar weibisch, wie manch einer seiner Kollegen sagen würde. Nachdem er sich schnell abgetrocknet hatte, zog er sich seine Sachen an, die er vorher mitgenommen hatte und öffnete das Fenster einen Spalt. Sein Hemd klebte etwas unangenehm auf seiner Haut, die durch den Wasserdampf wieder leicht feucht geworden war. Mit der Handfläche rieb er über den beschlagenen Spiegel und prüfte, ob er sich rasieren müsste, doch es sah gut aus. Es war nur ein leichter Ansatz von Stoppeln zu sehen, aber sie waren noch viel zu kurz, als dass er sie hätte abrasieren können. Er rieb noch mal mit dem Handtuch über seine feuchten Haare, ehe er anfing, sie zu richten und zu kämmen bis jede Strähne zu seiner Zufriedenheit da lag, wo sie hingehörte. Anschließend griff er zur Zahnbürste und putzte seine Zähne. Als Ronald Knox fertig war, warf er noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und ging aus dem Badezimmer hinaus. Er nahm noch schnell seine Unterhose vom Vortag mit, ehe er sie vergessen und zu allem Unglück sie auch noch Lily entdecken würde. Er stopfte sie in seine Tasche und holte seine Brille und Armbanduhr aus dem Schlafzimmer. Seine Krawatte band er sich schnell noch um, ehe er einen Blick auf die Uhr warf. Das Frühstück würde er wohl nicht mehr schaffen. Sein Magen knurrte und er brauchte seinen Morgenkaffee. Ihm fiel ein, dass es in der Nähe seines Büros einen Kaffeeautomaten gab und in seiner Schublade im Büro befanden sich noch einige Frühstücksriegel mit Schokolade. Vielleicht könnte er sich so bis zum Mittagessen über Wasser halten. Trotz seiner Gedanken unter der Dusche, hatte Ronald keine Entscheidung treffen können. Er wusste nicht, ob er William davon erzählen sollte. Es war einfach zum Verzweifeln. Ein letzter Seufzer entfuhr ihm, als er die Tür hinter sich schloss und auf dem hell erleuchteten Flur des Wohngebäudes stand. Er hörte einen Fluch und sah zum anderen Ende des Flures. „Morgen, Eric!“, grüßte Ronald und der Angesprochene sah zu ihm auf. „Was machst du hier? Wieso frühstückst du nicht?“ Eric sah ziemlich genervt aus, grüßte Ronald aber zurück. „Ich habe gerade versucht Kayden zu wecken, diese elende Schnarchnase!“, schimpfte er. „Kayden?“, fragte Ronald verwirrt, „Dein Lehrling? Wieso? Die Arbeit beginnt doch erst in fünfzehn Minuten.“ „Kayden und ich waren verabredet zum Morgentraining und er ist einfach nicht gekommen!“, schimpfte er. „Oh!“, brachte Ronald raus. „Dann verpass ihm nachher eine Lektion, die er nicht vergisst.“ Eric nickte. „Das musst du mir nicht sagen. Was machst du hier?“ „Ich hab etwas länger geduscht und werde jetzt zu Spears gehen.“ „Was ist passiert?“, fragte Eric und sah Ronald besorgt an. Der Jüngere winkte ab. „Nichts Besonderes. Ich muss nur mit ihm über etwas reden.“ „Geht es um deine Schülerin?“ Ronalds Herz klopfte plötzlich schneller. Hatte sich die Geschichte etwa schon herumgesprochen? Seine Wangen fühlten sich heiß an. „Nein!“, sagte er schnell. „Nein. Alles ok. Ich hab nur ein paar Fragen zur Gestaltung des Unterrichts.“ „Ah. Du wächst mit deinen Aufgaben“, sagte Eric und blickte Ronald stolz an. „Die Arbeit scheint dir gut zu tun. Wenn du aber mit Spears reden willst, er war bis eben in der Mensa und ist dann zu seinem Büro gegangen. Lily wartet übrigens auch auf dich bei deinem Büro.“ Ronald nickte dankend und verabschiedete sich von seinem Kollegen. Er wünschte ihm noch Glück beim Wecken seines Lehrlings und rannte die Treppen hinunter und in die Society. Wenn Lily auf ihn wartete, schien sie die Sache vom Morgen gut verkraftet zu haben und ihn nicht für einen Perversling zu halten. Vielleicht konnte er ja einen Moment finden, wo er mit ihr reden konnte. Vielleicht war ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten gar nicht nötig. In Ronald keimte die Hoffnung auf, dass er sich vielleicht doch nur unnötige und zu viele Gedanken gemacht hatte. Wahrscheinlich würde Spears seine Reaktion überbewerten und einfach abtun mit den Worten, dass er doch alt genug sei, um das zu klären. Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach oben und rannte zu seinem Büro. Schon von weitem konnte er erkennen, dass Lily auf ihn wartete. Als sie ihn erblickte, lief sie rot an und sah zu Boden. Anscheinend hatte sie die Sache vom Morgen noch nicht ganz verdauen können. „Warten Sie schon lange?“, fragte er bemüht ruhig und holte aus seiner Jackettasche einen Schlüsselbund heraus. Ronald suchte den richtigen Schlüssel und schloss sein Büro auf. „Nein. Ich bin eben erst gekommen“, sagte sie und mied es ihn an zu sehen. Ihre Wangen waren immer noch gerötet. Ronald betrat sein Büro und setzte sich hinter den Schreibtisch, auf dem sich mehrere Akten und Papiere stapelten. Sein Büro war zwar nicht so groß wie das von William T. Spears, aber es reichte für ein paar große Aktenschränke und hüfthohe Sideboards. Letztere waren gefüllt mit Büchern und Ordnern über Regeln und Anträge, aber auch anderen Dingen, die ein Shinigami brauchte, wie Stifte, Papier, Tinte und Utensilien für Magie. In der Mitte des Raumes stand ein großer Schreibtisch mit Schreibmaschine und einem bequemen Stuhl. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich verschiedene Papiere, Mappen, Ordner und Akten, die bearbeitet werden wollten. Es war deutlich zu erkennen, dass er Büroarbeit nicht mochte, denn einiges war bald fällig und er hatte noch nicht einmal mit der Arbeit angefangen. Extra für seinen Lehrling war ein kleinerer Schreibtisch in den Raum gestellt worden, damit dieser dort arbeiten konnte. Die Wände waren in einem schlichten weiß und der Boden wie der im Flur mit Marmorfliesen ausgelegt. Lily und Ronald saßen sich gegenüber. „Ehe Sie sich setzen, Miss McNeil“, begann Ronald und suchte in seiner hintersten Hosentasche nach etwas. „Tun Sie mir bitte den Gefallen und gehen Sie zum Kaffeeautomaten am Ende des Flures. Er ist nicht zu übersehen. Holen Sie mit bitte einen schwarzen Kaffee mit Zucker. Sie können sich auch gerne etwas holen. Geht auf mich.“ Ronald reichte Lily ein paar Münzen. Seine Finger berührten sie kurz und seine Schülerin zuckte bei dieser Berührung zusammen. Als Ronald ihrem Blick begegnete, sah sie zur Seite und erneut fingen ihre Wangen zu glühen an. Aber auch sein Körper blieb von einer Reaktion nicht verschont. Sein Herz fing an zu klopfen und sein Körper fühlte sich heiß an. „Ja, ist gut“, sagte sie nur und verschwand schnell aus seinem Büro. Deutlich hörte er ihre Schritte im Flur, die sich entfernten und Ronald ließ sich in seinen Stuhl fallen, schob eine Schublade auf und kramte eine Schachtel mit Frühstücksriegeln raus. Er suchte sich speziell die Riegel heraus, die er am liebsten mochte. Das waren jene, die viel Schokolade beinhalteten. Man sah es ihm zwar nicht an, aber er hatte eine Schwäche für Süßigkeiten. Egal ob Kekse, Schokolade, Bonbons, Kuchen oder Torten. Er liebte einfach Süßspeisen und besonders Speisen mit Schokolade. Oft schon wurde er von den Kolleginnen bewundert, dass er trotz des vielen Verzehrs dieser Sachen so schlank bleiben konnte. Er nahm sich einen Schokoladenriegel und riss die Verpackung ab. Hungrig biss er davon ab und dachte über das eben geschehene nach. Nach der Reaktion seiner Schülerin zu urteilen, hatte sie es nicht verarbeitet und nahm es noch immer ernst. Ein Gespräch ließ sich nicht vermeiden. Ronald seufzte und biss erneut in den Riegel. Genießerisch schloss er die Augen und genoss den Geschmack, der sich in seinem Mund ausbreitete. Als er im nächsten Moment die Augen öffnete, stand Lily wieder im Raum. In der rechten Hand hielt sie einen dampfenden Becher, den sie vor ihm hinstellte. In ihrer linken Hand hielt sie einen weiteren Becher, den sie auf ihren Platz stellte. Sofort wehte der Geruch des Kaffees zu ihm herüber, als der Becher vor ihm stand. „Ihr Wechselgeld“, sagte Lily und streckte die Hand aus. „Danke für die Einladung.“ Sie ließ die Münzen mit einigem Abstand in seine Hand fallen und wirkte sehr bedacht dabei ihn nicht zu berühren. „Danke“, sagte er nur, warf einen flüchtigen Blick auf das Geld und steckte es ein. „Hier nehmen Sie. Bis zur Mittagspause kann es manchmal echt lang werden.“ Er hielt ihr einen seiner heißgeliebten Schokoriegel hin. Dankend nahm Lily ihn entgegen, rührte ihn aber nicht an. Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Ihre ganze Haltung verriet, wie unwohl sie sich fühlte. Ihr Rücken war gerade und sie saß mehr auf dem Rand des Stuhles, bereit jederzeit aufzuspringen. Ihre Augen mieden den Kontakt zu seinen und ihre Hände lagen nervös gefaltet im Schoß. „Miss McNeil, wegen heute früh. Ich würde gerne kurz darüber mit Ihnen reden“, fing Ronald an und er merkte, dass er selbst Probleme hatte ihr in die Augen zu sehen. Er nahm einen kurzen Schluck von seinem Kaffee. Auch merkte er, dass sein Gesicht warm wurde und er nervös mit den Fingern spielte. „Sie sollen wissen, dass mir das wirklich leid tut und es keine Absicht war. Ich wollte Sie in keinster Weise bedrängen oder Ihnen zu nahe treten. Ich möchte Sie nämlich nicht als Schüler abgeben müssen. Die Arbeit mit Ihnen macht Spaß. Sie sind gut und wenn so etwas zwischen einem steht, kann es das Verhältnis stören.“ „Sie müssen sich nicht entschuldigen“, antwortete sie und winkte schnell ab, mied jedoch seinen direkten Blick, „Es ist in Ordnung. Ich komme damit klar und ich habe nicht vor jemanden davon zu erzählen. Niemand weiß, was heute früh oder in der Nacht passiert ist.“ „Wirklich?“, fragte er und schaute sie kritisch an. Sein Herz schlug schnell. Solche Gespräche hatte er noch nie führen müssen. „Ja. Ich weiß, dass es keine Absicht war und nehme es auch nicht übel.“ Ronald nickte und nahm den letzten Bissen von seinem Frühstücksriegel. Dann war das auch geklärt. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, dennoch spürte er deutlich die Anspannung zwischen ihnen. Es fiel ihnen beiden einfach schwer sich anzusehen. Ronald räusperte sich. „Gut. Nachdem das geklärt ist, machen wir mit dem Unterricht weiter. Für die heutige Arbeit benötigen Sie ein paar Anträge und Formulare. Sie bekommen sie in der Verwaltung. Ebenso werde ich Ihnen heute zeigen, wie Sie die Berichte über die Seelen schreiben. Obendrein wieder Aktenarbeit und Botengänge. Am Nachmittag fangen wir mit den Grundlagen der Magie an und gegen Abend machen wir den Schwimmunterricht.“ Lily nickte und nahm Stift und Papier zur Hand, um sich die Sachen kurz zu notieren, die sie benötigen würde. Ronald wartete bis sie bereit war zum Schreiben und nannte ihr die Formulare. „Nun denn, Miss McNeil, das sind soweit die Wichtigsten, die Sie brauchen werden. Wir beginnen am besten mit den Formularen, die vor, während und nach einem Auftrag ausgefüllt werden müssen. Holen Sie sich die Anträge und dann erlesen Sie sich in der nächsten Stunde den Zweck und die Verwendung. Die Bücher dafür stehen im Sideboard.“ „Verstanden“ Lily stand auf und verließ das Büro, um sich die Anträge zu holen. Es dauerte keine fünfzehn Minuten als sie mit den benötigten Sachen wieder da war. Lily suchte sich aus dem Sideboard die Bücher heraus und setzte sich an den Tisch gegenüber von Ronald. Sie nahm sich das erste Buch und blätterte darin herum bis sie zur gewünschten Seite kam. Seine Schülerin las intensiv und wurde von Ronald dabei beobachtet, während er noch seinen Kaffee austrank und den leeren Becher in den Papierkorb wandern ließ. Nachdem sein Guten Morgen Kaffee seine Wirkung entfaltete und ihn wach machte, suchte er sich eine Akte heraus, die er dringend bearbeiten musste. Er hörte, wie Lily durch ein Buch blätterte und sah kurz auf. Seine Akte und seine Konzentration war schnell vergessen, als er seinen Lehrling dabei beobachtete, wie sie tief in Gedanken die Seiten las. Sein Blick richtete sich erst wieder auf die Akte vor ihm, als er glaubte Lily sehe auf, doch sie schob sich lediglich eine Haarsträhne hinters Ohr und trank einen Schluck aus ihrem Becher. Ronald zog die Schublade mit seinem Vorrat an Süßigkeiten auf und nahm sich einen weiteren Frühstücksriegel. Diesmal ohne Schokolade, dafür aber mit Nüssen. Das Papier knisterte laut in dem stillen Raum und Lily schenkte dem nur einen kurzen, flüchtigen Blick. Während er an den verschiedenen Kästchen Kreuze machte, aß er den Riegel auf. Die Akte war schnell fertig und er hatte in dieser Zeit zwei weitere Riegel verputzt. Ronald blickte wieder auf und sah, dass Lily sich Stichpunkte auf einen Notizzettel machte. Es war ein interessanter Anblick, wie konzentriert sie war und alles um sich herum zu vergessen schien. „Miss McNeil, könnten Sie mir eine Akte aus dem Archiv holen? Diese hier können Sie gleich wieder mitnehme.“, sagte Ronald plötzlich in die Stille und schrieb ihr die Nummer der gewünschten Akte auf. „Bringen Sie mir auch noch mal einen Kaffee mit.“ Ihm war nie aufgefallen, wie laut einfache Geräusche sein konnten, wenn alles ruhig war. Lily sah auf und nickte. Sie nahm die Akte auf, die an der Tischkannte lag und das Münzgeld, das Ronald ihr reicht und ging. Sorgfältig hatte er darauf geachtet eine Berührung zu vermeiden. Während sie sein Büro verließ, sah er ihr nach und lauschte den sich entfernenden Schritten. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet, dass gerade mal eine Stunde vergangen war. Sein Magen grummelte nach richtiger Nahrung. Die Frühstücksriegel sättigten ihn nicht wirklich und hielten auch nicht lange vor. Es würde jedoch noch mehrere Stunden bis zum Mittagessen dauern. Missmutig öffnete er wieder die Schublade mit seinem Vorrat an Leckereien und wühlte darin herum. In einer Ecke hatte sich ein Sahnebonbon versteckt. Er packte es aus und schob es sich in den Mund, während das Papier achtlos in seinem Mülleimer landete. Die nächste Akte wollte bearbeitet werden und Ronald zog sie sich näher heran. Als Lily zurückkehrte, war er gerade dabei den Bericht dazu fertig zu schreiben. Seine Schülerin stellte einen weiteren Becher mit Kaffee vor ihm hin und reichte ihm die angeforderten Akten. Kurz berührten sich ihre Fingerspitzen und Lily zog schnell ihre Hand zurück, während ihre Wangen erneut an Farbe gewannen. Sie räusperte sich verlegen und ging zu ihrem Platz zurück, um die Bücher weiter zu studieren. Ronald verfolgte sie mit den Augen, während das Bonbon in seinem Mund immer kleiner wurde. Kurz sah Lily von den Büchern auf und sofort sah er auf seine Akte. Die Spannung zwischen ihnen, die sich sofort entfaltete, wenn einer den anderen zufällig berührte, war grässlich. Die Stunden zogen sich nur dahin, denn keiner wagte etwas zu sagen. Lily hatte zwar kurz versucht eine Unterhaltung mit einem Scherz zu beginnen, doch es verlief im Sand. Es war ein kleiner Scherz über seinen Süßigkeitenkonsum gewesen, denn während der Stunden hatte sich der Papierabfall seiner Naschereien im Papierkorb deutlich gemehrt. Sie hatte ihn scherzhafterweise als Süßigkeitenmonster bezeichnet und ihn, wie viele andere Frauen bewundert, dass er so viel davon essen konnte, ohne dick zu werden. Ronald hatte nur kurz über den Spitznamen gelacht und es folgte eine knappe Unterhaltung über die Abnehmversuche der Frauen. Dann schwiegen sie beide wieder und widmeten sich ihrer Arbeit. Die Zeit bis zum Mittagessen schien sich für Ronald nur so dahin zu ziehen und sein Vorrat an Knabbereien schrumpfte immer weiter zusammen, bis nur noch ein kläglicher Rest von drei Schokoriegeln und zwei Bonbons übrig war. Er brauchte dringend Nachschub. Ronald schickte Lily pünktlich zur Mittagspause aus seinem Büro und sortierte noch ein paar Akten, ehe er ihr folgen würde. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, dass er etwas vergessen hatte, aber ihm wollte einfach nicht einfallen, was es war. Sorgfältig schloss er sein Büro ab und ging gemächlichen Schrittes durch die Flure der Society. Als er den Flur, der zur Mensa erreichte, kam ihm bereits der leckere Geruch von gegrilltem Fleisch, Gemüse, Gewürze und anderen Köstlichkeiten entgegen. In der Kantine selbst roch es noch intensiver und sein Magen knurrte laut. Ein kurzer Blick über die anwesenden Shinigami sagte ihm, dass es wieder unmöglich war einen guten Platz zu bekommen. Er konnte seine Schülerin entdecken, zusammen mit Nakatsu, Eric und Alan. Als die kleine Gruppe ihn erblickte, winkten sie ihm zu und deuteten, dass sie ihm einen Platz freihalten würden. Ronald nahm sich ein Tablett und stellte sich an die Essensausgabe. Es roch köstlich, doch als er das heutige Angebot sah, verging ihm der Appetit. Es gab Spinat, Milchreis, Fisch, Spargel, Kartoffelsuppe, Rührei, Salate, Brote und als Beilagen auch verschiedene Gemüsesorten, wie Erbsen, Möhren und Kartoffeln. Ronald mochte den Großteil des Angebotes nicht und überlegte, was er nehmen sollte. Auf ein belegtes Brot hatte er keinen Hunger und er war auch kein Kaninchen, das von Salat lebte. Er wollte etwas Warmes essen, besonders nach dem ausgefallenen Frühstück und entschied sich für ein paar Kartoffeln und Spinat mit Ei. Das war noch das, was er runter bekommen würde, auch wenn Spinat nicht zu seiner Leibspeise zählte. Der ganze Tag schien schief zu laufen und er fragte sich, ob das ein schlechtes Omen war für etwas noch viel schlimmeres. Ronald holte sich noch etwas zu Trinken und begab sich zu seinen Kollegen und seinem Lehrling. Eric erzählte gerade darüber, wie er seinen Lehrling Kayden über den Trainingsplatz gescheucht hatte, weil dieser am Morgen verschlafen hatte. Lustlos stocherte Ronald in der grünen Pampe herum und nahm einen Bissen vom Ei und der Kartoffel, der ihm beinahe im Halse stecken blieb, als er seinen Namen laut und deutlich durch die ganze Mensa schreien hörte. Es war ein lauter, hoher und beinahe quietschender Ton, der seinen Namen so verunstaltete. Aber nun viel es ihm wie Schuppen von den Augen, was er vergessen hatte! Er hatte total vergessen, dass er seine Verabredung vom gestrigen Abend auf das heutige Mittagessen vertröstet hatte! Natürlich war er nicht der einzige Shinigami, der diesen Ruf gehört hatte und die gesamte Mensa sah auf den Eingang und Ronald sank auf seinem Stuhl zusammen. Das würde sehr unschön werden. In seinem Magen bildete sich eine Art Geschwür, das ihm schlecht werden ließ, doch unter dem Tisch verstecken würde nichts bringen. Die Frau hatte ihn bereits entdeckt und kam auf ihn zu. Der Tag wurde von Minute zu Minute besser. Durch die Mensa ging eine zierliche Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Ihre Beine schienen ellenlang zu sein und mit jeder Bewegung schwang ihre Hüfte. Die hohen Schuhe, die sie trug, klackten mit jedem Aufkommen auf dem gefliesten Boden der Mensa. Ihre schwarze Jacke trug sie knitterfrei an ihrem Körper und ihre weiße Bluse hing locker über den Bund ihres ebenfalls schwarzen Rockes. Die ersten zwei Knöpfe der Bluse waren geöffnet und das schwarze Seidenhalstuch wurde an den beiden Enden durch eine Manschette zusammengehalten. Ihre Haut war makellos und blass. Das Make-up war schlicht gehalten. Ihre Haltung war gerade und die Hände hielt sie brav vor ihrem Körper. Alles an ihr wirkte wie bei einer Raubkatze, die auf der Jagd nach der nächsten Beute war. Hinter ihr liefen zwei weitere Frauen, die sich ähnlich gekleidet und auch eine ähnliche Körperhaltung hatten. Sie hielt neben Ronald an und musterte die anderen Shinigami kurz. Als ihr Blick über seine Schülerin schweifte, verengten sich ihre Augen kurz zu schmalen Schlitzen. „Hallo, Ronilein!“, trällerte sie fröhlich mit ihrer hohen Stimme. Sie lehnte sich nach vorne und legte beide Arme um seinen Körper. Mit ihren langen Fingernägeln zog sie Kreise auf seiner Brust. „Ich habe dich gestern in meinem Bett vermisst!“ Genervt stöhnte der Shinigami auf und nahm ihre Arme von seinem Körper. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich nicht Ronilein heiße, sondern Ronald! Im Übrigen habe ich dir gestern gesagt, wieso ich keine Zeit habe.“ Schmollend zog die Frau ihre Unterlippe vor. „Du bist so gemein zu mir!“, sagte sie beleidigt, „Seit du deinen Lehrling bekommen hast, hast du gar keine Zeit mehr für mich! Ich höre nur noch: Mein Lehrling hier und mein Lehrling dort. Ich kann nicht, ich muss McNeil unterrichten. Wer ist dein Lehrling überhaupt? Du hast ihn mir noch nicht einmal vorgestellt!“ Die Frau musterte Nakatsu, während alle am Tisch aufgehört hatten zu essen. „Ist er das? Ist dieser junge Bursche dein Lehrling McNeil?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern redete einfach weiter. „Wieso hast du nicht gesagt, dass er so ein süßer Bursche ist?! Du weißt doch, ich habe eine Schwäche für niedliche Jungs! Wenn er erwachsen ist, kann er mir gerne einmal Gesellschaft leisten. Oder sogar uns beiden?“ Ronald trank gerade etwas Wasser und hätte sich beim letzteren Teil fast verschluckt. Auch Eric machte große Augen, während Nakatsu rot wie eine Tomate anlief. Alan trank vor Schreck erst mal etwas von seinem Tee und Lily starrte die Frau einfach nur an. „Aber wenn ich mich hier so umsehe, sehe ich mehr als nur einen gut aussehenden Burschen. Dein Brünetter Freund ist ja auch ein niedliches Pachtstück, ganz zu schweigen von seinem Sitznachbarn. Ich bin sicher, Letzterer hat sicher einige Muskeln zu bieten.“ Ronald glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Der nächste Schluck Wasser blieb ihm im Hals stecken und er hatte Mühe nicht alles über dem Essen auszuspucken. Lily klopfte ihm auf den Rücken, während er lautstark hustete und versuchte sich von den Worten zu erholen. Was hatte er sich da nur angelacht? „Ich kann mich einfach nicht entscheiden, wer von euch süßer ist! Wobei euer Chef William ja auch was hat, aber dieser Grelle lässt ja nicht zu, dass man nahe an ihn heran kommt.“ Die Frau zog die Schultern hoch und sah Ronald aus großen Augen an. Ihre Wimpern waren lang und dunkel geschminkt. Sie klimperte mit ihnen. „Also Ronald! Wann hast du wieder Zeit für mich und vergisst mal deinen süßen Lehrling? Ich hab solche Sehnsucht nach dir!“ „Carry“, sagte Ronald bemüht ruhig, „Ich muss dich enttäuschen. Mr. Shinamoto ist nicht mein Lehrling. Mein Lehrling ist die Dame neben ihm. Wenn ich vorstellen darf: Miss Lily McNeil.“ Lily stand höflich von ihrem Platz auf und streckte der Dame ihre Hand entgegen, doch die Frau machte keinerlei Anstalten sie anzunehmen. „Sehr erfreut“, sagte Lily und Ronald konnte sehen, dass es ihr unangenehm war, vor seinem Date zu stehen. Carry musterte sie von oben nach unten und wieder zurück. Dann griff sie an ihr vorbei zum Glas Wasser auf dem Tisch. Bedächtig hielt sie es in der Hand und schaute interessiert in die klare Flüssigkeit darin. „Ja, mich freut es auch“, sagte sie, aber ihre Stimme war um einiges schärfer geworden und hatte ihren verführerischen Unterton eingebüßt. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, leerte sie das Glas über Lilys Kopf aus und stellte es zurück auf den Tisch. Lily starrte sie entgeistert an, genauso wie die anderen am Tisch. „Ronald!“, sagte sie vorwurfsvoll und mit keifender Stimme, „Hast du mich wegen so jemanden versetzt?“ „Carry, du kannst doch nicht einfach…“, fing er an und deutete ihr, dass sie sich beruhigen sollte. „Ich werde dir gleich zeigen, was ich alles kann, Ronald Knox!“, zeterte sie. Ronald nahm nur am Rande wahr, wie Alan Lily eine Serviette reichte, sie sich das Wasser aus dem Gesicht wischte und sich wieder setzte. Lily sah Carry mit wütendem Blick an, schwieg aber. Eric zog scharf die Luft ein und warf Ronald einen Blick zu, der sagte, dass er jetzt eindeutig ein Problem und es sich mit Carry verscherzt hatte. „Wie viele andere Frauen gibt es? Wessen Bett wärmst du noch, wenn du nicht zu mir kommst? Ihres? Ist sie wenigstes gut? Besser als ich? Kann sie dich gut befriedigen? Was kann sie dir denn bieten, flach wie ein Brett wie sie ist?“ Ronald sprang von seinem Stuhl auf und deutete Lily, die nun ebenfalls richtig wütend aufgesprungen war, sich zu setzten. Sie tat es nur widerwillig. Ihr Blick war unentwegt auf Carry gerichtet, die ihn noch immer mit schriller Stimme anschrie. Zwei weitere Frauen kamen zum Tisch. Langsam fragte sich Ronald, was er sich dabei gedacht hatte, sich die Anführerin der P5 zu angeln. P5 war eine Gruppe von Frauen, die äußerlich die Perfektesten der Society zu sein schienen. Das P stand dabei für Perfect und die Zahl für die Anzahl ihrer Mitglieder. Ernsthaft überlegte sich Ronald, ob er vielleicht seine One Night Stands reduzieren und sich fest binden oder ganz Single bleiben sollte. Denn anscheinend hatte jede Frau ein Problem damit, dass er einen weiblichen Lehrling hatte. In den letzten Tagen wollte keine mehr mit ihm ausgehen, außer Carry und die hatte er versetzten müssen. Die letzten beiden Frauen, die an dem Tisch dazu gekommen waren, hielten ein Tablett mit Essen in den Händen. „Lass es mich erklären, Carry!“, bat Ronald, hatte jedoch Mühe nicht zu schreien, „Miss McNeil hat nichts damit zu tun, dass ich dir abgesagt habe. Außerdem gehe ich weiß Gott nicht mit meiner Schülerin ins Bett!“ Von Nakatsu kam ein verräterisches Schnauben, was er versuchte als Husten zu tarnen und schob sich schnell eine Kartoffel in den Mund, als Ronald sich umdrehte und ihn mahnend ansah. Natürlich war Carry das nicht entgangen und ihre Augen verengten sich. „Du Widerling!“, schrie sie lauthals, „Du schläfst mit deiner Schülerin! Oh mein Gott! Du bist so ekelhaft! Und mit so jemanden wollte ich ausgehen! Ich kann es nicht glauben! Ich will dich nicht wiedersehen! Du widerst mich an! Und glaube ja nicht, dass noch irgendjemand mit dir ausgehen wird! Ich werde allen sagen, was du getan hast! Das wirst du mir noch büßen!“ Dann sah sie Lily an. „Du kleines Miststück wirst mir das ebenso büßen!“ Carry nahm den Teller von dem Tablett ihrer Freundin und drückte ihn Ronald ins Gesicht. Der Teller landete mit einem klappernden Geräusch auf dem Boden. Dann drehte sie sich schwungvoll um und schritt erhobenen Hauptes durch die Mensa, gefolgt von ihren Klonen. Die grüne Pampe, auch Spinat genannt, tropfte von Ronalds Gesicht auf seine Kleidung. Das Hemd war ruiniert. „Mr. Knox?“, fragte Lili vorsichtig. Ronald hob gebieterisch die Hand und wischte seine Brillengläser an seinem eh schon ruinierten Hemd sauber. „Wenn ihr mich entschuldigt, Freunde“, sagte er und setzte seine Brille wieder auf. Seine Stimme war gefährlich leise und ruhig. „Ich werde mich umziehen gehen.“ Er ging mit schnellen Schritten durch die Mensa. Das Einzige, was er jetzt noch wollte, war eine Dusche nehmen und diesen Tag schnell zu Ende bringen ehe noch weitere Katastrophen folgen würden. Die anderen Shinigami starrten ihn an und hatten ihr Essen vor sich vergessen. „Was ist?“, schrie er eine Gruppe von Leuten an, die ihn ansahen, als sei er ein Alien, „Habt ihr nichts besseres zu tun?“ Kapitel 9: Regel Nr. 4: Das Leben ist ewiges Lernen und Lehren -------------------------------------------------------------- Verwirrt und besorgt über das Geschehene, fragte sich Lily, was sich eben eigentlich ereignet hatte und sah ihrem Mentor nach. Ihre Bluse war aus einem ihr unverständlichen Grund nass und das kalte Getränk lief ihre Wirbelsäule hinab. Glaubte diese Carry allen Ernstes, dass Ronald Knox, ihr Mentor, etwas mit ihr hatte? Lily fand diesen Gedanken sehr weit hergeholt und war der festen Überzeugung, dass die Frau übertrieb und einfach nur nach Aufmerksamkeit suchte. Zu allem Übel brach auch noch lautes Gelächter los und wilde Gespräche fingen an. Die Blicke richteten sich auf ihren Tisch. Eine Hand auf ihrer Schulter holte sie aus den Gedanken. „Gehen Sie sich umziehen, Miss McNeil“, sagte Alan und machte eine Kopfbewegung zur Tür, „Wir kümmern uns um das Geschirr und die Sauerei.“ Lily nickte und nahm ihr Jackett von der Stuhllehne. Nakatsu wollte sie begleiten, doch Eric hielt ihn zurück und schüttelte stumm den Kopf. Dankend nickte Lily und rannte aus der Mensa, durch die Flure der Society und durch das Treppenhaus. Die letzten Stufen sprang sie hinunter und stolperte in den Eingangsbereich, der zu den verschiedenen Abteilungen führte. Plötzlich stieß sie gegen ein unerwartetes Hindernis. Lily taumelte mehrere Schritte zurück und sah auf. Zwei Shinigami standen vor ihr. Einer davon war William T. Spears. Den anderen Shinigami kannte sie nicht. Sie war in den ihr unbekannten Mann hinein gelaufen, da dieser aber recht sicher neben William stand, schien ihn der Zusammenstoß nicht viel ausgemacht zu haben. „Es tut mir schrecklich leid!“, sagte Lily schnell und verbeugte sich ein wenig zur Entschuldigung. Als sie aufsah, wurde sie von William kalt gemustert, der nur stumm seine Brille zurecht rückte, während der andere Mann ein breites Grinsen auf den Lippen hatte. Sein Mantel war schwarz und schien schon älter zu sein, genauso wie sein Hut. Die Haare waren lang und weiß und fielen ihm dicht ins Gesicht. Lily hatte ihn noch nie gesehen, da war sie sich absolut sicher. Jemand mit solch abgetragenen Kleidern wäre aufgefallen wie ein bunter Hund. Dennoch regte sich in ihr etwas und schnürte ihr die Kehle zu. Die Atmung fiel ihr schwer und ihr Herz verkrampfte sich. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrem Rücken. Sie wollte fort. „Miss McNeil“, richtete Spears das Wort an sie. „Gibt es ein Problem oder wieso haben Sie es so eilig? Was ist mit Ihrem Hemd passiert?“ Lily errötete etwas und merkte erst jetzt, was sie mit dem nassen Hemd für einen Eindruck auf Spears machte. „Oh…ähm…nein, es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur einen unglücklichen Zusammenstoß mit jemanden und wollte mich schnell umziehen.“ Ihr Herz schmerzte und es zog sich durch den ganzen Brustbereich bis in den Rücken. William nickte nur und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. „Miss Lily McNeil ist zur Zeit der einzige weibliche Shinigami in meiner Abteilung“, erklärte Spears. Der fremde Shinigami schien sie durch seinen dichten und üppigen Pony zu mustern. Sein Grinsen wurde um einiges breiter. Ein Kichern entfuhr ihm und er verschränkte seine blassen Finger mit den langen Nägeln miteinander. „Oh, wie interessant.“, sagte der Mann gedehnt, „Dann passt gut auf sie auf. Die Arbeit kann manchmal sehr gefährlich sein.“ William nickte nur. Lily wusste nicht, was sie dazu sagen sollte und blickte beide stumm an. Sie versuchte ruhig zu atmen, was ihr jedoch von Sekunde zu Sekunde schwerer fiel. „Miss McNeil“, wandte sich nun wieder Spears an sie, „Dies ist einer der ältesten Shinigami. Sein Name ist Undertaker und er ist eine Legende. Er hat schon Robin Hood überprüft und Marie Antoinette in die Hölle geschickt.“ „Ja, aber mittlerweile befinde ich mich im Ruhestand, wie Sie wissen“, erwiderte er und seine Stimme klang ruhig und gelassen, als hätte er bereits alles gesehen. „Es freut mich sehr Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Lily schnell und hielt sich zurück nicht das Gesicht zu verziehen, „Aber ich muss jetzt leider los. Bitte entschuldigen Sie.“ Mit diesen letzten Worten rannte sie los und auf das Wohngebäude zu. Der Schmerz in ihrer Brust wurde immer schlimmer und sie musste in der Eingangshallte stehen bleiben. Ein schmerzerfülltes Keuchen entfuhr ihr und sie lehnte sich an die Wand. Ihre Atmung ging flach und schnell. Die Beine zitterten und Lily sackte zu Boden. Der Name des Shinigami schwirrte in ihrem Kopf und verursachte Kopfschmerzen. Auf allen vieren kniete sie in dem Eingangsbereich und hatte das Gefühl ihre Rippen würden langsam gebrochen und ihr Herz zerquetscht. Ein schmerzerfüllter Laut entfuhr ihr und Schweiß rann ihre Stirn hinab. Lily ballte die Hände zu Fäusten und griff zu der Stelle, an der ihr Herz saß. Was war nur los? Eine erneute Welle des Schmerzes überkam sie, kurz und heftig. Danach war der Schmerz fort als wäre nie etwas gewesen. Lediglich ihrem Atem hörte man an, dass etwas nicht stimmte. Er glich einem Keuchen als sei sie einen Marathon gelaufen. Langsam und vorsichtig richtete sich Lily wieder auf und sah sich um. Sie war alleine und niemand hatte gesehen, was passiert war. Ein paar Minuten blieb sie noch stehen und wartete, doch als sie sich sicher war, dass ihr Körper sich beruhigt hatte, rief sie den Fahrstuhl und fuhr nach oben. Als sie in der neunten Etage ankam, ging ihre Atmung noch immer schnell und ihr Herz pochte. Sie wollte das Geschehene einfach nur verdrängen, sich frische Sachen anziehen und zum Tagesgeschehen zurückkehren. Mit zitternden Händen schloss sie die Tür auf und hörte das Geräusch der Dusche. Ihr Mentor war also gerade dabei sich den Spinat aus den Haaren zu entfernen. Seine Kleidung lag auf dem Sofa und auf seinem Hemd waren grüne Flecken. Lily knöpfte sich die Bluse auf, zog sie aus und warf sie achtlos auf den Boden. Mit schnellen Schritten ging sie ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Von einem Kleiderbügel zog sie ein frisches Hemd und streifte sich dieses über. Als sie den Schrank schloss, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Wenn man genau hinsah, merkte man ihr an, dass sie geschafft war. Genervt wandte sie sich von ihrem Abbild im Spiegel ab und knöpfte sich die Bluse zu. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was eben mit ihr passiert war, sondern es einfach nur vergessen. Als sie aus dem Schlafzimmer kam, war noch immer das Geräusch der Dusche zu hören und sie sammelte ihr nasses Hemd vom Boden auf. Unordentlich legte sie die Kleidung über ihren Schreibtischstuhl, damit sie nicht vergaß, sie mit zu waschen. Ihr Magen gab ein leises Knurren von sich und ihr fiel ein, dass sie noch gar nichts gegessen hatte. Das Gespräch mit dieser Carry hatte es verhindert. Lily dachte auch an ihren Mentor Ronald Knox. Er hatte schon nicht gefrühstückt und sich den Vormittag nur von Kaffee und Süßigkeiten ernährt. Auch er hatte durch Carry nichts essen können. Sowieso schien ihm das Essen nicht zugesagt zu haben. Kurz überlegte sie und entschied, eben selbst etwas zu kochen. In ihrer kleinen Küche fand sie Nudeln, Tomatenmark, Zwiebeln, Knoblauch, Milch, Eier, Mehl, Zucker und noch anderes Gemüse und Gewürze. Kurz kramte sie in den Schränken herum und holte einen Topf und eine Pfanne heraus, sowie Messer und eine Unterlage zum Schneiden. Den Topf füllte sie mit Wasser auf und stellte den Herd an, während sie die Zwiebel in kleine Würfel schnitt. Ein paar Tränen ließen sich jedoch dabei nicht vermeiden. Die Zwiebel briet sie in der Pfanne an und gab danach das Tomatenmark dazu. Als das Wasser nach ein paar Minuten kochte, gab sie die Nudeln dazu und würzte die Soße mit Knoblauch, Salz und Pfeffer. Mit einem kleinen Löffel schmeckte sie ab und holte zwei Teller und Besteck aus dem Schrank. Ihr Mentor war noch immer unter der Dusche und Lily goss das Wasser der Nudeln ab. Sorgfältig teilte sie das Essen gerecht auf beide Teller auf und stellte sie auf den Tisch. Sie setzte sich und wartete auf Ronald. Lange musste sie jedoch nicht auf ihn warten. Die Badezimmertür öffnete sich und heraus trat ihr Mentor in frischen Kleidern und mit nassen Haaren. Er roch nach Shampoo und einem Männerparfüm. Seine Augen weiteten sich und er gab einen überraschten Laut von sich. Ronald musste schmunzeln, während Lily unter seinem Blick errötete. „Ich hab uns etwas gekocht…“, nuschelte sie verlegen und mied seinen Blick, „Wir haben ja beide nichts essen können, durch Ihre Freundin Carry. Sie können ja auch nicht den ganzen Tag von Kaffee und Süßigkeiten leben.“ „Sieht gut aus“, kommentierte Ronald und setzte sich an den Tisch. Er aß einen Bissen und nickte zufrieden. „Sehr lecker.“ Stumm aßen sie eine Weile das Essen. „Sie könnten ja öfters kochen, wenn die Mensa nichts zu bieten hat. Ich bin sicher, Alan und Eric würde es auch schmecken“, meinte Ronald plötzlich und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam in die Bibliothek. Lily war noch nie dort gewesen und sah sich neugierig um. Die Regale waren meterhoch und vollgestellt mit den unterschiedlichsten Büchern. Es gab richtig alte Bücher mit Ledereinbänden und dickem Inhalt. Alles war katalogisiert und in der entsprechenden Abteilung. Zwischen den Regalen gab es Tische und Stühle, um dort die Bücher studieren zu können. „Jetzt fangen wir mit den Grundlagen der Magie an“, erklärte Ronald und ging in die entsprechende Abteilung. Sie befand sich in der dritten Etage. „Zuerst werden wir testen, welche Magie Sie lernen müssen“, klärte er auf, „Wissen Sie, was es für Magiearten gibt?“ Lily nickte. „Ja, schwarze und weiße Magie.“ Ronald nickte. „Richtig. Wobei schwarz nicht unbedingt böse ist und weiß nicht nur gut. Es kommt immer auf den Zweck an.“ „Warum heißt es dann schwarz und weiß?“ „Weil es die Art und Weise ist, woher die Energie kommt. Weiße Magie kommt immer aus einem selbst und bei der schwarzen Magie wird die Energie aus der Umgebung genommen.“ „Wieso muss getestet werden, was ich lernen soll?“ „Der Unterricht unterscheidet sich ein wenig bei den beiden Magiearten. Es kommt immer wieder mal vor, dass man das eine nicht verträgt. Man kann es sich dann als eine Art Allergie vorstellen.“ „Verstehe. Aber wieso müssen wir eigentlich Magie lernen?“, fragte Lily und nahm ein paar Bücher entgegen, die ihr Mentor aus dem Regal zog. „Wenn wir die Seelen einsammeln, müssen wir natürlich auch auf uns und sie aufpassen. Es ist wichtig, dass wir einen Schutzkreis ziehen können oder Dämonen vertreiben. Aber keine Sorge, die Grundlagen sind sehr leicht. Am Anfang wird sehr viel meditiert, dann kommt die Verbindung mit den Elementen und vieles mehr.“ „Glauben die Menschen auch daran?“ „Einige tun es, andere nicht. Es gibt auch ein paar Menschen, die sie beherrschen, wie Merlin, aber viele sind es nicht. Magie gibt es auch seit Anbeginn der Zeit. Sie ist also so alt wie die Welt selbst.“ Als Ronald genug Bücher aus dem Regal gezogen hatte, begaben sie sich zu einem Tisch und ließen sich an diesen nieder. „Heute machen wir nicht allzu viel. Ich werde jetzt erst testen, welcher Magieart Sie angehören und dann bringe ich Ihnen die Regeln, Gefahren und ein paar kleinere Dinge bei.“ Lily nickte und setzte sich auf einen Stuhl. Ronald suchte in seiner Tasche nach etwas und legte es dann vor ihr auf den Tisch. Es waren zwei identisch aussehende Steine. Fragend sah sie ihren Mentor an. „Schließen Sie jetzt die Augen und strecken Sie mir ihre Hand entgegen.“ Lily tat wie ihr geheißen und wartete ab. Ihr Herz schlug schnell. Sie wusste nicht, was passieren würde. Ronald legte ihr einen der Steine in die Hand und sie schloss die Hand darum. Seine Finger berührten kurz ihre Handfläche und Lily zuckte kurz zusammen. In ihre Wangen schoss wieder Blut. „Was fühlen Sie?“, fragte er. Irrte sie sich oder hörte sich seine Stimme etwas nervös an? „Wie fühlt sich der Stein an? Denken Sie nicht viel darüber nach.“ Mit den Fingern betastete sie den Stein und ließ ihn mehrmals in ihrer Hand hin und her gleiten. Die Augen hielt sie geschlossen, während sie sich auf das Gefühl konzentrierte. „Es ist ein komisches Gefühl. Es kribbelt ein wenig, aber angenehm.“ „Gut.“ Ronald nahm den Stein aus ihrer Hand und legte den anderen hinein. Diesmal berührten sich ihre Hände nicht. „Wie ist es mit diesem?“ Lily spürte die Kälte des zweiten Steines in ihrer Hand und betastete auch diesen ausgiebig. „Ich kann es nicht beschreiben. Es ist anders. Unangenehm.“ Ihr Mentor nahm ihr den Stein aus der Hand. „Sie können die Augen wieder aufmachen.“ „Und?“, fragte Lily neugierig. „Sie lernen weiße Magie“, gab er Auskunft und packte die Steine wieder ein. Er zog ein Buch hervor und schlug es auf. „Darf ich fragen, was Sie können?“, wagte Lily zu fragen und zog Papier und Stift heran. Ihr Mentor nickte. „Ich kann beides einsetzten.“ „Ist das schwer?“ Nachdenklich legte ihr Mentor den Kopf schief. „Es geht. Es ist nur etwas mehr, was man lernen muss. Aber wir sollten uns auf Ihren Unterricht konzentrieren.“ Lily nickte und hörte ihrem Mentor zu, als er über die Regeln sprach, während sie sich Notizen machte. Der Nachmittag ging in der Bibliothek schnell herum, was allein schon daran lag, dass Ronald ihr viel abverlangte. Sie musste die Regeln lernen und die Gefahren. Ronald fragte sie mehrmals dazu ab und trieb sie an, die Sachen in und auswendig zu können. Die Regeln beinhalteten im Großen und Ganzen, dass man niemandem Schaden zufügen durfte und sein Wissen weise anwenden sollte. Die Gefahren bestanden darin, dass man sich vom Negativen verfolgt fühlen und den Bezug zur Realität verlieren könnte. Aber auch in ein paar anderen Dingen, die eher für Menschen galten, die eh schneller in Versuchung gerieten als ein Shinigami. Auch hatte sie mehrere Meditationsversuche unternommen. In dieser Meditation ging es darum, sich zu erden und eine innere Ruhe zu finden. Auch musste sie dabei ihren Körper genau wahrnehmen mit jeder einzelnen Faser, wie die Haare, die ihr ins Gesicht fielen und an ihrer Nase kitzelten. Also Dinge, die ihr Kopf normalerweise ausblendete. Nach mehreren Stunden hatte Lily das Gefühl, ihr Gehirn hätte die Konsistenz von Pudding und ihr Kopf rauchte. „Sie sehen geschafft aus.“, merkte Ronald an und warf einen Blick auf die Uhr. Er stand von seinem Stuhl auf und streckte sich ausgiebig. Sein Rücken knackte kurz und ein angestrengter Seufzer entglitt ihm. „Jetzt haben wir noch genug Zeit für eine Schwimmstunde. Ein bisschen Bewegung wird gut tun.“ Lily nickte stumm und sammelte ihre Sachen ein. Der Gedanke, ins Wasser zu gehen, behagte ihr überhaupt nicht. Ihr Herz schlug sofort schnell und in ihrem Bauch machte sich ein flaues Gefühl breit. „Muss dieser Schwimmunterricht sein?“, fragte sie mürrisch. Ihr Mentor nickte. „Ja, ich fürchte, Sie müssen da durch.“ „Wieso?“ Es war ihr egal, dass sie wie ein kleines Kind klang. „Vorschrift.“, war die schlichte Antwort. Ronald schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, als er die Bücher einsammelte, die auf dem Tisch verstreut lagen. „Wieso können Sie es nicht?“ Die Frage überraschte Lily ein wenig und sie zog die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht. Ich hab es nie gelernt und in der Grundausbildung hatten wir keinen.“ In Wahrheit hatte sie sich schon öfters gefragt, wieso sie solche Probleme damit hatte. In ihrer Kindheit hatte sie nie etwas Schlechtes erlebt, was ihre Angst begründen würde ins Wasser zu gehen. Doch jedes Mal, wenn sie vor einem tiefen Becken stand, war es als würde sie zum Galgen gehen. „Dann wird es höchste Zeit, dass sie es lernen“, sagte Mr. Knox und holte sie aus ihren Gedanken, „Gehen Sie schon einmal Ihre Sachen holen. Ich räume die Bücher ein und wir treffen uns in der Schwimmhalle.“ Lily nickte und nahm ihre Unterlagen. Sie drehte sich beim Hinausgehen nochmal um, doch Ronald Knox war schon zwischen den Reihen in der Bibliothek abgetaucht. Schnell verließ sie die Bibliothek und ging zum Wohnheim, um ihre Sachen für den Schwimmunterricht zu holen. Auf dem Weg begegnete sie dem Shinigami vom Mittag. Sein Name war Undertaker, wenn sie sich recht erinnerte. Diesmal war er alleine und sein Gesicht zierte noch immer ein breites Grinsen. „Na, du bist ja wieder so schnell unterwegs.“ Lily hielt in der Bewegung inne und wandte sich dem Mann zu. „Hallo“, sagte sie und fragte sich, was dieser Shinigami von ihr wollte. „Du hast es ja sehr eilig. Aber pass auf dass du nicht wieder in jemanden hinein rennst.“ Ein leises Kichern entfuhr ihm und er grinste etwas breiter, als würde ihn der Gedanke amüsieren. „Denn der Nächste kann den Zusammenstoß vielleicht nicht so gut wegstecken.“ „Wegen heute Mittag tut es mir wirklich leid. Es war keine Absicht.“ Verlegen sah sie Undertaker an. Plötzlich spürte Lily einen Ruck an ihrem Hals. Er hatte sie an der Krawatte gepackt und zu sich heran gezogen, ohne dass sie die Bewegung auch nur gesehen hatte. Sie war ihm so nahe, dass sie den süßlichen und leicht erdigen Geruch wahrnehmen konnte, der ihn umgab. „Ein Shinigami sollte auch in stressigen Situationen auf seine Kleidung achten, aber du warst ja schon immer ein kleiner Chaot“, sagte er und richtete den Knoten ihrer Krawatte, während er leise vor sich hin kicherte und immer noch breit grinste. Verwirrt sah Lily den Mann vor sich an und zog die Stirn in Falten. Was meinte er nur? Wie konnte er wissen, dass sie ein wenig chaotisch war? Er hatte sie doch nur einmal bisher gesehen. Unsicher, was sie davon halten sollte, wich sie ein Stück zurück. „Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn ein Teil von einem selbst immer schläft?“, fragte er plötzlich kichernd, „Aber da du eben nicht wusstest, was meine Wenigkeit meint, wirst du es jetzt wohl leider auch nicht wissen.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich von ihr ab und ging davon. Lily blieb verwirrt und alleine zurück. „Miss McNeil, was machen Sie noch hier?“, fragte auf einmal eine Stimme hinter ihr. Lily schreckte auf und erkannte ihren Mentor. „Oh…ähm…“ „Kneifen geht nicht!“, sagte er tadelnd mit dem Finger, „Sonst gibt’s ne Strafarbeit.“ „Ich will auch nicht kneifen!“, gab sie zurück. „Dann holen Sie schnell Ihre Sachen. Wenn Sie nicht in zwanzig Minuten umgezogen in der Halle sind, werden Sie zur Strafe meine Unterhosen waschen müssen.“ „Was?!“ Lily starrte ihren Mentor entsetzt an und dachte an die vergangen Nacht zurück, wo er nur in seiner Unterhose neben ihr gelegen hatte. Wenn sie die Farbe richtig in Erinnerung hatte, war sie schwarz-weiß gestreift gewesen. Ihr Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an. Lily wollte sich nicht ausmalen, wie der Rest seiner Wäsche aussah und erst recht wollte sie keine von denen waschen müssen. „Die Zeit läuft, Miss McNeil.“ Ronald Knox sah auf seine Armbanduhr und grinste sie frech an. „Sie meinen das ernst?!“ Ihre Augen weiteten sich panisch. „Natürlich.“ „Ich dachte, es sei ein Scherz! Oh mein Gott…!“ Lily rannte mit rotem Gesicht davon und schnell ins Wohngebäude. In ihrem Zimmer angekommen, suchte sie in aller Eile ihre Sachen zusammen. Kurz betrachtete sie ihre alten Schwimmsachen, die sie nie getragen hatte. Ihre Eltern hatten sie ihr einmal zum Geburtstag geschenkt, in der Hoffnung, dass sie dann den Antrieb hatte, schwimmen zu lernen. Aber die Sachen lagen bisher ungenutzt in ihrem Kleiderschrank. Wegwerfen wollte sie die Kleidung auch nicht einfach so. So hatte sie es einfach weiter aufbewahrt. Innerlich betete sie, dass der Zweiteiler noch passen würde, stopfte ihn mit einem Handtuch in eine kleine Tasche und rannte wieder los. Die Zeit lief ab und der Gedanke, dass sie seine Wäsche waschen musste, ließ sie erröten. Völlig außer Atem und mit hochrotem Kopf, kam sie an der Halle an, riss die Tür auf und während sie rannte, öffnete sie schon die ersten Knöpfe ihrer Bluse und riss sich die Krawatte vom Hals. In der Umkleidekabine warf sie die Tasche auf den Boden und zog sich so schnell es ging um. Zum Glück passte der Zweiteiler noch. Lily nahm noch das Handtuch und verstaute ihre Kleidung und Tasche in einen der Spinte. Kurz holte sie tief Luft und wappnete sich für das, was auf sie zukommen würde. Mit stark klopfendem Herzen ging sie aus der Umkleide und trat in die Halle mit dem großen Schwimmbecken. Der Geruch des chlorhaltigen Wassers stieg in ihre Nase und die Luft hing schwer in dem Raum. Das Wasser war ruhig in dem Becken und spiegelte das Deckenlicht wieder. Lily legte ihr Handtuch auf eine Bank und sah sich nach ihrem Mentor um. Ronald Knox stand bereits am Beckenrand und sah auf die Uhr. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht. „Gerade so geschafft“, sagte er mit einem leichten Lachen in der Stimme und zwinkerte ihr zu, „Sie werden also keine Unterhosen waschen müssen.“ Er stand in einer dunkelblauen Badehose vor ihr und Lily spürte deutlich, dass ihr Gesicht rot war. Sie senkte den Blick und konnte den Blick spüren, mit dem ihr Mentor sie kurz musterte. Ein kurzes Seufzen entfuhr ihm. „Gut. Dann fangen wir mal mit Ihrem Unterricht an. Ich schlage vor, wir gehen beide ins Wasser. Am besten ins ganz flache Becken. Dort können Sie stehen und es reicht auch ungefähr nur bis zur Hüfte.“ Lilys Pupillen weiteten sich. „Nein…“, keuchte sie erschrocken, „Das kann ich nicht! Nein! Nein! Nein! Ich kann nicht ins Wasser! Nicht mal bis zur Hüfte!“ „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich rette Sie, wenn Sie wirklich untergehen. Kommen Sie. Gehen Sie nur bis zu den Stufen, bitte“, bat er und ging bereits die kleine Treppe hinunter, die ins Becken führte. „Ich werde hier auf Sie warten und bitte Sie, trauen Sie sich und kommen her.“ Mit ängstlichem und panischem Blick sah sie auf das Wasser und blieb an der Treppe stehen. Sie schluckte schwer und sah zu ihrem Mentor, der sich auf den Boden des Beckens nieder lies. Das Wasser reichte ihm nun bis zur Brust. Ronald schloss die Augen und es sah so aus, als würde er meditieren. Unschlüssig, was sie tun sollte, stand Lily am Beckenrand. Ihr Herz pochte. Sie wollte so gerne, doch etwas in ihrem Inneren hielt sie zurück. Ihr Blick glitt zwischen ihrem Mentor und dem Wasser vor ihr hin und her. Lily kniff die Augen zu und machte einen vorsichtigen Schritt auf die erste Stufe, dann die Zweite und die Dritte. Das kalte Wasser berührte ihren Fuß und langsam ließ sie den anderen ebenfalls eintauchen. Ein paar Sekunden stand sie einfach nur auf der Stufe, hielt die Luft an, während ihr Herz lautstark pochte. „Ich kann das nicht!“, schrie sie und sprang zurück auf die zweite Stufe. Ihre Atmung ging schnell und zeigte deutlich, wie viel Angst sie hatte. Ihr Mentor Ronald Knox öffnete die Augen und sah sie mit skeptischem Blick an. „Kann nicht, gibt es nicht“, sagte er schlicht, „Soweit ich mich erinnere, hat das mal ein Philosoph aus der Menschenwelt gesagt.“ Nachdenklich sah er Lily an. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Setzen sie sich auf die Treppe und lassen nur die Füße im Wasser. Sie brauchen nichts weiter tun, ehrlich und es geht Ihnen auch nur bis zu den Knöcheln. Das haben Sie ja eben selbst gesehen. Wir können uns dann unterhalten. Egal über was, zum Beispiel: Was essen Sie eigentlich gern als Süßigkeit?“ Lily schüttelte energisch den Kopf, so dass ihre langen Haare hin und her flogen. „Nein, nein, nein, nein…Ich kann das nicht…“ Ihre Stimme klang weinerlich. Ronald seufzte kurz. „Sie wissen, dass Spears Sie von der Ausbildung ausschließen kann, wenn Sie es nicht lernen?“ „WAS?!“ Erschrocken und überrascht sah sie ihren Mentor aus großen Augen an. „Das ist doch nicht fair!“ „Es liegt also ganz und gar bei Ihnen.“ „Ich will die Ausbildung aber!“ „Wenn Sie die Ausbildung wirklich durchziehen wollen, dann müssen Sie ihre Ängste überwinden. Holen Sie den Wasserball und pusten Sie ihn auf.“ Ronald deutete auf eine kleine Glastür, hinter der die Sachen fürs Schwimmen aufbewahrt wurden. „Wozu?“, fragte Lily nun sichtlich verwirrt. „Wir werden Ball spielen.“ Ihr Mentor grinste sie breit an. „Ich werde im Wasser bleiben und Sie auf dem Trockenen.“ „Ball spielen? Ich dachte, ich soll schwimmen lernen?“ Lily verstand nicht, was Ronald Knox genau vorhatte. „Na, wie wollen Sie es denn lernen, wenn Sie nicht herein kommen und es gar nicht versuchen wollen?“ „Ich will ja gerne, aber ich kann einfach nicht…“ Kam es ihr nur so vor oder wurde ihre Stimme weinerlicher? Widerwillig ging sie in die kleine Gerätekammer und holte den Ball. Lily verstand immer noch nicht, was Ronald damit bezwecken wollte, fing jedoch an, den Ball aufzupusten. Es dauerte mehrere Minuten und sie hatte das Gefühl, die Luft wollte gar nicht in dem Ball bleiben. Ihre Lunge schmerzte und ihr Kopf hatte sich vor Anstrengung rot verfärbt. Als sie fertig war, warf sie ihn Ronald zu, der ihn geschickt auffing und zu ihr zurück warf. Einige Minuten ging es zwischen den beiden so hin und her. Lily bekam ab und zu ein paar Wassertropfen ab, während ihr Mentor schon ganz nass war. Ronald strich sich die nassen Haare aus der Stirn und warf den Ball erneut zu ihr zurück. „Gefällt Ihnen das Spiel?“, fragte er nach mehreren Minuten. „Etwas Spaß kann nie schaden“, gab sie zur Antwort und warf den Ball mit einem frechen Grinsen zurück. „Aber wie soll mir das mit meiner Angst helfen?“ Ronald ignorierte ihre Frage und schwamm in schnellen Zügen zu dem Ball. „Waren Sie schon im Baderaum für die Frauen?“ Verwirrt über diese Frage schüttelte sie den Kopf und fing den nassen Ball wieder auf, warf ihn zurück. „Nein, war ich nicht. Ich kann auch in keine Badewanne gehen. Wasser, das über meine Knöchel geht, macht mir Angst und darin liegen geht auch nicht. Deshalb dusche ich auch immer nur.“ Nachdenklich hielt Ronald den Ball in den Händen fest. „Das ist sehr schade. Ab und zu ein entspanntes Bad würde Ihnen bestimmt gut tun.“ Lily lachte kurz auf. „Das sagte mein Grundausbildungslehrer auch zu mir. Aber ich kann es nicht. Die Angst ist einfach zu groß.“ „Gab es bei Ihnen in der Grundausbildungsakademie japanische Bäder, wie sie die Menschen in Japan benutzen?“ Fragend sah Lily ihren Mentor an. „Japanische Bäder? Nein. So etwas gab es nicht bei uns. Was ist das?“ Anstatt eine Antwort zu geben, grinste er nur und warf ihr den Ball zu. Er ging durch das flache Wasser und aus dem Becken. „Was haben Sie vor?“, fragte Lily skeptisch und wich ein wenig von ihrem Mentor zurück. „Kein Angst, Miss McNeil, ich werde Sie nicht ins Becken werfen. Wir nehmen jetzt einfach nur ein japanisches Bad. Sie sind zu verspannt.“ Ronald ging in den Raum mit den Geräten und holte zwei kleine Schemel und zwei Eimer. In Letzteren befanden sich noch zwei Schwämme. „Folgen Sie mir.“ Lily folgte ihrem Mentor zur anderen Seite der Halle und eine kleine Treppe hinunter in die unterste Etage. Auf der rechten Seite befanden sich zwei Saunaräume und Duschen für die Abkühlung. Gegenüber auf der anderen Seite war eine Einlassung in der Mauer, die zu einem weiteren Raum führte. In diesem Raum blieb ihr Mentor stehen, stellte die Eimer und die Schemel ab. „Was sind das für Becken?“, fragte Lily. „Das sind Becken mit verschiedenen Temperaturen, um das Immunsystem zu stärken. Das Linke ist sehr warm und das Rechte kalt. Dieser Raum entstand ein wenig im Stil der japanischen Bäder, deshalb auch die Reihe mit Wasserhähnen. Hier kann man sich reinigen oder auch gegenseitig und dann das Bad genießen und sein Immunsystem stärken.“ Lily sah auf die zwei Becken. Sie waren so groß, dass mindestens zwanzig Leute in jedem Platz hatten. Dort wo ihr Mentor stand, waren mehrere Wasserhähne in der Wand und im Boden befanden sich Abdeckungen für den Abfluss. „Setzen Sie sich“, meinte ihr Mentor und füllte die Eimer mit warmen Wassern auf. Interessiert beobachtete Lily Ronald dabei und folgte seiner Aufforderung sich auf den kleinen Hocker zu setzen. „Was machen Sie da?“, fragte sie neugierig. „Ich bereite unser Bad vor. Bin gleich fertig.“ Skeptisch und mit roten Wangen zog Lily eine Augenbraue hoch. „Unser…Bad?“ Ronald Knox lachte leise. „Haben Sie noch nie etwas von den Menschen in Japan gelesen und deren Kultur? In der Bibliothek gibt es sehr interessante Bücher darüber.“ Er stellte einen der Eimer vor Lily hin und setzte sich auf den zweiten Hocker. „Wir haben in der Grundausbildung und auch im Unterricht bei Mr. Spears über verschiedene Völker gesprochen, aber nicht über deren Badegewohnheiten. Also, was muss ich tun?“, fragte sie mit hochrotem Kopf. „Entspannen Sie sich. Das Bad soll beruhigen und entspannen. Mit dem Schwämmen reinigt man sich vom Tag und entspannt danach die Füße in dem Eimer.“ Noch während er es ihr erklärte, hatte er seinen Schwamm in dem Eimer getaucht und rieb sich damit über die Arme. Auffordernd sah er seine Schülerin an. Zögernd nahm Lily dem Schwamm und tat es ihrem Mentor gleich. Es war ein komisches Gefühl, sich vor ihm mit einem Schwamm zu waschen. Ihr Körper verkrampfte sich und ihr Gesicht war noch immer gerötet. Mit einem Seitenblick auf Ronald, registrierte Lily, dass er erfreut über diesen Fortschritt lächelte. Ronald nahm seinen Schwamm und drückte ihn über seinen Kopf aus. Danach tauchte er seine Füße in den Eimer und gab einen wohligen Seufzer von sich. Entspannt schloss er die Augen. „Machen Sie solche Bäder öfters?“, fragte Lily neugierig und legte den Schwamm auf den Boden. „Wenn ich Zeit habe und der Tag mal wieder sehr anstrengend war, ja. Sie tun wirklich gut. Ich fühle mich danach wie neu geboren. Versuchen Sie es auch mal. Los, stecken Sie ihre Füße in den Eimer. Das Wasser ist angenehm warm. Sie haben doch sicherlich schon kalte Füße.“ Innerlich gab Lily ihrem Mentor Recht. Sie hatte wirklich kalte Füße durch den Fliesenboden, doch die Vorstellung, die Füße ins Wasser zu tauchen, behagte ihr wenig. Ängstlich sah sie auf das Wasser und ließ zögerlich einen Fuß eintauchen und dann den nächsten. Sämtliche Farbe wich aus ihren Wangen. Das Wasser reichte bis zu ihren Waden. Lily atmete unruhig ein und aus. „Wie fühlt es sich an?“, fragte Ronald, „Denken Sie daran, sie sitzen immer noch auf dem Schemel und können den Boden des Eimers fühlen. Konzentrieren Sie sich darauf, dass Sie den Boden fühlen und nicht auf das Wasser. Sehen Sie das Wasser als Freund an, nicht als Feind. Versuchen Sie es positiv zu sehen, zum Beispiel werden ihre Füße warm.“ Die Worte ihres Mentors kamen wie von weit weg, doch Lily versuchte das zu tun, was er gesagt hatte. Sie konzentrierte sich darauf, dass sie den Boden unter ihren Füßen fühlte und wie das Wasser sie wärmte. Ihre Atmung beruhigte sich etwas und ein stolzes Gefühl machte sich breit. „Beantworten Sie mir meine Frage von vorhin, Miss McNeil.“, sagte ihr Mentor plötzlich. „Welche Frage denn?“, fragte sie verwirrt und bewegte vorsichtig die Zehen. Ronald Knox hatte Recht gehabt. Es tat wirklich gut. Vielleicht konnte sie nach den Unterrichtsstunden wirklich auch mal baden gehen und die Wannen im Gemeinschafsbad nutzen. „Was ist Ihre Lieblingssüßigkeit?“ „Ach die!“ Jetzt fiel ihr die Frage wieder ein und sie grinste ihren Mentor an. „Ich mag vieles, wie Kekse oder Schokolade. Aber auch Kuchen und Torten. Es gibt einiges, was ich mag. Aber so verdrücken, wie Sie, kann ich das Zeug nicht.“ Ronald lachte und grinste zurück. „Dann werde ich ab morgen Schokoladenkekse in meiner Schublade im Büro haben.“ „Nur für mich brauchen Sie keine Kekse bunkern!“, wehrte sie mit rotem Gesicht ab. „Doch das werde ich! Keine Widerrede!“ Lily seufzte gespielt auf. „Na gut.“ „Was machen Sie in Ihrer Freizeit?“ „Ich lese gerne und unternehme auch gerne etwas.“ „Stimmt. In Ihrem Zimmer stehen viele Bücher. Was lesen Sie alles?“ „Oh, das ist unterschiedlich. Hauptsächlich Romane, aber natürlich auch Sachen für die Arbeit. Was machen Sie denn in Ihrer Freizeit? Sie sagten ja gestern in Mr. Humphries Zimmer, Sie seien ein Frauenheld?“ „Touche“, sagte er und grinste verlegen, „Ja, das bin ich. Aber Eric ist wesentlich schlimmer. Aber wenn ich nicht gerade mit einer Frau verabredet bin, bin ich gerne auf Partys. Ich hasse Überstunden und bin froh, dass ich noch nie welche machen musste. Aber da Sie ja jetzt mein Lehrling sind, geht das mit den Feiern auch nicht mehr wirklich.“ „Bin ich also Schuld, dass Sie Ihrer Lieblingsbeschäftigung nicht mehr nachgehen können?“, fragte Lily gespielt beleidigt. „Wenn ich so darüber nachdenke, ja. Indirekt schon.“, sagte er neckisch und grinste sie frech an. Empört blies Lily die Wangen auf und nahm den Schwamm. Sie nahm die Füße aus dem Eimer und tauchte den Schwamm ein. Nass wie er war, warf sie ihn ihrem Mentor ins Gesicht. „Werden Sie etwa frech, Miss McNeil?“, fragte er herausfordernd und wischte sich das kalte Wasser aus den Augen. „Nein“, sagte Lily grinsend und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. „Sie wissen, dass das Wasser kalt war?“ „Öhm…ja….“ „Gut.“ Ronald nahm seinen Eimer, ein siegreiches Grinsen auf den Lippen und trat näher an Lily heran. „Dann wissen Sie ja, was jetzt auf Sie zukommt.“ „Nein, das wagen Sie…“ Noch ehe sie den Satz zu Ende führen konnte, hatte ihr Mentor ihr den Inhalt des Eimers ins Gesicht geschüttet. Sofort stellten sich die kleinen Härchen an ihrem Körper auf und sie bekam eine Gänsehaut. Das Wasser war kalt. Viel kälter als sie es an den Füßen gespürt hatte, was wohl daran lag, dass diese sich langsam daran gewöhnt hatten. „Strafe muss sein.“, lachte Ronald. „Gott, ist das kalt…“, keuchte Lily und sie fühlte sich, als hätte sie gerade in Eis gebadet. „Mr. Knox reicht völlig.“ Lily verdrehte die Augen und schlang die Arme um ihren Körper. „Wenn Sie sich aufwärmen wollen, gehen Sie ins warme Becken.“ „Wieso das?!“ Lily zitterte. „Weil wir jetzt zur nächsten Übung kommen. Es hat ja wunderbar geklappt mit den Füßen. Jetzt kommt der Rest.“ „Aber…“ „Kein aber!“, unterbrach er sie mit ernster Miene, „Sie werden jetzt mit mir zusammen in das warme Becken gehen.“ „Oh nein!“, erwiderte sie ängstlich. „Oh doch! Und wenn ich Sie darein tragen muss. Das schaffen wir heute noch!“ „Das machen Sie nicht!“ Ronald verdrehte übertrieben die Augen. „Stellen Sie sich nicht so an. Ich fresse Sie schon nicht oder werde Sie in dem Becken ertränken.“ Missmutig verzog Lily das Gesicht. Sie wollte nicht in das Becken. Ihr Mentor kam näher an sie heran und auf einmal war sie wieder über seiner Schulter, so wie am Abend zuvor. Diesmal wehrte sie sich mehr. Sie strampelte mit den Füßen und klammerte sich an Ronalds Schulter fest. Ihre Nägel gruben sich in seine Haut. Sie flehte und bettelte. „Miss McNeil, das tut weh“, sagte er, hielt sie jedoch weiterhin über seiner Schulter fest, „Sie brauchen keine Angst haben. Ich setzte Sie jetzt ab.“ Vorsichtig ließ er sie von seiner Schulter gleiten und setzte sie auf die Fliesen, doch Lily hielt sich weiterhin an ihn fest und umschlang seinen Nacken. Sie zog ihn zu sich herunter, so dass er nun über ihr gebeugt stand und Mühe hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Verschmitzt grinste er. Lily hatte keine Ahnung, wie nahe sie dem Wasser war. „Sie müssen mich auch schon wieder los lassen, Miss McNeil“, grinste Ronald und versuchte vorsichtig, aber bestimmt ihre Arme aus seinem Nacken zu lösen. „Ich wusste ja nicht, dass Sie mich so sehr mögen. Sie hätten sich dann auch gestern Abend so an mich klammern können.“ Ihre Befürchtungen, dass er sie ins Wasser schmeißen könnte, waren nach diesen Worten wie weggeblasen. Sofort ließ Lily Ronald los und wich zurück, nicht wissend, dass hinter ihr das Wasserbecken war und so war das Kommende unausweichlich. Anstatt von Lily wegzurücken, umfasste er schnell ihre Hüfte mit beiden Armen. Das Nächste, was Lily spürte, war das warme Wasser, das in ihren Ohren rauschte. Schnell zog Ronald sie nach oben. Prustend holte sie Luft und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. „Alles ist gut!“, sagte Ronald sofort und zog sie eng an sich, während sich ihre Arme von alleine um seinen Körper legten, „Ich bin hier und es passiert nichts.“ Lily strampelte wild um sich und klammerte sich fest an ihren Mentor. Selbst ihre Beine umschlangen seine Hüfte, als wäre er ein Rettungsseil. „Ganz ruhig“, flüsterte er ihr ins Ohr und strich über ihren Rücken. Ihr ganzer Körper zitterte und Lily machte keinerlei Anstalten ihn los zu lassen. Ronald hielt Lily im Arm und ging zum Beckenrand. Das Wasserbecken war so tief, dass das Wasser bis zu seinem Bauch reichte und er bequem darin stehen konnte. „Alles ist gut“, flüsterte er ihr zu und strich Lily eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und ihre Brust hob und senkte sich schnell. „Sehen Sie mich an. Nur mich“, murmelte er und hielt sie fest, „Das Wasser tut Ihnen nichts.“ Seine Worte zeigten keinerlei Wirkung. Lily hielt sich weiterhin an ihn fest und atmete schnell. „Miss McNeil, reißen Sie sich zusammen. Sie sind im Wasser. Tiefer als Sie sich jemals zugetraut haben und alles ist gut. Sie können hier stehen.“ Langsam sah sich Lily um und schien zu realisieren, was Ronald gesagt hatte. Deutlich sah man die Angst aus ihrem Blick weichen, auch wenn ihre Atmung noch schnell und unregelmäßig war. „Ich…bin…im…Wasser…“, keuchte Lily und schien den Gedanken langsam zu begreifen. Ronald lächelte ihr aufmunternd zu und strich ihr übers Gesicht. „Ja, genau. Sie sind im Wasser und alles ist gut. Ich bin bei Ihnen.“ Ihre Arme lockerten sich um seinen Nacken, aber ließen ihn noch nicht ganz frei. Die Atmung wurde ruhiger und Lily schien sich beruhigt zu haben. Erleichterung zeigte sich auf ihrem Gesicht und die Angst wich. „Sie sind ja offenbar ganz versessen auf meinen Körper und meiner Nähe“, grinste Ronald frech, „Sie umschlingen mich ja wie eine Schlange.“ Lily merkte erst jetzt, dass sie ihren Mentor immer noch mit Armen und Beinen umschlungen hatte. Ihr Gesicht lief rot an und sofort ließ sie ihn los. „Tschuldigung!“, nuschelte sie und sah verlegen auf das Wasser. Ronald lachte amüsiert und grinste sie an, als gäbe es nichts lustigeres auf der Welt wie seine Schülerin, die ihn bis vor wenigen Sekunden noch fest umschlungen hatte. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Sie sind nicht die erste Frau, die mich so anziehend findet und sich mir an den Hals wirft!“ Verschwörerisch grinste Ronald Knox sie an und zwinkerte. „Als ob!“, sagte sie und verschränkte die Arme. Das Gesicht war noch immer gerötet und verlegen. „Bilden Sie sich bloß nichts darauf ein!“ „Tu ich aber!“, erwiderte er selbstsicher, „Immerhin sind Sie im Wasser und haben keine Angst! Gibt es einen besseren Lehrer als mich?!“ Bei diesen Worten musste nun auch Lily lachen. „Stimmt. Ich hab keine Angst. Sie sind ein toller Lehrer.“ Ronald grinste zufrieden mit sich. „Das Leben ist ein ewiges Lernen und Lehren. Aber ich schlage vor, wir machen nächste Woche weiter. Für heute haben wir viel geschafft. Jetzt können Sie auch das Gemeinschaftsbad nutzen und nächste Woche gehen wir dann an den richtigen Schwimmunterricht.“ Lily nickte und ging aus dem Becken heraus. Ein Hochgefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Sie war stolz auf sich und froh, endlich ihre Angst überwunden zu haben, wenn auch ein kleiner Unfall dazu nötig gewesen war. Zusammen mit Ronald räumte sie Sachen zusammen, dann gingen sie nach oben. Die Eimer und Hocker waren schnell in dem Geräteraum verstaut. Sie nahmen ihre Handtücher und gingen zu den Umkleidekabinen. Ronald lief zwischen dem Schwimmbecken und Lily, nur für alle Fälle. „Was machen Sie jetzt nach Feierabend?“, fragte Ronald. Nachdenklich zog Lily die Schultern hoch. „Wahrscheinlich Schularbeiten.“ Erstaunt sah er sie an. „Jetzt noch Schularbeiten?“ „Ja, wieso nicht?“ „Nehmen Sie die Ausbildung nicht zu ernst. Entspannen Sie sich auch mal.“ „Was machen Sie denn nach Feierabend?“, fragte Lily neugierig. „Ich werde gleich in die Stadt fahren, in meinen Lieblingsclub gehen und Party feiern!“ „Party feiern?“ Skeptisch hob Lily eine Augenbraue. „Ja, ich kann da richtig gut entspannen. Wieso kommen Sie nicht mit? Ihr Freund kann auch mitkommen.“ „Oh…ich weiß nicht. Ich war noch nie in einem Club.“ „Dann wird es Zeit.“ „Aber wäre das nicht zu viel? Ich meine, Sie sind mein Lehrer…wir sollten distanziert bleiben.“ „Das bleiben wir doch auch. Ich zeige meiner Schülerin, wie man sich entspannen kann.“ Verschwörerisch grinste er sie an. Noch ehe Lily antworten konnte, schlitterte sie auf dem nassen Boden entlang und verlor den Halt. Instinktiv griff sie nach dem Arm ihres Mentors, der sie sofort schützend an sich zog. „Entschuldigung“, nuschelte Lily mit hochrotem Kopf. „Kein Problem“, grinste er zurück und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Kommen Sie also heute Abend mit?“ Ein Räuspern unterbrach die beiden. Sofort ließ Ronald sie los und trat einen Schritt zurück. „Mr. Spears, was machen Sie hier?“, fragte er überrascht und sah seinen Vorgesetzten in die kalten Augen, während Lily verlegen zu Boden sah. „Mr. Knox, ich muss mit Ihnen reden“, sagte William T. Spears emotionslos. „Ziehen Sie sich um und kommen in Büro. Es ist äußerst wichtig.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Spears wieder die Halle, warf den beiden jedoch noch einen kurzen missbilligenden Blick zu. „Das klingt nicht so gut. Ich sollte mich beeilen“, sagte Ronald und klopfte seiner Schülerin zum Abschied auf die Schulter. „Wir sehen uns später!“ Lily nickte und ging in die Frauenumkleide. Sie zog die nasse Kleidung aus und ging unter die Dusche. Viel Zeit ließ sie sich nicht, denn Lily wollte unbedingt mit Ronald reden. Sie wollte wissen, was Spears von ihm wollte. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit und Lily glaubte, dass es etwas mit dem Morgen zu tun hatte. Schnell trocknete sie sich ab und zog ihre Uniform an. Ihre Gedanken kreisten. Das Gefühl, dass etwas passieren würde, wurde immer größer. Lily ging mit schnellen Schritten aus der Schwimmhalle und den Weg zum Wohngebäude entlang. Eigentlich wollte ihr Körper sich nur noch hinlegen und nichts mehr tun, doch es war ihr egal, was ihr Körper wollte. Sie wollte ihre Neugierde stillen. Ihr Magen knurrte und sie war froh, noch eine Packung Kekse eingepackt zu haben. Lily griff in die Schachtel und nahm einen Keks heraus, der mit wenigen Bissen in ihrem Magen landete. „Warum so eilig?“, fragte eine männliche Stimme und sorgte dafür, dass sie stehen blieb. „Verfolgen Sie mich oder warum begegnen wir uns so oft?“, gab Lily zurück. Auf einer Bank saß der Shinigami mit dem Namen Undertaker. „Verfolgen ist so ein unschönes Wort.“, kicherte er und stand auf. Undertaker kam direkt auf sie zu. „Wie würden Sie es denn dann bezeichnen?“, fragte sie skeptisch. „Meine Wenigkeit hat es nicht nötig, jemanden zu verfolgen. Meine Informationen bekomme ich ohnehin immer.“ „Was genau meinen Sie?“ Der Mann wurde ihr von Sekunde zu Sekunde merkwürdiger. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, ihn zu kennen und eine Verbindung zu ihm zu haben. „Sachte! Sachte! Wenn du Informationen von mir haben willst, kostet das etwas.“ Undertaker grinste breiter. „Sie wollen Geld?“ „Die Münzen dieser Welt interessieren mich nicht!“ „Was wollen Sie dann?“ „Das, was ich von dir will, kannst du mir noch nicht geben. Aber die Zeit wird kommen, da zahlst du mir deinen Dank zurück.“ Verwirrt legte sie den Kopf schief und sah ihn fragend an. Was genau meinte er? Lily verstand kein Wort. Amüsiert lachte Undertaker und hob eine Hand zu ihrem Gesicht. Seine langen schwarzen Nägel machten ihr ein wenig Angst. Er berührte kurz ihren Mundwinkel mit dem Finger ohne sie mit den Nägeln zu kratzen. „Kekskrümel im Gesicht stehen dir nicht, aber Keksen konntest du noch nie widerstehen.“, erklärte er und kicherte über ihren fragenden und überraschten Blick. Lily wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Dieser Mann wusste Dinge, die er nicht wissen konnte. Wer war er? Undertaker griff nach ihrem Handgelenk und hielt es eisern fest. Er beugte sich zu ihrem Ohr und Lilys Herz pochte laut und schnell. „Deine Gedanken werden nicht mehr verstreut sein.“, flüsterte er und ließ sie abrupt los. „Was zum Henker soll das?“, fragte Lily aufgebracht. Anstatt ihr zu antworten, wandte er sich wie vorhin schon von ihr ab und ließ sie stehen. Diesmal hob er lediglich zum Abschied die Hand und winkte, drehte sich aber nicht um. Dieser Mann war unheimlich und unsympathisch entschied Lily. Sie drehte sich um und ging wieder zum Wohngebäude, doch anstatt wieder über ihren Mentor und Spears nachzudenken, dachte sie über die letzten Worte von Undertaker nach. Ihre Gedanken würden nicht mehr verstreut sein. Was sollte das bedeuten? Als ob ihre Gedanken verstreut waren! Seufzend strich sich Lily die Haare hinters Ohr und schloss ihre Zimmertür auf. Ihr Mentor stand im Wohnzimmer und packte seine Tasche. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Seine Haltung war angespannt, sein Rücken und seine Schultern gerade. Sofort merkte Lily, dass etwas nicht stimmte. „Mr. Knox?“, fragte sie vorsichtig und trat in das Zimmer ein, „Ist alles in Ordnung?“ Er gab keine Antwort von sich und schloss die große Tasche. Das Geräusch des Reißverschlusses erschien in der Stille unendlich laut. „Mr. Knox?“, fragte Lily erneut und vorsichtig. Sie machte einen Schritt auf ihren Mentor zu. Er gab noch immer keine Antwort und langsam beschlich sie die Angst. Hatte sie etwas falsch gemacht? Oder gar etwas Falsches gesagt? War das Gespräch mit William T. Spears so schlecht gelaufen? „Bitte sagen Sie mir, was los ist, Mr. Knox“, bat sie, doch ihr Mentor drehte sich nicht um. Ronald hatte ihr noch immer den Rücken zugewandt und zog seinen knielangen, schwarzen Mantel an. Langsam knöpfte er ihn zu und schloss die Gürtelschnalle um seine Taille. Dann nahm er seinen schwarzen Hut, setzte ihn auf und nahm seinen Koffer. Lilys Herz pochte. Sie verstand nicht, was vor sich ging. Nach endlosen Minuten drehte sich ihr Mentor um, würdigte sie aber keines Blickes. Seinen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Zielstrebig ging auf die Tür zu und öffnete sie, hielt jedoch kurz inne. Lily wagte nicht sich umzudrehen. Sie hatte ein schreckliches Gefühl in der Brust. „Miss McNeil“, sagte er und seine Hand verkrampfte sich um den Griff seiner Tasche. Seine Stimme klang kühl und sachlich, ganz anders als sonst. „Morgen früh um neun Uhr melden Sie sich im Büro von Mr. Grelle Sutcliffe. Es befindet sich auf derselben Etage wie meines, Zimmernummer 2031.“ „Aber wieso?“, fragte sie. Ihr Gefühl hatte sie nicht im Stich gelassen. Etwas war passiert. „Er wird ab jetzt Ihr Mentor sein“, antwortete Ronald Knox emotionslos und im nächsten Moment schloss sich die Türe hinter ihm. Lily zuckte zusammen, als die Tür ins Schloss fiel. Sie hatte sich nicht umgedreht. Ihre Knie zitterten und sie sank zu Boden. Was war nur passiert? Ihr Blick war auf eine Ecke des Zimmers gerichtet, doch Lily sah sie nicht wirklich an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr langsam über die Wange liefen. „Wieso…?“, flüsterte sie die ganze Zeit, ihre Gedanken kreisten und suchten nach einer Erklärung. Die letzten Worte von Ronald Knox hingen in ihrem Kopf. Er wird ab jetzt Ihr Mentor sein. Kapitel 10: Verraten -------------------- Wie ein Vorhang hingen die grau-schwarzen Regenwolken über einem kleinen Dorf nahe der Stadt London und verdunkelten den Tag. Die Bäume ächzten und krümmten sich unter der Kraft des Windes. Jede Pflanze schien sich vor dem bevorstehenden Sturm zu ducken. Kein Tier war weit und breit zu sehen. Deutlich konnten diese den bevorstehenden Sturm wahrnehmen. Auch die weniger feinfühligen Menschen trauten sich nicht mehr aus ihren kleinen Hütten. Sie versteckten sich lieber in der Nähe des wärmenden Kamins. Vereinzelt konnte man noch jemanden sehen, der versuchte, die Fensterläden zu schließen, an denen der Wind rüttelte. Eine rundliche Frau nahm noch schnell die Wäsche von der Leine, ehe diese davongetragen werden konnte. Aus dem dunklen Himmel fielen leise und unbemerkt einzelne Regentropfen, die sich schnell vermehrten und zu einem kräftigen Schauer wurden. Ein Blitz erhellte den nachtdunklen Himmel und ein Donnergrollen ließ nicht lange auf sich warten, gefolgt von weiteren Blitzen. Am Rande des nahegelegenen Waldes wurde der Umriss einer Person im kurzen Licht des Blitzschlags sichtbar. Reglos stand sie dort mit verschränkten Armen. Aus dem Wald kam das Geräusch knackender Äste und Zweige aus dem Unterholz. Die Person wandte den Kopf und sah jemanden auf sich zukommen. „Wieso müssen Menschen nur bei so einem miesen Wetter sterben?“, schimpfte die zweite Person und schob sich einen tief hängenden Ast aus dem Weg, während sie gleichzeitig über einen Baumstamm kletterte. Im weichen und durchnässten Boden gab es jedes Mal ein schmatzendes Geräusch, wenn sie weiter ging. „Schimpf nicht, Alyssa“, gab die erste Person zurück und sah wieder zu dem kleinen Dorf, „Das ist unsere Arbeit.“ Ein weiterer Blitz erhellte den Himmel, gefolgt von dem tiefen Grollen des Donners. Die zweite Person, die Alyssa hieß, rollte mit den Augen und seufzte genervt auf. „Das weiß ich selbst“, brummte sie und sah ihren Kollegen an. Er trug einen langen dunklen Mantel, der bereits durchnässt war. Seine langen weißen Haare klebten feucht an seiner Kleidung und in seinem Gesicht. Wassertropfen liefen über seine Haut. Die Brillengläser waren übersät von Tropfen und in seiner Hand hielt er eine weiße Sense. Zum Ende hin bildete sie die Wirbelsäule eines Menschen mit den Rippen, Halswirbeln und einem Schädel, der einen zweifachen Dornenkranz trug. Aus dem Hinterkopf ragte die breite Klinge heraus. „Sei vorsichtig, du kleiner Tollpatsch. Der Boden ist rutschig“, meinte er plötzlich, sah sie jedoch nicht an. Alyssa knurrte leise. „Hör auf mich Tollpatsch zu nennen, Undy!“ „Dann nenn mich nicht Undy“, erwiderte er und drehte sich zu ihr um. Er grinste breit. „Außerdem sage ich nur die Wahrheit. Du bist ein kleiner Chaot, Alyssa.“ Das Mädchen stieg über einen alten Baumstamm und rutschte auf dem nassen Boden aus. Ein überraschter Laut entfuhr ihr und ihre Beine glitten auseinander als würde sie einen Spagat machen wollen. Ihr Kollege fing sie gerade noch rechtzeitig auf, ehe sie im Schlamm gelandet wäre. „Da siehst du es. Du bist ein Tollpatsch.“ Alyssa streckte ihm die Zunge raus und richtete sich auf. Ihr Mantel war ähnlich dem ihres Kollegen und hatte sich durch den Sturm schnell mit Wasser aufgesaugt. Er war schwerer geworden. Ihre langen weißen Haare mit den zwei schwarzen Strähnen vorne hingen ihr kalt und nass im Gesicht. Unaufhörlich liefen ihr Wassertropfen übers Gesicht. Durch das viele Wasser konnte sie kaum etwas durch die Brille sehen. Genervt strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und drückte das Wasser daraus. „Man bin ich froh, wenn wir wieder im Warmen sind“, seufzte sie sehnsüchtig und spürte deutlich die kalte und nasse Kleidung auf der Haut. „Gib es zu, du willst doch nur wieder Kekse futtern.“ „Verdammt!“, kicherte sie, „Durchschaut!“ „Und du willst ein ernstzunehmender Shinigami sein“, seufzte ihr Kollege und schob seine Brille höher. Alyssa hob eine Augenbraue. „Als ob du es nicht auch willst. Bevor du mich kanntest, hast du nicht einmal gelacht. Im Gegenteil! Du hattest einen Stock im Arsch und Spaß war ein Fremdwort!“ „Der Beweis! Du tust mir nicht gut.“ Alyssa zuckte mit den Schultern. „Selbst schuld, wenn du dich in mich verliebst, Undy.“ „Alyssa, Undertaker nicht Undy! Wie soll ich dir das jemals beibringen?“ Ein breites Grinsen bildete sich auf ihrem Gesicht. Es erinnerte an das Gesicht einer Katze. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, griff Alyssa nach der Mappe in Undertakers Händen. „Also, wer ist es heute?“ „Ein junger Mann.“ Alyssa nickte und las sich die wichtigsten Daten durch. Das Papier auf der Mappe weichte durch den Regen schnell auf. Undertaker nahm sie wieder an sich und blätterte zur nächsten Seite. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf und ließ dann die Mappe verschwinden. „Sieht nach einer leichten Arbeit aus“, merkte Alyssa an. „Ja, er hat nicht viel geleistet und es sieht nicht danach aus, als würde er weltbewegende Veränderungen machen.“ Zustimmend nickte sie. „Ich frage mich, wieso die vom Personalbüro uns beide schicken. Das kann doch auch nur einer erledigen.“ Undertaker verschränkte die Finger und grinste sie frech an. „Wer weiß schon, was die sich denken. Aber vielleicht haben die mich auch mitgeschickt, nur damit du kleiner Tollpatsch die Arbeit richtig machst.“ „Du weißt, wie ich arbeite. Da ist mir noch nie ein Fehler passiert.“ Mit beleidigtem Blick schaute sie Undertaker an. Er erwiderte ihren Blick mit traurigen und sehnsüchtigen Augen. Auf seinen Lippen bildete sich ein bitteres Lächeln. „Was hast du denn auf einmal? Wieso siehst du mich so komisch an?“, fragte Alyssa, als sie seinen Blick bemerkte. „Nichts.“ Schnell sah er zurück zu dem Dorf. „Das glaub ich dir nicht. Du weißt etwas, was ich nicht weiß und ich will wissen, was es ist!“ „Sei nicht so neugierig. Sei einfach still und komm her!“ Undertaker nahm Alyssas Handgelenk und zog sie an seine Brust. Seine Wangen hatten sich leicht gerötet. Er strich ihr sanft, fast schon zärtlich die nassen Haare aus dem Gesicht und über die Wange. Der Duft der Vergänglichkeit umgab sie, aber auch der Geruch des Parfüms vom frühen Morgen. „Was hast du?“, fragte Alyssa misstrauisch, „Sonst machst du das nie während der Arbeitszeit.“ Sie studierte Undertakers Gesicht, ehe sie sanft Lächelte und über seine Wangen strich, während er ihr nur unentwegt in die Augen sah und darin zu versinken schien. Er lächelte zurück und näherte sich ihrer Nasenspitze, während von seiner ein Wassertropfen hinunter lief. Sie standen Stirn an Stirn einfach so mitten im Regen und Gewitter am Rand des Waldes und sahen sich in die Augen. Undertaker legte den Kopf ein wenig schief und legte seine Lippen auf ihre. Es war ein scheuer, sanfter Kuss, so wie der, den er ihr als allererstes gegeben hatte. Kurz berührten sich die Lippen, lösten sich kurz voneinander und suchten erneut die Nähe des anderen. Alyssa erwiderte diesen Kuss nur zu gerne, denn Undertaker war es gewesen, der ihr gezeigt hatte, was es bedeutete, innig zu lieben. So wie sie ihm gezeigt hatte, wie man lachen konnte und wie lecker doch Kekse waren. Sie genoss jede Berührung von ihm, doch dieser Kuss kam ihr wie ein Abschied vor. Ein Abschied für immer. Nur ungern löste sie sich von ihm und ihr Gesicht war gerötet. „Wir sollten uns um das kümmern, wofür wir hier sind und danach schnell ins Trockene verschwinden. Ich hab sogar noch Kekse da!“ Undertaker nickte ein wenig betrübt, strich ihr eine schwarze Strähne aus dem Gesicht und straffte dann seine Schultern. Alyssa sah ihren Freund und Kollegen nachdenklich an, sagte aber nichts. Ein Blick zur Straße sagte ihr, dass die Zeit gekommen war, in Aktion zu treten. Sie trat aus dem Wald heraus und ging auf die am Boden liegende Person zu. Ohne den Schutz der Bäume und der Blätter schien das Unwetter sogar noch um einiges schlimmer zu sein. Blut bedeckte den Boden und in der Lache lag ein junger Mann. Sein Gesicht war in eine Pfütze gesunken, während aus dem Loch in seinem Kopf immer weiter Blut rann. „Wie kann man nur so dumm sein und sich den Kopf an einem Stein aufschlagen und dann in einer Pfütze ertrinken?!“ „Sagt gerade die richtige Person. Das klingt nach dir, Alyssa.“ „Gar nicht wahr!“, gab sie empört zurück und beschwor ihre Death Scythe. Es war eine schlichte und einfache Sense, die genauso lang war wie sie groß war. Die Klinge war lang und scharf. Sie hob die Waffe an und machte einen sauberen Schnitt durch die Cinematic Records, die sich aus dem Körper des Mannes in die Luft streckten und dort verträumt tanzten. Die Seele des Mannes hatte sich schon von alleine aus dem Körper gelöst. Sie musste sie nur noch einsammeln. Alyssa rümpfte mit einem mal die Nase. Es roch gar nicht gut. Der Geruch erinnerte an faule Eier, verbranntem Fleisch und Rauch. Sofort richtete sich Alyssa auf und sah sich um. Ihre Haltung spannte sich an und mit beiden Händen umfasste sie ihre Sense. Ihre Augen suchten wachsam die Umgebung ab und warfen einen Blick zu Undertaker, der in der Mappe blätterte und noch immer am Rand des Waldes stand. Er schien nichts zu spüren. Sie straffte die Schultern und richtete sich auf. Alyssa streckte ihre linke Hand aus und ein Licht breitete sich in ihrer Handfläche aus. Es wurde größer und bildete mehrere Kreise um den Menschen und sie. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment ertönte ein lautes Kreischen. Alyssa drehte sich schnell herum. Ihr Mantel schlug ihr unangenehm gegen die Beine. Sie umfasste ihre Sense fester. Nur wenige Meter von ihr entfernt öffnete sich der Boden und heraus kamen kleine Wesen. Sie hatten die Größe von Kleinkindern. Ihre Haut war rötlich und die blauen Adern waren unter der Haut deutlich sichtbar, als wäre sie nur dünnes Pergament. Der Kopf war viel zu groß für den kleinen, abgemagerten Körper. Anstatt Hände hatten diese Wesen lange scharfe Klingen. Sie stürmten mit einem lauten Kreischen auf sie zu. „Ungetaufte Kinder…“, murmelte Alyssa, verlor aber keine Zeit und schwang die Sense über ihren Kopf auf die Wesen nieder. Sofort lösten sich die ersten auf und die Seelen wurden in ihre Sense gezogen. Sie drehte sich herum und stieß ihre Waffe auf die nächsten nieder. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass sich der Boden weiter geöffnet hatte und weitere Wesen heraus kamen. „Auch noch die Grey Child!“, stieß sie hervor und sprang nach oben, nur um den Griff ihrer Sense zu verlängern und mehrfach auf ihre Gegner einzustoßen. Geschickt landete sie auf dem matschigen Boden und sofort stürmten die restlichen ungetauften Kinder und die Grey Child auf sie zu. Beide Wesen hatten einen lauten hohen Ton, wenn sie kreischten, der ihr in den Ohren schmerzte. Im Gegensatz zu den ungetauften Kindern, sahen die Grey Child noch furchteinflößender aus. Ihre Hautfarbe war normal, doch übersät von blauen Adern. Die Finger waren lang, fein und spitz. Das Gesicht war bizarr verzogen. Es sah aus, als hätte es jemand zur Seite gezogen. Der Mund stand weit offen und reichte bis zur Brust. Ein Hals war nicht zu sehen. Es wirkte, als wäre der Kopf direkt mit dem Torso verwachsen. Ein lauter Schmerzensschrei entfuhr ihr. Wütend drehte sich Alyssa um und die Klinge ihrer Sense durchschnitt den Körper eines Grey Child. Mit einem lauten Schrei löste sich der Körper auf und ihre Sense nahm die Seele auf. Sie sank auf die Knie und berührte ihre schmerzende Wade, dort, wo das Wesen sie berührt hatte. Ihre Haut schmerzte und brannte. Der Stoff ihres Mantels hatte ein Loch und ihre Haute war versenkt. Das Wesen hatte versuchte sie zu verbrennen. Alyssa richtete sich auf und sah sich um. Es war nichts mehr zu sehen und der Körper des Mannes war noch sehr gut durch ihre Schutzkreise geschützt. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht und einige Wassertropfen. Ihr Blick glitt zum Waldrand. Undertaker war fort. „Wo…?“, weiter kam sie nicht, denn hinter ihr ertönte ein tiefes Stöhnen. Sofort fuhr sie herum und umklammerte ihre Death Scythe. Ihr Herz pochte lautstark und kalter Schweiß rann ihre Stirn hinunter. Ihr Körper zitterte und sie wagte nicht, die Augen zu öffnen. Zu groß war die Angst, dass nicht irgendwo ein Dämon auf sie lauerte. Lily zog die Beine an und die Decke höher. Was sie nicht sehen konnte, würde sie mit Sicherheit auch nicht sehen. Etwas strich ihr über die Hüfte und kitzelte sie. Lily zuckte zusammen und kicherte auf. Sie griff nach dem Handgelenk und merkte erst jetzt, dass jemand neben ihr lag. Sofort schlug sie die Augen auf und ihr Herz machte einen Aussetzer. Ihr erster Gedanke war, dass Ronald neben ihr lag, aber es war Nakatsu. Wieso lag er überhaupt neben ihr? Lily hatte keine wirkliche Erinnerung mehr an den gestrigen Abend. Sie ließ sein Handgelenk los, was sich als riesengroßer Fehler herausgestellt hatte. Sofort umschlang er sie und zog sie eng an sich. Seine Hände fuhren ihren Rücken entlang. „Nakatsu, was machst du da?“, fragte sie zittrig und hatte das Gefühl, in einem schrecklichen Déjà-vu gelandet zu sein. Erst gestern hatte ihr, nun ehemaliger, Mentor auch über den Rücken gestrichen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, wenn sie an ihn dachte. „Ich suche den Wecker“, brummte Nakatsu. „Den Wecker? An meinem Rücken?“ „Dein Wecker hat Angst im Dunkeln und ist Tierarzt. Deshalb muss ich ihn suchen.“ Seine Hand lag auf ihrem Po und kniff hinein. Lily zuckte zusammen und prustete los, doch Nakatsu schien es in seinem Schlaf wenig zu stören. Sie nahm seine Hand von ihrem Hintern und legte sie wieder auf ihren Rücken, doch sofort wanderte sie dahin zurück. Genervt seufzte Lily. Was für ein Morgen. „Lily, mach schnell das Fenster zu.“ „Hä?“ „Siehst du es nicht!? Es schneit rein!“ „Was redest du da?!“ „Lily, mach schnell das Fenster zu, sonst schneit es rein und die Fliesen frieren zu. Dann zieht dir Will das vom Gehalt ab.“ „Alter, werde mal wach! Wir haben Spätsommer!“ „Ja, ich weiß! Deshalb beeil dich!“ „Nakatsu, du spinnst.“ „Wo ist die Wurst?“ „Welche Wurst?“ „Na, die Große! Siehst du die nicht?! Die läuft doch da! Hey, Mettwurst-Klaus!“ Lily konnte ein Lachen nicht unterdrücken und prustete los. Sie befreite sich aus seiner Umarmung und rollte sich zur Seite. Das Gesicht tief ins Kissen gedrückt, lachte sie los. Nakatsu hatte wirklich einen tiefen Schlaf. Sie versuchte nicht allzu laut zu lachen, konnte es aber kaum unterdrücken. Die Luft ging ihr aus und Lily drehte sich um, schnappte nach Luft und lachte weiter. „Lily, ist alles ok?“, fragte eine verschlafene Stimme. Kurz hielt sie die Luft an und versuchte ruhig zu atmen, was mehr an eine Schnappatmung erinnerte. Sie sah in Nakatsus verschlafenes Gesicht und fing erneut an zu lachen. „Mettwurst-Klaus…“, stieß sie hervor und rollte sich mit dem Oberkörper aus dem Bett. Die Matratze bewegte sich und Nakatsu legte sich neben sie. „Was redest du da? Erzähl! Wieso lachst du?“ Anstatt zu antworten, kicherte sie weiter. Schmollend sah Nakatsu sie an und piekte sie in die Hüfte. „Erzähl!“ „Nein…nicht…ich kann nicht mehr…hör auf…“, brachte sie hervor. „Dann erzähl!“ „Ja, ja…aber nicht kitzeln!“ „Ach du bist kitzlig?“ „Ja, aber nicht…ich kann nicht mehr vor Lachen…“ „Menno!“ Lily atmete schnell ein und aus. Ihr Gesicht war vom Lachen gerötet. „Nicht dran denken…nicht dran denken…Stuhl! Es ist nichts Lustiges an einem Stuhl! Stuhl! Stuhl! Stuhl!“ Verwirrt sah Nakatsu sie an. „Jetzt erzähl schon!“ „Moment noch…“ „Wenigstens geht es dir besser als am Vorabend.“ Mit einem Schlag war Lily wieder ernst. „Was war gestern Abend?“ Überrascht sah Nakatsu sie an. „Das weißt du nicht mehr?!“ Lily schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß nur noch, wie Mr. Knox gegangen ist.“ Resignierend seufzte der junge Shinigami auf. „Als ich gestern vom Abendessen gekommen bin, hast du auf dem Boden gesessen und dir die Seele aus dem Leib geheult. Ich hab dich mit Ach und Krach ins Bett bekommen, wo du irgendwann eingeschlafen bist vor lauter Weinen und du hast mich gebeten, dich nicht alleine zu lassen.“ „Oh…“, brachte sie nur hervor und setzte sich im Bett auf. „Danke.“ „Lily, wenn du…“ „Schon gut“, unterbrach sie ihn. „Mir geht es gut. Wirklich. Wir sollten…aufstehen und uns anziehen, wenn wir noch was essen wollen.“ Lily wartete keine Antwort ab, sondern stand auf und verzog sich ins Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel zeigte deutliche Spuren der vergangenen Nacht. Dunkle Augenringe hatten sich gebildet und machten sie älter. Sie würde sie mit Make-up abdecken müssen. Schnell ging sie unter die Dusche und zog sich an. Danach wartete sie auf Nakatsu. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es höchste Zeit war, zu gehen, wenn sie noch etwas essen wollten. Auf dem Weg zur Mensa begegneten sie einigen Kollegen und Kolleginnen. Freundlich, als wäre gestern nichts Besonderes vorgefallen, begrüßte Lily diese. Doch als Nakatsu und sie vorbeigegangen waren, konnte sie hören, wie einige anfingen zu tuscheln. Es war schwer zu verstehen, was gesagt wurde. Sie redeten sehr leise miteinander, aber genug, um zu hören, dass alle wussten, dass Ronald Knox fort war. Lily ging weiter als würde sie nichts hören und ignorierte Nakatsus besorgten Blick. Natürlich fragte sie sich, woher es alle wussten und wie schnell die Neuigkeit an die Ohren der Anderen gekommen war. Wer hatte geredet? Wer hatte es allen erzählt? Ihre Hand ballte sich zur Faust. Sie wollte nicht daran denken, wie kühl Ronald Knox sie am Abend behandelt hatte und wie kalt seine Stimme gewesen war. Auch wollte sie nicht daran denken, dass er nicht mal ein Abschiedswort für sie übrig gehabt hatte, geschweige denn eine Erklärung. Lily fragte sich, ob er ihretwegen gegangen war. Hatte sie etwas Falsches gesagt oder getan? War sie so schlecht als Schülerin, dass er sie nicht unterrichten konnte? Doch wenn sie so schlecht war, wieso hatte er sich dann erst die Mühe, gemacht mit ihr schwimmen zu gehen? Er hätte es genauso gut Grelle Sutcliffe überlassen können. Aber vielleicht gab es für alles eine gute Erklärung und sie machte sich nur unnötige Sorgen? Die Stimmen um sie herum und die gehässigen Blicke sagten jedoch etwas anderes. „Mach dir keinen Kopf, Lily, das wird schon wieder“, unterbrach Nakatsu ihre Gedanken, „Ronald Knox ist ein Idiot, wenn er dich einfach so stehen lässt ohne irgendwas zu erklären und dann auch noch auf eiskalt macht.“ „Er ist kein Idiot!“, widersprach Lily, „Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis.“ „Missverständnis? Das glaubst du doch wohl selbst nicht?!“ Kritisch zog Nakatsu eine Augenbraue nach oben. „Ich versteh nicht, wie du ihn nach gestern noch in Schutz nehmen kannst. Der Typ ist einfach abgehauen und wenn ich mir die Blicke und das Tuscheln so ansehe, ist da eindeutig noch mehr.“ „Nakatsu“, seufzte Lily, „Lass uns jetzt bitte nicht streiten, ja? Ich hab dafür einfach nicht den Kopf. Mir ist es egal, was die anderen denken. Lass uns einfach nur schnell frühstücken und zur Arbeit gehen.“ Widerstrebend nickte er und betrat mit ihr zusammen die bereits überfüllte Mensa. Es war dort laut, voll und die Aussicht auf einen Platz schien gering. Schnell stellten sich die beiden Lehrlinge an der Essensausgabe an und ergatterten die letzten zwei belegten Brötchen und den letzten Pudding. „Setzen wir uns?“, fragte Nakatsu und spähte durch den Raum. „Wohin denn?“ „Bei Mr. Humphries und Mr. Slingby wieder?“ „Na gut.“ Gemeinsam gingen sie zu dem Platz, an dem sie die letzten Tage auch gesessen und gegessen hatten. „Guten Morgen“, grüßten Lily und Nakatsu wie aus einem Munde. „Morgen“, gab Eric zurück und blickte auf den Artikel. Auch Alan mied den Blick der beiden und sah gespannt über Erics Schulter auf die Zeitung. „Morgen“, war seine knappe Begrüßung. „Dürfen wir uns setzen?“, fragte Nakatsu. Eric sah nur kurz von seiner Zeitung auf. Sein Blick war kühl und abweisend. Er nickte kurz, während Alan gar kein Zeichen der Zustimmung von sich gab. Lily sah die beiden verwirrt an und setzte sich mit Nakatsu. Was war denn nun kaputt? Waren die beiden etwa mit dem falschen Fuß aufgestanden? Besorgt sah sie zu Nakatsu und an ihm vorbei durch die Mensa. Alle starten zu ihrem Tisch herüber und flüsterten leise miteinander. „Das ist ja nicht zum Aushalten!“, empörte sich Nakatsu mit lauter Stimme und stand auf. Lily zuckte kurz zusammen. Alle Augen der Mensa starrten ihn an. „Habt ihr nichts Besseres zu tun als zu tuscheln! Ja, Ronald Knox ist fort, aber das ist kein Grund uns anzuglotzen! Herr Gott noch mal! Wir wollen hier in Ruhe was essen!“ „Es ist nicht das Hauptproblem, dass Knox fort ist, Junge“, brummte Eric und trank einen Schluck Kaffee. Verwirrt sahen Nakatsu und Lily den Shinigami an. Beschämt ließ sich Nakatsu wieder auf seinen Sitz fallen. „Was ist dann das Problem?“, fragte Lily vorsichtig. „Es gibt Gerüchte“, antwortete Alan kühl, „Ziemlich böse Gerüchte.“ „Und was für welche?“, hakte sie nach und schauderte unter den kalten Blicken von Alan und Eric. Sie hatte sie bisher nur freundlich erlebt, doch diese Augen machten ihr Angst. Aber noch ehe einer der beiden antworten konnte, trat Carry an den Tisch und beugte sich mit einem süffisanten Lächeln zu Lily herunter. „Stell dich nicht dümmer als du bist. Jeder weiß, was du mit Ronald Knox getan hast. Jeder hier weiß, dass ihr miteinander geschlafen habt. Nun musste er die Konsequenz tragen und gehen! Für immer!“, sagte sie leise, aber ihre Stimme war deutlich zu hören und klang gefährlich. Sie war wie ein Löwe kurz vor dem tödlichen Sprung. „Nur deinetwegen werde ich ihn nie wieder sehen und glaube mir, ich werde dafür sorgen, dass du bezahlst“, flüsterte sie so leise, dass nur Lily es hören konnte. Lilys Herz pochte. Das konnte nicht wahr sein. Glaubten etwa alle, sie hätte mit Ronald Knox geschlafen? Wie kamen sie nur darauf? Wer hatte es verbreitet? Warum trauten es ihr alle zu? Sie hatte niemanden etwas getan! Wieso schenkten alle dem Glauben? Ihre Hände gruben sich in den Stoff ihres Rockes. Ihr Kopf schwirrte und Wortfetzen der Tuschelnden drangen an ihr Ohr, was sie doch alles mit ihrem Mentor angestellt hätte, wie billig und schlecht sie doch sei. „Glauben…glauben Sie das auch?“, fragte sie vorsichtig und wagte Alan und Eric anzusehen. Nur mit Mühe konnte sie sich zurück halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Diese Genugtuung wollte sie Carry nicht geben. „Natürlich glauben sie das auch, Schätzchen“, antwortete Carry stattdessen, „Alle glauben das.“ „Hey, sie hat nicht dich gefragt, sondern jemand anderes. Also verzieh dich!“, brauste Nakatsu auf und funkelte Carry mit wütenden Augen an. Er war von seinem Platz aufgesprungen. „Oh, da spielt sich aber jemand auf“, gab sie hochnäsig zurück. „Carry, verzieh dich. Das ist ein Gespräch unter uns“, mischte sich nun Alan ein und seine Stimme war genauso kalt und abweisend wie sein Blick. Schmollend verzog die Frau ihre Lippen. „Na gut. Aber nur weil du es bist, mein Süßer.“ Mit diesen Worten tippelte sie auf ihren hohen Schuhen davon. Alan rollte mit den Augen und sah wieder auf Lily. Nakatsu gab ein Knurren von sich und sah auf Alan und Eric herab. „Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie dem Unsinn glauben wollen, den die Trulla verbreitet!“ „Setz dich hin und beruhige dich“, erwiderte Eric gelassen und faltete seine Zeitung zusammen. „Beruhigen? Bei dem Mist, den die Alte hier abzieht! Und Sie sitzen hier einfach rum und trinken Kaffee!“ „Wir haben mit keinem Wort gesagt, dass wir dem Gehör schenken“, lenkte Alan mit kühler Stimme ein. Lily sah überrascht auf, denn mit dieser Aussage hätte sie nicht unbedingt gerechnet. „Sie glauben es nicht?“ „Es gibt immer drei Seiten einer Münze“, sagte Eric abweisend. „Was? Ich versteh kein Wort. Du, Lil?“ Verwirrt ließ sich Nakatsu auf seinen Platz sinken. „Es heißt, dass man nicht nur auf einen hören sollte. In diesem Fall sollte man nicht nur auf Carry hören, sondern auch auf Lily und Ronald.“, erklärte Alan und wandte sich Lily zu, „Also?“ „Es stimmt überhaupt nicht!“, sagte sie, „Ich habe niemals was mit Mr. Knox gehabt! Dieser Gedanke ist absurd! Ihr habt doch alle selbst gesehen, was sie gestern für eine Szene gemacht hat, als sie erfahren hat, dass Mr. Knox mich als Schülerin hat!“ „Genau!“, pflichtete Nakatsu ihr bei. Eric brummte nur. „Das ist kein Grund“, sagte Alan und musterte sie mit emotionslosen Augen, „Carry hätte auch eine Szene gemacht, wenn Sie nur eine Bekannte wären oder gar Schwester.“ „Was wollen Sie dann hören?!“, fragte sie aufgebracht, „Er ist mein Mentor. Nicht mehr und nicht weniger. Von mir aus kann er auch nackt durch die Society laufen und es wäre mir so was von egal! Er interessiert mich körperlich nicht im Geringsten! Obendrein hasse ich solche Typen, die jeden Tag eine andere abschleppen! Mit so jemanden würde ich nicht mal im Traum was anfangen!“ „Okay, okay…das mit dem nackt durch die Society laufen, stell ich mir jetzt einmal nicht vor“, sagte Alan und verzog das Gesicht. Eric konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Das nenn ich doch mal ein Argument. Gut gebrüllt Löwe.“ Auch Alan konnte sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen. „Okay, nach der Reaktion glaub ich dir wirklich, dass du nichts von ihm willst.“ Erleichtert atmete Lily auf und sah beide an, froh, dass wenigsten sie ihr Glauben schenkten. „Hey, McNeil!“, schallte es mit einem mal durch die Mensa und alle drehten sich in die Richtung, aus der der Ruf kam. Lily war kurz zusammengezuckt. „Hast du es so nötig, dass du dich schon an meinen Mentor ranmachen musst?! Bleib bei deinem! Ach, ich vergaß, der ist ja weg!“ „Kayden Bloom!“, sagte Eric bestimmt und laut genug, dass Kayden zusammenzuckte, „Auf ein Wort!“ Er stand vom Platz auf und ging direkt auf Kayden zu. Ohne groß etwas zu sagen, packte er ihn am Kragen seines Hemdes und zog ihn aus der Mensa. „Miss McNeil, bevor Sie zu Mr. Sutcliffe gehen, will ich Sie in meinem Büro sprechen. Seien Sie pünktlich“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter Lily und sie schrak auf. Schnell drehte sie sich um und sah in das Gesicht von William T. Spears, der sie kalt musterte. „Ja…natürlich“, sagte sie und schrumpfte unter dem Blick ihres Vorgesetzten zusammen. William schob seine Brille zurecht und verließ die Mensa. „Das klingt nicht gut“, meinte Alan und sah auf die Uhr, „Sie sollten besser gehen. Wir reden später weiter und dann können Sie uns alles erzählen.“ „Wenn ich nachher noch hier bin. Ich hab kein gutes Gefühl.“ „Ganz ruhig. William ist zwar streng, aber fair. Es wird schon schief gehen.“ „Danke. Ich geh dann besser. Wir sehen uns später.“ Lily stand auf und ging schnell aus der Mensa, um zum Büro von William T. Spears zu gehen. Es war fast eine ganze Stunde vergangen, die sie im Büro von ihrem Vorgesetzten verbracht hatte und in der sie versucht hatte, die Situation zu klären. Das Ende vom Lied war, dass sie nun auf die Entscheidung der obersten Shinigami warten musste, ob diese den Antrag auf eine Untersuchung auch bewilligten. Seufzend lehnte sich Lily an die Wand des Flures und atmete tief ein und aus. Immerhin durfte sie ihre Ausbildung weiter fortführen bis der Antrag bewilligt und die Untersuchung abgeschlossen sein würde. Mit den ganzen Gerüchten, die im Umlauf waren, würde es nicht leicht werden. Fast schon konnte sie ihre Mutter hören, wie sie sagte: „Das kommt nur daher, dass du an einem fremden Ort bist, Liebling. Das wird schon. Du musst dich einfach nur anstrengen, dann findest du schnell Freunde. Vielleicht lässt sich das Problem ja mit einem klärenden Gespräch ganz schnell aus der Welt schaffen.“ Ihre Mutter sagte immer solche Sachen und Lily hatte immer ihr Bestes getan, nicht zu zeigen, wie schwer es ihr fiel, diesem Rat zu folgen. Manchmal war ihre Mutter zu naiv und behandelte sie, als wäre sie ein kleines Kind, dessen Leben so einfach und unkompliziert war. Aber die Welt der Erwachsenen war kompliziert und dieser Rat half nicht. Man konnte sich nun mal nicht mit allen gut vertragen. Es blieb wohl nichts anderes übrig, als die Zähne zusammen zu beißen und das durchzustehen, bis sich alles geklärt haben würde. Lily schluckte noch einige Male hart, fuhr sich über die feuchten Augen und rieb sich die Brille am Jackett sauber, ehe sie sich auf den Weg zu Grelle machte. Sie starrte auf den Boden und dachte über die Worte von William T. Spears nach. Ihr Kopf schwirrte und eigentlich wollte Lily sich nur noch in ihrem Zimmer verstecken bis alles überstanden war. Aber ein Rückzieher wäre genauso wie ein Schuldeingeständnis und würde die Sache nicht besser machen. „Sieh mal einer an“, sagte eine leise, zufriedene Stimme vom anderen Ende des Flures her, „Wen haben wir denn da? Die kleine Hure.“ Lily hielt inne. Ihre Hand lag bereits auf dem Geländer der Treppe. Irgendetwas sagte ihr, dass sie weglaufen sollte, aber sie war nicht der Typ, der feige davonlief und sich versteckte. Fressen oder gefressen werden. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Langsam drehte sie sich um, als sie die klackernden Schritte auf dem Fußboden des Flures hörte und Carry auf sie zukam. Neben ihr lief ihre kleine Eskorte aus Klonen. Carry warf sich in Pose. Sie hatte eine Hand fest in die Hüfte gestemmt. Die langen, gepflegten Nägel sahen gefährlich aus, während sie Lily aus dichten und dunkel geschminkten Wimpern ansah. Innerlich musste Lily zugeben, dass Carry eines gut konnte und zwar in Pose zu stehen. Immerhin war die Frau größer als sie, hatte perfekte Haut und ein Gesicht wie ein Model. Ihr Körper bestand aus Kurven, keine Ecken oder Kanten. Dennoch wusste sie, dass hinter der braven Mädchen-Fassade und den sexy Posen ein gefährlicher Charakter lag. Carrys Augen leuchteten vor Freude bei dem Gedanken, Lily noch ein wenig weiter zu piesacken und sie alleine erwischt zu haben. „Solltest du nicht lieber warten, bis zu du deine ersten Tage bekommen hast, ehe du dich durch die Society schläfst?“, fragte Carry mit einem geringschätzigen Unterton. „Vielleicht sucht sie sich gerade den nächsten Freier“, setzte ein Mädchen ganz links außen hinzu und lachte. Die anderen lachten mit ihr. Lily hätte schwören können, ein schadenfrohes Leuchten in Carrys Augen zu sehen, weil sie es geschafft hatten, dass sie sich so elendig und verletzt fühlte. „Shinigamihure!“ „Ich kann kaum glauben, dass mein Ronilein auch zu ihren Freiern zähl!“ Carry jammerte gespielt auf. „Ich würde es mit der nicht mal auf dem dreckigsten Männerklo treiben, geschweige denn in einem Bett!“ Carry wandte sich ihrer Freundin zu und gab ihr einen kleinen Stoß. „Du weißt aber ganz schön viel über das Männerklo! Hattest du dort nicht was mit dem Vertreter der Buchhaltung bei der letzten Weihnachtsfeier?“ Alle lachten wieder, auch wenn die angesprochene Freundin ein unbehagliches Gesicht machte. Ihren Ärger richtete sie natürlich gegen Lily. Sie trat auf sie zu und versetzte ihr einen Schubs näher zur Treppenstufe hin. „Nun geh schon den nächsten Shinigami vögeln! Du widerst mich an mit deinem blassen Gesicht!“ „Schon mal was von Sonne gehört?!“ Carry rollte mit den Augen. „Ich gebe dir einen Rat. Halte dich fern von mir und meiner Beute. Ronald Knox gehört mir.“ „Dem eigenen Ratschlag zu folgen, ist sicher der beste Rat“, gab Lily trocken zurück und schaute Carry unverwandt in die Augen, die ein abschätziges Geräusch von sich gab. „Ich kann nicht glauben, dass ich auch mal so naiv war.“ „Sicher“, erwiderte Lily und konnte nicht anders als sie herausfordernd an zu sehen. Ihr Herz pochte und das Adrenalin strömte durch ihre Adern. „Aber das war vor langer, langer, langer, langer Zeit.“ Carry kam mit schnellen Schritten auf sie zu und packte sie an den Haaren. „Pass bloß auf“, fuhr sie Lily an und zog fester an ihren Haaren, so dass ihr Kopf im Nacken lag, „Ich werde dafür sorgen, dass du untergehst. Ich werde dich vernichten.“ Lily biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz auf zu keuchen. So viel Genugtuung wollte sie dieser Carry und ihren Klonen nicht geben. Ohne groß darüber nachzudenken, ließ Lily ihre Hand vorschnellen und packte ihr Gegenüber an den kurzen Haaren. Carry stieß einen erschrockenen Schmerzensschrei aus und wich von Lily zurück. Ihr Blick war ungläubig, so als hätte es noch nie jemand gewagt, sich gegen sie zu stellen. „Du kleines Aas, wie kannst du es wagen?!“, schrie sie mit schriller Stimme, „Was denkst du, was wir noch mit dir machen, wenn du dich so aufführst!?“ Sie trat ganz dicht an Lily heran und schlug ihr so hart ins Gesicht, dass ihre langen Nägel tiefe Kratzer auf ihrer Wange hinterließen. Lily konnte spüren, wie das warme Blut über ihre Wange lief. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie kleine Sternchen und Fünkchen. Sie ließ das Geländer los und wischte sich das Blut mit dem Handrücken. Ohne große Vorwarnung schlug sie zurück. Es fühlte sich gut an, aber nur für einen kurzen Augenblick. Carry fauchte wie eine Katze, die sich die Pfoten verbrannt hatte und Lily wusste, dass diese Reaktion ein Fehler gewesen war. Sie kam auf sie zu und Lily stolperte nach hinten. Instinktiv griff sie nach dem Geländer und hielt sich fest. Carry packte sie am Handgelenk und grinste süffisant. Ihre Nägel gruben sich in ihre Haut und Lily ließ das Geländer vor Schmerz los. Mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen stieß Carry sie nach hinten und die Treppe hinunter. Sie versuchte noch einmal nach dem Geländer zu greifen, berührte es aber nur kurz mit den Fingerspitzen. Lily schlug auf jede einzelne Stufe auf bis sie unten ankam. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit bis sie auf den Boden aufschlug und zum Stehen kam, was dadurch geschah, dass ihr Kopf mit einem unschönen Geräusch gegen eine Wand knallte. Oben jubelten und johlten Carry und ihre Klone auf. Sie gaben sich gegenseitig ein High Five, aber das sah und hörte sie nur in kleinen unzusammenhängenden Ausschnitten, so als hätte ein Film eine Störung oder einen schlechten Schnitt gehabt. „Du wirst schon noch sehen, zu was ich alles fähig bin. Das war erst der Anfang, du kleine Hure!“, flüsterte Carry boshaft und dunkel. Lily keuchte vor Schmerz auf und versuchte sich aufzurichten. Ihre Gelenke schmerzten und ihre Sicht war verschwommen. Alles drehte sich und sie sank zu Boden, während sich die erlösende Ohnmacht über sie senkte. Kapitel 11: Regel Nr. 3: Wachsamkeit ------------------------------------ Es kam Lily wie Sekunden vor bis sie wieder zu sich kam. In ihrem Kopf hämmerte es und sie kniff die Augen fest zu. Alles war verschwommen. Sie spürte den kalten Boden unter sich und die Erinnerung kehrte langsam zurück. Carry hatte sie die Treppe hinuntergestoßen. Ein Stöhnen entfuhr ihr, als sie versuchte, sich zu bewegen. Langsam wagte sie, die Augen zu öffnen. Es dauerte einige Sekunden bis sich ihr Blick geklärt hatte. In ihren Ohren hörte Lily ein dumpfes Geräusch und es dauerte etwas bis sie merkte, dass es ihr eigener Herzschlag war. Langsam versuchte sie sich aufzurichten. Schmerz durchzuckte sie und sie sackte wieder zu Boden. Mühsam drehte Lily sich um und blickte zur weißen Decke. In ihrem Kopf dröhnte es noch immer. Sämtliche Glieder von ihr schmerzten. Vorsichtig drehte Lily den Kopf und merkte erst jetzt, dass jemand neben ihr kniete. Ihr Herz machte einen Sprung und erschrocken fuhr sie zurück, was sich als großer Fehler herausstellte. Sofort schmerzte ihr Kopf erneut und hämmerte. Lily hatte das Gefühl, als würde er gleich platzen. Doch es war nicht Carry oder jemand aus ihrer Klon-Mafia. „Mr. Knox?“, fragte sie ungläubig und ihr Herz pochte kräftig bei dem Gedanken, dass er sie so vorgefunden hatte. „Dich hat es ja ganz schön schwer getroffen.“ Die Stimme klang höher und nicht so, wie die ihres Mentors. Lily wagte auf zu sehen. Sie erkannte eine Gestalt. Es war Grelle Sutcliffe, der neben ihr kniete. Sein Gesicht war besorgt. Sein Gesicht war blass, angespannt und ängstlich. Lily versuchte zu lächeln, um ihn zu beruhigen, doch selbst ihre Gesichtsmuskeln schmerzten. Vorsichtig fuhr sie über die schmerzende Stelle an ihrem Kopf und konnte eine dicke Beule spüren. „Na immerhin lebt sie noch“, sagte eine zweite Stimme. „Wie fühlst du dich?“, fragte Grelle und seine langen roten Haarspitzen kitzelten ihr Gesicht. Eine warme Hand legte sich auf ihren Rücken und half ihr, sich aufzusetzen. „War hier nicht eben Ronald Knox?“ „Nein“, antwortete Grelle. „Ich bin mir aber sicher, dass ich blonde Haare gesehen habe.“ „Dann haben Sie wohl meine gesehen.“ Lily wandte den Kopf und erkannte Eric Slingby, der sie anlächelte. „Oh…“, brachte sie hervor und ihre Wangen fingen an zu glühen. „Entschuldigung…“ Wie konnte sie Eric nur für Ronald halten? Sie sahen sich nicht einmal ähnlich. Die einzige Gemeinsamkeit, die die beiden hatten, war das blonden Haar. „Sie vermissen ihn wohl sehr. Aber ich muss Sie enttäuschen, ich bin nicht Ronald. Wie geht es Ihnen?“ Er versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, aber Lily sah nur beschämt zu Boden. Kurz sah sie zur Treppe hinauf und wieder hinunter. Carry war nicht in Sicht. Auch sonst war niemand anderes als die beiden Männer zu sehen. Wie lange lag sie hier schon? „Es geht“, sagte sie, „Ich muss wohl gestolpert sein.“ „Gestolpert?“ Eric hob fragend seine Augenbraue. „Das hat nicht zufällig doch was mit Carry zu tun?“ Lily schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut. Ich bin okay. Ich brauche auch keinen Arzt oder so.“ „Dann erklären Sie mir doch mal, wie Sie sich diese drei Kratzer zugezogen haben, während Sie die Treppe runtergefallen sind“ Er berührte mit dem Finger die drei Schrammen. „Außerdem können Sie uns dann mal erklären, wieso Ihr Hemd soweit offen steht, dass der BH zu sehen ist und Ihr Rock so weit oben, dass man ganz leicht darunter gucken konnte. Obendrein hingen diese netten Bildchen hier am schwarzen Brett am Eingang der Society.“ Eric blickte kurz auf ihre Brust und sah dann auf den Boden. Er griff in die Innenseite seiner Jacke und zog ein paar Fotos hervor. Lily fiel erst bei seinen Worten auf, dass sie tatsächlich viel zu freizügig auf dem Flurboden saß. Ihr Gesicht lief rot an und sie zog schnell den Rock tiefer, sowie die offene Bluse zu, auch wenn es nichts mehr brachte. Nur flüchtig betrachtete sie die Bilder. Eines zeigte sie auf dem Boden liegend mit offener Bluse und weit nach oben geschobenem Rock. Das Nächste war eine Nahaufnahme ihrer Unterwäsche. Die anderen waren sich sehr ähnlich. Es zeigte sie in aufreizenden Posen. Sie konnte den beiden Shinigami nicht in die Augen sehen. Lily schämte sich zu sehr dafür, bei ihrer Lüge ertappt worden zu sein. „Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Wir wissen alle, wie Carry drauf ist“, sagte Grelle, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Sind das…sind das alle Fotos?“ Er nickte. „Wir haben keine mehr gefunden.“ Lily nickte. „Okay, danke.“ „Du solltest dich verarzten lassen. Geh lieber zur Krankenstation. Du siehst ziemlich beschissen aus.“ Langsam stand Lily auf. „Nein, es geht schon. Sind nur ein paar blaue Flecken.“ „Und eine Platzwunde und Kratzer“, fügte Eric hinzu. „Wenn du nicht in die Krankenstation willst, lass dich wenigstens in meinem Büro verarzten“, meinte Grelle und legte einen Arm um ihre Hüfte, um sie zu stützten. Carry hatte niemanden gerufen oder nachgeschaut, ob sich Lily nicht doch etwas gebrochen hatte. Es war ihr egal gewesen, ob sie noch am Leben war. Lily schmeckte ein wenig Blut auf ihren Lippen. Sie waren aufgeplatzt und bluteten. Angst breitete sich in ihrer Brust aus und mit einem Mal war sie froh, dass Eric und Grelle sie begleiteten. Die Vorstellung, dass Carry in den Fluren der Society auf sie lauerte und ihre Grausamkeit an ihr ausließ, machte ihr Angst. Am liebsten würde sie sich jetzt auf den Boden fallen lassen und sich die Seele aus dem Leib weinen. Wo war nur ihr Mentor? Wieso hatte er sie im Stich gelassen? Wusste er vielleicht sogar von den Gerüchten und war deshalb freiwillig gegangen? Hatte er sie mit Absicht alleine gelassen? Sie war auf sich gestellt und alleine. Niemand konnte ihr daraus helfen. Selbst, wenn die Untersuchung alles aufklären würde, die Gerüchte würden so schnell nicht abflauen. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Lily so gefürchtet wie jetzt. Es war Angst. Große, nackte Angst. Das, was sie in den Augen von Carry und ihrer Mode-Mafia gesehen hatte, war nicht nur die leere Drohung beliebter Frauen gewesen. Es war schlimmer. Lily war schon früher mal geschubst, gekniffen oder ausgelacht worden, aber diese P5 waren Raubtiere, die gewillt waren über Leichen zu gehen. Hart schluckte sie und wurde sich der Tatsache immer mehr bewusst, dass Carry sie sogar umbringen würde, um sich zu rächen. Zittrig ging sie die Treppe hinunter und stützte sich bei Grelles Schulter ab. Bei jedem Schritt durchzuckte sie ein starker Schmerz, der Lily daran erinnerte, dass sie sich gegen die P5 gewehrt hatte. Wenn ein Bluterguss auf Carrys perfektem Gesicht zurückgeblieben war, könnte sie schon jetzt ihr Testament machen. Es widerstrebte ihr, durch die Society zu gehen. Jeder Shinigami, den sie trafen, sah sie mit wissendem Blick an und tuschelte. Auf der anderen Seite machte es genauso wenig Sinn, stehen zu bleiben und sich auf dem Boden zusammenzurollen wie ein Baby. Also biss Lily die Zähne zusammen und ließ sich in Grelles Büro führen. Sie sprachen auf dem Weg dahin kein Wort, während sie durch die verwirrenden Flure gingen. Auch mied jeder den Blickkontakt untereinander. Lily strich sich gerade ein paar Haare aus dem Gesicht, als Grelle anhielt und eine Tür öffnete. Das Büro war nicht von Ronald Knox seinem zu unterscheiden. Es hatte sogar die exakt selbe Einrichtung. „Ihr habt sie gefunden!“, rief Alan, der erleichtert von einem Stuhl aufsprang und auf sie zukam. Er nahm Lily erleichtert in die Arme. „Sie sehen furchtbar aus!“ Lily wusste nicht, was sie sagen sollte. Hatten die drei die ganze Zeit nach ihr gesucht und dabei ihre Arbeit vernachlässigt? „Was machen Sie hier?“, fragte Lily verwirrt. „Nachdem wir die Fotos gesehen hatten, haben wir Sie gesucht. Was sonst?“, gab er ihr zur Antwort. „Aber meinetwegen sollten Sie nicht Ihre Arbeit vernachlässigen. Es reicht, wenn Mr. Knox wegen mir weg ist.“ „Reden Sie nicht so einen Unsinn!“, sagte Alan und lächelte aufmunternd, „Sie gehören zu unserem Team. Da ist es selbstverständlich, dass wir uns untereinander um uns kümmern.“ Lily nickte und sah verlegen zu Boden. Es erfüllte sie mit Freude, dass er sie bereits zum Team zählte. „Setz dich dahin“, befahl ihr Grelle und deutete mit seinem Zeigefinger auf einen Stuhl am Schreibtisch. Lily setzte sich und wartete darauf, was als Nächstes passieren würde. Der rothaarige Shinigami suchte in einem Schrank nach etwas. Nach mehreren Minuten zog er einen kleinen, weißen Kasten hervor. „Habt ihr alle Fotos gefunden?“, fragte Alan zu Eric sehend. Der Angesprochene nickte. „Ja, haben wir. Carry hat sicherlich noch Negative, aber ohne Beweise wird William nichts tun.“ Grelle suchte Pflaster und Desinfektionsmittel aus dem Kasten. „Das Veilchen sieht übel aus“, sagte er und betrachtete Lilys Gesicht. „Ich hab ein Veilchen?!“, stieß Lily hervor und sah die drei Shinigami entsetzt an. Alan nickte. „Sieht wirklich schlimm aus. Genauso wie die Platzwunde.“ Grelle beugte sich über sie. Er schob ihr ein paar Haare aus der Stirn. Grelle legte seinen Daumen und Zeigefinger an ihr Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie genau ins Deckenlicht sah. Ihr neuer Mentor näherte sich mit einem Tupfer der Wunde. Lily zuckte zurück. Ein Schmerzenslaut entwich ihren Lippen. „Wäre nett, wenn Sie ein bisschen vorsichtiger sein könnten.“ Kurz bewegten sich die Lippen von Grelle, als wisse er nicht, was er darauf erwidern sollte und setzte erneut mit dem Tupfer an der Wunde an. Der Geruch des Desinfektionsmittels stieg ihr unangenehm in die Nase. Lily biss sich auf die Zunge, denn die Stelle, die er gerade behandelte, schmerzte und brannte jedes Mal, wenn er sie berührte. „Wenn Sie noch härter tupfen, kommt Ihre Hand gleich auf der anderen Seite von meinem Kopf wieder raus.“ Grelle grummelte missmutig. „Ich bin kein Arzt!“ „Soll ich es mal versuchen, Grelle?“, fragte Alan und musste genauso grinsen wie Eric. Ohne ein Wort zu sagen, übergab Grelle Alan den Tupfer und das Desinfektionsmittel. Der Brünette beugte sich über Lily und lächelte aufmunternd. Vorsichtig näherte er sich der Wunde und reinigte sie. „Tut es sehr weh?“, fragte er, während er einen neuen Tupfer zur Hand nahm. „Nein, ich jubel vor Freude“, erwiderte sie sarkastisch und bewegte kurz den Kopf, während Alan etwas Desinfektionsmittel auf den Wattetupfer träufelte. Der Erste von Grelle war voll mit Blut. Angewidert wandte Lily die Augen davon ab und sah Alan an. Er war ein wirklich guter Freund. Sie konnte nicht anders, als ihn bewundernd anzusehen. Als er ihren Blick zu bemerken schien, sah er ihr kurz in die Augen und lächelte. Mit roten Wangen sah sie schnell zur Seite. „Hier“, sagte Eric plötzlich und reichte ihr einen kühlen Eisbeutel. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er den Raum verlassen hatte. „Für Ihr blaues Auge.“ „Danke“, sagte sie und nahm die Brille ab. Vorsichtig legte sie den Beutel auf das Veilchen, während Alan weiterhin die männliche Krankenschwester mimte. Er klebte ihr ein großes Wundheilpflaster auf die Stelle und widmete sich dann ihrer aufgeplatzten Lippe. Mit dem Finger strich er vorsichtig darüber und entfernte die Blutkruste, die sich gebildet hatte. Die warmen Finger auf ihrer Lippe und die sanfte Berührung von Alan ließen sie noch mehr erröten. Ein Schauer lief ihren Rücken hinab und sie musste den Blick abwenden. „Ich mach nur noch die Kratzer, dann sind Sie erlöst“, meinte Alan als vorsichtig ihren Kopf er drehte, um besser an die Wange zu kommen. Er schien ihren Schauer bemerkt zu haben und als Unruhe zu deuten. Lily legte den Eisbeutel kurz ab. „Wenn Ronald hier wäre, wäre das alles gar nicht“, sagte Eric plötzlich. „Ich frage mich, wie er nur gehen konnte. Das ist gar nicht seine Art.“ „Stimmt. Wenn er hier wäre, könnte die ganze Sache sofort geklärt werden.“ Hochkonzentriert sah Alan auf ihre Wange und desinfizierte die Kratzer. Grelle gab einen zustimmenden Laut von sich. „Lässt uns hier einfach so sitzen und das arme Mädchen darf es ausbaden! So etwas tut man nicht mit einer Lady.“ „Er ist aber weg“, gab Lily zurück. „Mr. Spears hat mir vorhin erzählt, dass er freiwillig gegangen ist. Es war also seine eigene Entscheidung und nicht die von Mr. Spears oder sonst wem. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sogar schon gestern Abend von alldem gewusst hatte und deshalb einen Rückzieher gemacht hat.“ Alan sah sie überrascht an und auch wenn sie nicht zu Grelle oder Eric sehen konnte, war sie sich sicher, dass auch diese überrascht waren. „Er ist freiwillig gegangen?“, fragte der Brünette und hielt in seiner Krankenschwestertätigkeit inne. Lily nickte. „Das ist er.“ „Dieser elende Windhund“, knurrte Eric. Alan klebte ihr ein Pflaster auf die Wange. „Fertig“, grinste er. „Nur das Veilchen kann ich nicht behandeln.“ „Danke. Es geht schon“, sagte Lily und sie setzte wieder ihre Brille auf. „Ich werde einfach ein bisschen Make-up auflegen und dann geht das schon.“ „Wenn du Make-up brauchst, guck in der Schublade nach. Als Frau sollte man immer auf ein gutes Erscheinungsbild bedacht sein“, klärte Grelle sie auf und deutete dabei auf eine Schublade im Schrank. Lily nickte, nahm sich einen kleinen Handspiegel daraus und das passende Make-up. Das Veilchen sah wirklich schlimm aus. Als hätte sie jemand brutal zusammengeschlagen. In gewisser Weise stimmte das ja auch. Sie machte sich daran, die blauen, violetten und grünen Farben abzudecken. „Wollen Sie sich vielleicht etwas ausruhen?“, fragte Eric und beobachtete, wie sie das Make-up auflegte. „Ich weiß nicht…“, antwortete sie und legte ein wenig Puder auf. „Spiel nur nicht die Starke“, sagte Grelle. „Es ist ok, nach so etwas eine Auszeit zu nehmen.“ „Und die Gerüchte? Sie werden doch dann schlimmer.“ Lily betrachtete das Ergebnis im Spiegel. Es sah gut aus und man konnte das Veilchen nur sehen, wenn man genau hinsah. „Mag sein. Aber es bringt nichts, wenn Sie sich durch den Tag quälen. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Ruhen Sie sich aus. Grelle wird das schon William erklären“, erwiderte Alan besorgt. „Seit wann sind Sie Arzt?“, fragte Lily neckisch und konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen. „Seit ich Sie eben behandelt habe“, gab er schmunzelnd zurück. „Die Rolle der Krankenschwester steht dir besser, Alan. Ich bin sicher, so ein Kittel und Häubchen steht dir gut“, kam es von Eric und Lily konnte nicht widerstehen, sich Alan wirklich in den Kleidern einer Krankenschwester vorzustellen. „Du wärst sicherlich eine süße Krankenschwester!“ „Eric!“, brachte Alan mit rotem Gesicht hervor, „Ich trag doch keine Frauenkleider!“ „Was war denn mit Ihrem letzten Auftrag vor zwei Jahren?“, fragte Grelle und grinste listig, „Da waren Sie doch als Dienstmädchen unterwegs und davor in einem Ballkleid.“ „Das ist doch was anderes!“, wehrte Alan ab und sein Gesicht gewann immer mehr an Farbe. Lily kicherte leise als sie sich Alan als Frau vorstellte, was ihr gar nicht so schwer fiel. „Aber du scheinst dich in den Kleidern wohl zu fühlen. Muss ich mir Sorgen um dich machen, Alan?“ „Ihr seid gemein! Ich trag das garantiert nicht gerne!“ „Es gibt Beweise für das Gegenteil!“ „Was?!“ Eric zog etwas aus seiner Hosentasche heraus und hielt ein Foto in die Höhe. Alan war darauf zu sehen, wie er in einer Dienstmädchenuniform in seinem Zimmer stand. Er wirkte ganz natürlich und schien sich nicht im Geringsten unwohl zu fühlen. „Wieso trägst du das mit dir rum?!“ Alan versuchte das Foto in die Finger zu bekommen, doch Eric zog es schnell fort. Er zuckte die Schultern und grinste verschwörerisch. „Nur so für den Fall.“ „So jemand will mein bester Freund sein.“ Alan verzog schmollend das Gesicht und wirkte nun mehr denn je wie eine Frau. „Ich bin doch keine Transe! Diese Kleider sind viel zu luftig an den Beinen und zu eng an der Hüfte. Wie Frauen so etwas tragen können, werde ich nie verstehen. Außerdem kann man darin nicht kämpfen. Man muss ständig aufpassen, dass der Rock nicht zu weit hoch rutscht.“ „An dir ist echt eine Frau verloren gegangen“, lachte Eric. „Ich bin keine Frau!“ „Du klingst aber so wie eine!“, kicherte Grelle. „Leugnen ist zwecklos, Alan. Ich hab sogar gesehen, wie du dich vor dem Spiegel begutachtet hast in den Kleidern, ob du auch ja gut aussiehst und ob alles gut sitzt.“ „Das habe ich doch nur getan, um zu gucken, ob mich auch niemand für einen Mann mehr halten würde!“ „Du hast dir sogar die Beine enthaart, mein Lieber“, erzählte Grelle. „Und seitdem machst du das immer“, machte Eric weiter. Alan zuckte bei den Worten zusammen und sah aus, als wolle er am liebsten im Boden versinken. „Als dann ein Fleck auf dem Ballkleid war, warst du total sauer“, erzählte der Blonde. „Es war aber auch verdammt teuer!“, versuchte Alan sich zu retten, „Ich musste es von meinem Gehalt kaufen und konnte es nicht mal als Unkosten absetzen.“ „Es hängt aber immer noch in deinem Kleiderschrank. Ebenso die Dienstmädchenuniform. Dafür, dass du Kleider angeblich nicht magst, hast du sie aber ganz schön lange aufgehoben.“ „Wer weiß, ob nicht doch mal wieder ein Einsatz kommt, wo man sich verkleiden muss. Dann muss man es nicht noch mal kaufen.“ „Alan, es hilft nichts. Da kommst du nicht mehr raus!“, flötete Grelle. Lily kicherte vor sich hin und hatte die Unterhaltung interessiert verfolgt. „Ich würde Sie ja gerne mal in einem Kleidchen sehen. Die Uniform stand Ihnen ja schon sehr gut. Sie können ja so mal zur Arbeit kommen.“ „Nicht Sie auch noch, Miss McNeil.“ Alan ließ sich auf einen Stuhl sinken und legte frustriert den Kopf auf die Tischplatte. „Ach Alan, hab dich nicht so. Was soll schon passieren, außer dass du wieder von den Kollegen angemacht wirst?!“ „Wirklich?“, fragte Lily lachend. „Das war schlimm genug“, brummte Alan, sah aber nicht auf, „Diese ganzen anzüglichen Sprüche waren einfach zu viel für mich. Deshalb kann ich mir auch gut vorstellen, wie Miss McNeil sich gerade fühlt.“ „Ich wusste es schon immer, du bist zart besaitet.“ Eric verdrehte die Augen. „Jetzt schmoll nicht wie eine beleidigte Leberwurst. Du bist keine Frau. Das sollte ich am besten wissen. Immerhin hab ich dich schon öfter im Gemeinschaftsbad nackt gesehen.“ „Dann hör auf, das zu sagen.“ „Dann benimm dich nicht wie eine.“ Lily lachte und merkte, wie ihr Kopf wieder anfing zu schmerzen. „Ich geh ein wenig spazieren und ruh mich wirklich ein wenig aus.“ Eric nickte und wurde wieder ernst. „Tun Sie das. Wir klären das schon mit William.“ Grelle stimmt dem zu. „Und nur keine Sorge, das kommt schon noch alles in Ordnung.“ „Bevor Sie gehen, warten Sie kurz.“ Alan stand auf und trat dicht an Lily heran. Er schob ihre Brille kurz nach oben und verwischte mit dem Finger ein wenig das Make-up an ihrem Auge. „Das war von der Farbe her ein wenig zu viel. Es hat mich schon vorhin gestört“, erklärte er und setzte ihr wieder die Brille vorsichtig auf die Nase. „Danke“, murmelte Lily und warf kurz einen verschwörerischen Blick zu Eric und Grelle, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnten. „Soll einer von uns Sie begleiten?“, fragte Alan und trat von ihr zurück. „Nein. Es ist ok. Danke.“ „Seien Sie nur wachsam. Carry ist unberechenbar“, warnte Eric und Lily nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Sie verließ Grelles Büro und ging aus der Society. Lily wusste genau, wohin sie wollte. Die Gartenanlage lag in der Mittagssonne und ein lauer Wind wehte durch die Äste der Bäume. Der heiße Sommer ging langsam in den Herbst über. Noch sah alles grün und belebt aus, aber einige Bäume begannen bereits ihre Blätter zu färben. Lily schlenderte durch die Anlage und betrachtete die Society, die hoch in den Himmel aufragte, sowie das Wohngebäude mit seinen vielen Etagen. Es war ruhig im Garten. Es wirkte wie ausgestorben, was daran lag, dass die meisten bei der Arbeit waren. Aber Ruhe war auch das, was sie im Moment am meisten wollte. Die besorgten Blicke ihrer Kollegen konnte sie nicht mehr ertragen. Genauso wie das Tuscheln, Flüstern und die unaufhörlichen Blicke, wenn sie durch die Flure ging. Es machte sie nervös. Sie wünschte sich ihren alten Mentor herbei und fragte sich, in welchem Teil der Welt er sich wohl gerade herumtrieb. Ronald hatte sie alleine gelassen. Er war freiwillig fort gegangen. Carry hatte gesagt, er sei für immer fort. Aber konnte Lily ihr in dieser Hinsicht trauen oder war das auch nur ein Gerücht? Lily fühlte sich verraten und im Stich gelassen von Ronald Knox. Dabei hatte sie große Sympathie für ihn entwickelt und hatte sich auch noch selbst die Schuld gegeben, dass er gehen musste. Aber nun wusste sie, er war nicht besser als Carry. Wahrscheinlich ließ er es sich gerade gutgehen und schleppte die nächste Frau ab, während sie hier alles ausbaden musste. Lily ließ sich auf einer der Bänke, die unter einem Baum standen, nieder und stützte den Kopf auf die Hände. Sie wollte nicht daran denken, was ihre Eltern zu der ganzen Sache sagen würden. Mit absoluter Sicherheit würden sie sofort hierher kommen, ihre Sachen packen und sie mit nach Hause schleifen. Obendrein würde ihr Vater Ronald eine verpassen, egal, ob es ein Missverständnis war oder nicht. Sie würde sich dann auch einem Gespräch stellen müssen, in dem es hieße, dass ihre Eltern es doch von Anfang an gewusst hätten, wie schlecht diese Arbeit ihr doch tun würde und dass es doch besser wäre, etwas anderes zu lernen. Lily mochte sich das Szenario gar nicht vorstellen. Immerhin waren ihre Eltern dagegen gewesen, dass sie ein Shinigami werden wollte. Sie hatten sich sogar lautstark gestritten und nur widerwillig hatten sie der Ausbildung zugestimmt. Vielleicht hatten ihre Eltern aber auch Recht und sie war wirklich nicht dafür geeignet. Vielleicht war es einfach besser, wenn sie die Ausbildung aufgab und das tat, was man von ihr, als älteste Tochter, erwartete: Ärztin werden, einen Mann finden, heiraten und Kinder kriegen. Was sollte sie tun? Zu Carry gehen und um Mitleid und Verzeihung betteln, wie ein räudiger Hund? Was für eine bescheuerte Idee! Wie erbärmlich war das denn? Carry würde sie im schlimmsten Fall für armselig halten, auslachen, für irre erklären und ihr weiterhin das Leben zur Hölle machen! Diesen Gedanken sollte sie so schnell es ging verdrängen und vergessen! So tief gesunken war sie nun auch nicht! Die Sonne schien auf ihren Rücken. Lily spürte die Müdigkeit in sich aufsteigen. Alles tat ihr weh und sie sollte eigentlich für ihre Ausbildung lernen. Auch warteten noch Schulaufgaben auf sie. Mit einem Mal war es einfach zu viel. Lily legte ihre Brille ab und hielt sie in den Händen, während sie wie ein kleines Kind zu schluchzen begann. Wenn Carry sie so sehen würde, würde sie garantiert einen abfälligen Spruch bringen. Der Gedanke daran, ließ sie erneut laut aufschluchzen. Die Vorstellung, nach Hause zu gehen, nach Hause zu ihren Eltern und ihrem Zimmer, erschien ihr mit einem Mal sehr verführerisch. Zu Hause hätte sie Ruhe, niemand würde über sie reden oder sie komisch von der Seite ansehen, sie hätte vor Carry Ruhe und bräuchte sich auch keine Gedanken mehr um Ronald Knox machen. „Hey“, sagte eine Frauenstimme und jemand berührte sie an der Schulter, „Alles in Ordnung?“ Lily schrie erschrocken auf und sprang von der Bank auf. Sie stolperte über das Bein der Sitzgelegenheit und fiel unsanft auf den Rasen. Die Frau streckte ihr die Hand entgegen und half ihr, wieder auf die Beine zu kommen, wobei diese selbst ein wenig erschrocken aussah. „Tut mir leid! Meine Güte, ich bin so ein Trampel! Bist du okay?“ Lily fiel auf, dass sie einen Akzent hatte. Die Frau gehörte nicht zu Carry oder irgendjemand anderes, den sie jemals in der Society gesehen hatte. Ihr Aussehen war recht locker und auch etwas männlich. Sie trug einen knappen Faltenrock, dazu eine braune Bluse mit roter Krawatte und darüber eine hellbraune Jacke. Ihre Haare waren leuchtend rot und reichten bis knapp über die Schulter. Die Augen waren, wie die jedes anderen Shinigami, grün-gelb und sie trug eine kleine feine Brille. Um ihrer Hüfte hingen ein Gürtel und dazu ein Schwert. „Ich heiße Hinoko Takano“, sagte das Mädchen und lächelte. Sie hatte eine liebe, lustige Art zu lächeln. Es war als würde man gemeinsam über einen Insider-Witz lachen. Doch ihr Lächeln erlosch, als sie die Pflaster auf Lilys Gesicht bemerkte und die anderen blauen Flecken an ihren Beinen. „Wow!“ Großer Gott! Wer hat dich denn geschlagen? Doch nicht dein Freund, oder?“ „Niemand“, erwiderte Lily schnell ohne groß darüber nachzudenken, „Ich hatte einen Unfall.“ „Ja“, stimmte Hinoko sanft zu, „Solche Art von Unfälle hatte ich auch oft, bin in Fäuste gefallen oder so. Bist du okay? Brauchst du einen Arzt? Ich kann dich hinbringen, wenn du willst, auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie diese Society hier aufgebaut ist.“ Hinoko machte eine Geste zur Society hin. „Nein“, sagte Lily ärgerlich und wischte sich mit den Handrücken über die Augen, „Ich hatte einfach nur einen miesen Tag, weißt du. Ich sollte vielleicht in mein Zimmer gehen…“ „In welcher Abteilung arbeitest du denn?“ „Ich bin noch in der Ausbildung.“ Hinoko setzte sich neben sie auf die Bank. „Wie ist die Ausbildung so?“ „Ganz gut bis jetzt. Aber seit heute naja…Egal, ich will nicht darüber reden. Wo kommst du her? Du hast einen merkwürdigen Akzent.“ „Aus Japan. Ich bin hierher versetzt worden.“ „Dann könntest du dich mit Nakatsu gut verstehen. Er ist zum Teil auch Japaner. Du lernst ihn sicherlich nachher beim Mittagessen kennen.“ Ein lautes Knurren unterbrach das Gespräch. „Das klingt danach, dass wir was essen gehen sollten.“ Hinoko rieb sich über ihren knurrenden Magen. „Würdest du mich begleiten?“ Lily nickte und setzte ihre Brille wieder auf. Es schien immerhin noch eine weitere Person in der Society zu geben, die zu ihr stand, was wohl daran lag, dass ihr die Gerüchte noch nicht zu Ohren gekommen waren. Gemeinsam schlenderten sie zur Society. Die Tür wurde geöffnet und heraus trat ein Shinigami, den Lily nur vom Sehen kannte. Sie wusste, er war ausgelernt und hing öfters mit Kayden ab. Letzteres war schon schlimm genug. Ihr Herzschlag beschleunigte sich innerhalb von Sekunden. „Oh, da kommt ja mein Nachtisch!“, sagte er und grinste anzüglich. Sein Blick wanderte über ihren Körper. Lily atmete tief ein und schenkte seinen Worten keinerlei Beachtung. Zusammen mit Hinoko ging sie stumm an ihm vorbei. „Hey, nicht so schnell!“, sagte er und griff nach ihrem Handgelenk. Er zog Lily zurück und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Seine freie Hand umschlang ihre Hüfte. „Das waren ja nette Bilder vorhin am schwarzen Brett. Dein Höschen gefällt mir. Zeigst du mir auch deine anderen?“ Er vergrub seine Nase an ihrem Hals und roch daran. Seine Gefühle drangen in ihren Kopf und sie nahm unverfälschte Aufregung war. Er strahlte nicht die geringste Zärtlichkeit aus, nur dunkle perverse Lust. Die Intensität erschreckte Lily. Seine Begierde war stark und ließ sie zittern. Ihr war klar, dass er um Selbstbeherrschung rang. Nur um sie zu reizen und zu sticheln, stellte er sich ein Bild vor, wie sie nackt auf allen Vieren vor ihm kniete und er von hinten in sie eindrang, dabei war ihr Kopf lustvoll in den Nacken geworfen, und schickte es ihr in den Kopf. Lily zischte, als diese Vorstellung ihre Gedanken erreichten. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. „Fuck, dich würde ich auch zu gerne mal flachlegen. Hast du noch Platz zwischendurch für mich?“ Hinoko starrte Lily verwirrt und schockiert an. „Wovon redet er da?“, fragte sie und sah zwischen Lily und dem Mann hin und her. Lily versuchte sich zu befreien. „Lass mich los!“, rief sie, doch er packte sie fester. „Hast du nicht gehört?!“, fuhr Hinoko dazwischen, „Du sollst sie los lassen!“ „Warum denn?“, fragte der Shinigami und seine Hand glitt höher, „Sie treibt es nun mal mit jedem.“ „Das ist nicht wahr!“, presste Lily zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Egal, ob wahr oder nicht“, knurrte Hinoko und griff zu ihrem Schwert an der Seite. Ihre Hand legte sich fest um den Griff und zog langsam die Klinge aus der Scheide. „Du lässt meine Freundin sofort los! Ich wiederhole mich kein zweites Mal!“ Lily spürte das kalte Metall an ihrer Wange, als Hinoko es dem Shinigami an den Hals hielt. „Das ziehst du doch eh nicht durch. Wie wäre es, wenn du das Ding weglegst, ehe noch jemand zu Schaden kommt und wir drei machen es uns in meinem Zimmer bequem?“ „Wollen wir wetten?“ Hinoko sah ihn kalt in die Augen und hielt die Waffe fest in der Hand. Der Mann schnaubte abfällig und stieß Lily angewidert von sich. „Als ob jemand mit dir ins Bett gehen würde. Da muss man ja Angst haben, sich eine Krankheit einzufangen.“ Er ging davon und Hinoko steckte ihr Schwert zurück in die Scheide. „Was war das?“, fragte sie mit aufgebrachtem Unterton. „Das erkläre ich dir am besten beim Essen“, sagte Lily und führte Hinoko in die Kantine. Es war noch nicht Mittagspause und die Mensa daher recht leer. Schnell besorgten sich die beiden Frauen etwas zu essen und Lily steuerte den „Stammtisch“ an. Während sie ihr Mittagessen verspreisten, klärte Lily Hinoko über die Gerüchte auf und wie alles seinen Lauf genommen hatte mit den Reparaturarbeiten und dem Morgen. Auch, dass ihr Mentor freiwillig fort gegangen sei und sie nun von seiner Exfreundin tyrannisiert wurde, erzählte sie. Hinoko lauschte ihren Worte und war erstaunt, wie schnell manche Leute auf solche Gerüchte schließen konnten. Die Mensa füllte sich immer mehr und bevor Hinoko noch weiter nachfragen konnte, setzten sich zwei Shinigami neben die Frauen. Lily stellte beide als Alan und Grelle vor, aber noch bevor Hinoko sich vorstellen konnte, gesellten sich Eric und Nakatsu dazu. „Man bin ich müde!“, stöhnte Eric und streckte sich, ehe er sich setzte. Er wirkte, als hätte er einen Marathon gelaufen. „Warst du gestern Nacht draußen und hattest Spaß?“, fragte Alan. „Nein. Ich musste arbeiten, wie du weißt.“ „Eric, als Mentor musst du diszipliniert sein.“ „Ich weiß.“ „Ansonsten bist du ein schlechtes Beispiel.“ „Ich sagte, ich weiß.“ „Sind die immer so?“, fragte Hinoko, während die beiden sich weiterhin zurechtwiesen. „Ja, irgendwie schon“, antwortete Nakatsu und rückte zu Lily auf. Er goss sich etwas von seinem gekauften Saft ein und grinste seine beste Freundin an. Das Lachen verging ihm jedoch schnell, als er die Pflaster in ihrem Gesicht bemerkte. Zum Glück hielt das Make-up, was das Veilchen an Lilys Auge verdeckte, so dass er das nicht bemerkte. „Was ist denn mit dir passiert, Lil?“, fragte Nakatsu erstaunt und die erwachsenen Shinigami hielten in ihrem Gespräch inne. „Es ist nichts weiter“, antwortete Lily und nahm einen Bissen vom Salat. „Das kannst du deinem Großvater erzählen.“ „Mein Großvater ist tot.“ „Dann eben meinem Großvater!“ Er rollte mit den Augen. „Nakatsu, bitte, ich möchte in Ruhe essen.“ „Ja klar, kannst du auch, aber erst, wenn du mir gesagt hast, wer das war!“ „Nakatsu!“, meinte Lily etwas lauter und eindringlicher. Sie sah ihn bittend an. „Nakatsu ist aber kein englischer Name“, mischte sich Hinoko ein. Der Angesprochene sah die Neue am Tisch überrascht an. „Ja, ja. Ich weiß, er ist merkwürdig. Aber mein Vater ist Japaner und deshalb ist mein Name auch japanisch.“ „Also mein Name ist Takano Hinoko“, stellte sich die Frau vor und benutzte dabei die japanische Vorstellungsweise. Überrascht sah Nakatsu Hinoko an und fing sofort an, sie auf Japanisch in ein Gespräch zu verwickeln, das der Rest des Tisches nicht verstand. Er schien Lilys Verletzungen vollkommen vergessen zu haben. Nachdem alle aufgegessen hatten und die Mensa immer voller wurde, erkundigte sich Grelle nach Lilys Befinden. „Ganz gut“, antwortete sie, „Aber ich werde mich jetzt hinlegen. Mein Kopf tut immer noch weh.“ Grelle nickte. „Ich werde dich begleiten. Man weiß ja nie.“ Nakatsu war immer noch im Gespräch mit Hinoko vertieft, als Lily mit Grelle zum Wohngebäude ging. Sicher in ihrem Zimmer angekommen, legte sich Lily sofort auf das Sofa und rollte sich in einer dünnen Decke zusammen. Ihr Kopf schmerzte tierisch, daher war sie froh, sich ausruhen zu dürfen. Lily dachte noch ein wenig über die Situation nach, ehe sie einschlief. Sie fragte sich, was Carry sich dadurch erhoffte, wenn sie sie angriff und ihr Schmerzen zufügte. Auch fragte sie sich, wo Ronald Knox gerade war und was er tat. Wusste er davon? Ihre Gedanken schweiften ab und irgendwann schlief sie ein. Erst am Abend wachte Lily wieder auf. Nakatsu war noch nicht da. Ein Blick zur Uhr verriet, dass er wohl noch bei seinem Mentor war und arbeitete. Lily entschloss sich, schnell unter die Dusche zu gehen, bevor er kam. Während sie unter dem warmen Wasser stand und gerade die Haare vom Shampoo befreite, hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde. „Bin wieder dahaaa!“, rief Nakatsu lautstark durch das Apartment. Lily beeilte sich schnell fertig zu werden, damit er duschen konnte. Als sie aus dem Bad kam und frische Kleidung trug, wurde sie sofort von Nakatsu misstrauisch gemustert. „Was hast du denn gemacht?“, fragte er besorgt und trat näher an sie heran. Vorsichtig nahm er ihr die Brille ab. Mit dem Zeigefinger fuhr er ihr über das Augenlid. „Jetzt nicht“, antwortete sie und entzog sich seinem Griff. Sie hatte das Veilchen total vergessen zu überschminken. Nakatsu hielt sie an der Schulter fest, ehe sie ins Schlafzimmer verschwinden konnte. „Natürlich jetzt!“, fuhr er sie an, „Lily, ich mach mir Sorgen um dich! Du hast ein Veilchen, Kratzer und ich will nicht mal wissen, wo du sonst noch grün und blau bist! Jetzt mach den Mund auf und rede! Du bist meine beste Freundin!“ „Ich bin auch so ziemlich die einzige weibliche Freundin, die du hast. Natürlich bin ich da deine beste Freundin. Das Argument zählt also nicht.“ „Lenk nicht vom Thema ab. Du weißt, wie ich es meine.“ Lily seufzte und erzählte ihm, wie sie die Treppe hinunter gefallen war. „Du bist die Treppe hinunter gefallen?“ Nakatsu hob skeptisch eine Augenbraue und fuhr sich durch die Haare. „So tollpatschig bist selbst du nicht. Also was ist wirklich passiert? In wessen Faust bist du gelaufen?“ „In niemandes! Ich sagte doch, ich bin gefallen!“ „Ist Carry daran schuld?“ Lily zuckte bei dem Namen zusammen. „Sie hat damit gar nichts zu tun!“ „Also doch!“, rief er, „Wieso nimmst du die Schnepfe in Schutz?! Sie ist ein verdammtes Miststück! Du solltest sie nicht in Schutz nehmen!“ Nakatsu war wütend und genau so sah er sie auch an, wütend und verständnislos. Er umfasste Lilys Handgelenk und zog sie ins Schlafzimmer. Unsanft stieß er sie auf das Bett. „Zieh dein Hemd aus!“, forderte er. „Sofort!“ Ängstlich sah Lily ihren Freund an. „Nakatsu, was soll der Unsinn?“ Ohne auf ihre Frage einzugehen, drückte er sie auf das Bett und schob ihr Hemd höher. „Nakatsu, hör auf damit“, schrie Lily, sich unter ihm windend. Irgendwie schaffte sie es, sich auf den Bauch zu drehen und ihr Gesicht in der Decke zu vergraben. „Bitte hör auf!“, flehte sie, während sie versuchte, das Hemd wieder nach unten zu schieben. Ein Schluchzer entfuhr ihr. „Es ist einfacher, wenn du still hältst und du dich entspannst“, fuhr er sie an. Er schob ihr das Hemd über den Kopf. „Ich werde dir schon nicht wehtun!“ „Nakatsu, bitte!“, flehte sie lauter. Ihre Atmung beschleunigte sich. Weitere Schluchzer entfuhren ihr, während sie die Decke zusammenraffte und an sich drückte. „Dreh dich um!“, forderte er, packte sie grob an der Schulter und drehte sie wieder auf den Rücken. Lily wich seinem Blick aus und sah in eine Ecke des Zimmers. „Weißt du, was mir zu Ohren gekommen ist?“, fuhr er wütend fort. „Dass du es mit einem von Kaydens Freunden getrieben hast!“ „Das ist nicht wahr!“, gab sie zurück und Tränen liefen über ihr Gesicht. „Das hat er aber vorhin, nachdem du gegangen bist, ganz groß in der Mensa herum erzählt und auch, dass wir zwei was hätten! Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie sauer ich bin?!“ „Nein, weiß ich nicht und lass mich endlich los!“, flehte sie ihn an. Nakatsus warme Hand legte sich auf ihr Schlüsselbein und mit dem Finger fuhr er langsam ihren Körper entlang. „Ich werde dich jetzt nicht gehen lassen.“ Seine Stimme war kühl. „Entspann dich.“ Lily wollte sich aufrichten, doch er drückte sie nieder und beugte sich über sie. „Nakatsu, hör auf mit dem Unsinn.“ „Zieh die Hose aus! Los!“ „Nakatsu! Du bist nicht mein Gynäkologe!“ Ihr Gesicht war vom Weinen gerötet. Nakatsu atmete tief ein, öffnete den Knopf ihrer Hose und schob sie nach unten, wo sie achtlos liegen blieb. „Das weiß ich selbst! Ich will dich auch nicht untersuchen!“, brachte er ihr ärgerlich entgegen. „Was hast du dann vor?!“, schrie sie, „Willst du das tun, was Kaydens Freund groß rum erzählt hat?! Willst du mich jetzt auch flachlegen?! Ich dachte, wir sind Freunde!“ Sie wandte den Blick ab und schluchzte. „Denkst du wirklich so schlecht von mir?!“, fuhr er sie ärgerlich an und sah auf ihren Körper. Er gab einen verärgerten Laut von sich. „Carry und ihre Freunde sollen bloß aufpassen, was sie tun.“ „Wieso?“, fragte Lily und schluchzte erneut. Sie war über den plötzlichen Themenwechsel verwirrt. „Hast du dich nicht mal angesehen?“, fragte er und seine Wut schien zu weichen, „Du bist voll mit blauen Flecken.“ „Das weiß ich selbst!“ Lily wischte sich die Tränen aus den Augen, doch sofort kamen neue. „Ich mach mir nur Sorgen um dich. Wieso hast du mir nichts gesagt?“ Lily gab keine Antwort. Nakatsu wickelte die Decke um ihren Körper und zog sie in seine Arme. Er atmete tief durch. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so erschrecken…es war falsch…“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Warum hast du das getan? Ich dachte, du würdest…“ „Tut mir leid…Ich war nur so wütend, wegen dem Veilchen und dass du mir nichts sagst. Ich weiß, das rechtfertigt mein Verhalten nicht, aber…Ich würde nicht über dich herfallen, das solltest du wissen…“ Er fuhr ihr über das Gesicht. „Ich dachte, wir sind Freude?!“ „Sind wir doch auch…“, schluchzte sie, „Du hast mich zu Tode erschreckt!“ „Wieso redest du dann nicht mit mir oder gehst zu Spears?“ „Ich will nicht…“ „Aber du kannst es doch nicht einfach so hinnehmen! Lil, ich will dir doch nur helfen!“ „Ich weiß, aber ich kann nicht…ich will nicht…“ Lily vergrub ihr Gesicht an Nakatsus Brust und zog die Decke enger um sich. „Du weißt, ich bin für dich da. Mir ist es egal, was die anderen sagen. Ich kenne die Wahrheit. Aber mir ist es nicht egal, wenn du übersät bist mit blauen Flecken oder wenn dich jemand anfasst gegen deinen Willen. Oder wenn du mich anlügst.“ „Es tut mir leid, Natsu…“ Weitere Schluchzer entfuhren Lily. „Schon gut. Aber wenn du nicht redest, zwingst du mich eben zu solchen Maßnahmen.“ „Natsu…“ „Was denn?“ „Bitte sag es niemanden.“ „Wem sollte ich es schon sagen?“ „Na, Spears oder Mr. Humphries, Mr. Slingby oder Mr. Sutcliffe.” „Wieso nicht?“ „Weil…“ Lily schlang die Beine eng an ihren Körper. „Ich will es einfach nicht. Sie helfen mir schon genug und Spears würde mich sofort zu einer körperlichen Untersuchung schleifen. Außerdem können sie es sich sicherlich selbst denken.“ Nakatsu nickte. „Na gut. Ich sag niemanden, dass du aussiehst wie eine Blaubeere.“ „Ich bin keine Blaubeere...“ Ein leises Lachen, gemischt mit einem Schluchzer, entfuhr ihr. „Sieh mich mal an.“ Nakatsu hob ihr Gesicht an und wischte ihr die Tränen ab. „Wir sollten mal deine Flecken kühlen.“ „Willst du mich in Eis packen?“ „Keine schlechte Idee. Ein leckeres Blaubeereis.“ Er grinste Lily frech an und sie musste mitlachen. „Ich hab eine Salbe von meinen Eltern mitbekommen. Wenn du willst, kann ich dir die Stellen damit eincremen.“ Lily nickte. „Ja, wäre gut. Dann nennst du mich wenigstens nicht mehr Blaubeere.“ Nakatsu kicherte, ging aus dem Schlafzimmer und kam kurze Zeit später wieder. „Ich werde sie nur auf die Schlimmsten auftragen und ein bisschen was für das Veilchen. Das sieht echt mies aus. Ab morgen gehen wir gemeinsam überall hin.“ „Auch aufs Klo?“ „Scherzkeks, da natürlich nicht. Dreh dich um.“ Vorsichtig trug er die kalte Salbe auf die Flecken auf. Es dauerte einige Minuten. Zum Glück roch die Creme nicht unangenehm wie manch andere. „So und jetzt gehst du sofort ins Bett.“ „Nakatsu, ich hab vorhin den ganzen Nachmittag auf dem Sofa geschlafen. Außerdem habe ich Hunger.“ „Nichts da! Du gehst ins Bett!“ „Nur wenn du noch da bleibst, bis ich eingeschlafen bin?“ Mit großen und bettelnden Augen sah Lily Nakatsu an. „Ich kann diesen Augen nichts abschlagen.“ Lily grinste siegreich und schlüpfte unter die Decke. „Natsu?“ „Mhm?“ „Danke.“ „Nichts zu danken. Jetzt mach die Augen zu und schlaf.“ Er wuschelte ihr durch die Haare, während sie die Augen schloss. Kapitel 12: Regel Nr. 5: Niemand wird von der Todesliste gestrichen ------------------------------------------------------------------- Der Regen behinderte ihre Sicht und machte es ihr nicht leichter. Ein Donnergrollen ertönte und nur wenige Sekunden später erhellte ein neuer Blitz den dunklen Tag. Es war nichts zu sehen, doch Alyssa wusste genau, dass etwas aus der Hölle dort war. Der Geruch von Schwefel war deutlich in der Luft und ließ sie würgen. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und sah in die Ferne. War dort eben nicht eine Bewegung gewesen oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie würde liebend gerne die Seele des Mannes einsammeln und Feierabend machen, aber Alyssa wusste, dass es zu gefährlich war. Mit einer schnellen Bewegung fuhr sie herum, doch es war nichts zu sehen. Wo war bloß Undertaker? Ihre Hände waren klamm und zitterten vor Kälte, während der Regen an ihnen hinunter lief. Wieder konnte sie eine Bewegung ausmachen. Diesmal deutlicher und sie war sich sicher, sich nicht geirrt zu haben Etwas kam in dem Regen auf sie zu. Der Gang war schwankend und der Körper pendelte in alle Richtungen. Der Kopf zuckte willkürlich. Die Schultern zuckten und es sah aus, als hätte das Wesen Schmerzen. Dort wo die Arme hätten sein sollen, war nichts und die Knochen bewegten sich unter der dünnen Haut. Das Gesicht fehlte. Es gab weder Augen noch Mund, Ohren oder Nase. Alles war von der grauen, dünnen Haut umspannt. Nur der Ansatz der Nase zeichnete sich bei genauerem Hinsehen ab. Alyssa spannte die Muskeln an und machte sich bereit anzugreifen. Langsam ließ sie die Klinge der Sense zu Boden gleiten und breitete den Arm nach hinten aus. Mit einer fließenden Bewegung schwang sie die Sense und der Stab verlängerte sich. Die gebogene und bläulich schimmernde Klinge fuhr nach oben und bildete einen Speer. Mit einem unschönen Geräusch drang die Klinge durch die Haut und durchbrach mit einem lauten Knacken die Knochen. Die Klinge kam aus dem Rücken heraus. Alyssa zog mit einem Ruck die Klinge zurück und es bildete sich wieder ihre Sense. Sie hatte genau dort getroffen, wo das Herz sitzen sollte. Das Adrenalin strömte durch ihre Blutbahnen und ihr Herz schlug schneller. Alles in ihr schrie danach fort zu laufen und sich in Sicherheit zu bringen, doch als Shinigami durfte sie die Seele nicht einfach so zurück lassen. Obwohl sie das Wesen genau ins Herz getroffen hatte, kam es weiterhin auf sie zu. Der Körper wandte sich unter Schmerzen und aus dem klaffenden Loch der Wunde triefte eine dunkelgrüne Flüssigkeit heraus. Es zischte, wenn sie auf den Boden traf und Alyssa wich langsam zurück. Angst stand in ihren Augen geschrieben. „Undy?“, flüsterte sie und schluckte hart, „Wo bist du nur?“ Ihre Augen huschten kurz zum Waldrand. Er war immer noch fort. Das Wesen bog den Körper vor und zurück, zuckte und drehte den Kopf wild hin und her. Die Haut an der Wunde schien zu beben und die Kreatur beugte den Rücken nach hinten durch. Aus der Wunde schoss ein Schwall dunkelgrüner Flüssigkeit. Alyssa wich sofort zurück, konnte aber nicht verhindern, dass die Flüssigkeit sie mit voller Kraft traf. Ein Schmerzlaut entfuhr ihr und sofort zog sie die Handschuhe aus, die mit der Substanz in Berührung kamen. Panisch warf sie diese zu Boden, wo der Stoff sich in wenigen Sekunden unter zischenden Geräuschen und Qualm auflöste. Es stank bestialisch. Sofort drehte sie sich wieder um und griff das Wesen mit der Klinge ihrer Death Scythe an. Ihr Mantel qualmte und hatte das meiste der Flüssigkeit abbekommen, doch sie hatte keine Zeit ihn auszuziehen. Alyssa stach auf das Wesen ein. Blind vor Angst zielte sie auf alle möglichen Stellen am Körper und schlug ihm am Ende den Kopf von den Schultern. Der Torso wandte sich und zuckte noch einige Sekunden auf dem Boden während der Kopf über die Straße rollte und in einer schlammigen Pfütze zum Stehen kam. Alyssa keuchte und zog schnell den Mantel aus, als sie sicher war, dass dieses Wesen sich nicht mehr rühren würde. Noch immer stieg Qualm auf. Viel Zeit zum Aufatmen blieb ihr nicht. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie aufschrecken und herumwirbeln. Alyssas Augen weiteten sich und ihre Kinnlade klappte nach unten. Sie schnappte nach Luft. Undertaker stand bei der Leiche. Er drehte den leblosen Körper herum und hielt seine Hand über den Mund des Mannes, der ein wenig geöffnet war. Zwischen den dunkelblauen Lippen erschien ein helles Licht in der Größe einer Glasmurmel. „Undertaker, was machst du da?“, rief Alyssa laut und rannte auf ihn zu, während sie im Kopf spürte, wie ihr Bannkreis sich gegen ihn wehrte. „Du wirst doch wohl nicht…? Oh mein Gott!“ Undertaker hielt das kleine Licht in den Händen. Es war die Seele des Mannes. „Hör auf! Das darfst du nicht!“, schrie Alyssa und spürte, wie ihr Bannkreis zerbrach. Langsam führt Undertaker die Seele zu seinem Mund und nahm sie in sich auf. „Alyssa! Lauf weg!“, rief plötzlich eine männliche Stimme. „Lauf weg! Es sind zu viele!“ Alyssa drehte sich um die eigene Achse, um zu sehen, wer sie gerufen hatte, aber konnte niemanden entdecken. Es klang wie Undertaker, aber das konnte nicht sein. Er stand vor ihr in dem dunklen Mantel mit seinen langen, silbernen Haaren, die er diesmal zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte. Ein vielstimmiges und tiefes Knurren hallte durch den Wind und das Gewitter. Alyssa wandte den Kopf in alle Richtungen. In der Dunkelheit und zwischen dem starken Regen erhoben sich schuppige und schwerfällige Leiber. „Dämonen!“, rief Alyssa. „Undertaker, wir müssen weg!“ Voller Panik und Entsetzten sah Alyssa zu, wie immer mehr Dämonen auf ihren Partner zukamen. Sie fauchten, knurrten, fetzten die Lefzen und versammelten sich um den Leichnam des Mannes. Mit ihren Klauen zerfetzten sie innerhalb von wenigen Sekunden den Körper, so dass nur ein paar Kleidungsstücke auf dem schlammigen Boden zurück blieben. Alyssa umklammerte ihre Sense mit festen Händen und starrte auf Undertaker, der von den Dämonen nun umzingelt war und sich noch immer nicht von der Stelle bewegte. „Undertaker, beweg dich! Wir müssen weg!“, rief sie aus vollem Halse gegen den Sturm an. Er bewegte sich keinen Millimeter und sie fragte sich, worauf er wartete. Sie wusste er war gut, aber gegen so viele, konnte selbst er nicht gewinnen. In der Ferne erkannte sie kleine rote Gestalten, die über den Boden tanzten und den Regentropfen auswichen, wie Tänzerinnen. Sie hinterließen hellrote Bänder in der Luft. „Undertaker, jetzt steh nicht da wie ein Baum, sondern beweg deinen verdammten Arsch! Da kommen Feuerdämonen!“, schrie sie nun wütend und errichtete einen neuen Schutzkreis um sich herum. Sie wollte fort und wäre es auch schon längt, wenn Undertaker nicht wäre, den sie in Sicherheit wissen wollte. Einer der Feuerdämonen flog durch den Regen direkt auf Undertaker zu. Alyssa wollte ihm zuschreien, dass er aufpassen sollte, doch der Dämon machte einen Schlenker um ihn herum und kam mit ungebremster Geschwindigkeit auf sie zu, prallte jedoch an ihrem Schutzkreis ab. Aufgeben kam aber nicht in Frage. Sofort war der Dämon wieder auf den Beinen und versuchte gegen den Schutz erneut anzukämpfen. Seine Kollegen folgten ihm und taten es ihm gleich. Heulend und kreischend wurden sie zurückgeworfen. Alyssa wich immer weiter zurück, während ihr Blick auf Undertaker gerichtet war. Die Dämonen hatten sich vollständig um ihn herum versammelt, krümmten ihm aber kein Haar. Ihre Blicke begegneten sich. Seine Augen waren schwarz. Alyssa stieß einen Fluch aus. Deshalb hatte er die Seele verschlungen. Ein Dämon hatte seine Finger im Spiel. Es machte ihr Angst, denn bisher hatte kein Dämon Undertaker besetzten können. Ein Instinkt riet ihr zu laufen und sie erinnerte sich an die körperlose Stimme. Auf dem schlammigen Boden drehte sich Alyssa um und rannte los. In einem Sekundenbruchteil brach der Schutzkreis und die Feuerdämonen trafen Alyssas Rücken. Sie drückten sich in ihre Kleidung, brannten Löcher hinein und verbrannten ihre Haut. Ein lauter Schmerzensschrei entfuhr ihr und sie landete auf dem Boden. Nur wenige Sekunden später spürte sie, wie die Krallen eines der geschuppten Dämonen ihre Haut durchdrangen und blutige Spuren auf ihrer Haut hinterließen. Erneut schrie alles laut auf, während warmes Blut aus den Wunden trat und den Rest ihrer Kleidung durchtränkte. Alyssas Hand tastete blind nach der Sense, die sie hatte fallen lassen und trat unter größter Kraftanstrengung um sich. Ein bösartiges Fauchen war zu hören. Sie wusste, wenn sie liegen bleiben würde, würde sie sterben, doch der Schmerz in ihrem Rücken war zu stark. Ihre Finger tasteten in dem matschigen Boden noch immer nach ihrer Death Scythe, fanden den Griff und umklammerten diese. Das Gift, was die Dämonenkralle in ihren Körper befördert hatte, lief durch ihre Blutbahnen und verursachte Schmerzen. Deutlich merkte sie, wie es sich mit jedem weiteren Herzschlag in ihrem Körper ausbreitete. „Du solltest dich nicht so viel bewegen, sonst gelangt das Gift schneller zu deinem hübschen Herzen.“ Alyssa sah auf und erkannte Undertaker, der vor ihr stand. Sein Blick war kalt und eisig, als besäße er keine Seele. Die Augen waren noch immer pechschwarz. Es versetzte ihr ein Stich ins Herz, dass er sie so ansah, als wäre sie nichts weiter wert als ein Kiesel unter seinen Schuhen. „Undy, wehr dich gegen den Dämon in dir“, flehte Alyssa mit leiser Stimme und eine weitere Schmerzenswelle durchdrang ihren Körper gemischt mit heftigen Angstgefühlen. Sie befand sich mitten in einem Rudel Dämonen und ihr Partner und Freund Undertaker war von einem besessen. Abfällig schnaubte der Dämon mit dem Körper von ihm. Er beugte sich zu ihr herunter und nahm ihre Hand von der Sense. „Mit dir zu spielen wird ein ganz besonderes Vergnügen.“ Mit den warmen Lippen küsste er ihre Fingerspitzen und griff nach der Sense. Alyssa starrte ihm in die Augen, unfähig sich zu rühren. Mit einem eiskalten Blick und Lächeln auf den Lippen packte er sie an der Kehle, so dass sie keuchen musste. Nur wenige Sekunden später stach die bläulich schimmernde Klinge ihrer Sense durch ihren Oberschenkel Sofort erschien ein kleiner Strang von Cinematic Records, ihre Erinnerung. Vor Schmerzen schrie sie auf. „Eine sehr schöne Erinnerung und eine sehr schöne Stimme obendrein.“ Tränen stießen ihr in die Augen. Ihr Bein brannte vor Schmerz und ihr Rücken fühlte sich an, als würde man die Knochen kochen. Jede Sekunde die verging verteilte sich dieses Gefühl in den Knochen immer mehr. Ihr Magen schmerzte, zog sich zusammen und verkrampfte sich. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht erneut zu schreien. Ihr Körper zitterte. Alyssa schluckte ein paar Mal und atmete unruhig ein und aus. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt und pumpte das Gift immer schneller in ihren Kreislauf, zusammen mit dem Adrenalin. Undertaker packte sie am Hals und hob sie vom Boden hoch. In den Händen hielt er noch immer ihre Sense. „Du kannst nicht gegen mich kämpfen.“ Der Dämon kicherte. „Nicht solange ich diesen Körper habe und das weißt du auch.“ Alyssa keuchte. Aus ihren Wunden trat noch immer Blut. „Undy…bitte…kämpf dagegen an…ich weiß, du schaffst es…“ Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Wenn ich dich töte, kann ich zwei Seelen mit einem Mal haben. Aber ich werde dich nicht gleich töten. Nein, ich werde zusehen, wie du langsam stirbst.“ Mühsam öffnete Alyssa die Augen, während ihr Körper zitterte und wenige Zentimeter über dem Boden gehalten wurde. „Du weißt es nicht, oder?“, fragte der Dämon und kicherte amüsiert. „Du weißt nicht, was du in dir trägst.“ „Wovon redest…du?“, presste sie hervor und konnte den süßlichen Geruch des Giftes riechen, der in ihrem austretenden Blut war. Der Dämon lachte lautstark los. Mit der Klinge der Sense zog er vorsichtig kleine Kreise über ihren Bauch. „Ich rede davon, was du in dir trägst, meine Liebe.“ „Ich trage…gar nichts…in mir…“ „Oh doch. Du weißt es nur noch nicht. Die Seele des Kindes, was du unter deinem Herzen trägst, werde ich mir besonders gut schmecken lassen.“ „Du lügst!“, stieß sie hervor. „Tu ich nicht und tief in deinem Inneren weißt du es auch.“ Undertaker packte sie für einen kurzen Moment fester am Hals und warf sie durch die Luft. Noch ehe sie auf dem Boden aufschlagen konnte, war Undertaker an der Stelle und schlug ihr mit der Faust in die Magengrube. Sie stöhnte auf und ein Schwall Blut ergoss sich aus ihrem Mund. Ihre Armknochen knackten, als sie auf einem Stein aufkam. Alyssa keuchte und versuchte ihren Blick zu fokussieren, während ihre Brille irgendwo auf der Strecke von ihrer Nase gefallen war. Nur verschwommen erkannte sie die Umgebung. Ihre weißen Haare hingen ihr wirr und feucht im Gesicht. Ihr Herz schlug schnell und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie war also schwanger, von Undertaker. Auch wenn diese Information von einem Dämon stammte und sie bekannt für ihre Lügen waren, wusste Alyssa, dass er diesmal die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte es schon vermutet und Dämonen konnten so etwas riechen. Also musste es stimmen. Resigniert schloss sie die Augen und hoffte auf baldige Erlösung, denn sie wollte nicht länger von dem Mann gefoltert werden, den sie so sehr liebte. Wieso geschah das? Wieso sie? Wieso musste ausgerechnet Undertaker besessen sein? Er war doch sonst so stark und kein Dämon kam an ihn heran. Er war doch Undertaker, der legendäre Shinigami. Er, der schon so viele Leben beendet und Seelen begleitet hatte, er, der sie so sehr liebte, war jetzt von einem Dämon besessen und war dabei sie zu töten. Unsanft wurde sie an den Haaren hoch gezogen und an den Baum gedrückt. Undertaker leckte sich gierig über die Lippen. Mit den Fingern strich er sanft über ihren Hals und beugte sich näher zu ihr herunter. Alyssa konnte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spüren und drehte den Kopf zur Seite. Sie wollte nicht in diese dunklen und eisigen Augen sehen müssen. Mit der Zunge fuhr er ihr über den Hals und Alyssa gab ein Geräusch von sich als müsste sie sich übergeben. „Dein Blut schmeckt köstlich“, seufzte der Dämon. „Deine Seele schmeckt sicherlich noch besser.“ Tränen liefen Alyssa weiter über die Wange. „Undy…bitte...hör auf damit…“, schluchzte sie. Erneut schrie sie auf. Der Dämon hatte ihr die Sense in die Schulter geschlagen. Erneut traten Cinematic Records heraus und tanzten verträumt in der Luft. „Nun ist der Augenblick gekommen“, raunte er und im nächsten Moment stieß er ihr die Sense in den Unterleib. „Jetzt wird deine Seele mir dienen.“ Ihr Herzschlag beschleunigte sich und das Blut pumpte unaufhörlich mit dem Gift in ihren Adern. Alyssa wusste, genau in dem Augenblick, als die Sense durch ihren Unterleib gestoßen worden war, dass er das Kind getötet hatte. Undertaker hob ihr Gesicht an und presste seinen Körper an ihren. Langsam näherte er sich ihrem Gesicht, schloss die Augen und beugte sich zu ihren Lippen hinunter. Deutlich konnte sie spüren, wie er versuchte ihr die Seele mit einem Kuss zu nehmen und ihr ganzer Körper sträubte sich dagegen. Der Dämon sank mit einem Mal auf ihre Schulter zusammen. „Das reicht jetzt“, sagte eine gebieterische Stimme. Erleichtert atmete Alyssa auf. Ihre Brust zog sich dabei zusammen und schmerzte als würde ihr jemand die Rippen brechen. Hoffnung keimte in ihr auf. Jemand war da, um ihr zu helfen. Vielleicht ein anderer Shinigami aus der Society? Undertaker drehte sich herum, hielt sie aber noch immer am Kragen fest. In seiner Schulter klaffte eine große Wunde. Alyssa keuchte und sah auf. Verschwommen erkannte sie eine Gestalt in einem dunklen Mantel, die einen langen weißen Stab in der Hand hielt mit silbrig schimmernder Klinge. Ohne ihre Brille konnte sie jedoch nichts Genaues erkennen, außer, dass die Person fast genauso aussah wie Undertaker, der vor ihr stand. Der Schmerz war das Einzige, was sie fühlen konnte. Er vernebelte ihr die Sinne und Alyssa wollte nur noch in die erlösende Dunkelheit. Wie konnte er ihr das antun? Wieso tat er das? Wieso geschah so etwas? Sie verstand es nicht. Ihr Herz schmerzte und fühlte sich an wie aus Blei. Vielleicht würde sie ja an dem Schmerz sterben und nicht an ihren körperlichen Wunden? Am liebsten wollte sie weinen, doch selbst dafür fühlte sie sich zu schwach. Schritte ertönten durch das Unterholz. Jemand kam auf sie beide zu. Alyssa wollte die Augen öffnen, doch es war eine zu anstrengende Bewegung, die viel Kraft erforderte. „Du bist gekommen, um ihr zu helfen, oder?“, konnte sie Undertaker hören sagen. „Du willst sie? Komm und hol sie dir! Aber erst musst du an mir vorbei!“ Ihre Füße verloren den Boden und damit den sicheren Halt. Schon halb ohnmächtig landete sie in dem kalten Wasser des naheliegenden Sees. Wasser drang in ihre Kehle und willenlos trieb sie tiefer nach unten. Ein Teil wollte kämpfen und zurück an die Oberfläche, aber die Kraft verließ sie. Sie schaffte es einfach nicht. Alyssa öffnete schwach die Augen. Nur schemenhaft erkannte sie die Oberfläche. War dort wirklich Undertakers Gesicht oder bildete sie sich das nur ein? Mit letzter Kraft streckte sie ihre Hand danach aus, konnte ihn jedoch nicht berühren. Sie sah, wie Undertaker sie mit trauriger Miene ansah und dann war er verschwunden. Alyssa hörte auf zu kämpfen und ließ sich weiter in die Dunkelheit des Sees treiben. Die Welt, Undertaker, die Seele und viele andere kleine Dinge verschwanden aus ihrem Kopf. Die Kälte des Wassers war nun ganz angenehm und der Schmerz nahm ab. Nur in ihrer Lunge brannte es und verlangte nach Sauerstoff. Alyssa konnte nicht mehr nach oben. Sie würde hier ihr nasses Grab finden und in der Dunkelheit versinken. Getötet von dem Mann, den sie liebte. Sie würde in der ewigen Zeitlosigkeit treiben, in der ewigen Dämmerung. Alleine und einsam. Sie würde weder riechen, hören, sehen, noch schmecken können, nur spüren. Ihre Seele würde niemals Frieden finden, weil es keinen Shinigami geben würde, der auf den Grund des Sees gehen würde. Die existierende und zermalmende Eintönigkeit wäre ihr Begleiter und die Erinnerung an bessere Tage eine Last, die sie zu ertragen hatte. So wollte sie niemals sterben. Nicht so. Nicht hier und nicht durch Undertaker. Hatte sie nicht versucht ein anständiges Leben zu führen? Hatte sie nicht immer die Regeln der Society befolgt? Doch nun war ihr Ende gekommen und es war der trübe und von Algen übersäte Boden eines Sees und sie war dazu verdammt, stumm und bis in alle Ewigkeit darin zu verweilen und ihrem Körper beim Zerfall zuzusehen. Wie lange trieb sie schon in den nassen Fluten? Es gab kein Zeitgefühl mehr. Waren Stunden vergangen? Vielleicht sogar Tage, Nächte, Wochen, Monate oder gar Jahre? Alyssa vermochte es nicht zu sagen. Die Ewigkeit kannte kein Zeitgefühl. Aber war das noch wichtig? Wenn sie flehen könnte, würde sie darum flehen Erlösung finden zu dürfen. Erinnerungen strömten auf sie ein. Alle Bilder ihres Lebens überfluteten sie. Fühlte so ein Mensch, wenn er starb? War es das, was er im letzten Moment seines Lebens sah? Waren die Erinnerungen das, was den Tod erträglicher machte und die nicht enden wollenden Qualen? Durch ihren Kopf schwirrten Gedanken, Bilder, Gesichter, Taten und Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Hoffentlich würde dies bald aufhören und sie konnte sich in der Unendlichkeit der Zeit dem Wahnsinn hingeben. Ihr Körper trieb dahin und mit ihm die Hoffnung. Im Gegensatz zu ihr war der See voller Leben. Fische trieben vorbei, die Algen umspielten ihren Körper und Luftblasen stiegen auf. Dennoch fühlte sich Alyssa leer. Leer und unfähig etwas zu tun, außer sich immer wieder den Erinnerungen hinzugebend. Vielleicht war es auch besser in der Vergangenheit zu versinken und nicht mehr über etwas nachzudenken? Vielleicht konnte sie so dem drohenden Wahnsinn entkommen, wenn sie sich an das bisschen Erinnerungen klammerte? Ein neues Gefühl ergriff sie. Schmerz! Der Schmerz kehrte zurück und damit die schwere Last des Wassers, die auf ihre Lunge drückte. Es umschloss sie und hielt sie gefangen. Etwas umfasste ihren Körper mit eisernem Griff und es schmerzte so sehr, dass sie fühlen konnte, wie das Blut pochte mit jedem Herzschlag. Plötzlich durchstieß ihr Kopf die Wasseroberfläche und sie hustete und keuchte und versuchte um sich zu schlagen. Ihre Lunge zog den Sauerstoff gierig ein, während ihr Brustkorb gleichzeitig von Schmerz erfüllt war. Das dämmrige Licht blendete sie und sie kniff die Augen zusammen. Alyssa wollte schreien vor Schmerz, doch kein Laut entkam ihrer Kehle. Jemand zog ihren Körper auf harten Boden und beugte sich über sie. Er rief ihren Namen, der nur langsam in ihr Bewusstsein drang. Ihre Finger berührten feuchtes Gras und grobe Erde mit Steinen. Erneute Schmerzen durchfuhren ihren Körper und durchzuckten sie. Sie hielt die Augen geschlossen, während sie langsam begriff: Sie war nicht tot, noch nicht. Sie kämpfte immer noch mit dem Leben. Ihr Körper zitterte und wollte nur noch Erlösung finden, so wie ihr Geist. Es war verwirrend. Sie war verwirrt. Wieso war sie nicht tot? Undertaker hatte sie doch mit ihrer eigenen Death Scythe erwischt. Da war noch ein letztes bisschen Kraft und Alyssa zwang sich die Augen zu öffnen. Schwarze Punkte tanzten davor. „Du bleibst bei mir, Alyssa! Hörst du mich? Du bleibst bei mir! Du darfst nicht gehen! Dein Herz muss weiterschlagen!“ Undertaker? War es wirklich seine Stimme, die sie da hörte und die so weinerlich klang? Hatte er den Dämon aus seinem Körper vertreiben können? Alyssa zwang sich den Mund zu bewegen und ihre Stimmbänder dazu zu bringen, Töne von sich zu geben. Es war nur ein Flüstern. „Du…“, keuchte sie und irgendwie schaffte sie es zu lächeln. „Was…was ist passiert? Dein Gesicht…!“ Sie konnte genauer hinsehen und erkannte klar und deutlich Undertakers Gesicht, das voller Blut war. Sein weiß-silbernes Haar hing nass an ihm herunter. Seine Kleidung hatte es nicht besser getroffen. Er weinte nicht, aber es standen Tränen in seinen Augen hinter der Brille. So viele Gefühle spiegelten sich in seinen Augen: Angst, Sorge, Trauer, Schmerz, Müdigkeit, Liebe. „Es tut mir so leid!“, schluchzte er. „Ich wollte dich nicht alleine lassen! Aber…die Obersten sagten es! Ich kann dich nicht von der Liste streichen! Ich muss dich mitnehmen! Es tut mir so leid! Ich wollte dich nicht dem Dämon überlassen!“ Alyssa verstand die Worte nicht ganz. Es war auch gleich. Undertaker war an ihrer Seite und es war nicht er gewesen, der ihr das angetan hatte. „Dann tu…das…was deine…Aufgabe ist…“, flüsterte sie und schob die nahende Dunkelheit von sich. „Aber…“ „Du kennst….die Regeln…Undy…“, keuchte sie und zog ein letztes Mal seinen Geruch ein. Flossen ihr jetzt auch Tränen die Wange entlang oder war es nur Wasser vom See, dass ihren Augenwinkel streifte. „Wir ernten die Seelen….nüchtern, sachlich und…emotionslos…“ „Ich weiß…“, flüsterte er und zog sie an sich. „Dann tu das…oder muss ich…mich im…im Augenblick meines Todes…selbst töten und den Gnadenstoß geben?“ Undertaker entfuhr ein Schnauben, dass wie ein unterdrücktes Lachen klang zwischen den Schluchzern. „Du bist unmöglich“, sagte er. „Selbst in diesem Augenblick machst du noch Witze.“ Alyssa schloss halb die Augen und erkannte verschwommen eine Bewegung. Rieb er sich wirklich Tränen aus den Augen? „Aber…deswegen liebst du…mich doch…“ Sie schaffte es schwach zu grinsen, während Undertaker ihr im nächsten Moment einen letzten Kuss gab. „Ich werde auf dich warten“, flüsterte er. „Ich werde deine Seele immer wieder erkennen, wenn du wiedergeboren wirst. Immer.“ Vorsichtig legte er ihren Körper in das Gras. Alyssa schloss die Augen und wartete auf den Stoß der Sense. „Ich liebe dich…“, flüsterte sie und eine weitere Träne bahnte sich ihren Weg aus dem Augenwinkel. „Ich dich auch“, gab Undertaker zur Antwort und küsste sie auf die Stirn. „Ich werde ganz sanft sein.“ Ein Nicken brachte Alyssa nicht mehr zustande. Die Dunkelheit war ihr ein willkommener Freund. Ein Zischen ging durch die Luft und im nächsten Moment spürte sie, wie die Klinge der Sense in ihr Herz stieß. Ihre Augen weiteten sich kurz und erkannten noch Undertaker, wie er die Augen zusammen gekniffen hatte, während er die Sense mit beiden Händen fest umklammert hielt. Sein Gesicht war vor Schmerz und Trauer verzerrt. Ein Sog trennte sie vom Körper. Das Augenlicht erlosch und die Lider schlossen sich. Sie hörte noch, wie Undertaker zu Boden sank und seinen Schmerz hinaus schrie. Kapitel 13: Freundschaftsdienst ------------------------------- Am nächsten Morgen fühlte Nakatsu sich abscheulich. Er hatte absolut nicht gut geschlafen und in seinem Kopf dröhnte es, als ob ihn jemand mit einem Hammer geschlagen hätte. Der Schlaf in seinen Augen fühlte sich wie Sand an, als er ihn aus seinen Augen rieb. Was hatte er nur am Abend mit Lily getan? Er hatte sie zu Tode erschreckt und es war ein Wunder, dass sie noch mit ihm sprach. Das Ganze wurde auch nicht besser, als er Lily neben sich liegen sah, wie sie ein Kissen fest an ihre Brust drückte und das Gesicht darin vergrub. Das Veilchen war noch immer sehr deutlich zu sehen. Ihre Haut war blasser als sonst und unter ihren geschlossenen Augen zeichneten sich dunkle Augenringe ab. Die ganze Nacht hatte er darüber nachgedacht, wie er ihr helfen könnte und was er am liebsten mit Ronald Knox tun würde, wenn er hier wäre. Durch die erneuten Gedanken wurde das Pochen in seinem Kopf stärker. Ein Gähnen entfuhr Nakatsu und im selben Moment ertönte das laute, schrille Geräusch des Weckers auf dem Nachttisch. Nakatsu zuckte zusammen, während Lily verschlafen brummte und einen Arm ausstreckte, um das Geräusch zum Verstummen zu bringen. Das Kissen hielt sie noch immer fest im Arm. „Wie geht es dir?“ „Super“, gab Lily mit monotoner Stimme zur Antwort und rieb sich müde die Augen. Sie log. Das wusste Nakatsu, da sie seinen Blick mied und öfters tief ein- und ausatmete. Zudem hatte sie in der Nacht geweint, so gut konnte es ihr also nicht gehen. Schweigend und ohne noch etwas zu sagen, stand sie auf und ging ins Badezimmer. Eigentlich gab es viele Fragen, die er ihr stellen wollte, aber in dieser Stimmung wollte er sie lieber in Ruhe lassen. Die meisten seiner Fragen drehten sich um die Nacht und um das aktuelle Geschehen: Wieso hatte sie wieder geweint? Weshalb schlief sie jede Nacht so schlecht? Was sah sie in ihren Träumen? Was wollte sie wegen Carry unternehmen? Wie ging es ihren Verletzungen? Er hörte den Wasserstrahl der Dusche und seufzte frustriert auf. Obwohl er die ganze Zeit über für sie da war und ihr beistand, hatte Nakatsu das Gefühl, ein schlechter Freund zu sein und ihr nicht helfen zu können. Nakatsu schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter, der sich mit einem Mal gebildet hatte, und legte einen Arm über seine Augen. Ruhig liegen bleiben konnte er nicht, weshalb er sich auf den Bauch drehte und sein Gesicht in das Kissen vergrub, das Lily bis vor wenigen Minuten noch fest im Arm hatte. Der Geruch stieg in seine Nase und Nakatsu wich zurück. Nur ganz schwach konnte er den süßlichen, fruchtigen und würzigen Geruch wahrnehmen, der Lily umgab. Hauptsächlich wurde er aber von einem anderen Duft überlagert. Es roch nach frischer, feuchter Erde im Sommer, nach der Luft, wenn ein Gewitter nahte, süßlich und dennoch herb zugleich. Auch haftete ein Geruch an dem Kissen, der ihn an Asche, welkem Papier und an säuerliche Äpfel erinnerte. Es war sein Geruch! Wütend warf er das Kissen hinter sich und stand auf. Er lief im Zimmer auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Zeit. Sie brauchte einfach nur Zeit, sagte er sich. Sie käme schon darüber hinweg. Über ihn hinweg. Sie war einfach nur traurig, dass er fort war und sie allein gelassen hatte mit dem Chaos. Eine Veränderung lag in der Luft und Nakatsu spürte es genau. Es war keine angenehme Aussicht und er konnte nicht sagen, wie die Veränderung kommen würde, wie ein Stein, der ins Rollen gekommen und nicht mehr aufzuhalten war. Ein Gefühl machte sich in seiner Brust breit. Das Gefühl, Lily zu verlieren. Sie entglitt ihm. Sein Magen stülpte sich um, so als würde man eine Stufe überspringen beim hinunter gehen. Schmetterlinge im Bauch. Was für eine bescheuerte Metapher, schoss es durch seinen Kopf. Es fühlte sich nach Killerbienen an. Vielleicht war er auch nur übermüdet und dabei durch zu drehen, vielleicht brauchte er nur ein wenig Schlaf und eine Dusche. Als Lily aus dem Bad kam, ging er sofort hinein. Nakatsu zerknüllte seine schmutzige Wäsche und warf sie in die Ecke. Obwohl er unter der Dusche stand, das Shampoo von Lily roch, konnte er nicht den Geruch des Kissens aus seiner Nase vertreiben, egal, wie er oft er die warme und feuchte Luft einsog. Was war er nur für ein Freund? Es war albern, wie er sich benahm. Das war das Verhalten eines eifersüchtigen Ehemannes, aber nicht das eines besten Freundes! Nakatsu seufzte und stellte das Wasser ab. Schnell zog er sich an und ging aus dem Bad hinaus. Lily wartete bereits auf ihn. „Bist du okay?“, fragte er und legte einen Arm über ihre Schulter. „Klar bin ich okay“, sagte sie und ging mit ihm aus dem Apartment. Gemeinsam gingen sie zur Mensa und trafen dort auf die Alltäglichkeit der Shinigami Dispatch Society. Es war irgendwie beruhigend, dass alles seinen gewohnten Gang lief. Alan und Eric saßen bereits am gemeinsamen Tisch. Nakatsu stellte seinen Frühstücksteller ab, der gefüllt war mit gebratenen Eiern, Schinken, Toast und einem Pudding. Er hatte einen riesen Hunger, so als hätte er seit Tagen nichts mehr gegessen. Nachdem er zwei Stück Schinken und die Eier verputzt hatte, sah er zum ersten Mal auf. Lily hatte noch nichts gegessen und spielte mit dem Stiel des Apfels, den sie sich geholt hatte. Sie sah fix und fertig aus. „Du siehst aus, als würdest du gleich wieder einschlafen. Geh zur Krankenstation und hol dir für heute ein Attest. Dann leg dich ins Bett“, sagte er und biss vom Toast ab. „Nein. Es ist ok. Mir geht es gut“, gab sie zur Antwort. Eric faltete seine Zeitung zusammen, die er gelesen hatte. „Schlecht geschlafen?“ „Ja“, gab sie monoton zurück. „Wegen der Prügel gestern?“, fragte Alan. Lily zog die Schultern hoch. „Vielleicht hat es aber auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass einige Leute in dieser Firma keinen Anstand haben und kein Benehmen.“ „Wie meinst du das?“ Nakatsu runzelte die Stirn. „Ich meine, diese Firma ist so riesig, dennoch muss nur eine einzige Person ein unwahres Gerücht verbreiten und bevor man sich versieht, ist es zu einer feststehenden Wahrheit geworden.“ Ihre Stimme klang frustriert. „Ihr wisst, wovon ich rede und ihr wisst, dass es nicht in Ordnung ist. Ich habe gehört, wie ein paar Leute gesagt haben, dass ich es sogar mit Kayden getrieben habe oder nur was mit Mr. Knox angefangen habe, damit ich besser benotet werde.“ Sie schnaubte abfällig. „Kayden würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen.“ Alan strich über ihren Arm und sprach in einem mitfühlenden Tonfall mit ihr. „Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich fühlen. Aber wirklich etwas dagegen tun, können wir nicht. Nicht einmal William. Die Leute reden eben. Irgendwann hört es auch wieder auf.“ „Ihr versteht das nicht! Niemand versteht es!“, gab sie patzig zurück und entzog Alan ihren Arm. „Sonst würde Mr. Spears die Leute daran hindern; seine Position als Leiter der Abteilung nutzen, etwas unternehmen!“ „Selbst er kann nicht bestimmen, was die Leute denken. Das wissen Sie“, sagte Eric. „Ignorieren Sie sie einfach. Es vergeht von alleine.“ Lily stand auf. „Wenn sich niemand für mich stark machen will, mach ich es eben alleine!“ Sie stolzierte aus der Mensa und ließ den Apfel liegen. Lautstark knallte sie die Tür hinter sich zu, damit sie wussten, wie ernst sie es meinte. „Hey Nakatsu!“, schallte es plötzlich durch die Mensa. Er drehte sich um. Es war irgendeiner von Kaydens Freunden. „Du solltest es ihr mal wieder richtig besorgen! Oder hast du es letzte Nacht im Bett nicht gebracht und sie ist deshalb so sauer?!“ Eric rollte mit den Augen, während Nakatsu nur den Kopf schütteln konnte über diesen lahmen Spruch. Er spielte kurz mit dem Gedanken, ihm Lilys Apfel an den Kopf zu werfen, aber der Apfel tat ihm leid, denn er konnte auch nichts dafür, wenn der Junge so hohl im Kopf war. Nakatsu wog den Apfel in den Händen. Vielleicht sollte er ihn doch werfen? „Tun Sie das nicht. Er ist es nicht wert“, sagte Alan und schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Gehen Sie lieber zu Ihrer Freundin. Miss McNeil braucht Sie jetzt.“ „Okay.“ Er stand auf und folgte Lily. In seiner Tasche verstaute er den Apfel und warf im Vorbeigehen dem Jungen einen finsteren Blick zu. Mit schnellen Schritten ging er aus der Society und holte Lily ein. Sein Herz zog sich bei dem Anblick schmerzhaft zusammen. Sie hatte die Arme um sich geschlungen und ging langsam zur Akademie. Er schluckte ein paar Mal, um diese Empfindungen los zu werden, aber es gelang ihm nicht. Nakatsu überlegte, was er am besten sagen sollte, doch es wollte ihm nichts einfallen. So holte er zu ihr auf und legte ihr einen Arm um. Lily zuckte zusammen, aber als sie ihn erkannte, entspannte sie sich wieder. Sie sprachen kein Wort, auch nicht, als sie durch das Tor der Akademie und in die Eingangshalle gingen. Ein großer handgeschriebener Zettel klebte am schwarzen Brett und zeigte ein Foto von Lily mit einem dazu unmoralischem Angebot. Mit einem Knurren riss Nakatsu das Blatt von der Tafel, knüllte es zusammen und verfrachtete es in den nächstbesten Mülleimer. Er konnte sich denken, wer dafür verantwortlich war. „Nakatsu, mach bitte keine Dummheiten“, sagte Lily, der das Blatt nicht entgangen war. „Und wieso nicht? Kayden und Carry verdienen eine Abreibung!“ „Weil sie genau das wollen! Also lass es einfach, bitte.“ Aus großen und bittenden Augen sah sie ihn an. „Ich hasse diesen Blick. Dem kann ich einfach nichts abschlagen.“ Frustriert über seine mangelnde Selbstbeherrschung, seufzte er auf. „Na gut. Ich reiß mich zusammen.“ Dankend nickte sie und ging mit ihm gemeinsam die Treppen nach oben. „Ich muss mich wohl nachher bei Mr. Humphries entschuldigen“, seufzte sie. „Es war nicht richtig ihn so an zu fahren.“ „Das stimmt. Aber er nimmt es dir sicher nicht übel. Anders als bei meinem Mentor. Da hättest du danach keine Chance mehr.“ „So streng?“ Nakatsu nickte. „Und senil. Er vergisst ständig Sachen oder beginnt was zu erklären, hält inne und wechselt dann das Thema. Er hat dann vergessen, was er erklären wollte und dann schickt er mich Kaffee oder Akten holen.“ „Klingt ja nicht so gut. Wenn du Hilfe brauchst, dann sag was. Ich helfe dir gerne.“ Er nickte. „Klar. Vielleicht sollte ich auch mal mit Mr. Spears sprechen? Wahrscheinlich ist mein Mentor einfach zu alt, aber noch ist es kein Problem.“ „Warte lieber nicht allzu lange.“ Lily stieß einen Seufzer aus und atmete tief ein. „Da sind wir.“ Sie öffnete die Tür zum Klassenraum und lief zu ihrem Platz, während Nakatsu hinter ihr her ging. Sie stieg über eine Tasche, die Kayden Bloom mit voller Absicht in den Weg gestellt hatte, während er eine „Schlaaaa-mpe“-Serenade anstimmte, die er leise vor sich hin trällerte. Nakatsu hörte nicht hin und stieg ebenfalls über Kaydens Tasche. „Kayden, das war schon vor zwanzig Jahren out“, kommentierte er und konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Lily auf ihren Platz rutschte und die Haare ins Gesicht fallen ließ. Kayden tat so, als müsse er husten und sah Nakatsu hämisch grinsend an. „Schlampen-Ficker“, hustete er mehrmals. Nakatsu rollte mit den Augen und begab sich zu seinem eigenen Platz. Nun wartete er genauso wie Lily, dass William T. Spears auftauchte, aber er kam immer etwas zu spät, wenn auch nur fünf Minuten. Hauptsächlich deshalb, weil er der Leiter der Shinigami Abteilung war und immer viel zu tun hatte. Nakatsu schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn, um nicht doch noch auf Kayden los zu gehen und ihm eine rein zu hauen. Seine Hand ballte sich unterm Tisch zur Faust, während der Großteil der Klasse mit widerlichen Sprüchen um sich warf und sich neue Gerüchte ausdachte. Sekunden, bevor Spears eintrat, setzten sich alle hin und taten so, als wäre nichts gewesen. Der Leiter der Management-Abteilung war diesmal nicht alleine. Ihm folgte eine Frau in die Klasse. „Das ist Hinako Takano. Sie wird zukünftig das Training mit den Sensen leiten.“ Lily sah nur kurz auf, während Hinoko ihnen beiden zuzwinkerte. Nakatsu schielte zu seiner besten Freundin zurück, die inzwischen ein leeres Blatt Papier aus einem Block gerissen hatte und den Kopf auf ihre Hände stützte, während ihre Haare noch immer wie ein dichter Vorhang über ihrem Gesicht hingen. Mit einem Stift kritzelte sie auf dem Blatt herum. Er erkannte kleine Bildchen, bizarre Muster, verrückte Symbole. Alles, was ihr in den Sinn kam, schmierte sie auf das Blatt, bis sie die Rückseite nehmen musste. Sogar kleine Sätze schrieb sie auf. „Bevor ich aber mit dem Unterricht anfangen werde, werde ich noch über die aktuellsten Dinge sprechen, die sich im Moment in der Society ereignen.“ William machte eine kurze Pause. „Wie die meisten bereits wissen, ist Ronald Knox gegangen und daraus sind einige sehr unschöne Gerüchte in Umlauf gekommen. Auch ist mir zu Ohren gekommen, dass es Mobbingattacken gibt.“ Nakatsu hörte, wie sich die Klasse auf ihren Stühlen herumdrehte und zu Lily starrte, die auf ihrem Platz immer kleiner zu werden schien. Auch William hatte ihr einen kurzen Blick zugeworfen. Lily sah auf das Blatt vor sich und schien sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, um nicht sehen zu müssen, wie alle sie anstarrten. „Angesichts der Tatsache, dass aus einer einfachen internen Sache so etwas entstehen konnte, werden jetzt Maßnahmen ergriffen, um das zu unterbinden.“ Die Klasse sah wieder nach vorne, sodass Lily nun nicht mehr der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit war. „Jeder, der dabei erwischt wird, wie er ein Gerücht verbreitet oder jemanden mobbt, wird sich bei mir im Büro melden und Strafarbeiten verrichten müssen. Ebenso ist eine Untersuchung einberufen worden, um zu klären, wer für diese Gerüchte verantwortlich ist. Wenn jemand etwas weiß oder Beweise hat, hat er diese vorzubringen. Andernfalls macht er sich mit verantwortlich und wird eine ebenso harte Strafe erhalten, wie der Verantwortliche. Ich ermahne nur jeden einzelnen von Ihnen, es zu unterlassen.“ Dann erklärte William, dass es eine interne Angelegenheit war, weshalb Ronald Knox gehen musste, die nur ihn als Abteilungsleiter und Knox selbst etwas anginge. Ebenso zählte er die bisher schlimmsten Gerüchte auf, die man ihm zugetragen hatte. Er forderte jeden auf, sich an der Untersuchung zu beteiligen, um dafür zu sorgen, dass es aufhören und dass solche Angelegenheiten das Klima in der Gemeinschaft nicht stören würden. Von Zeit zu Zeit schaute jemand in Lilys oder auch in Nakatsus Richtung, so, als ob derjenige sich fragen würde, wann einer von ihnen aufstehen und etwas sagen würde. Nach ein paar Minuten hingen ihm diese Blicke zum Hals heraus und als würde das noch nicht reichen, stand auch noch Kayden auf. Selbstgefällig und die pure Arroganz ausstrahlend stand er an seinem Platz und lächelte herablassend. „Ich möchte nur sagen, dass ich es einfach nicht fassen kann, dass jemand so etwas schreckliches tut und solche Gerüchte verbreitet. Ich werde mein Bestes tun, damit unsere Gemeinschaft nicht gestört wird und wieder ein angenehmes Klima herrschen kann.“ Nakatsu verdrehte die Augen. Kayden machte sich nicht im Geringsten was aus den Gerüchten oder den Mobbingattacken. Er war doch sogar ganz vorne mit dabei. Er hätte kotzen können. Dabei war doch Kayden einer der Gründe, wieso es solche Gerüchte gab und dann besaß er auch noch die Frechheit, da zu stehen und so zu tun, als würde ihn das alles interessieren. Was für ein Mist! Lily schnaubte vernehmlich, als sie seine Worte hörte und Nakatsu sah sie mitleidig an. Das Geräusch ihrer Schuhe auf dem gefliesten Fußboden hallte durch die Klasse, als sie aufstand und ging. Sie ließ die Tür hinter sich zuknallen und schaute nicht einmal zurück. Nakatsu vermutete, dass sie sich wohl auf der Toilette verkriechen würde. Erst als es zur nächsten Stunde klingelte, kam Lily wieder und sprach kein Wort. Mit niemanden. Der Vormittag schlich dahin und während alle um Nakatsu herum sich Mühe gaben, William T. Spears zuzuhören und sich Notizen zu machen, gab er sich Mühe, Kayden für seine Worte nicht doch noch eine zu knallen und an Lily zu denken, wie sie sich wohl gerade fühlte. Als die Klingel das Ende der Unterrichtsstunde und den Beginn der Mittagspause ankündigte, schlüpfte er mit Lily schnell aus der Tür und sie liefen zur Mensa. Nakatsu brauchte dringend eine Pause. William hatte ihn ganz schön in die Mangel genommen in der Magiestunde und das nur, weil sein Mentor ihm die Meditation nicht erklärt hatte, geschweige denn den Unterschied zwischen schwarzer und weißer Magie. Er hatte ganz schön dumm da gestanden und konnte sich sehr gut vorstellen, wie Kayden auf seinem Platz gegrinst hatte. Zum Glück hatte Lily ihm ein wenig helfen können und ihm ihr Wissen mitgeteilt, so dass er an der Meditation hatte teilnehmen können. In der Mensa angekommen wurde es aber nicht besser. Einige seiner Klassenkameraden lächelten ihn an, aber er lächelte nicht zurück. Er wollte nicht zu denen gehören, die jemanden schikanierten und die sich eh als falsche Freunde entpuppen würden. So eine Gesellschaft wollte er nicht. Nach der Mittagspause verging der Nachmittag noch langsamer als der Vormittag. Jede Sekunde schien sich endlos lang dahin zu ziehen. Zum Glück war die letzte Stunde eine Studierstunde, die auch in ihren Zimmern abgehalten werden konnte. Das war der Höhepunkt des Tages. Doch dieser kurze Moment der Freude hielt nicht lange, denn die letzten Minuten bis zum Unterrichtsschluss fühlten sich an, wie weitere Stunden. Die monotone Stimme von Spears war inzwischen schon einschläfernd geworden und Nakatsu hatte Mühe, ihm zuzuhören ohne einzuschlafen. Ihm fiel es schon schwer sich Notizen zu machen. Vielleicht könnte er nachher Lilys Aufzeichnungen abschreiben und vielleicht auch noch mal mit ihr ein wenig die Magie lernen? Sein Mentor brachte es ja nicht zustande, ihn richtig zu unterrichten. Vielleicht sollte er doch mal mit Spears reden, aber vermutlich würde der Leiter der Management Abteilung bei der nächsten Prüfung seines Berichtsheftes von sich aus etwas sagen. Nakatsu saß die letzten Minuten einfach nur da und dachte über die vergangen Tage nach, was alles passiert war, und fürchtete sich ein wenig davor, was noch vor ihnen lag, was vor Lily lag. Die laute und schrille Klingel, die das Ende des Tages ankündigte, ließ ihn hochschrecken. Lily stand neben seinem Tisch und wartete darauf, dass er seine Sachen zusammenräumen würde. Mit dem Handrücken wischte sich Nakatsu schnell über den Mundwinkel, um die Spucke zu entfernen, die sich bei seinen Tagträumen gebildet hatte. Zum Glück schien sie es nicht bemerkt zu haben oder sie sagte aus Zurückhaltung nichts dazu. Sie waren die Einzigen, die noch im Raum waren, von Spears mal abgesehen. Schnell räumte er seine Bücher zusammen, warf sie in die Tasche und ging mit Lily aus der Akademie. Der Tag war geschafft. Kaum waren sie in Lilys Zimmer angekommen, setzte er sich an den Tisch und breitete seine Schulsachen aus. „Lily, kann ich deine Notizen haben? Spears hat mich mit seiner Stimme total eingeschläfert.“ Sie nickte und suchte in ihrer Tasche nach den Unterlagen. „Ich hab mich eh schon gewundert, dass du nicht eingeschlafen bist, so verträumt wie du die letzten Minuten da gesessen hast.“ „Wo willst du hin?“ „Ich lege mich etwas hin“, sagte sie und ging bereits zum Schlafzimmer. „Weckst du mich bitte, wenn es Zeit fürs Abendessen ist?“ „Ja, klar, aber die Hausaufgaben?“ Nakatsu sah Lily besorgt an, denn normalerweise machte sie immer die Aufgaben sofort. „Mach ich nachher. Ich brauch dringend etwas Schlaf.“ „Okay…soll ich rüber gehen zu mir?“ „Nein, ist ok. Außerdem bewohnen grad zwei andere Shinigami dein Zimmer.“ Lily winkte ab und verschwand im Schlafzimmer. Nakatsu sah ihr nach. Stimmt. Das hatte er vollkommen vergessen. Es fühlte sich falsch an. Ihr Benehmen fühlte sich falsch an und sich vorzumachen, dass alles normal war, wäre nur eine große Lüge. Nakatsu lehnte sich zurück und wurde von Bildern des Tages überflutet. Noch immer konnte er den Vortrag von Spears hören. Er sah Lilys traurigen Blick und wie sich ihr ganzer Körper verspannt hatte in der Klasse. Dieser Anblick schmerzte. Es fühlte sich an, als würde sein Herz zusammengedrückt werden und mehrere Kilo wiegen. Mit dieser Art von Schmerz war er überfordert. Wie ging man damit um? So hatte sich Nakatsu noch nie gefühlt. Anstatt also Schularbeiten zu machen, verbrachte Nakatsu die Zeit damit, auf dem Sofa zu sitzen und nachzudenken. Nach fast zwei Stunden hielt er es nicht mehr aus, stand auf und weckte Lily. Verschlafen blinzelte sie ihn an, gähnte laut und setzte sich auf. Sie rieb sich die Augen. „Ist es schon Zeit fürs Abendessen?“, fragte sie und es klang, als wäre sie noch im Halbschlaf. „Nein, aber hast du Lust mit mir in die Stadt zu fahren? Ich wollte in einen Laden gehen und dich gerne mitnehmen. Außerdem habe ich gehört, dass es einen neuen Buchladen gibt.“ „Aber das ist fast eine Stunde Fahrt. Bist du sicher, dass du das wirklich willst?“ „Klar, wieso nicht? Ein bisschen Ablenkung tut uns beiden gut“, entgegnete er achselzuckend. „Außerdem würde ich gerne was machen lassen, hab aber ein bisschen Angst davor.“ Lily zog die Augenbraue hoch. „Und was?“ „Ich würd mir gerne ein Ohrloch stehen lassen.“ Nakatsu deutete auf die Stelle an seinem Ohr, wo er es gerne haben wollte. Es war an seinem äußeren Ohrknorpel. „Ich will ein Helix haben.“ „Du willst dir echt das Ohr durchstechen lassen?“ „Ja. Mir ist egal, ob mein Mentor was dagegen hat oder nicht.“ „Okay.“ Lily rang sich ein Lächeln ab und stand auf. „Fahren wir, damit ich dir das Händchen halten kann, du kleine Memme!“ Seite an Seite gingen Lily und Nakatsu durch die Stadt, an den vielen Geschäften vorbei, die sich eng aneinander reihten. Angefangen bei Modegeschäften und Nagelstudios, bis hin zu Friseuren, Parfümerien, Bars, Bäckereien, gab es all mögliche Läden. Hier und da gab es ein leeres Schaufenster mit großen Plakaten, welche die Läden zur Vermietung anpriesen. Sie kamen an einem Restaurant vorbei, einem Uhrengeschäft und einem Antiquitätenhändler. Das nächste Gebäude war ein neues Geschäft für Parfüms. Ein großer Banner, der die Neueröffnung verkündete, befand sich über der rustikalen Holztür. Die Schaufenster waren blitzblank geputzt und mit hellen Lampen beleuchtet worden. Eine gusseiserne Badewanne stand im linken Schaufenster. Sie war gefüllt mit Seifen, die alle in altem Papier eingewickelt waren, das die Farben von Veilchenlila, Azurblau, Altrosa, Schokoladenbraun und vergilbtem Gelb hatte. Zusammengehalten wurden die kleinen Päckchen von einer alten Kordel mit Schleife. Im anderen Schaufenster stand ein Podest mit verschiedenen Parfümflakons und Badezusätzen in edlen Flaschen. Dazu gab es noch eine kleine Auswahl von verschiedenen Kosmetikartikeln. Interessiert schaute sich Lily das Schaufenster und das Angebot an, während Nakatsu sie dabei musterte. „Interessiert dich was Besonderes?“, fragte er und sah sich das Angebot einmal an, das ihn vorher nicht wirklich interessiert hatte. Lily nickte. „Ich hab in einer Zeitung von diesem Laden gelesen. Er soll wirklich gut und für seine Parfüms bekannt sein.“ „Dann lass uns reingehen.“ „Aber er ist sehr teuer.“ „Aber heute ist Neueröffnung und es gibt Rabatte. Gucken kann man doch mal.“ Nakatsu grinste sie aufmunternd an und nahm ihre Hand. Er führte sie in den Laden hinein, der angenehm nach einem süßen Parfüm duftete. Die Wände waren weiß gestrichen und mit einer hellen Holzbordüre verkleidet, während der Boden aus einem dunklen Holzparkett bestand. Ein großer und dunkler Holztresen stand im Zentrum des Geschäftes mit einer großen Kasse und mehreren hohen Gläsern daneben, die mit Badesalzen, kleinen Seifen und Parfümproben gefüllt waren. Auf der anderen Seite des Tresens stand eine vergoldete Waage, auf deren Schalen Bonbons aufgetürmt waren. Die eine Schale hing ein wenig tiefer als die andere. Im vorderen Bereich des Geschäftes war ein Sofa mit einer verschnörkelten Verzierung aus Holz. Der Bezug war schwarz-weiß gestreift. Es gab auch ein paar Stühle, die passend zum Sofa bezogen waren. Daneben stand ein niedriger, dunkler Holztisch, auf dem mehrere Bücher und Zeitungen lagen, während in der Mitte ein Servierständer mit kleinen Kuchen, Muffin, Törtchen, karamellisierten Äpfeln, Birnen und Keksen stand. An einer Wand stand ein hohes weißes Metallregal mit einer Rankenverzierung, in dem unzählige verschiedene Parfüms Platz fanden. In einem Regal daneben, das genauso aussah wie das Erste, standen Badezusätze und in einem Dritten Kosmetikartikel, wie Make-up. Passend zum nahenden Herbst waren die Regale mit künstlichem Herbstlaub und Kürbissen verziert. Auch dort stand ein kleiner Tisch mit einem silbernen Tablett, auf dem Apfelkuchen und karamellisierte Äpfel und Birnen lagen. Es gab auch eine große Auswahl an Raumdüften, Kräutern, Krügen, Flaschen in verschiedenen Größen, Probesets und jede Menge Verpackungszubehör. Jedes mögliche ätherische Öl stand in einem Regal, was man zum Parfümherstellen gebrauchen konnte. Neugierig sah sich Lily in dem Geschäft um und Nakatsu folgte ihr, während die Verkäuferin gerade zwei Kundinnen verabschiedete. Sie ging hinter dem Tresen mit der großen Kasse hervor und trat auf sie beide zu. „Guten Tag und willkommen im „Hidden Scent“. Mein Name ist Abbey Maxwell. Ich bin die Inhaberin dieses Geschäftes. Darf ich Ihnen weiterhelfen und das Geschäft zeigen?“ Freundlich lächelnd sah die junge Frau Lily und Nakatsu an. „Was für Parfüms haben Sie denn?“, fragte Lily neugierig. „Wir haben sehr viele Düfte da, aber wir kreieren auch einen ganz persönlichen Duft auf Wunsch. Suchen Sie denn etwas Bestimmtes?“ „Nein, eigentlich nicht.“ Abbey Maxwell nickte und ging zu einem Regal. „Wir führen verschiedene Serien. Die aktuellste Serie ist speziell jetzt für unsere Neueröffnung auf den Markt gekommen. Wir nennen es „Beautiful Death“. Die Duftreihe ist sehr erdig und erinnert an die Vergänglichkeit. Wir haben uns bei der Kreierung von den Shinigami in der Society inspirieren lassen. Man sagt ja, dass ihnen nach einer Weile der Geruch des Todes anhaftet“, erzählte sie und nahm mehrere Proben der Serie aus dem Regal. Neugierig und sich verschwörerisch zu grinsend, rochen Lily und Nakatsu an den Düften. Immerhin arbeiteten sie in der Society und es war interessant, dass es sogar eine Parfümserie gab, die dem Geruch des Todes ähneln sollte. Es waren sehr erdige Düfte und alle rochen stärker als normale Parfüms. Abbey erklärte, dass es daran lag, dass sie weniger Alkohol verwendeten und die Düfte alle auf ätherischen Ölen basierten im Gegensatz zu den anderen Parfümerien. Sie reichte Lily weitere Duftproben. Eine davon war mit Vanille und Lavendel, die andere mit Grapefruit, Ingwer und einem Hauch von Vanille. Nach fast einer Stunde hatte Abbey ihnen den Laden gezeigt und für beide ein persönliches Parfüm zusammengestellt. Lily hatte sich für zwei Flakons entschieden und einer Seife mit Patschuligeruch, während Nakatsu nur zwei Flaschen hatte. Beide hatten sich jeweils ein Parfüm aus der neuen Serie genommen und das persönliche Parfüm. „Zusammen oder getrennt?“, fragte die Inhaberin, als sie die Sachen auf den Tresen abstellte und begann die Quittung vorzubereiten. „Getr..“, fing Lily an, wurde aber unterbrochen. „Zusammen!“, sagte Nakatsu schnell. Fragend sah Lily ihn an und flüsterte: „Was soll das?“ Nakatsu zog die Schultern hoch und wartete darauf, dass Abbey die Summen addiert hatte. „Betrachte es als frühzeitiges Geburtstagsgeschenk. Ich weiß nämlich nicht, wann du hast und würde dir wirklich gerne was schenken.“ Lily seufzte „28. Januar.“ „Wie?“ „Du wolltest doch meinen Geburtstag wissen: 28. Januar.“ „Ach so! Dann ist es ein nachträgliches Geschenk!“ Lily brummte missmutig. „Wann hast du?“ „Am 8. August.“ „Dann hattest du ja vor zwei Monaten erst!“ „Ja, aber du musst mir nichts schenken.“ Nakatsu winkte ab und bezahlte die Ware. Gemeinsam verließen sie das Geschäft. „Würde ich aber gerne! Also?“ Nakatsu überlegte. Es war ja irgendwie niedlich, wie Lily darauf bestand. „Na gut. Dann such dir was aus.“ Lily nickte. „Ich bezahl dir dann das Piercing!“ „Das würdest du tun?“ Sie nickte mit roten Wangen. „Ist ja süß von dir.“ Nakatsu wuschelte ihr durch die Haare. „Ich bin einverstanden. Davon abhalten kann ich dich eh nicht. Dann lass uns mal dahin gehen. Wir sollten eh gucken, dass wir zum Abendessen zurück in der Society sind.“ Kapitel 14: Die Gedanken von William T. Spears ---------------------------------------------- Warmes Sonnenlicht fiel durch das Fenster und durch die Lücken des Rollos in das Büro von William T. Spears. Die warmen Strahlen erhitzten den Raum auf eine unnatürliche Temperatur. Obwohl das Fenster offen stand und ein lauer Wind hinein wehte, brachte dieser kaum Kühlung. Ein Seufzer entfuhr dem Leiter der Abteilung zur Entsendung der Shinigami und nachdenklich schwenkte er seine Tasse Kaffee. Die braune Flüssigkeit war inzwischen kalt geworden. Ein eklig aussehender Rand hatte sich an der Tasse gebildet. Was für ein Tag, fuhr es ihm durch den Kopf und er stürzte den kalten Kaffee in einem Zug hinunter. Sein Blick fiel auf den Stapel Hausaufgaben der Schüler, die er durchsehen musste und wozu er gar keine Lust hatte. Mit einem Gähnen auf den Lippen drehte er sich mit dem Stuhl zum Fenster herum. Die Sonnenstrahlen, die es durch die Lücken schafften, wärmten sein Gesicht und er schloss entspannt die Augen. Wenn nicht so viel Arbeit auf ihn warten würde sowie eine Befragung eines Shinigami, würde er sich sofort in sein Zimmer begeben und schlafen gehen. Aber bei dem Gedanken daran, wen die Verwaltung ihm als Zimmergenossen während der Bauarbeiten zugeteilt hatte, wurde ihm ganz flau im Magen und William überlegte ernsthaft, ob er nicht für die restliche Zeit in seinem Büro auf dem Sofa schlafen sollte. Allein diese aufdringliche Stimme trieb ihn schon während seiner Arbeitszeit in den Wahnsinn. Aber seine kleinen Lieblinge wollte und konnte er nicht einfach so diesem Objekt überlassen. Es blieb ihm wohl keine andere Wahl, als dass er sich dem stellte und so selten wie nur möglich Zeit in seinem Apartment verbrachte. William nahm seine Brille ab und rieb sich über die brennenden und müden Augen. Er starrte zu dem Fenster und durch eine Lücke in dem Rollo nach draußen. Was würde er jetzt nicht alles dafür geben, einfach Feierabend machen und schlafen zu können, ohne dass er darum fürchten musste, im Schlaf angesprungen zu werden. Der Bericht von seinem Auftrag in der vergangenen Nacht musste auch noch geschrieben werden. Ein weiterer Seufzer ließ sich nicht vermeiden. Manchmal wünschte er sich, er wäre wieder ein Schüler und hätte nur die Hausaufgaben zu erledigen und danach Freizeit. Der Abteilungsleiter wusste leider genau, dass dies schon vor langer Zeit geendet hatte, nachdem er die Abschlussprüfung bestanden und eine menschliche Seele abgeholt hatte. Aber all das Seufzen und Träumen brachte ihn nicht weiter. Er musste noch ein wenig seiner Arbeit nachgehen, egal wie müde er auch war. William drehte sich mit dem Stuhl wieder herum und nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade. Er zog sich die Schreibmaschine näher heran und führte das Papier vorsichtig und gerade ein. Kurz überlegte er, dann fing er an den Bericht über den Auftrag zu schreiben. Monoton erklang das Geräusch der Tasten in dem Zimmer und das Geräusch ließ William erneut gähnen. Es war ein Bericht wie er ihn schon zigtausende Male geschrieben hatte und wo er schon gar nicht mehr darüber nachdachte, sondern es einfach nur noch aus dem Kopf schrieb. Selbst der Schultag hatte sich langsam dahin gezogen und William schallte sich selbst dafür, dass er heute so einschläfernd gewesen war. Der Gong war seine Rettung gewesen, sonst wäre er womöglich bei seinem eigenen Vortrag eingeschlafen. Ein Glück, dass die Schüler selbst am Träumen gewesen waren und seine Müdigkeit nicht bemerkt hatten. Nach zwanzig, sich zäh dahin ziehenden, Minuten war der Bericht fertig geschrieben und William musste nur noch seine Unterschrift darunter setzen, dann konnte das Blatt zur Akte gelegt werden und ins Archiv. Mit einer lockeren Bewegung seiner Hand führte er den Füller über das Blatt Papier und unterschrieb mit seiner geschwungenen Handschrift den Bericht. Es war geschafft. Eine Woge der Erleichterung überkam William. Er legte den Füller zur Seite und sah wieder auf die Uhr an der Wand. Kam es ihm nur so vor oder verging die Zeit an diesem Tag gar nicht? Zumindest hatte sich der Zeiger keinen Millimeter bewegt. William griff zur Tasse und wollte gerade ansetzen, um daraus zu trinken, als ihm einfiel, dass er den Kaffee bereits ausgetrunken hatte. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm. Er konnte doch nicht schon wieder zum Kaffeeautomaten gehen und sich eine Tasse holen. William wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie viel Kaffee er bereits heute getrunken hatte. Mehr als üblich auf alle Fälle. Erneut musste sich der Abteilungsleiter über die Augen reiben, die vor Müdigkeit brannten. Sein Blick fiel auf die Hausaufgaben der Lehrlinge. Er wollte sie nicht korrigieren, aber er hatte keine Wahl und so zog er das oberste Blatt vom Stapel. Das Papier raschelte kurz und war kurzzeitig das einzige Geräusch in dem Zimmer. Als es vor William auf dem Tisch lag war es wieder still. Sein Blick ging zur Ecke mit dem Namen. Lily McNeil. Wie passend, schoss es ihm durch den Kopf. Gerade die Person, mit der er noch ein Gespräch führen musste und die im Moment den meisten Ärger verursachte und bereits verursacht hatte, lag oben auf. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. Wenn er jetzt ihre Aufgaben kontrollieren würde, hätte er für nachher eine sehr gute Gesprächsbasis. Bisher war ihm noch kein plausibler Grund eingefallen, weshalb er das Mädchen zu sich rufen sollte. Natürlich gab das Mobbing einen perfekten Grund, aber er hatte schon in der Schulstunde sehen können, wie unwohl sie sich fühlte und ihr zusätzlichen Ballast aufwerfen wollte er in keinem Fall. Er hatte auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, sie zu sich zu rufen, um mit ihr über ihre Gesundheit zu sprechen. Natürlich war ihm am ersten Tag ihre Reaktion aufgefallen. Kaum hatte er den Raum betreten und sich vorgestellt, war sie blass geworden und sah aus, als wäre ihr schlecht. Zuerst hatte er gedacht, es wäre einfach nur die Nervosität, doch später hatte sie genauso in der Mensa reagiert, bei Alan Humphries und Eric Slingby. So eine Reaktion hatte er bisher nur bei wenigen Shinigami gesehen. Doch um sie nicht bloßzustellen und vielleicht über zu reagieren, wollte er lieber abwarten, ob sich sein Verdacht bestätigte. Bisher war alles normal gewesen. Das Training hatte sie gut mitgemacht und keinerlei Anzeichen gezeigt, dass sie krank war. Also fiel das Thema als Gesprächsgrund auch weg. Ein Seufzer entfuhr ihm. Es war nicht leicht Abteilungsleiter zu sein und er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich gefühlt hatte, als er vor dem damaligen Ausbilder stand und später vor den Mentoren. Er war nervös gewesen und wäre am liebsten zurück ins Bett geflüchtet. All die prüfenden und musternden Blicke auf sich zu spüren war ein Horror damals gewesen. Natürlich war es kein Vergleich wie es sich für eine Frau anfühlen musste, aber selbst für ihn war es nicht immer leicht gewesen. Oft hatte er bis nach Mitternacht gelernt und war auch früh aufgestanden, um zu trainieren. Ein paar Mal war es ihm auch passiert, dass er am Schreibtisch über den offenen Büchern eingeschlafen war. Ein wehmütiger Seufzer entfuhr ihm, während er versuchte, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Blatt zu lenken. Er betrachtete die erste Aufgabe und ihre geschriebene Antwort. Das Thema der Hausaufgabe war das menschliche Leben und eine andere Hausaufgabe über die verschiedenen Meditationsarten. Es erstaunte ihn, wie gut sie für einen jungen Shinigami das Leben als Mensch beschreiben und auch begründen konnte. Sowohl das der ärmeren als auch der reicheren Bevölkerung. Viel zu gut für seinen Geschmack. Der Text klang, als würde sie selbst einmal so ein Leben geführt haben. William runzelte die Stirn und ihm kam ein absurder Gedanke. Doch anstatt ihn zu verwerfen, behielt er ihn im Hinterkopf und sagte sich selbst, dass er diesen Shinigami im Auge behalten musste. Irgendwie erinnerte ihn die Beschreibung an seinen ersten großen Fall als Abteilungsleiter. Damals war er noch jünger gewesen und Alan Humphries hatte gerade seine Ausbildung beendet. Eric Slingby als sein Mentor war mit dabei gewesen. William konnte sich noch gut an die Mordserie erinnern und an das Menschenmädchen, das in einer verfallenen Hütte gesessen hatte, umgeben war von den Toten. Dieses Mädchen hatte sie gefunden, als sie sich auf dem Dach versteckten. Wie sich herausgestellt hatte, war ihre Seele die eines Shinigami gewesen. Es war also kein Wunder gewesen, dass dieses Mädchen sie wahrgenommen hatte. Unwillkürlich fragte sich William, was aus ihrer Seele geworden war. War sie schon wiedergeboren worden als Shinigami? War sie vielleicht sogar schon in der Society? Es war wirklich traurig gewesen, als sie gestorben war. Ihre Erinnerungen waren zwar nicht in ihn eingedrungen, wie bei seiner Abschlussprüfung, aber hatten ihn dennoch auf eine Weise berührt, wie es nur wenige Lebensaufzeichnungen tun konnten. Vielleicht hatten ihn diese Aufzeichnungen auch nur so mitgenommen, weil es doch in gewisser Weise ein Shinigami war, der gestorben war. William seufzte. Kam es ihm nur so vor oder war es tatsächlich wärmer geworden in dem Zimmer trotz offenem Fenster und heruntergezogenen Rollos? Das Rascheln des Stoffes war zu hören, als der Shinigami sein Jackett auszog und unordentlich über seine Stuhllehne hing. Dann widmete er sich wieder der Hausaufgabe vor ihm. Es war gut geschrieben und nichts daran auszusetzten. Eine gute und ordentliche Abgabe. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er die Hausaufgabe nicht als Gesprächsgrund nehmen konnte, aber er sollte sich nicht beschweren. Immerhin hatte er schon schlimmere Abgaben in seiner Shinigami-Zeit erlebt. Schwungvoll setzte er eine Note darunter, dazu seine Unterschrift und legte das Blatt zur Seite. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seine Stirn gebildet. Er musste aus diesem Büro heraus und ins Bett. Die Hitze und der Schlafmangel vertrugen sich in keinster Weise. Ein lautes Klopfen unterbrach seine Gedanken und die Müdigkeit war mit einem Schlag verschwunden. Sofort setzte er sich kerzengerade in den Stuhl und richtete seine Brille. Schnell richtete er noch seine Krawatte und eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte. Tief atmete er ein und aus und setzte sein strenges Gesicht auf, um sich den nötigen Respekt bei seinem Besucher zu verschaffen. „Herein“, sagte er mit kühler Stimme und räumte McNeils Hausaufgabe in seine Arbeitstasche. Die Tür wurde geöffnet und ein blonder Shinigami kam schüchtern herein. William musterte ihn kurz mit kühlen Augen und schenkte ihm seine Aufmerksamkeit. Fieberhaft überlegte er nach dem Namen des Mannes, aber er wollte ihm einfach nicht einfallen. Er wusste nur, dass der Name schottisch klang, oder war es doch irisch? Innerlich schüttelte William den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen. Wichtiger als der Name war sein Anliegen. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte er. Der Shinigami mit den blonden Haaren stand mit einer Mappe und Klemmbrett vor ihm. Zitterte er wirklich vor ihm, weil er so nervös war? „Mr. Spears…“, begann er zögerlich. William erinnerte sich, dass er erst vor wenigen Jahren seine Ausbildung in der Verwaltung beendet hatte. „Hier sind die Monatsberichte über die eingesammelten Seelen. Sie müssen Sie nur unterschreiben.“ Während er sprach festigte sich seine Stimme. „Legen Sie die Mappe auf den Tisch.“ Er wies mit einer lockeren Handbewegung auf eine freie Stelle. Der Shinigami tat wie ihm geheißen. „Noch etwas?“ „Ja und zwar sind das hier die Anträge für Urlaube, die von Überstunden abgebaut werden müssen, da die Verwaltung sie nicht im Gehalt auszahlen möchte.“ Das Klemmbrett wurde mit auf die Mappe gelegt. William nickte. Er würde sich einiges davon mit auf sein Zimmer nehmen müssen und versuchen, nach seiner Pause die Mappen abzuarbeiten. Er griff nach beiden Sachen und verstaute sie in seiner Tasche, sowie die Hausaufgaben, die noch unerledigt auf dem Tisch lagen. „Die Krankenstation wünscht Sie im Übrigen zu sehen, Mr. Spears. Ein Shinigami liegt schwer verletzt dort.“ „Gut“, gab er zur Antwort. „Ähm…das war es dann…“, sagte der Shinigami und schien zu überlegen, wie er gehen sollte. Er entschied sich für ein einfaches Nicken. Nachdem der Shinigami gegangen war, stand William vom Stuhl auf und schloss das Fenster. Er nahm sein Jackett und zog es sich über. Während er es richtete, wählte er mit der einen Hand am Telefon die Nummer der Krankenstation und gab Bescheid, dass er auf dem Weg war. Mit einer flüssigen und eleganten Bewegung griff er nach seiner Tasche und noch schnell in eine Schublade. Dann verließ er sein Büro und schloss die Tür ab. An seine Tür hing er ein Schild, dass er heute eher gehen würde und erst am nächsten Tag wieder da sei. Mit schnellen und gezielten Schritten ging er durch die Flure und das Treppenhaus der Society. Die Kühle des Treppenhauses tat gut. Noch länger in dem warmen Zimmer hätte er es nicht ausgehalten. Entschlossenen Schrittes ging er durch die Society und dachte dabei unwillkürlich an seine Jungend zurück. Er war der jüngste Sohn seiner Familie und von ihm wurde immer viel erwartet. Sowohl gute Noten als auch im Beruf, aber auch die Behauptung gegen seine älteren Brüder. Ein alter Zeitungsartikel fiel ihm ein, in dem etwas über Ängste geschrieben worden war. In diesem Artikel stand, dass die meisten Angst davor hatten, öffentlich eine Rede zu halten, direkt gefolgt von der Angst vor Spinnen und als letzter Stelle die Angst davor, zu Versagen. William fragte sich, ob er jemals wirklich Angst davor gehabt hatte, gegenüber seinen Brüdern zu versagen. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Für ihn war das, was er tat, selbstverständlich. Natürlich bekam man den Posten als Abteilungsleiter nicht umsonst. Selbst er hatte dafür hart arbeiten müssen. Aber er hatte alles, was er erreichen wollte, erreicht. Es hatte nur wenige Umwege gegeben. William betrat die Krankenstation und schob sich seine Brille zurecht, wie er es so oft tat, wenn er eine Situation analysierte. Mehrere Assistentinnen liefen in blutigen Op-Kitteln und Mundschutz umher. Sie entsorgten blutige Leinenbinden und brachten warmes Wasser. „Ich brauche einen Mundschutz, einen Kittel, Schutzbrille. Die ganze Ausrüstung!“, rief der stationierte Arzt und organisierte die jungen Damen. William versuchte einen Blick auf den Shinigami zu werfen, doch sein Anblick wurde von einem Vorhang verborgen. Unwillkürlich fuhr er sich mit den Händen über die Haare und richtete seine Krawatte. Noch ehe er näher treten konnte, wurde er von einer Dame aufgehalten und in einen weißen Kittel gekleidet. Ein Mundschutz wurde ihm umgelegt und erst dann durfte er näher an den Shinigami heran treten. Vorsichtig schob William den Vorhang zur Seite und er stockte. Die Betrachtung des Shinigami versetzte ihn doch mehr in Schrecken als er erwartet hatte. Der Anblick von Blut machte ihm natürlich als Shinigami nichts aus, aber in diesem Fall war es die Menge an Blut, die ihn zurück schrecken ließ. Das ganze Bett, mitsamt den Laken, hatte sich mit der roten Flüssigkeit getränkt und der Shinigami war entsetzlich zugerichtet worden. Seine Brust war durchlöchert worden und sein Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab, während es so aussah, als wäre ihm ein Teil der Haut mit Gewalt abgerissen worden, so dass man den blutig roten Knochen erkennen konnte. Sein Arm hing lose an ihm herab, während der andere gänzlich fehlte. Es schien als währen auch mehrere Finger gebrochen worden. Der Kiefer war aus dem Gelenk gerissen worden und hing nur noch an vereinzelten Sehnen an der anderen Seite am Kopf fest. Mehrere Zähne fehlten. Eine Augenhöhle war gequetscht und das Auge fehlte mitsamt Sehnerven. Das andere Auge hatte die grün-gelbe Farbe, die einen Shinigami auszeichnete, fast verloren. Es war nur noch blass. Der Shinigami war blind. Er röchelte und würgte Blut hervor. Sein Brustkorb hob und senkte sich sehr stark. „Was ist passiert?“, stieß William mühsam hervor. „Dämonenangriff“, gab der Arzt knapp zurück und schien nicht recht zu wissen, um welche Wunde er sich zuerst kümmern sollte. „Die Seele?“ Er konnte spüren, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich und sich in seinem Mund mehr Speichel bildete. „Natürlich entwischt. Die Überreste seiner Death Scythe liegen dort drüben.“ Mit einem Kopfnicken deutete der Arzt in eine andere Ecke der Station. „Wer hat ihn gefunden?“, fragte William kühl und schluckte den Speichel hinunter. „Ein anderer Shinigami. Er hatte ihn gerade so retten können. Meine Kollegin untersucht ihn gerade und beruhigt ihn. Er liegt am anderen Ende der Station.“ William starrte auf den Körper vor ihm und es schien. als wüsste der Shinigami genau, dass er da war, und als könne ihn das blinde Auge doch sehen. Er fragte sich, wie er noch leben konnte. „Mr. Spears? Mr. Spears, hören Sie mir zu?“, fragte der Arzt lauter und William erwachte aus seinen Gedanken. „Natürlich höre ich Ihnen zu“, antwortete er kalt und rückte die Brille zurecht. „Sie können ihn nicht mehr retten. Ich verstehe.“ Der Arzt nickte. „Seine Verletzungen sind zu viel und zu schwer. Sein Leben wäre eine einzige Qual, selbst wenn er die Operation überleben würde. Er würde nie wieder arbeiten können.“ William nickte. „Ist er bei Bewusstsein?“ „Ja, der Dämon hat es geschafft ihn bei Bewusstsein zu halten.“ William trat näher an den Shinigami heran und beugte sich ein Stück zu ihm herunter. Seine Augen suchten nach einem Anzeichen von Leben. „Dann soll er selbst entscheiden, was mit ihm geschehen soll.“ Er wandte sich dem Mann auf dem Bett zu. „Hören Sie mich?“ Ein zaghaftes Nicken oder war es Einbildung? „Wollen Sie weiterleben?“ Der Kopf bewegte sich schwach zur Seite. „Sollen wir Sie von Ihrem Schmerz erlösen?“ Ein Röcheln entkam der Kehle und der Kopf nickte, während der Kiefer aussah als würde er gleich von der letzten Sehne abfallen. William richtete sich wieder auf. „Schwester, die Spritze!“, rief er und nur wenige Sekunden später wurde ihm eine große Spritze mit einer langen und dünnen Nadel gereicht. „Wir spritzen ihm jetzt eine Überdosis eines Narkosemittels. Es wird gleich wirken und er wird dann friedlich einschlafen“, erklärte der Arzt an William gerichtet und führte die Nadel langsam in den verbliebenen Arm. Die Vene war getroffen und er spritzte das Mittel in den Blutkreislauf hinein. William wartete zusammen mit dem Arzt bis der Shinigami aufgehört hatte zu atmen, ehe eine der Assistentinnen ein Tuch über ihn legte. Sofort wandte er sich ab und entledigte sich dem lästigen Mundschutz und Kittel. Aus irgendeinem Grund war Blut an Letzteres gekommen, aber das war nun nicht mehr wichtig. Er musste jetzt wie eine Maschine funktionieren und sich um den verbliebenen Shinigami kümmern. Mit wenigen Schritten durchquerte er den Raum und fand in einem der hintersten Betten einen älteren Shinigami vor. Anders als der eben Verstorbene war er nur halb so schlimm zugerichtet worden. Lediglich ein paar Kratzer zierten seine Haut. Er war also noch glimpflich davongekommen. Der Mann war bei Bewusstsein und William zog sich einen Stuhl heran. Er ließ sich darauf nieder und überschlug die Beine. „Was ist passiert?“, fragte er und bekam von dem Verletzten geschildert, was geschehen war. Es war ein kurzer Bericht und es schien dem Mann Mühe zu kosten, ihm alles zu erzählen. „Sobald Sie sich erholt haben, werden Sie einen Rechenschaftsbericht abgeben müssen. Ebenso einen Bericht über den Angriff.“ Langsam erhob sich William. „Ich werde Sie für die nächsten drei Monate von der Arbeit befreien lassen.“ „Verstanden“, war die leise Antwort. „Gute Besserung“, sagte William, aber der Mann hatte bereits die Augen geschlossen und schlief. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ der Shinigami die Station und ging zielstrebig auf die nächste Toilette zu. Mit einem kräftigen Schwung riss er die Tür auf und ging hinein. Kurz sah er sich um, schob die Brille höher und ging in eine Kabine. Sorgfältig schloss William ab und lehnte sich dagegen. Ein lauter Seufzer entfuhr ihm und er war froh, dass niemand dort war. Sein Magen rumorte und er konnte den Geschmack von Galle auf der Zunge schmecken. Es war einfach nur widerlich! Der Anblick des verstümmelten Shinigami hatte ihn an den Rand seiner Nerven getrieben. So etwas hatte er noch nie gesehen und er hatte Mühe gehabt, sich nicht vor dem Arzt und den Assistentinnen zu übergeben. Er brauchte dringend eine Auszeit und etwas Schlaf. Vielleicht würde das helfen, den Anblick vergessen zu können. Langsam legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief ein und aus. William versuchte, sich andere Bilder in den Kopf zu rufen, um seinen Magen zu beruhigen. Bedingt und nur langsam beruhigte sich sein Magen, während der Gallengeschmack immer noch auf seiner Zunge lag. Was hatte er während seiner Ausbildung gelernt? Wie verstanden die Menschen den Tod? Gab es nicht ein paar Philosophen, die sich damit beschäftigt hatten? Materie konnte nicht vernichtet werden, sie ging nur in einen anderen Zustand über. Er hatte damals unzählige Sätze lernen müssen, die sein damaliger Ausbilder ihn immer wieder abgefragt hatte. Der Tod war der Beginn von etwas Neuem und das Ende von etwas Altem. Die meisten Menschen hielten den Tod nur für das Ende. Das Ende des Lebens, der guten Zeit also. Aber was wussten schon Menschen? Noch einmal atmete William tief ein und schloss die Tür auf. Am Waschbecken spritzte er sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sein Spiegelbild. Er sah noch immer sehr blass aus, aber immerhin wollte sein Magen sich nicht mehr entleeren. Auf dem Weg zum Wohngebäude begegnete er niemanden mehr und so konnte er endlich Feierabend machen. Einen sehr frühen Feierabend. Aus seiner Hosentasche zog er seinen Schlüssel und schloss die Tür auf, aber noch ehe sie auf war, hört er schon eine freudige Stimme, die ungeduldig auf ihn gewartet hatte. Ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Ich bin ja gleich da“, flüsterte er und innerlich freute er sich schon sehr auf seine Lieblinge. Er öffnete die Tür und ging in seine Wohnung. Von unten sahen zwei Paar große Augen zu ihm herauf und gaben freudige Laute von sich. „Hallo ihr Süßen“, sagte er mit einem leichten Lachen in der Stimme, während er versuchte, sich einen Weg zu seinem Schreibtisch zu bahnen, wobei seine Beine umspielt wurden. Immer wieder gaben seine Lieblinge laute und freudige Mauzer von sich. Er legte seine Tasche auf den Schreibtisch ab und sofort sprang ein weiß-braunes Fellknäuel darauf und mauzte protestierend, da es nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es zustand. William zog seine Handschuhe aus und strich sofort über das weiche Fell der weißen Katze mit den braunen Flecken. Die Katze schloss genießerisch die Augen und lief auf der Tasche herum, während sie tief und zufrieden schnurrte. Sie reckte den Hals, so dass er auch dort streicheln konnte. Ihre Krallen gruben sich in den Stoff der Tasche und sie drückte ein wenig darauf herum, ehe sie sich zufrieden darauf niederließ und weiter schnurrte. William beugte sich herunter und stupste mit seiner Nase gegen die der Katze. Er gab ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn und konnte für einen kurzen Augenblick den angenehmen Geruch des Felles riechen. Zu seinen Füßen verlangte aber noch jemand nach Aufmerksamkeit und schnurrte bereits, ehe er überhaupt dazu kam, über das tiefschwarze Fell zu streichen. „Wart ihr denn artig?“, fragte er und sah sich kurz im Zimmer um. Die Katze schnurrte zur Antwort. „Natürlich wart ihr das.“ Nur widerwillig hörte er auf, die zweite Katze zu streicheln und ging zu dem großen Käfig hinüber, in den er hinein spähte. Das Heu lag unordentlich herum und die Möhren waren gänzlich verschwunden. Dafür sahen ihn zwei Hasen neugierig an als schienen sie auf Nachschub zu warten. Das Schlappohr mümmelte gerade ein wenig an dem Heu herum. Sein Fell war bunt gesprenkelt als hätte er sich nicht entscheiden könne, welche Farbe er haben wollte. Sein Bauch war weiß, während der Rest des Körpers braun, schwarz und weiß getupft war. Das zweite Häschen mit dem weißen Fell machte Männchen und schaute ihn neugierig an. Die schwarzen Ohren stellten sich auf. William öffnete den Käfig und streichelte den beiden Hasen kurz übers Fell und hinter den Ohren, während aus dem großen Aquarium mit den bunten Fischen ein Gluckern kam von dem Filter, der das Wasser sauber hielt. Das Schlappohr ließ sich abrupt auf die Seite fallen und schloss die Augen. William musste grinsen. „Eine gute Idee, Samy. Ein wenig Schlaf tut gut.“ Sorgfältig verschloss er wieder den Hasenkäfig und ging ins Schlafzimmer. Zum Glück war das Objekt Grell Sutcliffe noch auf der Arbeit und so hatte er wenigstens etwas Ruhe. Mit einer fließenden Bewegung lockerte er seine Krawatte und hängte sie über einen Bügel für Krawatten. Dann entledigte er sich dem Jackett und der Weste. Er streifte die Hosenträger ab und zog die Hose aus. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel erregte seine Aufmerksamkeit und sein Herz setzte für einen Moment aus. Doch es war nur die weiße Katze, die auf das Bett gesprungen war und sich ein Kissen zu eigen gemacht hatte. William atmete erleichtert aus. Er dachte schon Grelle hätte ihn beobachtet, dabei war es nur Jess gewesen. Er strich der Katze über den Kopf und knöpfte sein weißes Hemd auf. Ordentlich hängte er seine Sachen auf einen Kleiderbügel. Der Shinigami streckte sich und ließ sich ins Bett fallen. Er verzichtete ausnahmsweise mal auf den Pyjama oder einem anderen Oberteil. Die Müdigkeit war einfach zu viel. Grelle war ja zum Glück nicht in der Nähe und die Einzigen, die ihn nur in seiner Unterhose sehen konnten, waren seine Tiere. William zog sich die Decke über und spürte dann ein Gewicht auf seinen Beinen, dass langsam und bedächtig höher schlich. „Maisy, zieh deine Krallen ein“, nuschelte er während die schwarze Katze höher schlich und sich neben ihm nieder ließ. Ihr warmer Körper schmiegte sich an ihn heran und begann zu schnurren. Er konnte die Vibration spüren, die den ganzen Körper erfüllte. Seine Hand begann die Katze zu streicheln, während Jess ihn mit der kalten Nase an die Hand stupste. Irgendwie schaffte sie es, sich unter seine Hand zu legen, während er langsam einschlief und das Schnurren der beiden genoss. William wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber er fühlte sich alles andere als ausgeruht, als er aufwachte. Seine Beine lagen in einem merkwürdigen Winkel und er konnte spüren, dass Jess oder Maisy zwischen ihnen lag und der Grund war, weshalb er so breitbeinig schlief. Eine kalte Nase berührte seine Wange und Schnurrhaare kitzelten ihn. Er gab ein leises Stöhnen von sich und strich der Katze über den Kopf und versuchte weiter zu schlafen. „Miau“, hörte er und spürte, wie sich eine der beiden an ihn schmiegte. Blind fuhr er über den Kopf und hörte wieder ein „Miau“. Wieso fühlte er sich beobachtet und wieso klangen Jess und Maisy beim Mauzen mit einem Mal so schrill? Verschlafen öffnete er die Augen und erkannte verschwommen grüne Augen und eine in Rot gekleidete Person. „Endlich bist du wach, mein William!“, kam es direkt schrill von Grelle Sutcliffe, der sich sofort an ihn schmiegte wie eine Katze. William schreckte zurück und zog sofort seine Hand von Grelles Kopf, den er versehentlich getätschelt hatte. „Oh mein Will, du siehst ja so süß aus, wenn du schläfst!“, trällerte Grelle fröhlich und schlang die Arme um den sich noch im Halbschlaf befindenden Shinigami. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie sich Jess aufrichtete und mit einem mürrischen Mauzen vom Bett sprang. Den Schwanz in die Höhe gestreckt stolzierte sie aus dem Zimmer und reckte sich erst ausgiebig am Kratzbaum. William versuchte sich gegen Grelle zu wehren und stieß ihn von sich. „Aber Will“, schmollte Grelle und schaute ihn aus traurigen Augen an. „Eben hast du mich noch zärtlich gestreichelt. Miau. Zu deinen Tieren bist du viel netter als zu mir.“ William richtete sich auf und tastete nach seiner Brille. Er setzte sie auf und schenkte Grelle einen kühlen Blick. Aus großen und traurigen Augen schaute der rothaarige Shinigami ihn an und sein Blick ging gierig über Williams freien Oberkörper. „Oh William, dein Körper ist einfach nur zum Anbeißen!“ Ohne weitere Vorwarnung sprang Grelle ihn an und warf ihn zurück ins Bett. Seine Finger zogen vorsichtige und leichte Kreise auf seiner Brust. Genervt seufzte er auf und versuchte damit seine Gänsehaut zu überspielen, die diese Berührung verursacht hatte. Eher würde er sterben als vor Grelle zuzugeben, dass er so etwas bei ihm ausgelöst hatte. „Nehmen Sie sofort Ihre Hände von mir, Grelle Sutcliffe!“, befahl er in kaltem Ton und umfasste Grelles Handgelenk. „Miau“, machte Grelle und legte seinen Kopf auf die nackte Brust. „Dabei bin ich schon wie eine deiner geliebten Katzen und du weist mich immer noch ab.“ „Aus gutem Grund!“, sagte William und stieß Grelle erneut von sich. „Jess und Maisy sind nicht so aufdringlich und laut! Und überhaupt, wer hat Ihnen überhaupt erlaubt in mein Schlafzimmer zu kommen? Wir hatten eine Vereinbarung, als Sie hier mit einquartiert wurden!“ Grelle seufzte und ließ von ihm ab. Dafür legte er sich auf das Bett und sah William erwartungsvoll an. Seine Beine hingen in der Luft und wippten hin und her. „Deine kühle Art gefällt mir sogar noch besser!“, seufzte er wehmütig. „Was wollen Sie?“, fragte William genervt. „Ich möchte mit dir einkaufen gehen!“, trällerte Grelle. „Ich möchte unbedingt mit dir shoppen gehen!“ Williams Augen verengten sich zu Schlitzen. „Sie verlassen sofort mein Schlafzimmer!“ „Aber…“, setzte Grelle wehmütig an. „Kein aber! Ich hatte die ganze Nacht gearbeitet und bin jetzt erst ins Bett gekommen! Ich will schlafen!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um, legte die Brille ab und zog die Decke höher. Er konnte spüren, wie sich die Matratze bewegte und er betete darum, dass Grelle sich verziehen würde. Doch er wurde mit einem Mal herumgerissen und Grelle schwang sich auf seine Hüfte, so dass er auf ihm saß und auf ihn herab sah. Die langen roten Haarspitzen kitzelten ihn dort, wo sie ihn berührten. Grelles Finger strichen über den Brustkorb. „Ich mache dir ein Angebot, William.“ „Egal, was es ist: abgelehnt! Ich will schlafen!“ William drückte Grelle von sich. „Hör es dir doch wenigstens an“, schmollte er. Resigniert seufzte er. „Wenn du jetzt mit mir in die Stadt einkaufen gehst, werde ich für die restliche Zeit nicht mehr versuchen, nachts heimlich in dein Bett zu schleichen.“ „Mir wäre es lieber, wenn Sie gänzlich aufhören könnten, mich an zu graben!“ Grelle seufzte. „Das fällt mir aber bei einem so heißen Mann wie dir schwer! Na gut, ich schleiche mich nicht mehr ins Bett und werde auch nicht mehr versuchen, mit unter die Dusche zu kommen!“ „Und das nur, wenn ich jetzt mit Ihnen in die Stadt gehe?“ Irgendwo war ein Haken. Niemals würde Grelle so ein Versprechen einhalten können. Selbst die Vereinbarung, die sie getroffen hatten, dass Grelle auf dem Sofa schlief und er in seinem Bett, missachtete er gänzlich. Bisher hatten sie jeden Abend diskutiert und jede Nacht schmiss er das Objekt aus dem Zimmer! Grelle nickte und sein Gesicht hellte sich auf. „Du kommst also mit?“ „Wo ist der Haken?“ „Aber mein lieber William“, seufzte Grelle. „Du solltest wissen, dass ich Versprechen immer einhalte, auch wenn mir dieses sehr, sehr schwer fallen wird. Immerhin bist du ein Wahnsinns Mann.“ Gierig wanderte sein Blick über William und es schien als müsste er sich verkneifen zu sabbern. „Einverstanden. Aber wehe, wenn Sie noch einmal versuchen, nachts ins Bett zu kommen oder mit unter die Dusche, dann können Sie im Garten übernachten! Und jetzt gehen Sie runter von mir!“ Grelle gab einen Freudenschrei von sich, der William in den Ohren weh tat. Er drückte den Shinigami an sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange! „Hach, William, du bist der Beste!“ Freudig hüpfte er vom Bett und aus dem Zimmer, nicht aber, ohne William noch vorher zuzuzwinkern. „Wir sehen uns dann unten! Ich warte auf dich!“ William stöhnte und setzte sich auf. Er stützte den Kopf auf die Hand. Worauf hatte er sich da in seiner geistigen Umnachtung und in seiner Verzweiflung nur eingelassen? Er bereute es, aber wollte er wissen, mit was Grelle ihn sonst noch gequält hätte? Angewidert wischte er sich über die Wange und ein kalter Schauer glitt ihm über den Rücken. Ein Stupser an der Hand ließ ihn aufsehen und Maisy sah ihn auffordernd an. „Ihr würdet das sicherlich nie von mir verlangen“, seufzte er und kraulte kurz die Ohren der Katze ehe er aufstand und sich anzog. Laute Stimmen drangen an seine Ohren, während er in dem Raum, in dem er sich befand, auf einem weichen Polster saß. Es war hell und es herrschte eine angenehme Kühle. Die Stimmen wurden lauter und er konnte heraus hören, dass es sich um Verkaufsgespräche handelte, Gespräche unter Freunden und Familien. Ein Kind lief laut lachend an ihm vorbei. William spürte den Windzug, den das Kind hinterließ. Wo war er nur? Wie war er dort hingekommen? Was war geschehen? Langsam öffnete William die Augen und befand sich mitten in einem Kaufhaus. Frauen mit Kindern liefen an ihm vorbei, bepackt mit Einkaufstüten. Mehrere junge Mädchen kicherten in einer Gruppe und begutachteten die Waren in den Schaufenstern. Ein paar Mitarbeiter räumten ein paar Abfälle aus dem Weg, die Besucher achtlos dorthin geworfen hatten. Eine Familie ging die Treppe zur nächsten Etage hoch. Nachdenklich schob er sich seine Brille hoch und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Er erinnerte sich daran, dass er mit Grelle Sutcliffe einen Handel abgeschlossen hatte und er war mit ihm zum Einkaufen gegangen. Langsam kam auch die Erinnerung, dass der rothaarige Shinigami ihn in unendlich viele Geschäfte gezerrt hatte, um dort alles Mögliche an Kleidung anzuprobieren, sowohl die für Herren als auch für Damen. William konnte sich kaum daran erinnern, so viele Kleidungsstücke gesehen zu haben und so viele Taschen. Seine Augen huschten umher und überflogen die Schilder. Langsam stand er auf und ging zu einem Informationsschild. Kurz sah er sich um und fand auf der Karte in welcher Etage er war. Von Grelle war weit und breit keine Spur zu sehen oder gar zu hören. William zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Es war seine eigene Schuld, wenn er sich einfach so aus dem Staub machte. Mit schnellen Schritten ging er die Stufen hinunter. Es war nie vereinbart worden, wie lange er mit Grelle einkaufen gehen sollte. Er griff in die Tasche seines Hemdes und die seiner Hose. Sein Herz setzte aus. Wo war sein Geldbeutel? William war sich absolut sicher, dass er ihn eingesteckt hatte, als er losgegangen war. Ein Knurren entfuhr ihm. Wenn Grelle ihm den Geldbeutel abgenommen hatte und sein Geld ausgab, würde er für nichts garantieren! William bekam einen Stoß gegen die Hüfte und drehte sich um. „Entschuldigung!“, kam es von einer Kinderstimme, doch als das Kind Williams Blick begegnete, schreckte es sofort zurück. Sein Blick war eiskalt und sprach Bände. „Oh! Mr. Spears, hallo.“ William drehte sich herum, während das Kind die Chance ergriff und zurück zu seiner Mama lief. Williams Blick wanderte über das Gesicht einer vertrauten Person. Lily McNeil. Hinter ihr tauchte Nakatsu Shinamoto auf. Sein rechtes Ohr war gerötet und geschwollen. Es war auch nicht schwer zu erkennen, was der Grund dafür war. Ein frisch gestochener Ohrring blitzte auf. Nachdenklich betrachtete William T. Spears die beiden Auszubildenden. „Miss McNeil, wie viel Geld haben Sie dabei?“, fragte er tonlos und war wieder ganz der kühle Abteilungsleiter. Das Mädchen zuckte zusammen. „Hallo, Mr. Spears“, sagte ihr Freund und wandte sich aber direkt an Lily. „Wollen wir jetzt zum Café gehen?“ William nickte dem Jungen zur Begrüßung zu. „Ja, einen Moment, Natsu“, sagte Miss McNeil. „Haben Sie Ihre Geldbörse verloren, Mr. Spears?“ Leise und unbemerkt stieß William einen Seufzer aus und erklärte den beiden die Situation. Denn, wenn er nach Hause wollte, musste er es ihnen erklären und kam nicht drum herum. „Mr. Sutcliffe wird Ihnen das Dreifache zurück geben. Keine Sorge“, schloss er seine Erklärung ab und ballte bei dem Gedanken, dass dieses Subjekt irgendwo in diesem Haus sein Geld ausgab die Hände zu Fäusten. „Ähm…ja, natürlich kann ich Ihnen aushelfen“, sagte sie und griff in ihre Tasche, doch noch ehe sie ihre eigene Börse heraus nehmen konnte, erklang ein Signalton. „Achtung, Achtung! Eine wichtige Durchsage! Ich wiederhole: eine wichtige Durchsage!“, erklang es aus den Lautsprechern. „William T. Spears aus der Shinigami Dispatch Society wird vermisst! Sein Betreuer und Begleiter Grelle Sutcliffe wartet am Informationsstand im ersten Stock. William ist etwa ein Meter Zweiundachtzig groß, trägt eine Brille und hat schwarze Haare. Er trägt ein grünes Hemd und eine blaue Hose. Grelle ist in großer Sorge und bittet alle Kunden und Angestellten dringend um Hilfe bei der Suche! Zuletzt wurde er in der ersten Etage gesehen!“ Ein Schauer lief über Williams Körper und er begann vor Wut zu zittern. Deutlich konnte er die Blicke der Kunden und Mitarbeiter auf sich spüren. So musste sich also Miss McNeil die ganze Zeit fühlen, seit Mr. Knox fort war und es die Gerüchte gab. Leises Tuscheln machte sich breit. Ein paar Kinder deuteten heimlich mit den Fingern auf ihn. „Das Problem löst sich jetzt von selbst“, sagte er zu Lily und versuchte eine aufrechte Haltung zu bewahren. „Aber vielen Dank.“ Das junge Mädchen nickte. „Gut, dann noch einen schönen Tag“, verabschiedete sie sich. „Einen Moment noch, Miss McNeil“, sagte William. „Wenn ich Sie einmal sehe, möchte ich Sie doch bitten, dass Sie heute Abend um Neunzehn Uhr auf mein Zimmer kommen. Ich muss mit Ihnen über Ihre Hausaufgabe sprechen.“ Sie nickte und er konnte ihr deutlich ansehen, dass sie sich fragte, ob sie so schlecht war. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Außerdem hatte sie jemanden zur Begleitung dabei. William verabschiedete sich von ihr und von Nakatsu. Ohne auf eine Antwort von den Beiden zu warten, ging er zurück in den ersten Stock und begab sich zum Informationsstand. Noch ehe er überhaupt den roten Haarschopf erkennen konnte, konnte er ihn aber sehr deutlich hören. „William!“, kreischte es ihm entgegen und ein sehr erleichtert aussehender Grelle lief auf ihn zu. Mit offenen Armen rannte er ihm entgegen, doch William trat zur Seite und ließ ihn ins Leere laufen. „William, wieso…?“, fragte er traurig. „Ich habe mir doch solche Sorgen um dich gemacht!“ Leise knurrte er und sah den Shinigami mit tödlichen Blicken an. „Mr. Grell Sutcliffe, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht!?“ Es kostete ihn mehr Mühe als erwartet, seine Stimme ruhig zu halten. „Aber William…“, begann Grelle mit zittriger Stimme. „Du warst eingeschlafen und ich wollte dich nicht wecken! Es sah einfach nur hinreißend aus, wie du dort gesessen und geschlafen hast!“ William verdrehte die Augen und packte Grelle an den Haaren, als er ihn erneut umarmen wollte. „Sie haben sich heimlich mit meinem Geld aus dem Staub gemacht!“ „Aber das stimmt doch gar nicht!“, jammerte Grelle und hielt William seine Geldbörse entgegen. „Ich habe nur darauf aufgepasst, während du geschlafen hast!“ Unsanft entriss er ihm den Gegenstand und spähte hinein. Es war wirklich alles noch an Ort und Stelle. Sofort schob er die Börse in seine Hemdtasche, während er noch mit einer Hand Grelle an den Haaren gepackt hielt. Vielleicht schätzte er dieses Subjekt ein wenig falsch ein? „Jetzt guck doch nicht so als würdest du mich hassen, William“, jammerte der rothaarige Wirbelwind. „Ich wollte nur Danke sagen“, gab William kalt zur Antwort und schob seine Brille zurecht. „Der Einkauf ist trotzdem beendet!“ „Aber William…“ Die Hoffnung, die in den Augen von Grelle aufgekeimt war, erlosch wieder. „Du kümmerst dich gar nicht um mich…“ „Ich bin auch nicht Ihr Unterhalter.“ „Dabei habe ich es sogar geschafft, dass wir als Zimmergenossen etwas gemeinsam unternehmen. Nach den zwei Wochen sehe ich bestimmt aus, wie deine Zimmerpflanzen oder wie die armen Pflanzen in deinem Büro!“ Grelle zog die Unterlippe zu einem Schmollen vor. William seufzte leise. „Etwas, was ich nachher sofort ändern werde.“ Es stimmte. Er hatte in den letzten Tagen wirklich ein paar kleine Dinge vernachlässigt, wie die Pflanzen in seinem Apartment oder Büro. Die Orchideen, der Efeu und das Katzengras sahen wirklich ein wenig verkümmert aus. Es gab sogar schon braune Blätter. Dabei standen sie extra in den Zimmern, um etwas Farbe und gute Atmosphäre in die sonst so trostlosen Räume zu bringen. Er würde es sofort nachholen, wenn er zu Hause war. Immerhin fraßen Jess und Maisy am Katzengras und sollten sich nicht den Magen verderben. Es roch immer widerlich, wenn sich eine von beiden übergab. Aber als Besitzer musste er damit leben. „Und Sie?“, fragte er. Grelle sah ihn fragend an. „Soll ich Sie nachher auch mit Wasser gießen und beschneiden, wenn Sie sich schon beschweren?“ William verzog keine Miene, musste aber innerlich lächeln. Grelle sah seinen Gegenüber überrascht und sprachlos an. „Natürlich nicht! Ich bin doch keine Topfpflanze!“, empörte er sich. William zog die Schultern hoch. „Dann nicht, aber dann beschweren Sie sich auch nicht. Ich weiß auch nicht, was die sich von der Wohngenossenschaft dabei gedacht haben Sie in mein Zimmer mit einzuquartieren.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog er Grelle an den Haaren hinter sich her. Der Rothaarige konnte noch schnell seine Einkaufstaschen greife ehe er von William zurück zur Society gezerrt wurde. Kapitel 15: Exil ---------------- Von draußen drangen Geräusche geschäftiger Vorbereitungen herein. Die Glocken des Tempels läuteten zum Morgengebet und die ersten Gesänge der Mönche waren zu hören. Der Boden war hart, auf dem er lag und die Luft war stickig. Ronald zog die dünne Decke höher und kniff die Augen zu. Wie war es nur dazu gekommen, dass er hier gelandet war? Sein Nacken und Rücken schmerzte. Überhaupt tat ihm jeder Muskel weh, der nur wehtun konnte und auch welche, von denen er noch nicht einmal wusste, dass er sie besaß. Obendrein vermisste er ein anständiges Bad oder eine anständige Dusche. Sein Körper fühlte sich eklig an. Natürlich gab es hier im Tempel auch eine Möglichkeit sich zu waschen, aber es war in einem kalten Flussbett und er hatte das Gefühl, danach nicht sauber zu sein. Ein Schauer des Ekels überkam ihn und mit einer Handbewegung scheuchte er eine Fliege fort, die sich in das kleine Zimmer geschlichen hatte. Ronald drehte sich auf den Rücken. An Schlaf brauchte er gar nicht mehr zu denken. Der Boden war so hart und unbequem, dass er darauf kein Auge zu tun konnte. Hatten sich die Shaolin Mönche inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass es für sie bequem war? Er wusste es nicht zu sagen, lediglich, dass er niemals auf dem Boden Schlaf finden würde, egal wie geschafft er von der Arbeit und dem Training war. Sein Kopf drehte sich zur Seite und er schaute in die Ecke, wo sein Koffer mit Kleidern stand. Wehmütig seufzte er, schloss wieder die Augen und dachte an die Society. Er wollte nach Hause und in sein Bett. Er wollte wieder seiner Arbeit als Shinigami nachgehen und seine Schülerin unterrichten. Er wollte wieder in seinem Lieblingsclub feiern gehen und auch mal wieder mit einer Frau flirten, vielleicht auch mehr. Er wollte so vieles, aber nichts davon würde sich erfüllen. William T. Spears hatte ihn nämlich für die nächste Zeit ins Exil geschickt, zu einem Shaolin Tempel in Tibet in der Menschenwelt! Ronald verzog das Gesicht in der Dunkelheit. Das alles war nur geschehen, weil Carry über ihn und seine Schülerin miese Gerüchte verbreitet hatte, die sich natürlich bis zu William vor getragen hatten. Nun hatte er deshalb die Society vorläufig verlassen müssen, damit, sollte etwas an den Gerüchten wahr sein, nichts weiter passieren konnte. Ein Bote hatte ihn begleitet und jetzt wartete er darauf, dass dieser zurück kam und ihn abholte, damit die Untersuchung stattfinden konnte, um die Sache ein für alle Mal zu klären. Er roch sogar schon nach den wenigen Tagen im Tempel wie ein Mensch und nicht mehr wie ein Shinigami. Eine Tatsache, die ihn sehr missmutig stimmte. Er fragte sich, wie seine Schülerin Miss McNeil damit zu Recht kam. Innerlich hoffte er, dass sie verschont blieb von all dem. Immerhin war er sogar deshalb gegangen, damit keine weiteren Gerüchte aufkamen, die ihr schaden konnten. Ein weiterer Seufzer entfuhr ihm und im nächsten Moment hatte er einen süßen, würzigen und lieblichen Duft in der Nase. Woher kam dieser Geruch? Es gab nichts in der Nähe, was diesen hätte auslösen können. Ronald zog die Knie an und kuschelte sich in die Decken ein. Seine Arme umschlangen das Kissen und drückten es fest an sich. Unweigerlich musste er an seinen letzten Morgen in der Society denken und neben wen er wach geworden war. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und sein Kopf fühlte sich mit einem Mal leer an. Wie gerne wäre er jetzt bei seiner Schülerin und würde ihr die neuesten Sachen erklären. So würde er wenigstens wissen, ob es ihr gut ging. Natürlich war sie nicht alleine. Sie hatte ja noch ihren Freund Nakatsu mit im Zimmer, der sicherlich auf sie aufpassen würde, aber der Gedanke beruhigte ihn nicht wirklich. Im Gegenteil, es ging ihm gegen den Strich, dass er bei ihr war. Denn konnte er wirklich sicher sein, dass er für sie auch wirklich da war? Was wäre, wenn sie wieder schlecht schlief? Konnte er sie auch beruhigen? In Ronald stieg ein Gedanke auf. Konnte es sein, dass er seine Schülerin allen Ernstes vermisste? Fast genauso sehr wie all die anderen Dinge aus seinem Leben? War das, was er beim Abschied ihr gegenüber gespürt hatte, wirklich Schmerz gewesen? Ein Murren entfuhr ihm und er vergrub das Gesicht im Kissen. Genau aus diesem Grunde waren die Gerüchte entstanden. Er war ihr zu nahe! Er hätte mehr Distanz halten sollten! Stattdessen war sein Beschützerinstinkt mit ihm durchgegangen. Sie war seine Schülerin in Gottes Namen! Grund genug eigentlich, dass er nicht an sie denken sollte und erst recht nicht an den Morgen! Obendrein war sie nicht mal der Typ, der sonst in sein Beuteschema von Frauen passte und zu jung sah sie auch noch aus! Er stand doch auf ganz andere Frauen! Frauen, die wussten, wo ihre Reize lagen und diese auch betonen konnten, während Lily einfach Lily war. Sie gab sich keine so große Mühe etwas zu betonen oder zur Schau zu stellen. Diese Frau war einfach sie selbst. Weshalb verschwendete er dann seine Gedanken an sie, wenn sie ihn eh nicht interessierte? Er machte sich eindeutig zu viele Gedanken und Sorgen um das Mädchen. Sie würde schon zurechtkommen. Ronald schob es auf seinen Übereifer jetzt Ausbilder sein zu dürfen. Aber wieso fühlte es sich nicht richtig an? Wieder entfuhr ihm ein Murren und ein Hahnenschrei unterbrach seine Gedanken. Es war nun Zeit für aufzustehen. Mürrisch warf er die Decke zur Seite und zog das Hemd an, das er tragen musste. Er fuhr sich durch die Haare und kämmte sie mit seinen Fingern nach hinten zurück. Immerhin hatten die Mönche ihm erlaubt seine Haare zu behalten anstatt sie ab zu rasieren. Dafür musste er lediglich ein Tuch tragen, um sie zu verdecken. Er zog den Anzug und die Kutte für das Training und die Arbeit an. Dann öffnete er die Holzverkleidung für das Fenster, um Licht herein zu lassen. Die kühle Morgenluft tat im Gegensatz zu dem stickigen Zimmergeruch gut. Aber viel Zeit zum Genießen blieb ihm nicht, denn jeden Moment würde einer der Mönche erscheinen, um zu kontrollieren, ob er aufgestanden war und auch die Decken gerichtet hatte. Schnell machte er sich daran, alles ordentlich zusammenzulegen, als auch schon die Tür quietschend geöffnet wurde und ein Mönch herein kam. „Guten Morgen, Bruder. Wie ich sehe, gewöhnst du dich langsam an unsere Lebensweise.“ Ronald konnte nicht sagen, ob es der Mönch war, mit dem er das Zimmer teilte. Für ihn sahen alle fast gleich aus. Nur manchmal konnte er sie durch die Körpergröße oder einem Muttermal im Gesicht unterscheiden. „Aber Schlafen kann ich immer noch nicht“, gab er zur Antwort und faltete die Decke ein letztes Mal zusammen. Ungeduldig zupfte er an der Kutte herum. Es würde noch lange dauern bis er lernte, sie richtig zu tragen. Der Mönch musste grinsen und trat auf ihn zu, um ihn mit dem Gewand zu helfen. „Dafür, dass du angeblich nicht schlafen kannst, Bruder, hast du die letzte Nacht ganz schön geschnarcht. Als ich aufgestanden bin, hast du dich herum gedreht und angefangen zu sabbern und zu sprechen.“ Ronalds Wangen röteten sich. „Was…was hab ich denn gesagt?“ Der Mönch musste kurz überlegen. „Irgendwas davon, dass du nicht gehen willst. Aber ich hab nicht viel verstanden. Es war viel mehr genuschelt.“ Anscheinend hatte er doch irgendwie Schlaf gefunden, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Immerhin fühlte er sich alles andere als ausgeruht. Noch ehe er zu dem Mönch, der offenbar derjenige war, mit dem er das Zimmer teilte, etwas sagen konnte, sprach dieser weiter. „Du solltest aber jetzt mit uns kommen. Das Training fängt gleich an und die Arbeit wartet.“ Als der Mönch sich umgedreht hatte, verzog Ronald das Gesicht. Das Training war alles andere als angenehm und die Arbeit war auch nicht wenig. Dennoch folgte er dem Mönch über den Hof und die Tempelanlage nach draußen, wo sich ihnen weitere Mönche anschlossen. In dem kleinen naheliegenden Dörfchen oder Städtchen, Ronald konnte nicht sagen, was es wirklich war, besaßen die Menschen kaum Mittel, um eine anständige Schule besuchen zu können. Es war nur den reichen Söhnen und teilweise auch den Töchtern gestattet. Es hatte ihn am ersten Tag ziemlich verwirrt, dass Kinder verschiedener Altersklassen in den Tempel kamen. Einer der Mönche hatte Ronald versucht zu erklären, dass die Mönche deshalb in ihrem Tempel den ärmeren Kindern Unterricht gaben. In einem alten Pavillon lehrte einer der älteren Priester die Kinder. Seine Schüler waren Kinder von Handwerkern, Kaufleuten, Fischer, Weber und Unteroffizieren. Sie hofften, dass ihre Kinder durch den Unterricht eine bessere Berufslaufbahn bekommen würden. Ronald hatte einmal dem Unterricht gelauscht, als er in der Nähe meditieren sollte. Er bestand hauptsächlich aus Lesen, Schreiben und Rechnen, damit die Kinder später einmal Warengewichte, Getreidemengen oder Rinderzahlen berechnen und aufschreiben konnten. Solch eine Schule gab es nur in diesem Tempel. Ein Mönch hatte gesagt, dass kein anderer Tempel bisher auf die Idee gekommen war. Die Menschen im Umkreis waren sogar sehr dankbar und bezahlten den Unterricht mit kleinen Opfergaben, wie Reis, Getreide, Brot oder Vieh. Es war das, was sie von ihrem bescheidenen Lebensunterhalt abzweigen konnten, um ihnen ihren Dank zu zollen. Seitdem hatten sich die Besucherzahlen und die Zahl der regelmäßig Betenden erhöht. Die normalen Schulen kosteten viel Geld. Der Tempel machte es umsonst. Oftmals halfen die Kinder auch bei der Arbeit mit. Die wenigen Mädchen halfen in der Küche aus oder wuschen die Kutten. Die Jungen verrichteten Gartenarbeit oder halfen dabei, das Feld zu bestellen. Es waren kleine Arbeiten, wie sie die Kinder auch zu Hause ausübten. Diese Art des Unterrichtes beruhte auf eine gegenseitigen Abhängigkeit und das machte für beide Seiten die Schulstunden sehr angenehm. Schlief ein Schüler mal während des Unterrichtes ein, wurde er nicht vor die Klasse gerufen und mit einem Rohrstocke auf die Hände geschlagen oder an den Haaren gezupft. Er musste lediglich einen Leckerbissen am nächsten Tag von zu Hause mitbringen. Oft waren es süße Kuchen oder alkoholische Getränke. An diesem Tag kamen auch wieder die Kinder in den Tempel, als Ronald ihn mit ein paar anderen Mönchen verließ und durch die Gegend zog, um zu dem Fluss mit dem kleinen Wasserfall zu gehen. Es war eine Gruppe aus etwa zwanzig Mönchen. Obwohl gerade erst die Sonne aufgegangen war, wog die Luft schwer und drückend vor Hitze. Schweiß rann Ronald bereits über den Rücken und durchtränkte seine Kleidung. Am liebsten wäre er sofort zurück in die Unterkünfte gelaufen, um sich zu waschen. Eine Schwimmrunde in einem See wäre auch nicht zu verachten gewesen. Ob es in der Shinigami-Welt gerade auch so warm war? Oder regnete es dort vielleicht? Was machten wohl Alan oder Eric? William würde sicherlich wieder alle herum scheuchen und Arbeit verteilen, während Grelle ihm hinterher jagte. Aber wahrscheinlich schliefen sie im Moment alle in ihren Zimmern. Ronald vergaß immer die Zeitverschiebung. Daran würde er sich so schnell nicht gewöhnen können. Ein Seufzer entfuhr ihm. Er wollte nicht an das Training denken, das ihm mit ein paar anderen Mönchsnovizen bevorstand. Das Ziel der Mönche war es, den Körper zu verhärten, eins zu werden mit Körper und Geist, um innere Erleuchtung zu erhalten und über sich hinaus zu wachsen. Ronald hatte keine Ahnung, wie er sich die innere Erleuchtung vorstellen sollte. Leuchteten dann die Seelen beim Einsammeln? Oder hatten die Mönche dann eine Art Heiligenschein auf wie es die Engelsdarstellungen in der Menschenwelt oft hatten? Er sah sich einige Mönche genau an. Niemand hatte einen Heiligenschein auf und er hatte noch nie von einer leuchtenden Seele gehört, die wie ein Licht erstrahlte. Vielleicht sollte er mal William fragen, was es damit auf sich hatte. Die Lehrmeister waren streng und unnachgiebig in ihren Trainingsmethoden. Von außen betrachtet sah es oft grausam aus, wie sie die Novizen herum scheuchten. Am eigenen Leib war es noch härter. Sein erster Tag war die Hölle auf Erden gewesen. Er hatte sich gefragt, was er getan hatte, dass William ihn so sehr bestrafte. War es ein Verbrechen, wenn er auf jemanden aufpassen wollte? War es eine Sünde, wenn man jemanden beschützen wollte? Lud man deshalb gleich den Zorn des Himmels auf sich? Die anderen Novizen waren viel jünger als er und kamen aus verschiedenen Teilen des Landes. Sie waren viel trainierter als er selbst, obwohl er in der Society immer darauf geachtet hatte, in Form zu bleiben. Seine Muskeln taten weh und verkrampften sich bei jeder Bewegung, als er den Berg hinauf lief. Nur wenige Novizen waren älter als er, dafür viele der übrigen Mönche. Derjenige, der ihm von diesen vom Alter am nächsten kam, war sein Zimmergenosse. Er hatte erzählt, dass er schon lange im Tempel lebte und sogar als kleines Kind den Schulunterricht besucht hatte. Sein Traum war es eines Tages ein Mönch zu sein und ein vollwertiges Mitglied der Gruppe. Der Novize hatte ein fröhliches Gesicht und war kräftig gebaut. Das viele Training war ihm deutlich anzusehen. Man hatte ihm Ronald als Trainingspartner zugewiesen. Der junge Novize hatte etwas Freundliches an sich, aber Ronald vertraute ihm nicht. Es war nie gut, einem Menschen zu vertrauen. Vor allem dann nicht, wenn dieser besser kämpfen konnte als man selbst. Er war ein guter Ringer und konnte mit verschiedenen Waffen, wie dem Schwert oder dem Drei-Stab umgehen. Doch bei den Fähigkeiten, die man von Geburt an bekam, und jenen, die erlernt werden mussten, kam keiner der Mönche an Ronald heran. Als Shinigami war er schneller als ein Mensch und konnte kräftiger zuschlagen. Es war manchmal selbst für die ausgelernten Mönche hart, seine Schläge zu verkraften. Er konnte sich leise anschleichen und angreifen. Die jüngeren Schüler lernten schnell und auch die Mönche begriffen, dass er kein normaler Mensch war. Sie sagten jedoch nichts, sondern betrachteten es als großes Geschenk ihres Gottes. Jeden Morgen gingen sie zu dem Wasserfall und Ronald musste mit seinem Zimmergenossen Übungen absolvieren, um an seiner Koordination zu trainieren. Es fiel ihm schwer, dem Bewegungsablauf zu folgen. Alles musste schnell und präzise ausgeführt werden. Seine Beine waren oft über Stunden in gebeugter Haltung. Tai Chi war die einzige entspannende Übung, die ihm Spaß machte und der er auch folgen konnte. Der junge Mönch hatte nicht die Geduld ihm alles beizubringen, obwohl er dazu fest entschlossen war. Das Training begann immer mit Dehnübungen und Meditationen unter dem harten Wasserfall, der auf ihre Köpfe nieder prasselte, während sie dort alle regungslos wie Staturen standen. So war es an diesem Tag nicht anders. Ronald stellte sich neben seinem Zimmergenossen auf und machte es den Mönchen nach, während das kalte Wasser auf ihn nieder schlug und ihn fast in die Knie zwang. Er schloss die Augen und legte die Handflächen aufeinander. Nur das Rauschen war zu hören. Laut und klar. Seine Brust hob und senkte sich, während sein Atem in gleichmäßigen Zügen ging. Der junge Shinigami versuchte ruhig stehen zu bleiben und nichts zu denken. Doch schon nach wenigen Minuten schmerzten seine Beine und er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Konzentration war nicht seine Stärke und ruhig dabei zu stehen wie eine Salzsäule erst recht nicht. Ronald war es gewohnt, seiner Energie freien Lauf zu lassen, sich mit Händen und Füßen zu unterhalten und zu arbeiten. Das Leben hier war komplett anders und er fühlte sich eingeengt. Der Druck fühlte sich unangenehm auf seinem Körper an und das Rauschen war nicht gerade förderlich für seine Blase. „Ich muss nicht auf die Toilette…“, murmelte er und zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. „Ich bin der Herr und Gebieter über meine Blase. Nein, ich muss nicht auf die Toilette…“ Ronald presste die Beine zusammen. Konnte er einfach so verschwinden? Er öffnete die Augen und sah zu den anderen Mönchen, die neben ihm standen und in ihre Meditation vertieft waren. Langsam trat er aus dem Wasserfall heraus auf einen halbwegs trockenen Stein. Seine Kleidung fühlte sich schwer an und tropfte bei jeder Bewegung. Keiner der Mönche bewegte sich oder sah auf. Ronald zog die Schultern hoch und trat ans trockene Ufer. Die Sonne schien schon mit ihrer ganzen Kraft. Sie würde sicherlich seine Kleider in ein paar Minuten trocknen. Die Mönche hatten sicherlich nichts dagegen, wenn er kurz austreten ging. Sie konnten ihm ja schlecht das menschliche Bedürfnis verweigern. Ronald ging in den Wald hinein, sah immer wieder zurück zu den Mönchen, die immer noch ohne jegliche Bewegung dort standen. Vielleicht konnte er auch eine kleine Pause machen, ohne dass es auffiel. Er ging tiefer in das Waldstück hinein bis er den Wasserfall nur noch schwach hören konnte und sicher war, dass die Mönche ihn so schnell nicht entdeckten. Nachdem er seinem Bedürfnis nachgekommen war, schlenderte er noch ein Stück tiefer in den Wald hinein und ließ seine Gedanken kreise. Er sah aus wie ein Mönch oder Novize, aber er war keiner. Er war nur ein Besucher. Jemand, der vorläufig dort lebte. Aber das hieß nicht, dass er all das Training mitmachen musste. Ronald setzt sich auf den trockenen Boden unter einem Baum und lehnte sich gegen die Rinde. Es war zwar nicht so bequem wie ein Sofa oder sein Bürostuhl, aber es war allemal besser als unter dem Wasserfall zu stehen wie eine Säule aus Marmor. Er schloss die Augen. Wieso fühlte es sich nicht richtig an, wenn er seine Gedanken auf den Übereifer schob? Wieso konnte er nicht aufhören, sich Sorgen zu machen? Kam seine Schülerin wirklich mit all dem zurecht? Blieb sie verschont von den Gerüchten? Hatte sein plötzliches Verschwinden wirklich dafür gesorgt, dass niemand ihr Schaden konnte? Ronald seufzte und merkte, wie seine Augen brannten. Er wollte nach Hause. Nichts sehnlicher wollte er als nach Hause. Er wollte seine Schülerin in den Arm nehmen und wissen, dass wirklich alles in Ordnung war. Er wollte ihren Geruch in seiner Nase haben und das Kitzeln ihrer Haare, wie sie ihn am Morgen geweckt hatten. Auf seinen Lippen bildete sich ein Lächeln, während er seine Knie anzog und beide Arme darum schlang. Er dachte an den letzten gemeinsamen Tag, den er mit seiner Schülerin verbracht hatte. Lily hatte sich öfters die Haare zurück gestrichen und er hatte sie immer wieder aus dem Augenwinkel beobachtet, wenn er glaubte, sie achtete nicht darauf. Es hatte ihn fasziniert, wie sie konzentriert die Aufgaben erledigt hatte und alles richtig machen wollte. Ihre Stirn hatte sich einige Male in Falten gezogen, wenn sie nachdachte. Ronald musste sich eingestehen, dass er Lily McNeil wirklich vermisste. Er vermisste sie genauso sehr wie all die anderen Dinge aus seinem Leben in der Society, wie das Geräusch des Motors seiner Death Scythe oder das nervende Geräusch seines Weckers. Die Society zu verlassen, sie zu verlassen, hatte geschmerzt. Er hatte deutlich ihre Sorge in der Stimme gehört und dass sie den Tränen nahe war. Aber die Anweisungen waren klar und deutlich gewesen, so sehr er sich auch hatte umdrehen wollen, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Ihr sollte es nicht schlecht gehen und sie sollte nicht alleine sein. Nicht seinetwegen. Aber sie war nicht alleine. Natürlich nicht. Sie hatte noch ihren Freund Nakatsu, der sich um sie kümmern würde. Alan und Eric würden sie mit Sicherheit auch nicht im Stich lassen, aber der Gedanke beruhigte ihn nicht wirklich. Im Gegenteil, es ging ihm gegen den Strich, dass sie bei ihr waren und er nicht. Denn konnte er wirklich sicher sein, dass die drei für sie auch wirklich da waren? Ronald schüttelte den Kopf. Auf Alan und Eric war Verlass. Aber Eric war ein Frauenheld. Er würde sicher nichts unversucht lassen, um mit ihr einen kleinen Flirt zu starten. Eric war auch nicht ihr Mentor. Er konnte es sich erlauben ein wenig zu flirten, solange es nicht auffiel. Ihren Freund Nakatsu konnte er gar nicht einschätzen. Er war für sie da. Das stand außer Frage, aber war er nur ihr Freund oder wollte er mehr? Konnte der Junge sie auch beruhigen, wenn sie wieder schlecht schlief? Ein Gedanke kam ihm in den Kopf. Eifersucht. Er war tatsächlich eifersüchtig, dass seine Freunde Zeit mit ihr verbringen durften und er an diesem Ort feststeckte. Der Gedanke ließ ihn nur schwer los. Ronald ballte die Hand zur Faust bei der Vorstellung, wie sie ohne ihn Spaß hatten und Eric oder Nakatsu sich an seine Schülerin heran machte. Das Brennen in seinen Augen wurde stärker und sie fühlten sich warm an. Es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Sie waren sich nahe gekommen. Viel zu Nahe. Als Mentor hätte er mehr Distanz halten sollen, aber sein Beschützerinstinkt war zu groß. Etwas Warmes lief über sein Gesicht, doch es interessierte Ronald nicht. Wie schaffte es ein Shinigamilehrling, dass seine Gedanken ein einziges Chaos und seine ganzen Prinzipien über den Haufen waren? Ein Shinigami, der nicht mal in sein Beuteschema passte und für den er sogar freiwillig auf ein Date verzichtete. Seine Gedanken drehten sich nur noch um sie und ihre Ausbildung! Wusste Grelle eigentlich, dass sie nicht schwimmen konnte und er mit ihr den Unterricht weiterführen sollte? Schon wieder! Schon wieder dachte er an sie, daran, ob es ihr gut ging und sie den richtigen Unterricht bekam. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er sich jetzt sofort zurück in seine Welt begeben, um sich davon zu überzeugen, dass Grelle sie nicht ertrinken ließ. Selbst wenn Lily sich wieder mit Armen und Beinen an ihn klammern würde, um nicht unterzugehen, wäre es ihm egal. Solange sie sich sicher fühlte und er in ihrer Nähe sein konnte, war ihm alles egal und recht. Er wollte ihr Halt geben und für sie da sein. Ronald wollte wieder mit ihr scherzen und lachen. Das Gefühl genießen, dass sie ihn beachtete und respektierte, auch wenn sie nur wenig jünger war als er selbst. In Gottes Namen und bei allen Shinigami, er wollte sich sogar mit ihr verabreden! Was war nur los mit ihm? Wieso machte ihn das alles so melancholisch und ließ sein Herz schwer werden? Ein Schniefen entfuhr ihm und mit dem Handrücken wischte er sich über das Gesicht. Heiße Tränen liefen sofort nach. Warum musste alles so kompliziert sein? Wieso musste Carry solche Probleme verursachen? Er hätte sich anders verabschieden sollen. Wenn Carry nicht gewesen wäre, hätte es vielleicht gar keinen Abschied gegeben. Ronald hatte nichts Verbotenes getan! Die Bestrafung sollte Carry gebühren, nicht ihm! Bald würde ein Bote kommen, der ihn nach Hause holte. Die Vorstellung wieder nach Hause zu können, zurück zu seinen Freunden und zu Lily, ließ sein Herz sofort höher schlagen. Aber konnte er ihr nach dem, wie er gegangen war, überhaupt noch in die Augen sehen? Konnte er ihr noch in die Augen sehen bei all den Gedanken, die er über sie hatte? Ronald Knox wollte nichts mehr, als dass sie glücklich war und durch die Prüfung kam, damit sie ein Mitglied der Gesellschaft wurde. Aber wenn jemals jemand von seinen Gedanken erfahren würde, konnte er es vergessen, ihr dabei behilflich zu sein. William würde ohne Umschweife dafür sorgen, dass er in eine andere Society versetzt werden würde. Natürlich konnte er warten bis sie ihre Prüfung bestanden hatte und er nicht mehr ihr Mentor wäre, dann gäbe es auch keine Probleme. Weder für ihn noch für sie. Es wäre alles in Ordnung und niemand in der Society würde etwas dagegen sagen, wenn er Interesse für sie hegte. Nicht einmal William konnte ihm dann die Hölle heiß machen. Würde er es tatsächlich schaffen ein Jahr zu warten? Konnte er sein Interesse solange verbergen? Natürlich konnte er es. Ronald musste sich nur Mühe geben, dann würde es schon klappen und er könnte weiterhin ihr Mentor sein, ohne dass jemand etwas erfuhr. Was war eigentlich, wenn Lily ihn nach ihrer Ausbildung nicht als Mann sondern immer noch als Mentor sah? Konnte er denn einfach so aus der Rolle für sie heraus? Vielleicht interessierte sie sich ja auch mehr für Nakatsu. Immerhin verbrachten die beiden viel Zeit miteinander und wenn sie bereits in der Lehrzeit etwas miteinander anfingen, hätte er keine Chancen. Zwischen ihnen war es erlaubt. Ronald schluckte hart und schob den Gedanken beiseite. Soweit durfte es nicht kommen! Aber was sollt er schon dagegen tun? Wenn er sich dagegen auflehnen würde, wäre alles zu offensichtlich und er könnte direkt wieder seine Taschen packen. Wütend biss er sich auf die Lippen und vergrub sein Gesicht an den Knien, die er immer noch eng an sich gezogen hatte. Es war aussichtslos. Egal wie er es angehen würde, es gab immer ein Risiko, dass seine Gedanken und Gefühle zu früh aufgedeckt würden. Er musste es schaffen, sich zusammenzureißen und sich zu beherrschen. Es war nur das Beste für Lily und auch für ihn. Ronald wollte nicht, dass sie unter seinen Gefühlen litt. Ein leises Lachen entfuhr ihm. Eine gute Sache hatte dieses Exil. Er wusste nun, dass er sich verguckt hatte. William durfte davon absolut nichts erfahren! „Bruder Ronald!“, kam es laut neben ihn. „Wir suchen dich bereits! Du kannst doch nicht einfach so das Training schwänzen! Der Meister ist sehr wütend auf dich! Komm sofort zurück!“ Ronald war nicht zusammengezuckt, blickte langsam auf. Er musste noch immer weinen, obwohl er nicht genau wusste, ob aus Verzweiflung oder Freude. Verschwommen erkannte er den jungen Novizen aus seinem Zimmer neben sich. Er blickte zu ihm herunter. Als dieser ihn so weinend vor sich sah, kniete er sich besorgt zu ihm. „Was ist passiert, Bruder?“, fragte er und legte eine Hand auf seinen Rücken. Ronald versuchte zu sprechen, brachte jedoch nur einen kehligen Laut von sich und schniefte. Er schüttelte den Kopf. „Bruder, sag mir, was passiert ist.“ „Ich…ich glaube…“ „Ja?“ „Ich glaube, ich bin….“ Er schluckte noch einmal und sein Herz setzte kurzzeitig aus bei dem Gedanken. Wenn er jetzt schon bei dem Gedanken an das Wort einen Herzinfarkt bekam, wie sollte er ihr jemals das L-Wort sagen? Er holte tief Luft um seinen Satz zu beenden. „…verliebt.“ Kapitel 16: Zwischen Freud und Leid ----------------------------------- Die Glöckchen über der Tür verkündeten die Ankunft von Lily und Nakatsu in dem kleinen Café am Ende der Einkaufsstraße. Aus einem hinteren Raum kam ein älterer Mann geeilt. Sein graues Haar stand wirr vom Kopf ab. Es sah aus, als hätte er sie sich gerauft und sein Hemdkragen war verschwitzt. „Hallo und willkommen“, sagte er. „Sucht euch einen Tisch. Es wird gleich jemand kommen.“ Nakatsu bemerkte, dass mehrere Kunden an jeweils einem Tisch saßen und ungeduldig auf ihre Bestellungen warteten, während ein blonder junger Mann hinter der Theke stand und Eisbecher zubereitete. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und war ganz in seiner Arbeit vertieft. Lily winkte ihn zu einer ruhigen Ecke, wo sie sich niederließen. „Was macht dein Ohr?“, fragte sie und schaute auf das gerötete und geschwollene Ohr. „Tut halt weh“, antwortete er und berührte vorsichtig die Stelle, die er sich vor weniger als einer Stunde hatte durchstechen lassen. Das Metall in seinem Ohrknorpel fühlte sich warm an und es schmerzte, wenn er es berührte. Nachher würde er es anständig desinfizieren, wie es der Piercer gesagt hatte. Trotz der Schmerzen erfüllte es ihn mit Stolz, diesen Schritt getan zu haben, und es fühlte sich wahrlich gut an. Aus dem Augenwinkel konnte Nakatsu sehen, wie der ältere Mann den Jüngeren zu sich winkte. „Der Tiefkühler ist kaputt. Ich muss einen Ersatz organisieren. Halte du hier die Stellung“, sagte er und noch ehe der junge Mann antworten konnte, war er aus dem Café verschwunden. Ein leises Summen kam aus den hinteren Räumen. Lily zog sich die Getränkekarte heran und Nakatsu spähte mit hinein. „Weißt du, was du willst?“, fragte er. „Etwas Kühles. Vielleicht einen Saft oder eine Limo.“ „Wie wäre es mit…?“ Noch ehe er seine Frage zu Ende stellen konnte, wurde er vom blonden Kellner unterbrochen. „Hallo, was darf es denn sein? Unser Eis ist im Moment im Angebot. Der Tiefkühler gibt gerade den Geist auf und wir müssen es loswerden, ehe es schmilzt.“ Er warf ihnen beiden einen flüchtigen Blick zu und zückte schnell Stift und Zettel aus seiner Schürze. „Ich nehme eine kalte Limo“, sagte Lily und legte die Karte zur Seite. Der junge Mann notierte es sich und wandte den Kopf zu Nakatsu. „Ich ebenfalls.“ „Kommt sofort.“ Er drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um und ging wieder hinter die Theke. Die Gläser klapperten zwischen den Gesprächsfetzen der anderen Gäste. „Mr. Spears sah vorhin ganz schön fertig aus, oder?“, fing Lily plötzlich an. „Oh ja. Aber die Durchsage war der Renner.“ Sie kicherte. „Zum Glück erfährt das niemand aus der Society.“ Er nickte und musste grinsen. Der junge blonde Kellner kam mit einem Tablett in der Hand auf ihren Tisch zu. Darauf standen mehrere Getränke. Mit einem gekonnten Handgriff teilte er die Untersetzter aus. „Bitte sehr. Zwei Limos. Kalt.“ Zuerst kam Nakatsus Getränk und dann Lilys. Ihre Blicke kreuzten sich und man konnte deutlich sehen, dass er sie das erste Mal richtig ansah, anstatt nur seine Arbeit zu machen und nicht auf die Gäste zu achten. Sein Kiefer klappte nach unten und seine Augen weiteten sich, während er noch immer das Glas mit ihrem Getränk in der Hand hielt. „Ähm…entschuldige bitte…“, fing er an und richtete sich auf. Er stellte das Glas vor ihr hin und schüttelte den Kopf. Nakatsu zog die Stirn in Falten. Was war denn jetzt los? Nachdenklich sah er zu Lily. Aber auch sie schaute den Kellner genauso verblüfft an, wie er sie. „Micha?“, fragte sie verwirrt. „Bist du es, Micha?“ „Lily?“, fragte er und stellte das Tablett auf den Tisch. „Oh mein Gott, du bist es!“ Lily sprang vom Platz auf und rannte um den Tisch. Ohne zu zögern warf sie sich in die Arme des Mannes. Er drückte sie eng an sich und sie erwiderte diese Umarmung genauso innig. „Ich hab dich so vermisst!“, stieß sie aus, sah ihn an und drückte ihn wieder an sich. „Wie lange ist es her? Zwei Jahre bestimmt.“ Verwirrt und sichtlich überfordert mit der Situation schaute Nakatsu zwischen Lily und dem Mann, der Micha hieß, hin und her. „Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?“, fragte er laut genug für die Beiden, aber sie achteten nicht wirklich auf seine Worte. „Wo warst du nur?“, fragte sie. „Hier und dort. Überall eigentlich. Und du? Du bist jetzt ernsthaft Shinigami in Ausbildung?“ Stolz nickte sie. „Ich gratuliere dir, meine Liebe!“ „Entschuldigen Sie! Aber würden Sie uns bitte unsere Bestellung bringen?“, fragte ein Kunde am anderen Ende des Cafés. „Ich komme sofort!“, rief er zurück und ließ Lily los. „Ich komme gleich wieder.“ Mit einem strahlenden Lächeln nickte sie und setzte sich wieder. „Wer war das? Was geht hier vor, Lil?“ „Oh mein Gott…ich kann es kaum glauben…“, brachte sie hervor und trank schnell etwas von ihrer kalten Limo. „Wer ist der Kerl?“ „Micha. Ich meine, eigentlich Michael. Wir kennen uns schon ein Leben lang und haben uns jetzt zwei Jahre nicht gesehen. Er ist…“ „…ein sehr guter Freund“, beendete Michael ihren Satz. „Meine Süße, willst du zur Feier des Tages ein Eis? Geht aufs Haus. Ich lade dich ein.“ „Das klingt toll.“ Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu und er grinste sie frech an. „Aber ich glaube, deinem Freund gefällt es nicht.“ Lily sah Nakatsu überrascht an, als hätte sie vergessen, dass er auch noch dort war. „Oh tut mir leid, Micha. Das ist Nakatsu. Aber er ist nicht mein Freund. Also…“ Ihr Gesicht rötete sich. „Nicht in dem Sinne. Wir sind bloß gute Freunde!“ Verschwörerisch grinste er sie an. „Wer weiß. Oder gibt es jemand anderen?“ Nakatsus Herz setzte aus. Es war schon schlimm genug, dass er scheinbar nicht ihr bester Freund war, sondern jemand anderes, worüber sie nicht ein Wort verloren hatte. Aber der Gedanke, sie könnte in jemand anderen verliebt sein, schmerzte geradezu in seiner Brust. Mit einem Seitenblick auf Lily, aber die Augen hauptsächlich auf Michael gerichtet, beobachtete Nakatsu seine angeblich beste Freundin. Sie wirkte verlegen und nachdenklich. „Nein, es gibt niemand anderen. Ich bin in keinen Mann verliebt!“ „Na gut. Wenn du das sagst“ Ganz überzeugt klang er nicht, aber er zückte erneut Stift und Block. „Na gut. Ich lade euch beide auf ein Eis ein zur Feier des Tages. Was wollte ihr? Wir haben alle möglichen Extras: Erdnüsse, Schokostreusel, Schokolinsen, Kokosraspel, heiße Soßen, Sahne, Erdbeeren, Kirschen, Ananas und vieles mehr.“ „Überrasch mich“, sagte Lily zur Antwort. „Das konntest du schon früher gut.“ Michael nickte und sah zu Nakatsu. Widerwillig sah er ihn an. „Mich auch“, presste er hervor. „Na gut. Zweimal Überraschungseis.“ Damit verschwand er hinter der Theke. Die Glöckchen an der Tür bimmelten und ein Mann mit einem Jungen kam herein. „Alles in Ordnung, Nakatsu?“, fragte sie besorgt und legte eine Hand auf seine. Sie war kühl vom Glas. „Wieso hast du ihn nie erwähnt?“, fragte er. „Weil…“ Leise seufzte sie. „Zwischen Micha und mir ist viel passiert. Ich hatte nicht erwartet ihn wiederzusehen nach all der Zeit. Es ist kompliziert. Ich erkläre es dir lieber später in Ruhe und nicht hier.“ Er nickte und trank einen Schluck. Sein Blick wanderte zur Theke. Der Mann mit dem Kind stand noch immer dort und plauderte höflich mit Michael. Wenn er ihn so betrachtete, wirkte er sehr freundlich und offenherzig. Seine Haare waren blond und mehrere Ohrringe hingen in seinen Ohren. Unter dem Hemd zeichneten sich seine Muskeln ab. Er war deutlich älter als Lily und man sah ihm an, dass er viel erlebt hatte. „Welche Sorte möchtest du, Billy?“, fragte der Mann. Der Junge presste sein Gesicht an die Scheibe, dann sagte er: „Schokolade.“ Michael nickte, worauf er eine Waffel und den Eisportionierer heraus holte. Er beugte sich ein wenig über die Eisbehälter und befüllte die Waffel mit einer Kugel. „Ich will Vanille“, sagte Billy plötzlich und Michael hielt inne. „Vanille und Schokolade? Zwei Kugeln?“, fragte er höflich. Anscheinend ließ ihn so etwas nicht aus der Ruhe bringen und kratzte nicht an seiner Stimmung. Wahrscheinlich war er daran gewöhnt. Der Vater schüttelte den Kopf. „Ich hab dir doch gesagt, eine Kugel. Willst du Vanille statt Schokolade?“ Der Junge stampfte mit dem Fuß auf und schüttelte ebenfalls den Kopf. Er wollte wohl beides. Sein Vater kniete sich vor ihm hin und brauchte einige Minuten, um seinen Sohn zu beruhigen, während Michael seelenruhig wartete. „Wir nehmen Vanille“, sagte der Mann schließlich. Freundlich nickte Michael. Er stellte die Waffel zur Seite, nahm eine Frische und befüllte diese mit einer Kugel Vanille. Eine perfekte Kugel Vanilleeis wurde dem Jungen über die Theke gereicht, während Michael kurz an die Kasse trat und das Geld kassierte. Nach ihnen kamen noch drei weitere Leute dran, die ein Eis bestellten. „Bist du sauer, Natsu?“, fragte Lily plötzlich. Er brummte. „Tut mir leid. Aber Micha ist nicht das, wie es vielleicht für dich aussieht. Er ist weder mein Ex-Freund noch ein bester Freund. Wir sind Freunde.“ „Du willst auch nichts von ihm?“ Lily machte große Augen und fing an zu lachen. Nakatsu bereute seine Frage sofort und merkte, wie sein Gesicht warm wurde. „Oh Gott! Nein! Niemals!“, antwortete Lily und musste noch immer leicht lachen. Eine Woge der Erleichterung überkam ihn. Wenigstens das stand außer Frage. Michael brachte ihnen beiden jeweils einen gutaussehenden und schmeckenden Eisbecher. „Ich wohne hier ganz in der Nähe, meine Liebe. Wenn du mich mal besuchen willst, mit oder ohne deinen Freunden, dann kannst du jederzeit vorbeikommen. Ich schreibe dir mal meine Nummer und Adresse auf.“ Lily hielt inne im Essen und beobachtete ihn, wie er etwas auf seinen Block schrieb. Er riss das Blatt ab und schob es ihr zu. „Danke“, sagte sie und steckte den Zettel in ihre Tasche. Nakatsu hatte darauf nur einen flüchtigen Blick geworfen. Es war wirklich nur eine Nummer mit Adresse gewesen. Er nahm einen Löffel von dem Eis und starrte aus dem Fenster auf all die Leute, die vorüber liefen. Michael wuselte zwischen den leeren Tischen umher und reinigte sie mit einem Lappen, während er und Lily sich immer wieder angrinsten. Er reinigte auch die Stühle und Nakatsu fragte sich, ob er es nur tat, um mit Lily Blicke auszutauschen und in ihrer Nähe zu sein, oder ob er es wirklich tat, weil gerade nichts zu tun war und er von seinem Chef nicht beim Schwatzen erwischt werden wollte. Schließlich bimmelten die Glöckchen erneut und ein paar Kunden kamen herein. Sofort war Michael zur Stelle, um sie zu bedienen. Nach fast einer Stunde waren die Eisbecher und Getränke geleert. Michaels Chef war wieder zurückgekommen und in den hinteren Teil des Cafés verschwunden, wo er versuchte, den Tiefkühler zu reparieren. „Wollen wir zurück zur Society?“, fragte Nakatsu und sah zur Theke, wo eine junge Frau Michael ablöste, der nach draußen ging und sich eine Zigarette ansteckte. Lily nickte und war Michael mit Blicken gefolgt. „Gute Idee. Es ist schon spät. Sicherlich warten Mr. Humphries und Mr. Slingby auf uns.“ „Mr. Spears wollte dich auch noch sprechen“, erinnerte er sie. „Genau.“ Sie verzog das Gesicht als würde sie zu einer schlimmen Zahnarztbehandlung müssen. „Wird schon gut gehen“, versuchte er sie aufzumuntern und stand ebenfalls auf. Gemeinsam verließen sie das Café, nicht aber ohne vorher Michael draußen zu verabschieden. Leben und Tod. Das war eine Sache über die Alan Humprhies des Öfteren nachdachte. Nicht zuletzt bedingt durch gewisse Umstände. Ein Shinigami, der den Tod kontrollierte, wird von einer unheilbaren Krankheit heimgesucht. Ein sterbender, unsterblicher Shinigami. Was für eine Ironie. Wäre es ein Witz, hätte er darüber gelacht. Aber es war eine Tatsache. Er lebte nun schon so lange damit. Wenn er sich ruhig verhielt und sich nicht überanstrengte, konnte er seinen Todestag hinauszögern. Nicht zuletzt seinem Vorgesetzten, William T. Spears, hatte er es zu verdanken, dass er in eine ruhigere Abteilung wechseln konnte. Aber wie war der Tod? Wie war es immer für die Menschen? Oft genug hatte er sich das gefragt und nun wusste er es. Er war beängstigend, qualvoll und schmerzhaft. Aber obendrein, und das war das Schlimmste für ihn, einsam. Beim Einsammeln der Seelen hatte er sich oft genug gewünscht, die Qualen teilen zu können, aber das ging nicht. So sehr er es auch wollte. Diese Krankheit brachte ihn nur ein wenig näher an die Schmerzen heran, die ein Mensch im Augenblick des Todes fühlte, konnten aber nicht dafür sorgen, dass er sie mit ihnen teilte. Man wurde nun mal einsam geboren und starb einsam. Ein Seufzer entfuhr ihm und er ging mit schnelleren Schritten durch die Flure der Society. Wieder war ein Monat vergangen und wieder ging es zur monatlichen Routineuntersuchung in die Krankenstation. Sein ehemaliger Mentor und jetziger Arbeitspartner, Eric, würde sich sicherlich darüber aufregen, dass er sich so abhetzte, nur um pünktlich bei seinem Termin zu erscheinen. Wenn Alan an ihn dachte, wurde ihm ganz schwer ums Herz. Es war rührend, wie er sich um ihn sorgte, als wäre er noch immer sein Schüler. Wahrscheinlich würde Eric nie aus der Mentor Rolle bei ihm heraus kommen. Aber sie waren auch gute Freunde und da war es nur verständlich, dass er sich sorgte. Wieder seufzte er. Trödeln und Träumen konnte er sich jetzt nicht erlauben. Er war schon viel zu spät dran, weil noch eine Monatsabrechnung fertig erstellt werden musste. Alan hasste Unpünktlichkeit und besonders dann, wenn er zu spät dran war. Die monatliche Untersuchung war eine Anordnung aus der oberen Etage. Alan verstand nicht, wieso er alle vier Wochen diese Prozedur über sich ergehen lassen musste. Bisher hatten sich seine Werte nicht gebessert und eine Heilung war auch nicht in Sicht. Weshalb musste er es dann immer und immer wieder über sich ergehen lassen? Obendrein ging der Bericht über seinen Gesundheitszustand nicht an die obersten Shinigami, sondern an den Abteilungsleiter William T. Spears. Manchmal verstand er die Bürokratie in der Society nicht. Wieso ordneten sie etwas an und überließen es dann jemand anderen? Alan schüttelte darüber nur den Kopf. Schon lange hatte er es aufgegeben, darin einen Sinn oder Logik zu suchen. Er befolgte die Anweisung und alles blieb friedlich. Ein erneuter Seufzer entfuhr ihm, bevor er in den Gang einbog, der zur Krankenstation führte. Sehnsüchtig dachte er an seine Lehrzeit zurück, aber es brachte nichts, alten Zeiten hinterher zu trauern. Ungehindert schritt er weiter und noch ehe er die Station vollständig erreichte, schlug ihm der Geruch von Desinfektionsmittel entgegen. Jedes Mal war es unangenehm in der Nase und Alan verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Aber was sollte er tun? Diese monatliche Prozedur musste sein und so öffnete er die Tür zur Krankenstation. Es roch noch intensiver nach dem Mittel. Alles war steril und weiß. Vor zwei Betten waren Vorhänge gezogen worden und hinter einem kam eine Assistentin hervor. Ihr ehemals weißer Kittel war blutverschmiert und in den Händen hielt sie ein blutiges Laken. Der Geruch von Metall und Salz stieg ihm in die Nase, zusammen mit dem Desinfektionsmittel. Er verzog angewidert das Gesicht. Da hatte es einen Shinigami hart erwischt, wenn nicht sogar tödlich. Alan war froh, dass der Vorhang ihm den Blick auf den Anblick des Kollegen versperrte. Die Frau ging ihrer Arbeit nach ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken. Alan sah sich auf der Station nach dem Arzt um, konnte ihn aber nicht entdecken. Er lief durch den Raum. Vielleicht war er ja bei dem Shinigami hinter dem zweiten Vorhang oder in seinem Büro. „Mr. Humphries“, sagte eine männliche Stimme hinter ihm. Alan wirbelte herum, entdeckte den Arzt und begrüßte ihn. „Ich habe unseren monatlichen Termin nicht vergessen, Mr. Humphries.“ Der Arzt trat hinter dem ersten Vorhang ganz hervor und zog sich die Handschuhe aus, die mit Blut gesprenkelt waren. Eine Assistentin befreite ihn von dem Kittel, mit dem er seine Kleidung geschützt hatte. Am Waschbecken reinigte und desinfizierte er seine Hände. Mit einem Lächeln trat er dann auf Alan zu und reichte ihm die Hand. „Wie geht es Ihnen seit unserem letzten Termin, Mr. Humphries? Irgendwelche Schwächeanfälle oder Zusammenbrüche?“ Der Arzt führte ihn zu einem freien Bett und sofort kam eine der Helferinnen und zog einen Sichtschutz davor, damit sie ungestört waren. „Bringen Sie mir Mr. Humphries Krankenakte“, wies er die Helferin an. Alan setzte sich auf das Bett, während sich der Arzt einen Stuhl heran zog und ihn musterte. „Mir geht es gut“, beantwortete er die Frage des Arztes. „Es gab keinerlei Vorkommnisse.“ Er verschwieg lieber, dass manchmal sein Herz schnell schlug und er das Gefühl hatte, kurz vor einem Anfall zu stehen, denn das hatte nichts mit seiner Krankheit zu tun. Die junge Frau brachte seine Krankenakte, die mit der Zeit sehr dick geworden war. Allein die vielen Befunde, Schreiben, Notizen und Anweisungen nahmen den Großteil der Akte ein. Der Arzt nahm den Hefter entgegen, blätterte darin ein wenig herum und suchte nach den letzten Befunden. Kurz überflog er diese. „Die letzten Ergebnisse waren konstant. Es gab keinerlei Veränderungen, weder bei dem Lungentest noch bei den Blutwerten.“ Der Arzt seufzte und Alan musste unweigerlich mit seufzen. „Gut dann wollen wir mal wieder. Sie kennen ja schon die Prozedur. Einmal den Oberkörper frei machen bitte. Ich bereite in der Zeit alles weiter vor.“ Alan nickte und wurde vom Arzt allein gelassen, der hinter die andere Seite des Vorhanges trat und Anweisungen erteilte, welche Instrumente er brauchte. Er öffnete sein Jackett und legte es neben sich auf das Bett. Die Bolotie war schnell geöffnet. Ein Grund, warum er sie trug, war, dass er keine Krawatten binden konnte und es wesentlich länger dauerte sie zu öffnen und wieder neu zu binden. Das weiße Hemd war ebenfalls schnell ausgezogen und zu den anderen Sachen gelegt. Der Arzt kam mit einer Assistentin wieder und Alan bemerkte, wie sie seinen Oberkörper musterte, als hätte sie so etwas noch nie gesehen. Innerlich verdrehte er die Augen. Manchmal waren diese Helferinnen nur lästig und er glaubte, dass einige unter ihnen die Arbeit nur machten, um halb nackte Männer zu sehen. „So dann wollen wir mal gucken“, sagte der Arzt und zückte das erste Gerät. „Einmal bitte den Kopf zur Seite drehen.“ Alan tat wie ihm geheißen und der Arzt tupfte sein Ohr mit kaltem Desinfektionsmittel ab. Er stach ihm mit einer kleinen Nadel ins Ohr und führte ein dünnes Plastikglas daran. Ein Tropfen Blut blieb haften und er schob das Glas in ein Gerät. Kurz wartete er und ein Piepton ertönte, während gleichzeitig die Blutwerte angezeigt wurden. Zufrieden nickte der Arzt und die Helferin klebte ihm einen Pflaster auf die Stelle am Ohr. „Die Blutwerte sind sehr gut“, kommentierte er und schrieb den Wert auf ein vorgefertigtes Formular, während die Assistentin seine Temperatur maß und dem Arzt durchsagte. „Sehr gut. Temperatur ist auch ok. Dann wollen wir mal den Blutdruck messen und den Puls. Bitte einmal den Arm lang machen und die Hand zur Faust.“ Alan kannte die Prozedur und tat wie ihm geheißen. Der Arzt legte ihm eine Manschette um den Oberarm und schnürte sie fest zu. Er konnte spüren, wie das Blut durch die Adern floss, sowie den Pulsschlag dahinter. Etwas, was ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken jagte. Mit einem kalten Stethoskop horchte der Arzt nach seinem Puls, wobei er zwei Finger auf seinen Venen hatte, während die Assistentin die Manschette aufpumpte bis es im Arm schmerzte. „Blutdruck normal und Puls auch“, sprach der Arzt und notierte die Daten. „Dann bitte einmal den Mund weit aufmachen und A sagen.“ Innerlich grauste es Alan vor diesem Holzstiel, aber er öffnete seinen Mund und versuchte seine Stimmbänder dazu zu bringen, den Laut von sich zu geben. Der Stiel war einfach widerlich im Mund und er hatte danach immer ein komisches Gefühl auf der Zunge. Er fühle sich plötzlich wieder wie ein kleines Kind, das eine schwere Krankheit hatte. Es fehlte nur noch seine Mutter mit einem Teller Hühnersuppe und einem Schal für den Hals. Unweigerlich leckte er sich über die Lippen, als der Stiel aus seinem Mund heraus war. Der Arzt brummte zufrieden. „Dann jetzt bitte einmal umdrehen.“ Alan drehte sich ein wenig auf dem Bett herum und der Arzt legte ihm das kühle Stethoskop von eben auf die Haut. „Bitte tief Luft holen und kräftig ein und ausatmen.“ Alan zog die Luft kräftig ein und atmete wieder aus. Mehrere Male wiederholte er den Vorgang, während das kalte Gerät auf seinem Rücken hin und her wanderte. „Bitte einmal husten.“ Ein künstliches Husten verließ seinen Hals. „Bitte noch einmal.“ Erneut hustete er gekünstelt. „Bitte noch einmal und etwas kräftiger.“ Alan holte tief Luft und versuchte, so kräftig wie möglich zu husten. „Gut. Danke“ Er räumte das Gerät zur Seite. „Klingt alles gut, so wie es sein soll. Haben Sie gut gegessen heute und gut getrunken?“ „Ja, habe ich.“ „Sehr schön. Dann nehmen wir jetzt wieder etwas Blut ab. Sie kennen das ja.“ Der Arzt versucht freundlich zu grinsen. Vielleicht sollte es auch aufbauend sein, aber Alan kam es irgendwie schadenfroh vor. So als hätte er daran am meisten Spaß, weil er wusste, die meisten mochten keine Spritzen und Nadeln. „Meine Assistentin wird das übernehmen und wir sehen uns dann gleich in zehn Minuten wieder.“ Damit ließ er ihn alleine mit der Helferin, die versuchte nicht allzu offensichtlich auf seinen Oberkörper zu schauen. Sie tat es aus den Augenwinkeln und ihr Gesicht war gerötet. Alan wandte den Blick ab, während sie ihm eine andere Manschette um den Arm legte und aufpumpte. Automatisch streckte er den Arm aus und ballte die Hand zur Faust. Er wollte nur noch von hier weg und zum Abendessen gehen. Dieser Blick, mit dem die Frau ihn musterte, machte ihn nervös. Er wollte nichts von ihr und es war ihm mehr als unangenehm, wie ein Stück Fleisch begutachtet zu werden. Kaltes Desinfektionsmittel wurde ihm auf den Arm gesprüht und sie tastete nach der Vene, die deutlich hervortrat. Er hörte das Knistern der Verpackung von der Spritze und es dauerte auch nicht lange, da erfüllte ein stechender Schmerz seinen Arm. Flüchtig warf er einen Blick zum Arm und sah dort die Nadel stecken, während die Frau mehrere Ampullen mit seinem Blut befüllte. „So schon fertig“, sagte sie und zog die Nadel aus der Vene. Sofort legte sie einen Tupfer darauf. „Bitte kurz festdrücken.“ Er drückte den Tupfer auf die Stelle, während sie die Ampullen mit schnellen Handgriffen beschriftete und in einer Box wegbrachte. Der Arzt kam wieder. „Alles gut überstanden?“ Alan nickte und der Arzt legte ihm einen Mullverband um den Arm. „Sie kennen das ja. Der Arm wird sich etwas schlapp anfühlen und bitte heute nicht mehr belasten.“ „Wie immer“, seufzte Alan und zog sich seine Sachen wieder an. „Genau. Der Blutbefund wird in den nächsten Tagen vorliegen. Der Bericht wird wie immer zu Mr. Spears geschickt. Sollte etwas nicht stimmen, werden Sie von uns hören.“ Alan nickte und verabschiedete sich. „Trinken und essen sie jetzt etwas nach der Blutabnahme“, riet der Arzt und verabschiedete ihn. Mehr als froh darüber, endlich die Station verlassen zu dürfen, machte sich Alan auf den direkten Weg zur Mensa. Eric hatte sicherlich schon Feierabend und wartete auf ihn. Sicherlich wollte er wissen, wie die Untersuchung verlaufen war. Zum Glück sah niemand den Verband unter seiner Kleidung. Manchmal war es ihm zu viel, wie Eric sich um ihn sorgte, aber gleichzeitig war er auch froh darüber, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte. Alan hatte das Gefühl, der Geruch der Krankenstation haftete an ihm, aber sicherlich war es nur Einbildung. Der Duft von frischem Essen schlug ihm aus der Mensa entgegen, als er hinein ging und Eric am üblichen Platz erblickte. Lily und Nakatsu saßen auch dort und unterhielten sich mit seinem Freund. Alan kam auf den Tisch zu und begrüßte die kleine Gruppe. „Alan, setzt dich. Ich hab dir schon was zu Essen besorgt.“ Eric wies dabei auf einen Teller mit seiner Lieblingsspeise und einer Flasche Wasser. Alan nickte dankend und setzte sich auf seinen üblichen Platz. Er begrüßte die beiden Lehrlinge. Alan musterte beide. Lily strahlte aus irgendeinem Grund bis über beide Ohren Es freute ihn, denn immerhin hatte sie in letzter Zeit wenig zu lachen gehabt. Nakatsu sah ein wenig stolz aus. „Die beiden haben gerade erzählt, dass sie in der Stadt waren“, klärte Eric ihn auf. „Nakatsu hat sich jetzt ein Ohrloch stechen lassen.“ Alan sah Nakatsu genauer an und tatsächlich fiel ihm ein blinkender Ohrring ins Auge, der an seinem geröteten Ohr hing. Nakatsu präsentierte ihn stolz. „Sehr schön“, sagte er und nahm einen Bissen vom Essen. „Tat es sehr weh?“ Der junge Shinigami zog die Schultern hoch. „Schmerz ist relativ. Solange man keine Träne vergießt und keinen Laut von sich gibt, ist alles gut.“ Lily gab ein belustigtes Geräusch von sich, schaffte es aber, es als Husten zu tarnen. Alan begegnete ihrem amüsierten Blick. „Gejammert hat er und ich glaube, ein Tränchen ist auch geflossen“, flüsterte sie ihm leise zu und beugte sich dabei näher über den Tisch. Sie kicherte. „Er war aber tapfer.“ Alan musste mit kichern. „Was tuschelt ihr zwei denn da?“, fragte Nakatsu plötzlich und musterte sie misstrauisch. „Nichts“, wehrte Lily ab und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Hast du den Ausflug mit deinem neuen Lover genossen? Reicht dir Knox nicht?“, kam es von einer geifernden Frauenstimme. Alle verdrehten die Augen, denn sie wussten, von wem die Stimme kam und dass diese Person nur Streit suchte. Alan suchte Lilys Blick, die nur ungläubig den Kopf schüttelte und ihm mit ihrem Blick zu verstehen gab, dass es sie kalt ließ. Er nickte ihr zu und warf einen Blick zu Nakatsu, der alles andere als ruhig war. Er sprang wütend von seinem Platz auf. „Carry, es kann dir doch vollkommen egal sein, mit wem Lily einen Ausflug macht oder mit wem sie zusammen ist! Lass sie und uns einfach in Ruhe!“ „Na sieh mal einer an, wer sich da als heldenhafter Beschützer aufspielen will.“ Ein fieses Lächeln umspielte ihren Mund. Alan schlug mit den Händen auf den Tisch. Langsam regte diese Frau ihn auf. Bedächtig erhob er sich von seinem Platz. „Carry“, fing er langsam an und schaute ihr in die Augen. „Merkst du eigentlich, was du anrichtest? Niemanden von uns interessiert deine Meinung zu Lily oder sonst wem! Du bist hier unerwünscht! Verzieh dich! Wir wollen unsere Ruhe!“ Alan wusste, dass man ihm am Tisch anstarrte und er erwiderte unermüdlich Carrys herausfordernden Blick. Sein Herz schlug schnell. Vielleicht zu schnell. „Alan, setz dich und ruh dich aus. Du weißt, du sollst dich nicht aufregen.“ Eric zog ein wenig an seinem Ärmel und versuchte, ihn zu beruhigen. „Stimmt ja. Du darfst dich nicht überanstrengen, wegen dieser Sache.“ Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht. Es war, als würde sie es darauf anlegen, dass er einen Anfall bekam. Von einer Sekunde zur anderen erlosch ihr Lächeln und sie zog selbstgefällig die Schultern hoch. „Wie dem auch sei. Ich habe keine Lust, von deinem Freund angemacht zu werden, nur weil du dich aufregst und zusammenbrichst.“ Sie stolzierte davon, während Eric leise knurrte und Alans Herz noch immer am Rasen war. Er musste sich beruhigen. Tief ein und ausatmen. Er durfte sich von ihr nicht aus der Ruhe bringen lassen. „Alan? Geht es dir gut?“, fragte Eric besorgt. Langsam nickte er. „Ja, es geht schon.“ „Mr. Humphries, ist wirklich alles in Ordnung. Sie sehen so blass aus.“ Lily klang besorgt. Er nickte und setzte sich wieder an den Tisch. „Es ist alles gut.“ „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wovon hat Carry geredet? Sind Sie krank?“, fragte Nakatsu. Er schüttelte den Kopf. „Macht euch keine Sorgen. Es ist alles gut.“ Lily und Nakatsu nickten. Beide schienen zu verstehen, dass er nicht darüber sprechen wollte. „Na gut. Wir werden dann mal gehen. Die Hausaufgaben warten noch“, sagte Lily. Alan wusste, dass ihr der Appetit vergangen war. Sie hatte den Teller noch nicht einmal bis zur Hälfte leer. Aber er nickte ihr zu und verabschiedete sich. Als die beiden Lehrlinge fort waren, musterte ihn Eric besorgt von der Seite. „Geht es dir wirklich gut? Brauchst du etwas?“, fragte er. Alan schüttelte den Kopf und schloss müde die Augen. „Nein. Es geht schon wieder.“ „Wie war der Arzttermin?“ „So wie die Letzten auch. Keine Veränderung.“ Er begann wieder zu essen. Allein schon wegen der Blutabnahme wollte er nicht riskieren, dass er zusammenbrach. Eric nickte und begann ebenfalls zu essen. Alan wusste, er machte sich Gedanken, wie man ihm helfen konnte. Aber wenn nicht einmal ein Arzt ihm helfen konnte, war die ganze Sache aussichtslos. Nachdem er aufgegessen hatte, verabschiedete er sich von Eric und machte sich alleine auf den Weg zu seinem Apartment. Eric wollte noch eine Runde mit seinem Schüler trainieren gehen, ehe er Feierabend machte. Nachdenklich verließ er die Society und ging zum Wohngebäude. Seine Krankheit war wirklich lästig. Nun machten sich auch schon Lily und Nakatsu Sorgen. Wenn Carry nicht gewesen wäre, hätte er sich nicht aufregen brauchen! Nur wegen ihr hätte er beinahe einen Anfall gehabt. Zum Glück wusste der Arzt nichts davon. Dieser hätte ihn direkt wieder unzähligen Belastungstests ausgesetzt. Darauf konnte er dankend verzichten. Er ging zum Fahrstuhl und drückte den Knopf. Heute hatte er absolut keine Lust, die unzähligen Treppen zu steigen. Besonders nicht nach dem Geschehenen. Er seufzte und stieg in den Fahrstuhl. Vielleicht würde er ins Gemeinschaftsbad gehen und versuchen, sich dort zu entspannen. Das klang nach einer sehr guten Idee. Sollte er vielleicht noch auf Eric warten, damit sie gemeinsam das Bad genießen konnten? Müde fuhr er sich durch die Haare und richtete seine Brille. Die Fahrstuhltür ging auf und sofort kamen ihm laute Geräusche entgegen, noch ehe er gänzlich in den Flur treten konnte. Es war ein überraschter Frauenschrei und im nächsten Moment war ein Hämmern zu hören. „Lasst mich rein!“, kam es vom anderen Ende des Flures. „Bitte lasst mich rein! Oder gebt mir meine Sachen wieder! Bitte!“ Schnell trat er in den Flur und sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie kam aus der Richtung der Gemeinschaftsbäder. Lily stand im Flur und hämmerte auf die Tür zu dem Baderaum ein. Sie zitterte und war aufgelöst, was wenig verwunderlich war, wenn man bedachte, dass sie nur ein Handtuch umgeschlungen hatte. „Lasst mich rein!“, rief sie erneut und ein Schluchzen entfuhr ihr. Lily sank auf den Boden und hielt das große Handtuch fest. Alan knurrte und rannte mit wenigen Schritten auf sie zu. „Miss McNeil, ist alles in Ordnung?“, fragte er und ließ sich neben sie zu Boden sinken. Vorsichtig legte er ihr einen Arm um die Schulter. Lily mied seinen Blick und vergrub ohne zu zögern das Gesicht an seine Schulter. „Kommen Sie mit. Ich bring Sie hier weg.“ Er flüsterte nur und zog sein Jackett aus, um es ihr über zu legen. Gemeinsam standen sie auf und Alan brachte sie in sein Apartment, wo sie vor den Blicken der anderen Etagenbewohner geschützt wäre. „Warten Sie hier. Ich hole Ihnen etwas zum Anziehen.“ Alan verschwand im Schlafzimmer, während die Schülerin noch immer weinend in seinem Wohnzimmer stand. Sollte Ronald Knox jemals wieder in die Society zurück kommen, würde er sein blaues Wunder erleben! So wütend wie jetzt, war er schon lange nicht mehr. Er zog eine alte Hose und ein altes Hemd aus dem Schrank. Auf dem Bett lag noch sein Bademantel, den er kurzerhand mitnahm. „Ich glaub, es wird ein wenig zu groß sein, aber es wird gehen bis ich deine Sachen geholt habe“, erklärt er und mied es, sie genau anzusehen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass das Handtuch ein wenig verrutscht war, aber zum Glück noch alles bedeckte. „Gehen Sie ins Bad und ziehen Sie sich was an.“ Alan bemühte sich so ruhig wie möglich zu klingen und so einfühlsam wie es nur ging, um sie nicht merken zu lassen, wie wütend er doch in Wahrheit war. Er legte wieder einen Arm um sie und führte sie ins Badezimmer. Die Kleidung legte er auf einen freien Platz im Regal und schloss die Tür. Sobald er die Tür geschlossen hatte, hörte er sie wieder laut schluchzen. Er seufzte. Carry war eindeutig zu weit gegangen! Wütend ging er hinaus und klopfte lautstark an der Tür zum Frauenbad. „Macht sofort die Tür auf!“, rief er wütend. „Alan, was machst du da?“ Alan hielt inne und drehte sich um. Eric stand an der Treppe und sah ihn verwirrt an. Mit knappen Worten schilderte er ihm, was eben passiert war. Sein Freund nickte. „Kümmere du dich um Miss McNeil. Ich versuche ihre Sachen zu holen und komme nach.“ Widerwillig gab er nach und kehrte zurück in die Wohnung. Lily war noch im Badezimmer. Er ging in die Küche und machte eine heiße Tasse Schokolade. Sie würde sicherlich etwas zur Beruhigung brauchen. Während er noch in der Küche war, hörte Alan, wie das Mädchen aus dem Badezimmer kam. „Setzten Sie sich. Eric holt Ihnen Ihre Sachen“, rief er ihr zu und trug die Tasse zum Tisch. Wie er es geahnt hatte, waren ihr die Sachen um einiges zu groß und sie hatte sich zusätzlich den Bademantel angezogen, als würde er ihr zusätzlichen Schutz geben. Ihre Augen waren gerötet. Langsam und verängstigt wie ein scheues Reh setzte sie sich. „Ich habe Ihnen eine Schokolade gemacht. Es beruhigt die Nerven.“ Alan wusste nicht, was er sagen sollte. „Danke“, gab sie leise und mit kratziger Stimme zurück. Alan ließ sich neben ihr auf das Sofa nieder und legte die Arme schützend um sie. Lily ließ es zu und bettete den Kopf an seiner Schulter. „Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon alles wieder gut werden“, versuchte er sie zu beruhigen und strich ihr über die Schulter. „Eric und ich stehen Ihnen zur Seite.“ Lily nickte. „Danke.“ „Nicht dafür. Wo ist eigentlich Mr. Shinamoto? Hätte er Ihnen nicht die Tür für Ihr Zimmer öffnen können?“ „Nein. Er ist im Männerbad.“ „Verstehe.“ Sicherlich würde er auch aus der Haut fahren, wenn er davon erfuhr. „Es ist fast so, als wäre ich wieder zu Hause und bei meinem Bruder.“ Verwirrt blickte Alan Lily an, die die Augen geschlossen hatte. „Wenn es mir nicht gut geht, hat mein Bruder mich auch immer in den Arm genommen und eine heiße Tasse Schokolade gemacht“, erklärte sie. „Dann scheine ich es ja richtig gemacht zu haben“, lachte er und drückte das Mädchen etwas enger an sich. Sie musste mit lachen, wenn auch nur kurz. „Mr. Humphries, ich weiß nicht, ob ich das durchstehe.“ „Wollen Sie aufhören?“ „Ungern. Aber…“ Sie hielt kurz inne. „Aber bei allem, was hier passiert…ich weiß nicht, ob ich es lange durchstehe.“ „Ich bin sicher, dass sie es schaffen. Sie sind stark.“ Lily brummte und trank etwas von der Schokolade. „Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Fall?“ Alan stutzte kurz über diesen abrupten Themawechsel, konnte es aber nachvollziehen, dass sie nicht drüber sprechen wollte. „Ja, ich erinnere mich“, begann er. „Ich hatte gerade die Abschlussprüfung bestanden. Eric war nun nicht mehr mein Mentor, sondern mein Partner. William hatte gerade die Abteilung übernommen. Es war für uns alle eine große Veränderung. Zu dieser Zeit gab es in der Menschenwelt Massenmorde. Es waren Menschen, die nicht auf den Listen standen und deren Erinnerungen gestohlen worden waren. Es war also unsere Pflicht, dem nachzukommen. Meist kamen wir zu spät und die Menschen waren bereits tot. Ich erinnere mich, dass wir in einer kleinen Hütte eine Familie gefunden hatten. Zwei kleine Jungen, eine junge Frau und ein älterer Mann. Alle waren auf brutalste Weise umgekommen. In einer Ecke kauerte ein junges Mädchen. Sie hatte überlebt, aber nur aus Glück, weil sie nicht zu Hause gewesen war. Wir sind gegangen, aber sie ist uns gefolgt und obwohl wir uns versteckt hatten auf einem Dach, hatte sie uns entdeckt. Sofort liefen wir weiter. Es wäre eine Katastrophe, würden wir Unschuldige in Gefahr bringen. Aber sie lief uns nach, auch noch nachdem William sie gewarnt hatte.“ „Was passierte mit ihr?“ Lily hatte sich ein wenig versteift und ihre Stimme klang abwesend. „Sie war dabei umzukehren. Sicherlich wusste sie nicht, wohin. Aber weit ist sie nicht gekommen. Eine Kutsche erwischte sie in voller Fahrt. William wies uns an, ihre Seele zu holen. Er prüfte ihr Todesdatum. Sie stand nicht auf der Liste, aber einfach so sterben lassen, konnten wir sie nicht und da sie nicht auf der Liste stand, konnten wir sie auch nicht streichen. William konnte in ihren Augen die Seele eines Shinigami sehen.“ „Ein Shinigami kann ein Mensch werden?“, fragte Lily verblüfft. Alan schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Es muss etwas in der Seelenabteilung schief gelaufen sein, dass so eine Seele ein Mensch werden konnte. William vermerkte es natürlich, damit es nicht wieder passierte. Nachdem sie ohnmächtig geworden war, wies er mich an, den Seelenschnitt zu machen. Also ihre Seele vom Körper zu trennen. Wir hatten ihren Körper mitgenommen und uns in eine Ecke verzogen, um die Arbeit in Ruhe zu Ende zu führen. Für mich als frisch ausgelernter Shinigami war es nicht leicht, aber ich hab es getan. Ihre Erinnerungen waren sehr traurig und ich muss gestehen, es fiel mir schwer, nicht zu weinen. Als Eric und ich alleine waren, sprachen wir darüber und Eric schaffte es irgendwie, dass ich nicht weinte. Ich bewundere ihn heute noch dafür, dass er es so locker macht.“ „Ich bin aber sicher, dass es der Seele gut getan hat, dass jemand in dem Augenblick bei ihr war.“ „Eine interessante Ansicht. So habe ich das noch nie gesehen.“ Die Tür ging auf und unterbrach beide in ihrem Gespräch. Eric trat ein und hielt ein Bündel Kleider in der Hand. Mit einem Nicken begrüßte er die beiden. „Es hat etwas gedauert und war nicht einfach, aber hier habe ich Ihre Kleidung. Ich habe die Taschen kontrolliert. Der Schlüssel für Ihr Apartment ist noch da.“ Lily sprang auf und nahm dankend ihre Kleidung entgegen. Sofort ging sie ins Badezimmer und zog sich die Sachen an. „Ist alles gut, Alan? Du wirkst so traurig.“ Eric setzt sich neben ihn, wo bis eben Lily gesessen hatte. „Ja. Es ist alles gut. Ich habe nur gerade Miss McNeil von dem ersten Fall nach meiner Ausbildung erzählt.“ Eric nickte. „Es hat dich damals ganz schön mitgenommen.“ Alan nickte und lehnte sich zurück. Er schloss die Augen. „Es ist nicht fair, was hier passiert.“ „So viel ich gehört habe, hat William heute einen Vortrag über Mobbing gehalten.“ „Aber gebracht hat es gar nichts. Miss McNeil tut mir leid.“ Zwei Arme wurden um ihn gelegt und Alan schmiegte sich an Erics Brust. Es war vielleicht nicht typisch für zwei männliche Freunde sich so zu benehmen, aber es tat gut, eine starke Schulter zu haben. „Wenn Ronald zurück kommt, kann er was erleben“, murmelte er. Eric brummte zustimmend. „Ich verstehe auch nicht, was sich der Kekskrümmel dabei gedacht hat.“ Müde nickte er. Alan konnte hören, wie eine Tür geöffnet wurde, aber seine Augenlider fühlten sich an wie Blei. Eric flüsterte etwas zu Lily, was er kaum verstand, und im nächsten Moment ging erneut eine Tür auf und wieder zu. „Schlaf gut, Alan“, hörte er noch Eric sagen, ehe er endgültig ins Land der Träume fiel. Die hellbraune Flüssigkeit in der Tasse war schon kalt. Wie so oft war der Kaffee ausgekühlt, ehe er es schaffte, ihn auszutrinken. Nachdenklich schwenkte William die Tasse und beobachtete, wie die Flüssigkeit kleine Wellen schlug. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, für den heutigen Tag keinen Kaffee mehr zu trinken, aber sein Zwangsmitbewohner hatte seine Nerven überstrapaziert und dafür gesorgt, dass er jetzt erst recht müde war. Dabei stand noch ein wichtiges Gespräch auf seiner mentalen To-Do-Liste. Maisy hatte es sich auf seinem Schreibtisch bequem gemacht und lag auf den Unterlagen. Genüsslich streckte sie sich. Sie warf ihren Schnurrmotor an. Die Unterlagen unter ihr hatte sie ordentlich durcheinander gebracht. William strich dem Tier über den fellbesetzten Bauch, was sie nur noch mehr zum Schnurren brachte. Genervt seufzte er und stand auf. Langsam ging er zur Küchenecke und schüttete den restlichen Inhalt der Tasse in den Ausguss. Zum Glück hatte er jetzt ein wenig Ruhe vor dem rothaarigen Wirbelwind, aber das, was vor ihm lag, machte die Sache nicht besser. Es war eigentlich gegen seinen Willen, aber Anweisungen waren Anweisungen. Wenn er dafür ein wenig schauspielern musste, musste er wohl oder übel da durch. William warf einen Blick auf die Wanduhr. Er hatte noch ein wenig Zeit und würde sie auch nutzen. Das Gemeinschaftsbad war meist gut belegt von den Männern um diese Zeit. Eine Sache, die ihn an diesem luxuriösen Zimmer störte, es hatte wie alle anderen Zimmer auch nur eine Dusche. Er wollte sich nicht beschweren, aber manchmal war es schon ein kleines Manko. Besonders, wenn man seine Ruhe wollte. Zum Glück war dieses Subjekt nicht da, so dass er das Bad nutzen konnte ohne Sorge zu haben, er würde durch die Tür stürmen und ihn belästigen. Erleichtert seufzte er und kam nicht umhin, darüber freudig zu lächeln. Laute Geräusche aus dem Flur unterbrachen seine Gedanken. Was ging denn nun wieder vor? Wer machte denn so einen Lärm? Langsam ging er zur Tür und öffnete sie leise einen kleinen Spalt breit, um in den Flur zu spähen. William erkannte einen braunen Haarschopf und einen zierlichen Körper. Es war Alan Humphries. Der Shinigami war aber nicht alleine. Neben ihm kniete Lily McNeil mit nur einem Handtuch bekleidet und seinem Jackett um den Schultern. Still und leise beobachtete er das Geschehen. Das Mädchen war aufgelöst. Hatte sein Vortrag vom Morgen gar keine Wirkung gehabt oder tat sie nur so, um sich an Mr. Humphries ranzumachen? Leise schloss er wieder die Tür. Dieses Geschehen konnte er wunderbar in sein späteres Gespräch einbringen. William ging ins Badezimmer und strich Jess über den Kopf, die seine Beine umspielte. „Das wird durchaus interessant“, murmelte er zu Jess, die daraufhin mauzte, was wie eine Zustimmung klang. Er betrachtete sein Spiegelbild und nahm die Brille ab. Seine Sicht war verschwommen, aber mit der Sehhilfe duschen wollte er nicht. Er zog seine Kleider aus und trat in die Kabine. Das Haargel wusch er mit Duschgel heraus. Verschwommen erkannte er einen schwarzen Fleck auf dem Boden, der in eine Ecke des Bades ging. Nur wenige Sekunden später hörte er ein Schaben und Kratzen. Maisy grub mal wieder die Katzentoilette um und würde mit den Kügelchen das Apartment verschönern. Allein der Platz vor der Katzentoilette war übersät mit Kügelchen. Manchmal hatte er das Gefühl, mit dem ganzen Streu wieder die ganze Box befüllen zu können. An die Haaren, die sie teilweise verloren, wollte er gar nicht erst denken. Der schwarze Katzenschwanz schaute aus der Box heraus und wieder war ein Schaben zu hören. Einen Augenblick später kam Maisy heraus und schien zu überlegen, wohin sie gehen sollte. Sie entschied sich zur Toilettenecke zu gehen und beobachte fasziniert das Toilettenpapier. Der Schwanz zuckte hin und her. Ihre Pfote hob sich und sie tippte gegen das herunter hängende Ende. Ihre Krallen fuhren heraus und zogen an das Papier. „Maisy! Aus!“, rief William und schaute die schwarze Katze böse an. Maisy wandte den Kopf sowie sie ihn aus unschuldigen Augen anguckte, während ihr Schwanz noch immer zuckte. Sie richtete sich erneut auf und zog an dem Papier. Genervt seufzte William und trat aus der Dusche. Er zog ein frisches Handtuch aus dem Regal und wickelte es sich um. Sofort sprang Maisy auf und rannte zur Tür. William wusste, dass sich Maisy bewusst war, dass sie etwas falsch gemacht hatte, weshalb sie ihren unschuldigsten Blick aufsetzte. William grummelte leise und wickelte das Papier wieder auf, während Jess herein kam und es sich im Waschbecken bequem machte Mit ruhig duschen war es nun vorbei. William fuhr sich durch die nassen Haare und trocknete sich ab. Er zog eine frische Hose an und rieb mit dem Handtuch über die nassen Haare, von denen noch vereinzelte Wassertropfen fielen. Mit einem Mal klopfte es an seiner Tür und William schreckte ein wenig auf. Hatte er tatsächlich so lange unter der Dusche gestanden? Er zog sich sein Hemd über, ließ es aber ein wenig offen. Diesen Umstand konnte er sich vielleicht bei dem Gespräch zu Nutze machen. William nahm Jess aus dem Waschbecken und scheuchte sie aus dem Badezimmer. „Herein! Es ist offen!“, rief er und schloss die Tür zum Badezimmer. Er hörte wie die Tür aufging und Miss McNeil nach ihm rief. „Ich komme schon“, sagte er zur Antwort und nahm seine Brille, die er in seine Hemdtasche steckte. Das Handtuch lag um seine Schultern. Es konnte losgehen. William schluckte hart und atmete tief durch. Dann trat er hinaus. Lily McNeil stand in dem Wohnzimmer, während Jess und Maisy sie umschwärmten und mit Mauzen zum Streicheln aufforderten. Sam saß auf dem Käfig und sie strich ihm übers Fell. Leise räusperte er sich. „Wie ich sehe, haben Sie meine Haustiere entdeckt.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Das Mädchen sah auf und William konnte auch ohne Brille erkennen, dass sie geweint hatte. Als sie ihn ansah, rötete sich ihr Gesicht und sie sah schnell zu Boden. „Tut mir leid, ich glaube, ich habe mich im Zimmer geirrt.“ Sie blickte beschämt zu Boden und ging an ihm vorbei. „Bleiben Sie stehen, Miss McNeil. Sie sind schon richtig.“ Er rieb sich noch einmal über die nassen Haare, die ihm wirr ins Gesicht fielen und setzte seine Brille auf. Miss McNeil blieb stehen und drehte sich wieder zu ihm um. „Sie wollten mich sprechen, Mr. Spears.“ Er nickte und konnte sehen, wie sie nervös und unsicher die Hände knetete. „Mr. Spears, ich bin nur gekommen, um Sie zu fragen, ob…ob wir das Gespräch nicht morgen führen könnten. Ich fühle mich nicht sonderlich gut.“ Skeptisch hob er eine Augenbraue und ging zum Hasenkäfig. Er nahm Sam vom Käfig hoch und öffnete diesen, um den Hasen wieder hinein zu lassen. Irgendwie hatte Sam es wieder geschafft, sich aus dem Käfig zu befreien. „Wenn Sie schon gekommen sind, um mir das zu sagen, können wir auch das Gespräch führen. Sie machen auf mich auch nicht den Eindruck, als ginge es Ihnen sehr schlecht. Setzten Sie sich also. Es wird auch nicht lange dauern.“ Er ging zu seinem Schreibtisch. Jess hatte es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht und er scheuchte sie hinunter. William wies auf einen freien Stuhl für Miss McNeil und setzte sich selbst. Sie folgte seiner Aufforderung und setzte sich auf den Stuhl. Sofort sprang ihr Jess auf den Schoss, welche sie sofort streichelte. Es schien sie ein wenig von ihrer Nervosität abzulenken. Sie blickte auf die Schreibtischplatte als hätte sie Mühe, ihn nicht anzustarren. „Möchten Sie etwas trinken?“, bot er an, doch sie schüttelte nur den Kopf. „Nein, vielen Dank.“ Sie wirkte auf dem Stuhl ziemlich eingeschüchtert, fast schon unschuldig. William musterte sie genau. War das vielleicht ihre Masche, wie sie Ronald Knox rumgekriegt hatte? Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versuchte ihren Blick einzufangen. „Wie ich bereits sagte, geht es um Ihre letzte Hausaufgabe.“ „Ist…ist sie so schlecht ausgefallen?“ William winkte ab und wies sie zur Ruhe. „Es geht auch um Ihre Mitarbeit im Unterricht. Sie sind ziemlich unkonzentriert und Ihre Mitarbeit hat enorm nachgelassen. Diese Unstimmigkeiten in der Klasse mit Ihnen sind auch nicht gerade förderlich für Ihre Akte. Ich fürchte, wenn es so weiter geht und Ihre Leistungen weiter sinken, werden Sie nicht zur Abschlussprüfung zugelassen.“ Sie blickte auf. Angst und Ungläubigkeit spiegelten sich in ihren Augen. „Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass Ihr Mentor Ronald Knox suspendiert worden ist wegen Ihrem Verhalten und den Gerüchten, die bereits lautstark im Umlauf sind.“ Ihr Körper verkrampfte sich und sie hatte aufgehört Jess zu streicheln. „Das sind die Fakten und Tatsachen“, sagte er und stand langsam auf. „Wir müssen uns also etwas einfallen lassen, wie wir diese Probleme lösen können, wenn Sie nicht von der Society ausgeschlossen werden wollen.“ „Was kann ich tun? Soll ich ein paar Hausarbeiten mehr abgeben oder Vorträge halten? Soll ich in der Society extra Aufgaben übernehmen?“ Jess sprang von ihrem Schoss herunter und ihre Hände gruben sich in ihre Hose. William ging um den Schreibtisch herum und lehnte sich gegen diesen. Für einen kurzen Moment war er auf ihren Haarscheitel konzentriert, während sie auf ihren Schoß blickte. William schüttelte den Kopf und beugte sich zu ihr herunter. „Ich hätte da eine bessere Idee“, sagte er leise in ihr Ohr. Mit den Fingern strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, so dass gleichzeitig ihre Halsbeuge frei war. „Für ein paar Gefälligkeiten wäre ich bereit, Ihre Noten zu verbessern und bestimmte Einträge in Ihrer Akte verschwinden zu lassen.“ „Was?“ Sie drehte ihren Kopf zu ihm herum und sah ihn verwirrt, aber auch panisch an. „Wie meinen Sie das?“ War sie tatsächlich so naiv oder tat sie nur so? War die naive Tour ihre Masche? William konnte in ihrem Blick sehen, dass sie eine Ahnung hatte, was er meinte. Er biss die Zähne zusammen. Er packte sie am Handgelenk und zog sie hoch. Sein Arm legte sich um sie und seine Hand wanderte zu ihrem Gesäß. „Mr. Spears…“, setzte sie ängstlich an und zitterte. „Wehr dich nicht, meine Kleine. Hab keine Angst, ich weiß genau, was ich tu.“ Seine Stimme war leiser geworden und glich nun einem Flüstern. Lily riss sich von ihm los und er drängte sie rückwärts durch den Raum, bis sie an eine Tür stieß. Langsam öffnete sie diese und schlüpfte schnell hindurch. Bevor sie diese aber schließen konnte, drückte er mit der Hand dagegen. Sie waren nun in seinem Schlafzimmer. Das Mädchen ging immer noch rückwärts von ihm fort. Sie ahnte nicht, dass sie direkt auf das Bett zusteuerte. William drängte sie immer weiter rückwärts, bis sie über die Bettkante stolperte und im Bett landete. Wenn er sie so musterte, musste er zugeben, dass sie gar nicht so unattraktiv war. Sie rutschte auf dem Bett nach hinten. Langsam kroch er zu ihr auf. Den Blick unaufhörlich auf sie gerichtet. „Ich werde dir schon zeigen, wo es lang geht. Du hast sowieso keine Chance gegen mich.“ Er kroch höher und war nun über ihr. „Deine naive Masche ist sehr niedlich. Kriegst du so die Männer ins Bett?“ „Bitte…bitte nicht…“, flüsterte sie und rollte sich unter ihm zusammen. „Was hast du denn, mein Kätzchen? Ich dachte, du bist nicht so ängstlich.“ William beugte sich ein wenig tiefer und berührte ihren Hals vorsichtig mit seinen Lippen. Mit der Zunge fuhr er ihre Halsbeuge nach. Williams Herz schlug schnell. So etwas hatte er noch nie getan, um an einen Bericht zu kommen, aber er musste zugeben, dass ihn irgendwo Verlangen packte. „Mr. Spears…“ Ihre Stimme klang zittrig. „Was ist?“, hauchte er in ihr Ohr und biss leicht hinein. „Hören Sie auf damit!“ Sie drückte ihn von sich und sah zur Seite. Tränen standen ihr in den Augen. Ihre Hände gruben sich in seine Schultern und zitterten. „Warum tun Sie das? Sie haben doch nichts davon!“ William stutzte und musste lächeln. Seine Schultern bebten und er musste lachen. Er rutschte von Lily herunter. „Es tut mir leid. Sie sind in Ordnung, Miss McNeil.“ Er rückte seine Brille zurecht. „Ich musste das tun. Die Obersten wollten wissen, ob was dran wäre an den Gerüchten.“ William half ihr sich aufzusetzen und wischte ihr mit dem Daumen ein paar Tränen aus dem Gesicht, die aber immer wieder nach liefen. Es machte sie anscheinend wirklich fertig, dass solche Gerüchte im Umlauf waren. Innerlich schüttelte William den Kopf. Es tat ihm wirklich leid. Aber Befehl war Befehl. Er hatte es rausfinden müssen und diese Art und Weise war der beste Weg gewesen. „Beruhigen Sie sich“, sagte er und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Es geht schon.“ Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und schniefte. „Sie haben nur Ihre Arbeit getan. Ich versteh schon.“ William nickte und schenkte ihr ein Lächeln. Sie schaute ihn dabei an, als wäre er ein Alien. Jess kam durch die Tür und sprang wieder auf ihren Schoß. „Jess mag Sie anscheinend.“ Sie nickte. „So heißt sie also. Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie ein Tierfreund sind.“ „Das denkt kaum jemand von mir“, antwortete er. „Aber so ist es eben, wenn man der Chef einer ganzen Abteilung ist.“ Lily nickte. „Wie heißt die andere Katze?“ „Maisy heißt sie“, erklärte er. „Sam war der Hase auf dem Käfig und Emily war im Käfig.“ Sie nickte und schniefte immer wieder. „WILL!“, schrillte es laut durch die Wohnung und William hörte, wie die Tür aufgestoßen wurde. William zuckte zusammen bei der schrillen Stimme. Grelle Sutcliffe war zurück. „Will, wo bist du?“, rief es durch die Wohnung fröhlich und kurz darauf stand das Subjekt in seinem Schlafzimmer. Stumm blickte er zwischen Lily und William hin und her. Seine Augenbraue zuckte. „Was zum…“, begann er und sein Blick verfinsterte sich. „William, was hast du mit Lily getan?!“ Seine Stimme war schrill geworden, so dass es im Ohr wehtat. Natürlich war sich William bewusste, wie es für den Shinigami aussah. Grelle trat auf ihn zu und packte ihn am Kragen des Hemdes. „Sag schon! Was hast du getan?!“ Jess sprang mit einem Murren von Lilys Schoß. „Mr. Sutcliffe, beruhigen Sie sich. Es ist nichts passiert. Mir ist nur schwindlig geworden bei dem Gespräch und Mr. Spears hat mich in sein Bett gelegt.“ Grelle hielt in seiner Tat inne und starrte Miss McNeil an. Langsam löste sich der Griff. Lily stand auf. „Ich werde dann gehen. Bis morgen.“ Mit gesenktem Kopf ging sie aus dem Zimmer und verließ sein Apartment. Grelle sah ihr verwirrt nach, aber auch William musste gestehen, dass diese gefasste Haltung ihn überraschte. Auch diese schnelle Lüge, damit Grelle ihn nicht weiter anschrie, überraschte ihn sehr. Er hatte eher damit gerechnet, dass sie es ihm übel nehmen oder weiter weinen würde. Diese Frau war wirklich merkwürdig. Aber er hatte eh kein Interesse und musste Frauen nicht verstehen. Dennoch blieb das schlechte Gefühl für den Rest des Abends. Sein Gewissen redete ihm ein, dass er sie sehr verletzt hatte. William hatte keine Ahnung, wie er es wieder gut machen sollte. Kapitel 17: Verloren -------------------- Das Gefühl, endgültig verloren und versagt zu haben, begleitete Lily den ganzen Weg zum Café entlang, in dem sie mit Nakatsu gegessen hatte. Wenigstens war auf Michael Verlass und er ließ sie bei sich nächtigen, als sie bei ihm ankam. Ohne zu zögern hatte er sich frei und sie mit in seine Wohnung genommen. Wo war nur ihr verdammter Mentor Ronald Knox, wenn man ihn brauchte? Wenn er da gewesen wäre, könnte sich die Sache ein für alle Mal klären, aber wer wusste schon, wo er sich rumtrieb? Sicherlich schlürfte er an einem Strand von einem Cocktail mit Schirmchen und sonnte sich in einer Liege, während er Reihenweise Frauen abschleppte und sie das Chaos ausbaden durfte! Was für eine Gemeinheit! „Ich will nicht zurück in die Society…“, schluchzte Lily und drückte das Kissen enger an sich. Sie saß auf dem Sofa von Michael. Es hatte weiche Polster und war äußerst bequem. „Kann ich nicht einfach für immer hierbleiben? Ich esse nicht viel und mal ehrlich, wer braucht schon einen Berufsabschluss? Ich hab meine Grundausbildung geschafft, damit kann ich doch sicherlich auch Arbeit finden und mein Leben finanzieren!“ Michael lachte und stellte eine Tasse heiße Schokolade auf den Tisch. Sein Apartment war nicht besonders groß, doch dafür lag es in der Nähe seiner Arbeit. „Du brauchst in jedem Fall einen Abschluss, meine Liebe. Willst du einfach so alles hinschmeißen? Denk doch nur, was du zu Hause zu hören kriegen würdest, wenn du dort mit eingezogenem Schwanz wieder auftauchst, nachdem du dich so gestritten hast. Was ist mit deinem Freund von heute Mittag? Mit deinen Kollegen, die zu dir stehen? Würdest du sie denn nicht vermissen? Welche Arbeit willst du annehmen, um dein Leben zu finanzieren? Willst du wirklich irgendwo Böden wischen oder auf der Straße Flyer verteilen?“ Lily sah zum Fenster hinaus und betrachtete nachdenklich die Lichter der Innenstadt. In der Ferne erkannte sie die beleuchteten Fenster der Shinigami Dispatch Society und dessen Wohngebäude. In einem Fenster ging das Licht an und in einem der oberen Fenster ging es aus. Von draußen kam ein Lichtflackern, als die Straßenlaterne anging und schien ein wenig mit ihrem künstlichen Licht herein. Im gegenüberliegenden Gebäude ging Licht an und sie konnte die Umrisse einer Frau durch die zugezogenen Vorhänge erkennen. Ihr Blick schweifte zu einem anderen Fenster, wo sie eine Katze hinter der Scheibe erkennen konnte, die auf der Fensterbank mit mehreren Topfpflanzen saß. Lily seufzte. Was sie wirklich vermisste, war ihr Mentor und die Tage vor dem ganzen Chaos. Sie vermisste die Zeit, in der sie unbeschwert mit ihm gearbeitet hatte. Sie wollte am liebsten die Zeit zurück drehen, bis zu der Minute, in der sie sich einander vorgestellt hatten. Natürlich würde sie auch Nakatsu vermissen und ihre Kollegen Mr. Humphries, Mr. Slingby und Mr. Sutcliffe. Immerhin hatten sie sie als Teammitglied bezeichnet und das war für einen auszubildenden Shinigami schon viel wert. Aber auch Mr. Spears als Vorgesetzten, so streng und kalt er auch war. „Mama und Papa könnten mich doch hier jederzeit besuchen oder ich suche mir was bei ihnen in der Nähe. Ich glaube, beide hatten Recht und Shinigami werden ist nichts für mich. Ich werde eine Menge lernen müssen, um Arzt zu werden, so wie sie es wollten.“ „Aber Anatomien haben dich nie interessiert. Angst vorm Zahnarzt hast du auch und ich glaube auch nicht, dass du gerne an Tieren rumschnibbeln willst oder Gynäkologie machen möchtest. Genauso wie Augenarzt.“ Lily schüttelte den Kopf. „Dann bleibt dir nicht viel.“ „Ich weiß“, seufzte sie und setzte sich in den Schneidersitz. „Was willst du also tun?“ „Ich weiß es nicht.“ „Du bist niemand, der sich einfach so fügt. Du hattest schon immer deinen Kopf.“ Lily musste leise schnauben, um nicht zu lachen. Wie Recht er doch hatte. „Ich könnte ja wie du kellnern.“ „Aber davon leben kann man nicht. Ich habe auch zwei Jobs. Ich gehe noch mehrmals in der Woche abends in eine Bar den Barkeeper machen.“ Lily brummte. Michaels Augen funkelten. „Anderes Thema! Wir sollten den Abend genießen. Es sind nur noch ein paar Stunden, bis du wieder zurück in die Society musst.“ „Micha, genau daran versuche ich gerade nicht zu denken! Du bist keine große Hilfe dabei!“, stöhnte Lily und trank von der heißen Schokolade. Das Kissen wurde zur Seite gelegt. „Hast du mir überhaupt zugehört? Ich will nicht zurück!“ „Okay, okay“, wehrte Michael ab und hob die Hände. „Du denkst nicht daran, dass du zurück musst und ich rede nicht davon, wie viele Stunden es noch sind. Abgemacht?“ „Abgemacht.“ „Willst du darüber reden, was da eigentlich alles passiert ist? Ich kann es mir nur vorstellen bei den blauen Flecken und dem Veilchen. Aber ich denke, da ist noch mehr. War etwas mit deinem Vorgesetzten?“ Sie zuckte kurz zusammen. Genau ins Schwarze. Lily schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich denke, ich komme damit…ganz gut klar und brauch nicht reden….“ Lily wusste, sie war eine schlechte Lügnerin, aber sie wollte jetzt nicht über ihre Gefühle reden. „Ich glaube, ich komme mit all dem schon irgendwie zurecht und kann es ordnen.“ „Aber zurück willst du nicht?“ Sie nickte, während Michael nur skeptisch eine Augenbraue hoch zog. „Wie du meinst.“ Es klang wie ein stiller Vorwurf, obwohl es sicherlich nicht so gemeint war. Lily schwieg dazu und trank stumm die Tasse leer, dessen Inhalt inzwischen kalt war. Die Schokolade hatte sich am Boden abgesetzt und schmeckte zum Schluss bitter. Ein ekliger brauner Rand hatte sich an der Tasse gebildet. „Und wie willst du es ordnen?“, fragte Michael nach einer Weile des Schweigens. „Na ja…geordnet eben. Der Kopf befasst sich mit den Fakten und das Herz mit den Emotionen. Abschiede gehören zum Leben dazu und ich sollte mich nicht schuldig fühlen, nur weil Mr. Knox weggegangen ist. Es hat sicherlich alles seine Gründe und vielleicht ist sogar alles anders, als ich denke?“ Es war billiges Psychologiegebrabbel, was es in jeder zweiten Zeitschrift zu lesen gab. Lily wusste es und Michael auch. Sie wusste aber auch, dass er es wusste. Aber er sagte nichts dazu. Etwas, worüber Lily mehr als froh war. Vielleicht konnte sie sich, wenn sie es sich nur oft genug einredete, irgendwann selbst davon überzeugen und der Schmerz würde erträglicher werden. Michael nickte dazu nur. „Möchtest du vielleicht ein Bad nehmen? Ich kann dich dann rufen, wenn es Essen gibt.“ „Ich hab schon was gegessen“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Und Danke, aber ich möchte nicht baden. Du weißt doch außerdem, dass ich nicht baden kann. Ich hab doch eine Wasserphobie.“ „Stimmt. Das hatte ich total vergessen. Tut mir leid.“ „Schon gut. Ich sollte lieber Nakatsu anrufen und ihm sagen, wo ich bin, sonst macht er sich noch Sorgen.“ „Wenn er das nicht schon tut.“ Lily nickte und seufzte. „Ich denke, das tut er bereits.“ „Du bist wohl einfach so losgerannt, was?“ Sie nickte. „Er ist ein guter Freund.“ „Ich weiß.“ Noch ehe Lily darauf etwas sagen konnte, wurden sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen, das laut in dem Zimmer schrillte. Michael warf Lily einen vielsagenden Blick zu. „Ich wette, es ist dein kleiner Freund.“ „Und das weißt du woher?“ „Instinkt?“ Lily zog die Augenbraue hoch. „Sicher, dass es keine deiner Liebschaften ist?“ „Ich höre es am Klingeln.“ Michael grinste frech und nahm den Hörer ab. „Hallo?“ Lily beobachtete ihn aufmerksam. „Am Klingeln…sicher…“, murmelte sie. Ihr Bruder nickte und hielt ihr dann den Hörer hin. „Ich hab es doch gesagt. Es ist dein Freund.“ „Er ist nicht mein Freund. Wir sind nicht zusammen!“, flüsterte sie zurück und nahm widerwillig den Hörer entgegen. Michael zuckte nur die Schultern und ging außer Hörweite. „Woher weißt du, dass ich bei Michael bin?“, fragte Lily, als sie sicher war, dass Michael nicht mehr mithören konnte. „Nur so eine Ahnung“, antwortete Nakatsu und sie konnte es förmlich sehen, wie er mit den Schultern zuckte. Lily brummte. „Woher hast du seine Nummer?“ „Aus deiner Hosentasche. Er hatte sie dir doch am Nachmittag gegeben, Dummerchen.“ „Was meinst du eigentlich mit Ahnung?“ Stimmt, da war etwas gewesen. An den Zettel hatte sie gar nicht mehr gedacht. „Entschuldige, nur ein Scherz. Aber mal ehrlich, ich helfe meinen Freunden, wenn sie mich brauchen. Nachdem du vorhin weggelaufen bist, hab ich die Society nach dir abgesucht und dann fiel mir der Typ vom Nachmittag ein. Anscheinend hatte ich Recht mit der Vermutung, dass du vielleicht bei ihm bist.“ Beim Klang seiner Stimme brach eine riesige Welle von Traurigkeit über Lily herein und sie hätte am liebsten wieder angefangen zu weinen. Sie dachte mit einem Mal an Mr. Humphries, wie er sich um sie gekümmert hatte und wie wohl sie sich gefühlt hatte. Aber auch an Nakatsu, wie oft er sie schon im Arm hatte, wenn sie wieder einen schlechten Traum gehabt hatte. „Verstehe.“, brachte sie hervor. Es kostete sie viel Mühe, nicht zu schluchzen. „Hör mal, ich weiß nicht, was da bei Mr. Spears vorgefallen ist, aber ich weiß, du denkst darüber nach und fühlst dich elendig.“ „Was willst du mir sagen?“, fragte sie und ihr Magen krampfte sich zusammen. „Wie soll ich es sagen?“, fing Nakatsu am anderen Ende der Leitung an. Wieso hatte sie das Gefühl zu hören, wie die Zahnräder im seinem Kopf arbeiteten. „Sag es doch einfach.“ Manchmal hasste sie es, wenn man um den heißen Brei herum redete. Natürlich tat sie es manchmal selbst, aber in diesem Augenblick nervte es sie nur. „Es ist hier so leer ohne dich…“ Ein lautes Summen erfüllte ihr Ohr und Lily hielt kurz den Hörer von sich, um das Geräusch zu stoppen. Sie schüttelte den Kopf und hielt ihn dann wieder ans Ohr. „Ich meine, wir…also besser…ich…vermisse dich…Komm wieder zurück. Ich…ich brauch dich…“ Lily hörte ihn am anderen Ende wehmütig seufzen. Es war ihm schwer gefallen, das zu sagen. Das Summen wurde schwächer, dafür drehte sich ihr Magen um. Zumindest fühlte es sich so an. „Das kann ich nicht“, platzte sie heraus, wusste aber nicht, was sie sonst weiter sagen sollte. „Ich weiß, du brauchst gerade etwas Zeit für dich“, sagte er und seine Stimme klang traurig und besorgt zugleich. „Ja…ich denke schon….“ „Es wäre schön, wenn du zurückkommst.“ Wieder seufzte er und es tat Lily leid, dass er sich so sorgte. „Nakatsu…ich…ich kann nicht…“ „Ich weiß, ich weiß.“ Er seufzte schwer. „Es ist nur so, dass…ohne dich würde die Ausbildung keinen Spaß mehr machen.“ „Du meinst für die anderen?“ „So meinte ich das nicht!“ „Ich weiß, wie du es meinst. Aber bitte verlang es nicht von mir.“ „Lily, ich weiß nicht, wie du dich fühlst im Moment. Ich kann es nur erahnen. Aber ich weiß, dass es gerade nicht leicht für dich ist. Bitte überleg es dir und komm zurück. Es wäre alles verdammt einsam hier ohne dich. Mehr verlang ich von dir nicht, außer, dass du dich aufraffst und kämpfst. Denn, das bist nicht du. Das ist nicht meine Freundin Lily.“ Lily schniefte und versuchte die Tränen zurück zu halten, aber sie brachen trotzdem aus ihr heraus. „Okay, Natsu…Ich überl…“ Ihre Stimme versagte. „Ich überlege es mir.“ „Okay, gut.“ Beide schwiegen und Lily konnte sich gut vorstellen, dass er jetzt nach den richtigen Worten suchte. Sie hörte leises Flüstern im Hintergrund. „Nakatsu?“ „Ja?“ „Danke.“ Sie hörte ein kurzes Lachen. „Dafür sind Freunde da. Soll ich vorbeikommen?“ Lily schüttelte den Kopf. „Nein, brauchst du nicht. Michael kümmert sich schon um mich. Aber danke.“ Nakatsu brummte zustimmend. „Wer ist denn da noch bei dir?“, fragte sie, denn das Flüstern war nun nicht mehr zu überhören. „Nur ein paar Kollegen…“ „Wer denn?“ „Mr. Humphries, Mr. Slingby und Mr. Sutcliffe. Ich hatte mir Sorgen gemacht und sie gefragt, ob sie wissen, wo du bist.” „Oh…“, war alles, was sie rausbrachte. „Sie sagen, sie machen sich auch Sorgen und es wäre toll, wenn du zurückkommst.“ „Verstehe…Ich überlege es mir“, sagte sie und würgte noch ein „Tschüss“ heraus. Lily legte auf. Sie seufzte und starrte auf den Hörer in ihrer Hand. War sie wirklich so stark, wie Nakatsu und die Anderen glaubten? War sie wirklich bereit, zurück zu gehen? Würde sie das wirklich alles durchstehen bis zur Untersuchung des Falles? Was, wenn sie es nicht schaffte? Sie stieß einen lauten Seufzer aus und ging zu Michael nach draußen auf die Veranda, wohin er sich während des Telefonates verzogen hatte. Er würde sicherlich wissen, was zu tun war. Schweigend gesellte sie sich zu ihm ans Geländer, während er seine Zigarette rauchte, deren Vanillearoma in der Luft hing. Der Abend war recht lau und alles war ruhig. Nur ab und zu drangen kurze Gesprächsfetzten von der Straße zu ihnen herauf, wenn jemand vorbei lief. Aus der Nachbarwohnung hörte sie Musik und Gesprächsfetzten. Über ihnen goss jemand die Verandablumen, denn ein paar Wassertropfen fielen herab und sie hörte das Rascheln von Pflanzen und das Plätschern von Wasser. Lily sah zur Society, die am höchsten in der Dunkelheit aufragte. Das Hauptgebäude war dunkel. Nur die Wohngebäude waren erleuchtet. „Was wollte denn dein kleiner Freund?“ Lily verfolgte einen Riss im Boden, der unter ihren Füßen weiter verlief. „Er wollte, dass ich zurückkomme. Besser gesagt auch ein paar Kollegen. Er war nicht alleine im Zimmer.“ Michael erwiderte nichts darauf und Lily wusste, dass er darauf wartete, dass sie fortfuhr. „Er meint, ich schaffe das schon und soll mich aufraffen, aber…ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann…“ Sie wandte sich Michael zu, der ein wenig Asche von der Zigarette klopfte. Das Glimmen war in der Dunkelheit deutlich zu sehen. Seit Michael offiziell rauchte, kannte sie keine andere Marke. Schon immer hatte er Vanillezigaretten geraucht. Nur ganz selten rauchte er mal welche mit Schokolade oder Kirsche. Sie kannte inzwischen keinen anderen Geruch mehr an ihm. Aber es störte sie nicht. Es war eben ein vertrauter Geruch. „Glaubst du, ich schaff das?“ Michael erwiderte ihren Blick. In seinem Blick lagen Jahre voller Weisheit. „Glaubst du, dass du das kannst?“ „Ich weiß es nicht.“ „Was wären denn die Vorteile?“ Er zog ein weiteres Mal von der Zigarette, die immer kleiner wurde. Lily dachte eine Weile darüber nach und fuhr mit dem Finger das Muster der Absperrung nach. „Zum einen wäre ich wieder in meinem eigenen Zimmer, meinen eigenen vier Wänden. Nakatsu würde sich keine Sorgen mehr machen und auch die Kollegen nicht. Ich müsste auch nicht zu Mama oder Papa und ihnen alles erklären.“ „Was noch?“ Michael nickte und forderte sie auf, weiter zu sprechen. „Ich würde meine Kollegen wiedersehen und vielleicht auch meinen alten Mentor.“ „Und du wärst ausgeglichen, weil du das tust, was du schon immer tun wolltest, meine Liebe“, sagte er. „Du wärst mit deinen Gedanken bei der Arbeit und auch bei denen, die dich unterstützten können. Die es besser können als ich.“ Jetzt war es an ihr zu nicken. „Gut. Was wären denn die Nachteile?“ Darauf wusste sie sofort eine Antwort. „Carry und Kayden würden sich wieder auf mich stürzen und fertig machen. Carry würde mich wahrscheinlich halb zusammenschlagen, während Kayden und seine Freunde alles ausgraben an Anmachen, die es nur gibt. Ich könnte einen Nervenzusammenbruch kriegen, vor Nakatsu die Nerven verlieren oder vor Kollegen. Ich würde nur noch mehr zum Gespräch der ganzen Society werden.“ Michael berührte ihren Handrücken und drückte ihre Hand. „Das ist eine ganz schön lange Negativliste.“ „Ja, aber alles Dinge, die passieren könnten.“ Michael nickte verständnisvoll. „Stimmt. Aber du sagst selbst, es könnte passieren. Nicht, dass es mit Sicherheit passiert. Also was sagt dir dein Bauchgefühl?“ Lily stand still da und dachte über die Frage nach. Ihr Bauchgefühl sagte, dass sie früher oder später wieder dorthin musste und sei es nur deshalb, um ihre Sachen zu holen und die Kündigung abzugeben. Sie seufzte ergeben. Es gab kein Weg dran vorbei, sich den Dingen zu stellen. „Ich muss zurück.“ Michael nickte und zog ein letztes Mal an der Zigarette, ehe er sie in einem Aschenbecher ausdrückte und den Rauch gegen den Himmel ausblies. „Ich wusste, dass du dich nicht dagegen entscheidest. Dafür hast du zu viel Ärger zu Hause gehabt, um jetzt einen Rückzieher zu machen.“ Bei dem Gedanken musste er ein wenig lachen und wuschelte Lily durch die Haare. Unweigerlich musste sie auch lachen. „Wechseln wir aber mal das Thema…“, sagte Lily. „Danke, dass ich heute Nacht hier bleiben darf. Es tut gut, mal ein wenig Abstand zu dem Ganzen zu gewinnen. Es ist das, was ich jetzt gebraucht habe.“ Sie schlang beide Arme um Michaels Oberkörper. Durch sein Hemd konnte sie die Muskeln spüren, die er sich im Laufe der Jahre antrainiert hatte. Er erwiderte ihre Umarmung und legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab. „Das ist doch klar, meine Liebe. Du kannst jederzeit vorbeikommen. Dann machen wir es uns gemütlich auf dem Sofa und essen so viel Eis, bis wir platzen. Wie in alten Zeiten.“ Lily schloss die Augen und genoss es in seinen Armen zu sein. „Ja, wie in alten Zeiten“, murmelte sie zurück. So standen sie ein paar Minuten schweigend da, bis sich Lily von ihm löste. „Ich glaube, ich sollte Natsu anrufen und ihm sagen, dass ich morgen wieder da sein werde.“ Michael nickte. „Mein Essen wird auch gleich fertig sein. Sicher, dass du nichts möchtest?“ „Ja, sicher.“ Lily folgte ihm zurück in die Wohnung und konnte das Essen riechen. „Lass mich raten, Brathähnchen aus dem Imbiss um die Ecke?“ „Ja. Sind in etwa fünf Minuten fertig.“ Michael kochte nie für sich. Er ließ lieber Profis die Arbeit machen und zahlte dafür auch gut, wenn es sein musste. Lily kannte aber auch den Grund dafür. Er konnte einfach nicht kochen. Entweder war das Essen angebrannt oder zu salzig. Oder beides. Schon vor Jahren hatte er aufgegeben. Sie hatten immer Witze darüber gemacht, dass er selbst Nudelwasser anbrennen ließ. Lily griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer ihres Zimmers. Nach dem vierten Klingeln hob Nakatsu ab. „Zimmer von McNeil.“ Lily war froh seine Stimme zu hören und seufzte auf. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie aufgehört hatte zu atmen. „Hi Natsu.“ „Ähm…Lil, ich dachte, wir reden erst morgen weiter?“ Offensichtlich war er irritiert. „Ich wollte dir nur sagen, dass…ich hab nachgedacht, über das, was du gesagt hast und…ich komme wieder. Ich komme morgen wieder zurück.“ „Bist du sicher?“ Er klang sprachlos, unsicher und überrascht. „Willst du nicht noch mal länger drüber nachdenken? Ich meine, nicht, dass ich mich nicht freue oder so…Es ist nur gerade mal eine halbe Stunde her…Du musst dich doch nicht jetzt entscheiden. Ich möchte nicht, dass du dich gedrängt fühlst und es bereust. Wieso reden wir nicht morgen beim Frühstück darüber?“ „Nein“, entgegnete sie und schüttelte den Kopf, auch wenn es Nakatsu nicht sehen konnte. „Ich habe mich entschieden und morgen komme ich zurück!“ Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war Zeit, um es sich doch noch mal anders zu überlegen. Vielleicht sollte sie auch schon heute Abend wieder zurück gehen? „Okay…wie du willst…Ich freu mich auf morgen.“ „Bis morgen.“ Sie legte auf und fühlte sich erleichtert. Aber ein wenig frustrierend war es schon. Zuerst versuchte er sie zu überreden und jetzt schien es, als würde er sie wieder umstimmen wollen. Lily verstand es nicht ganz, aber sicherlich war es Männerlogik. Wenigstens war die Entscheidung gefallen. Morgen würde es zurück in die Society gehen. Heute Nacht würde sie bei Michael bleiben und morgen in aller Frühe zurückkehren. Die Ohnmacht war ein Segen für Emily, nachdem ihr Vater ihr die Luft abgedrückt hatte. So bekam sie wenigstens nichts mehr mit und brauchte keine Angst mehr haben. In dieser Nacht konnte sie seit langem nach dem Tod ihrer Mutter Ruhe finden und brauchte sich keine Sorgen um ihre Geschwister zu machen. Emily vermochte nicht zu sagen, was sie geträumt hatte. Ihre Träume verschwanden in ihr Unterbewusstsein, wo sie sie nicht mehr erreichen konnte. Das Aufwachen war jedoch am schlimmsten. Emily träumte von einem Felsbrocken, der auf ihr lag und sie unter seiner Last begrub. Sie befand sich im Traum, aber ihr Körper wollte aufwachen. Es war ein Dämmerzustand, den sie absolut nicht leiden konnte. Auf der einen Seite wollte wie wach werden, aber auf der anderen weiter schlafen. Die Geräusche von draußen drangen in diesem Zustand an ihr Ohr. Leute unterhielten sich lautstark und die ersten Betrunkenen grölten, während eine Pferdekutsche mit knarrenden Rädern und lauten Hufgetrappel vorbei fuhr. Emily wusste, dass nun der Versuch, weiter zu schlafen nichts mehr bringen würde. Durch ihre geschlossenen Augenlider konnte sie die Helligkeit wahrnehmen. Aber der Traum von dem Felsbrocken, der auf ihr lag, verschwand nicht. Im Gegenteil. Er war realer als zuvor. Der Felsen war schwer und drückte ihr auf den Bauch, so dass ihr schlecht wurde. Ein Schmerz durchzog dabei ihren Körper, der nicht nur vom Magen herführte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fing der Felsen an sich zu bewegen und zu schnaufen. Mit einem Schlag war Emily hellwach. Sie blinzelte benommen in das Licht und brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass der Felsen eigentlich ihr Vater war. Kaum wurde ihr bewusst, was er tat, begann Emily sich nach Leibeskräften zu wehren. Sie kratzte, biss und versuchte den Mann, der ihr Vater war, von sich zu schieben. Er gab aber nicht nach, immerhin war er um einiges stärker als sie. Der Geruch seiner Alkoholfahne schlug ihr unangenehm entgegen und Emily hielt kurzzeitig die Luft an. Ihre Beine strampelten und versuchten ihn von sich zu drücken. Als sie nach mehreren Minuten etwas Freiraum hatte, stieß sie ihm ihr Knie in den Bauch. Vielleicht war es auch etwas tiefer, aber das war Emily egal. Sie wollte, dass er von ihr herunter ging. Ihr Vater heulte vor Schmerz auf und rollte sich von ihr herunter. Emilys Herz schlug schnell und laut. Sie stieß ihn von sich und rappelte sich auf. Stolpernd lief sie aus der kleinen Hütte, während ihr Vater immer noch jammernd auf dem Boden lag. Sie drehte sich nur kurz um. Ein Blutfleck war auf dem Lager zu sehen und ihr Vater lag noch immer am Boden. „Bleib hier, du kleines Biest…“, stöhnte er und hielt sich die schmerzende Stelle. Emily öffnete die Tür und rannte hinaus. Sie schlug diese hinter sich zu und wählte irgendeinen Weg. Hauptsache er führte fort von ihrem Hause. So schnell ihre Beine sie trugen rannte sie durch die Straßen von London. Sie lief und lief bis sie keine Luft mehr bekam und gezwungen war anzuhalten. Emily verkroch sich in den Schatten eines Hauses und ließ sich in den Staub fallen. Die Gegend war verlassen und so fing sie an zu schluchzen und zu weinen. Ihr Körper zitterte und bebte. Sie schrie und weinte sich die Seele aus dem Leibe. Niemand hörte sie in ihrem Wehklagen. Erst als sie sich beruhigt hatte, rappelte sie sich wieder auf und machte sich auf den Weg durch die Straßen. Ihr fiel nur eine Person ein, wo sie jetzt hingehen wollte. Undertaker. Er hatte sie freundlich behandelt und er war die erste Person, die ihr einfiel, an die sie sich wenden konnte. Ohne zu wissen, wie sie von diesem Stadtteil zu ihm gelangen konnte, ging sie ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen war, und dann einen Hügel hinauf. Es wehte ein kühler Wind und Emily rieb sich über die kalten Arme. Sie schaute auf ihre Füße und es dauerte nicht lange, bis sie vor seiner Tür stand. Dem einzigen Bestatter in London, der keinen Unterschied darin machte, ob man arm oder reich war. Sie drückte die Tür auf, aber es war verschlossen. Emily verzog das Gesicht und klopfte. „Undertaker?“, rief sie. „Undertaker, sind Sie da?“ Keine Antwort. Das Geschäft war verlassen. Sicherlich war er auf einer Beerdigung und vergrub gerade einen Sarg oder holte einen Verstorbenen ab. Was sollte sie also tun? Hier auf seine Rückkehr warten oder weiter ziehen? „Mädchen!“, rief eine Stimme laut von oben herab. Emily sah auf und konnte aus einem der oberen Fenster eine rundliche Frau ausmachen, die gerade ein altes Tuch ausklopfte. „Wenn du den komischen Kauz von Bestatter suchst, Mädchen, er ist zum Friedhof vor nicht allzu langer Zeit.“ „Wissen Sie auch welchen?“, rief sie zurück und schlang vor Kälte die Arme um sich. Wenigstens hatten Waschweiber einmal etwas Nützliches an sich. Die Frau nickte und deutete die Straße entlang. „Bunhill.“ „Danke!“ Emily lief los. Vielleicht hatte sie Glück und konnte ihn noch erwischen, ehe er mit seiner Kutsche zurückfuhr. Bunhill war der Friedhof, wo auch ihre Mutter lag und wo sie sich gestern zum ersten Mal begegnet waren. Ihr Herz klopfte laut. Ob es nun vom Rennen war oder vor Freunde ihn wiedersehen zu können, wusste sie nicht. Vereinzelt fielen kleine Regentropfen vom Himmel, die sich schnell zu einem Schauer vermehrten. Aber der Regen schien Emily mehr als nur angemessen zu sein. Wahrscheinlich beachtete sie ihn deshalb nicht und rannte unbeirrt der Kälte und des Wetters weiter. Er war wie ein Vorhang aus silbernen Fäden und bedeckte den frühwinterlichen Boden. Emily schlüpfte durch das große schmiedeeiserne Tor und begegnete einer Trauerfamilie, die sich unter Schirmen versteckte und vor dem Regen flüchtete. Zu gerne hätte sie jemanden angesprochen, aber sie beließ es lieber dabei. Es wäre zum einen respektlos gewesen und zum anderen war deutlich zu sehen, dass diese Menschen reich waren. Aus diesem Grund würden sie ihr niemals eine Antwort geben. Suchend blickte sie über den kleinen Friedhof und ging in Richtung der großen Kapelle. Wenn sie sich nicht irrte, waren dort irgendwo die Gräber der reichen Familien angelegt. Langsam ging sie den Trampelpfad entlang. Der Boden ergab ein schmatzendes Geräusch unter ihren Füßen und ihre Kleider hingen ihr nass am Leibe. Wo konnte das Grab nur sein? So groß war der Friedhof nicht und ein frisches Grab würde auffallen. Emily rieb sich über die nassen Arme und zog den Kopf ein. Heute hatte sie einfach kein Glück. „Was machst du denn hier? Warst du nicht gestern erst an diesem Ort?“ Emilys Herz setzte aus und sie drehte sich um. Offensichtlich hatte sie doch Glück. Was sollte sie jetzt zu ihm sagen? Sie konnte doch nicht sagen, dass sie ihn gesucht hatte! Das wäre viel zu aufdringlich. „Ähm…“, brachte sie hervor und knickste ein wenig unbeholfen zur Begrüßung. „Nichts Besonderes.“ Es ärgerte sie, dass sie so atemlos klang. Undertakers Gesicht verzog sich und sein Lachen verschwand aus dem Gesicht. Auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte unter dem dichten weißen Pony, war sie sich sicher, dass er die Augenbrauen hoch zog. Er war genauso durchnässt vom Regen wie sie. Von seinen Haaren tropfte das Wasser, während sich der Mantel vollgesaugt hatte wie ein Schwamm. Undertaker fing zu lachen an. Emily war irritiert. Hatte sie etwas Falsches getan? War der Knicks vielleicht doch nicht richtig gewesen? Ihr Gesicht fing an zu glühen. „Vor meiner Wenigkeit musst du nicht knicksen“, sagte er auf ihren fragenden Gesichtsausdruck hin. „Oh…“, war alles, was sie rausbrachte, und hielt die Hände vor dem Körper nervös gefaltet. Emily wusste nicht, was sie sagen sollte. Wieder erstarb Undertakers Lachen und sein Gesicht verzog sich missmutig. Er trat näher an Emily heran und beugte sich zu ihr herunter. Mit seiner warmen Hand strich er ihr ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht. „Was machst du schon wieder hier?“ „Ich…“ Emily überlegte. Sie wusste, er schaute sie durchdringend an. „Ich wollte wieder das Grab meiner Mama besuchen!“ „Bei so einem Wetter?“, fragte er, während seine Hand noch immer auf ihrem Kopf verweilte. „Und mit so roten Augen, dass man meinen könnte, du hättest dir die Seele aus dem Leib geweint?“ Emily schluckte hart. Dieser Bestatter war ein wirklich guter Beobachter. „Eine schlechte Lügnerin warst du schon immer“, fuhr er fort und kicherte leise. „Du bist ganz kalt. Möchtest du wieder mit in mein Geschäft kommen und dich dort aufwärmen? Vielleicht erzählst du meiner Wenigkeit auch, was passiert ist?“ Emily nickte zaghaft und folgte Undertaker zu seinem Wagen, wo er ihr schon wie am Tag zuvor half aufzusteigen. Diesmal wollte sie sich die Strecke zu seinem Geschäft merken, damit sie den Weg auch alleine finden konnte. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Sie saßen einfach nur schweigend auf dem Bock, während Undertaker den Wagen durch die nassen Straßen fuhr. Emily war froh, dass er sie wieder mitnahm. Es gab ihr ein sicheres Gefühl. Sie wusste selbst nicht einmal, warum das so war und wieso sie sich wohl bei ihm fühlte. Bei seinem Geschäft angekommen, half er ihr abzusteigen und öffnete die Tür, damit sie nicht mehr im Regen stand, während er den Wagen hinter dem Haus verstaute und das Tier versorgte. Emily stand etwas unbeholfen zwischen den Särgen. So nass wie sie war, wollte sie sich nicht auf einem der Särge niederlassen. Immerhin bildete sich schon eine Pfütze zu ihren Füßen von ihren nassen Kleidern. Undertaker kam in sein Geschäft und schüttelte sich, als könnte er damit die Kälte abwehren. „Du stehst da wie ein nasser Hund. Komm mit rauf. Dort kannst du dir frische Sachen anziehen.“ Der Bestatter zog einen Vorhang zur Seite und offenbarte damit eine Treppe, die nach oben führte. Er stieg die Stufen hinauf und Emily folgte ihm. Sie hörte, wie er das Türschloss öffnete und ging in die Räumlichkeiten hinein. Der Geruch von süßen Keksen, wie Emily sie gestern gegessen hatte, stieg ihr in die Nase. „Trete ruhig ein. Es ist nichts Besonderes. Meine Wenigkeit mag es bescheiden“, sagte er und wies mit einer einfachen Geste in die Räumlichkeiten. Unsicher trat Emily ein und sah sich um. Es gab zwei Räume. Eine kleine Küchenstelle mit einem Schrank für Geschirr und Töpfe. Es gab auch ein Regal mit ein paar Lebensmitteln darin. Auf der Herdplatte stand ein Blech und darauf lagen fertig gebackene Kekse. Wieder waren sie in Knochenform. Der größte Raum war wohl der Hauptraum dieser kleinen Wohnung. Ein Bett stand darin und mitten im Raum ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf der anderen Seite des Raumes standen eine große Kleiderkommode und daneben ein Regal mit Büchern. Undertaker hatte seinen Mantel abgelegt und den großen Zylinderhut. Er stand vor der Kommode und suchte etwas. „Ah da“, sagte er und wandte sich zu ihr um. In den Händen hielt er etwas Weißes und legte es auf den Tisch. „Ein Handtuch“, sagte er auf ihren fragenden Blick hin. „Damit kannst du dich abtrocknen. Das andere ist ein langes Unterhemd. Das kannst du anziehen bis deine Sachen trocken sind. Ich bereite uns einen Tee zu.“ Undertaker ging in den kleinen Raum und sie hörte wie er dort in den Schränken herum suchte. Unsicher und zögerlich zog sie ihr Kleid aus und rieb sich mit dem weichen Handtuch trocken. Es roch angenehm und war weicher als alles bisherige, was sie in den Fingern hatte. Auf so etwas weichem zu schlafen wäre sicherlich himmlisch. Keine Flöhe oder Zecken würden sie beißen. Es roch nicht muffig oder schimmlig. Emily rieb sich damit über die nassen Haare und zog sich dann das Hemd an. Es war ihr um einiges zu groß, aber wenigstens trocken und sauber. Der Teekessel pfiff und sie hörte, wie Undertaker das Teewasser in Tassen füllte und kam wenige Augenblicke mit zwei dampfenden Tassen in den Raum. „Setz dich, Kind, setz dich.“ Er stellte die beiden Tassen auf den Tisch und zog sich einen der Stühle heran. „Möchtest du jetzt meiner Wenigkeit vielleicht erzählen, wieso du auf dem Friedhof warst?“ Emily nahm auf dem anderen Stuhl Platz und betrachtete den Tee in der Tasse, dessen Dampf ungehindert aufstieg. Mit beiden Händen umschloss sie die warme Tasse, während Undertaker bereits aus seiner trank. Erwartungsvoll hatte er den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Hand geschützt. Emily überlegte. Was sollte sie sagen? „Die Nachbarsfrau sagte, du hättest meine Wenigkeit gesucht und sie hätte dir gesagt, wo ich zu finden bin.“ Emily merkte, wie sie errötete und senkte den Blick. Sie hoffte, dass er es durch ihre langen Haare nicht sehen konnte. „Weiß nicht. Ich glaube, ich wollte einfach…“, begann sie stotternd. „Ich wollte Sie einfach nach gestern wiedersehen.“ Sie schluckte hart und ihr Mund fühlte sich trocken an, weshalb sie schnell etwas vom Tee trank. „Dafür gibt es doch einen Grund.“ Emily nickte. Undertaker beugte sich ein wenig vor. „Ich weiß nicht, was passiert ist.“ „Woran erinnerst du dich?“ „Ich bin gestern nach Hause gekommen und mein Vater war da. Er hatte mich angeschrien, wo ich war und mich gewürgt…“ Sie brach ab und musste schwer schlucken. Emily spürte, wie sich Tränen bilden wollten und unterdrückte sie so gut es ging. „Deshalb also die blauen Flecken…“, murmelte Undertaker leise und Emily zuckte zusammen. Er hatte sie also gesehen. Sie trank erneut aus der Tasse und fuhr fort. „Ich weiß nicht, was in der Nacht passiert ist. Es war auf einmal alles schwarz…ich bin vorhin wach geworden und mein Vater war da…er…er lag auf mir…mein Bauch tat weh und zwischen meinen Beinen auch…er…er hat sich bewegt…und ich hab ihn gebissen, gekratzt, gefleht, aber er hörte nicht auf…“ Nun liefen langsam die Tränen über ihr Gesicht und immer wieder musste sie aufhören, um zu schniefen. Sie konnte Undertakers Nägel über den Tisch kratzten hören. Langsam, so als würde er um Beherrschung ringen. Seine Hand hatte sich zur Faust geballt und seine Lippen waren fest aufeinander gepresst. „Sprich weiter“, bat er und seine Stimme klang genauso angespannt, wie er aussah. Emily nickte und blickte in den Tee als ob es ihr damit leichter fallen würde zu sprechen. Ein lautes Schniefen entfuhr ihr wieder. „Ich hab mich gewehrt und getreten…und als er von mir herunter war, bin ich losgerannt…ich habe mich noch einmal umgedreht und gesehen, wie er auf dem Boden lag und…und…und da war…da war Blut auf der Decke…dann bin ich aus dem Haus und irgendwohin gerannt…“ Ihre Stimme versagte und es war ihr nun egal, ob sie weinte oder nicht. Sie ließ die Tasse los und schlang beide Arme fest um ihren Körper. Undertaker schwieg. Wieso sagte er nichts dazu? Wenn er wenigstens etwas sagen würde, würde sie sich vielleicht nicht mehr so elendig fühlen! Emily spürte seinen Blick auf sich ruhen. Konnte er denn nicht wegsehen? Es war so unerträglich. Plötzlich ertönte ein lauter Knall und Emily zuckte zusammen. Ihr Blick war von Tränen verschleiert. Nur undeutlich erkannte sie, dass Undertaker mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen hatte und aufgesprungen war. Ihr Herz raste. Was hatte er vor? Würde er sie jetzt hinauswerfen? Mit zwei Schritten war er bei ihr und lehnte sich über sie. Seine Lippen waren direkt an ihrem Ohr und Emily musste sich zurück halten, um nicht zu schaudern. Sein warmer Atem streifte ihren Hals. Seine Arme umschlossen ihren Körper und zogen sie näher zu ihm heran. Emily konnte sein Herz klopfen hören. Es war beruhigend, genauso wie das Heben und Senken seiner Brust, die beim Sprechen ein wenig vibrierte. Der Bestatter flüsterte beruhigende Worte und strich immer wieder über ihren Rücken, während sie an seiner Brust weinte. Erst nach mehreren Minuten, es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, beruhigte sie sich etwas und sie konnte Undertaker wieder ins Gesicht sehen. Es war voller Mitgefühl und Traurigkeit. „Ruh dich ein wenig aus, während ich meiner Arbeit nachgehe. Du kannst hierbleiben und ein wenig schlafen.“ Seine Stimme klang, als würde er sehr viel Schmerz und Trauer unterdrücken. Emily nickte. Jetzt, wo er es sagte, fühlte sie sich tatsächlich müde. Undertaker führte sie zu dem großen Bett und schlug die Decke zurück, damit Emily sich hinein legen konnte. Sie schlüpfte unter die weiche Decke und ließ sich in die Kissen sinken. Seine warme Hand war beruhigend, wie sie langsam über ihre Wange strich. Emily schloss die Augen und genoss es, in der weichen Matratze zu liegen, während der Bestatter sich setzte und an ihrer Seite blieb. Der süße Duft von Verwesung stieg in ihre Nase, aber auch ein leichter Rosengeruch. Woher kam er? Sie hatte nirgendwo Rosen im Zimmer gesehen. Es war dennoch sehr angenehm und vertraut. Ein paar Strähnen wurden ihr aus dem Gesicht gestrichen und seine Hand ruhte lange zwischen den einzelnen Haaren. Ein Gähnen entfuhr ihr und Emily kuschelte sich tiefer in die warme Decke. An so ein Zuhause könnte sie sich fast gewöhnen. Wieso konnte sie nicht bei ihm bleiben? Wieso konnte sie nicht einfach bei ihm leben und ihm helfen? Sie war schnell im Lernen und an die Leichen würde sie sich schon gewöhnen. Fleißig war sie auch. Sollte sie ihn einfach so dreist fragen? Emily drehte sich zur Seite und Undertaker strich ihr über den Nacken, während er leise vor sich hin summte und leise Worte murmelte. Dieser Mann war so anders als ihr Vater. Der Gedanke an ihn ließen erneut Tränen in ihr aufsteigen und Emily unterdrückte ein Schluchzen, während die warmen und salzigen Tränen über ihr Gesicht liefen. „Schlaf jetzt. Danach fühlst du dich besser. Alles ist gut“, flüsterte Undertaker. Emily nickte und zog die Beine eng an den Körper. Wieso fühlte sie sich so sicher bei ihm? Was war das für ein Gefühl in ihrer Brust, dass ihn so vertraut erscheinen ließ? Ihre Gedanken drifteten ab und verloren sich in der Tiefe ihres Unterbewusstseins, während die Müdigkeit von ihr Besitz ergriff. Sie konnte spüren, wie Undertaker sich vom Bett erhob und sich seine warme Hand entfernte. „Schlaf gut, Emily“, sagte er und strich ihr erneut ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Leise seufzte er und sie konnte mit einem Mal seine Nähe spüren. Er war ganz nah an ihrem Gesicht. Sein Atem streifte sie. „Vergib mir, Alyssa“, flüsterte er kaum hörbar und im nächsten Moment konnte sie zwei warme Lippen auf ihrer Stirn fühlen. Kapitel 18: Rückkehr -------------------- Die ersten Sonnenstrahlen des Morgens fielen durch die milchige Glasscheibe des Badezimmers, in dem Lily stand und ihr Bild im Spiegel betrachtete. Ihr Gesicht hatte an Farbe verloren und war ein wenig eingefallen. Aber nicht nur dort hatte sie an Gewicht verloren. Auch an der Hüfte, Beinen und Gesäß hatte sie ein paar Kilo weniger. Sie seufzte und kämmte ihre Haare. Sie hingen genauso schlaff an ihr herunter, wie sie sich fühlte. Die letzten Nächte waren der blanke Horror gewesen. Der schlechte Schlaf trug nicht weniger dazu bei, dass sie so schlecht aussah und tiefe Augenringe unter den Augen hatte. Lily drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wacher zu werden ehe Nakatsu sie abholen würde. Die Arbeiten an den Wasserrohren waren auch beendet worden und Nakatsu war wieder in sein Zimmer gezogen. Seit zwei Wochen begleitete er sie durch die Society. Seit zwei Wochen tat er das jeden Tag. Seit dem Tag, wo Ronald Knox fort gegangen war. Langsam glaubte sie auch, dass er nicht mehr wieder kommen würde. Wenigstens hatte sie Grelle Sutcliffe noch als Mentor, der sie unterrichtete. Seit zwei Wochen hatte es Carry auf sie abgesehen und jede Begegnung artete in einer ihrer hinterhältigen Attacken aus. Zum Unterricht in die Akademie begleitete Nakatsu sie auch. In der Klasse selbst versuchte sie so unsichtbar wie möglich zu sein. Dennoch blieben Papierkugelattacken oder Zettelchen mit dubiosen Angeboten ihrer Kameraden nicht aus. Aber selbst die ausgelernten Shinigami, egal aus welcher Abteilung, machten ihr unmoralische Angebote und unterstellten ihr Dinge, die sie niemals tun würde. Überall auf dem Gelände der Shinigami Dispatch Society wurde sie angefeindet. Erst vor zwei Tagen hatte Nakatsu sie wieder aus dem Schwimmbecken holen müssen, weil Kayden sie hineingestoßen hatte. So vieles lief schief und Lily hatte keine Ahnung, wie alles wieder gut werden würde. Ihr Hoffnungen wollte sie nicht mehr auf Ronald Knox setzten. Vor drei Tagen war auch ein offizieller Brief des Shinigami Gerichtes bei ihr angekommen. Sie sollte an einer Anhörung teilnehmen, wo geklärt werden würde, ob sie weiter die Ausbildung machen durfte oder aus der Society geworfen wird. Alan, Eric und Grelle hatten ebenfalls eine Einladung bekommen. Sie sollten als Zeugen aussagen, da sie die meiste Zeit mit ihr verbrachten. Sie trocknete sich das Gesicht ab und setzte ihre Brille auf. Inzwischen war ihr selbst das eigene Spiegelbild zuwider. Hatte Carry inzwischen so viel Macht über sie, dass sie selbst ihre Gedanken beherrschte? „Nein!“, flüsterte Lily entschieden. So weit würde sie es nicht kommen lassen. Carry würde mit ihren Sprüchen und Attacken niemals ihre Gedanken beherrschen. Das war es doch was sie wollte. Aber wenn sie es nicht soweit kommen lassen wollte, wie kam es dann, dass sie sich genauso schlecht und minderwertig fühlte, wie Carry es ihr immer an den Kopf warf? Wütend starrte sie ihr eigenes Ich im Spiegel an. Wie konnte sie nur so weit sinken? Noch vor zwei Wochen hatte sie große Töne gespuckt, dass sie nicht aufgeben würde. Sie hatte sich Mut von Michael machen lassen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Wie schäbig war sie eigentlich? Wem wollte sie eigentlich etwas vor machen? Sie hatte doch schon längst aufgegeben, als Ronald Knox gegangen war. Lily belog nicht nur sich, sondern machte auch den Anderen etwas vor. Was war sie nur für eine Freundin? „Wahrscheinlich hat Carry sogar recht und ich sollte gehen…“, murmelte sie und merkte, wie sich wieder Tränen bilden wollten. Ihre Augen waren schon gerötet und die Augenwinkel schmerzten bereits beim drüber reiben. Erneut spritzte sie sich Wasser ins Gesicht. Es würde nicht mehr lange dauern bis Nakatsu klopfen würde und wenn sie nicht die Tür öffnen würde, würde er mit Sicherheit über den Balkon zu ihr herüber kommen. Wenn er dann noch sehen würde, dass sie den Tränen nahe war, würde er sicher nur wieder einen Aufstand machen und eine Schimpftirade über Carry und Ronald Knox ablassen. Er, aber auch Alan Humphries und Eric Slingby waren wütend auf die beiden. Besonders nach Carrys Aktion von der letzten Woche. Nicht mal beim Wäsche waschen war Lily sicher gewesen. Während sie auf die Maschine und die fertige Wäsche gewartet hatte, hatte Carry sie mit ihren Freundinnen überwältigt und in einen kleinen Schacht gesperrt, wo es dunkel, muffig und stickig gewesen war. Lily wusste selbst nicht, wie lange sie in diesem Schacht gewesen war. Carry und ihre Klone hatten es irgendwie geschafft, dass sie das Bewusstsein verlor. Als sie zu sich gekommen war, war sie gefesselt und geknebelt. Lily war zum Eingang gerobbt, wo sie sich immer wieder mit der Schulter gegen die Luke geworfen hatte. Ihre Schulter tat noch immer weh und blaue Flecken zierten ihren Oberarm. Ein Glück hatte Eric sie gefunden. Es war später Abend gewesen. Carry hatte sie also dort über mehrere Stunden eingesperrte gehabt. Ihre Wäsche war natürlich auch verschwunden und in einigen Mülleimern der Society verstreut gewesen. Mühsam hatten ihre Freunde sie zusammen gesucht. Lilys Magen fühlte sich an, als würde er einen Salto machen. Wenn sie an all die Geschehnisse dachte, verging ihr direkt wieder der Appetit auf das Frühstück. Am liebsten wollte sie sich unter ihrem Bett mit einer weichen Decke verstecken, aber das hatte ihre Mutter ihr nicht beigebracht. Ihre Mutter war immer dafür zu kämpfen. Sie wollte die Anderen nicht in ihren Gerüchten bestätigen, indem sie sich verkroch wie ein Angsthase. Lily seufzte erneut auf und atmete tief durch, um sich vor dem zu rüsten, was an diesem Tag wieder vor ihr lag. Sie setzte sich die Brille auf und band ihre Haare zu einem Zopf zusammen, damit niemand merkte, wie leblos sie herunter hingen. Eigentlich wollte sie nicht zum Frühstück, doch Nakatsu klopfte genau in dem Moment an ihrer Tür an, wo sie mit dem Gedanken spielte zur Krankenstation zu gehen und sich krankschreiben zu lassen. „Dann mal auf in den Kampf“, seufzte Lily ihrem Spiegelbild zu und ging zur Tür. Nakatsu warf ihr einen kritischen Blick zu, sagte aber nichts. Lily konnte auch ohne Worte verstehen, was sein Blick aussagte. Unmut und Wut über die ganze Situation. Sein Blick reichte auch aus, um ihr zu sagen, wie schlecht sie doch körperlich aussah. Diese Diskussion hatten sie in den letzten zwei Wochen des Öfteren geführt, aber Lily wollte sich nicht verstecken und den anderen zeigen, wie sehr sie das alles traf und belastete. Die Begrüßung zwischen ihnen fiel kurz und knapp aus. „Bereit?“, fragte Nakatsu. „Bereit wie man nur sein kann“, gab sie zurück. „Wieso gehst du nicht zum Arzt oder zu Spears?“ Lily warf Nakatsu einen viel sagenden Blick zu und sofort hob er abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut“, sagte er. „Ich bin schon ruhig.“ Skeptisch zog Lily eine Augenbraue hoch. „Ich kenn dich doch. Spuck es schon aus.“ Nakatsu sah sie an und schien zu überlegen. Sein Mundwinkel zuckte und er öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, nur um ihn wenige Sekunden später erneut zu öffnen ohne einen Ton heraus zu bringen. „Lily, du siehst scheiße aus und wenn ich nicht wüsste, dass ich nicht so stark bin wie Ronald Knox, um dich zu tragen, würde ich dich auf dem direktesten Weg in die Krankenstation bringen!“ Der Name ihres ehemaligen Mentors versetzte ihr ein Stich durchs Herz. Es erinnerte sie daran, wie sie zu dritt bei ihr geschlafen hatten und er sie über den Flur geschleppt hatte. Ohne es zu wollen, schleiften ihre Gedanken zum Schwimmunterricht und zu seiner Art, wie er ihr Schwimmen beibringen wollte. Kaum merklich lächelte sie, während eine Woge der Traurigkeit über sie kam. Sie dachte gerne daran zurück. Dort war die Welt wenigstens noch in Ordnung gewesen und er hatte sie nicht einfach so im Stich gelassen. Unweigerlich musste sie an ihre Umklammerung denken und wie nahe sie sich dort gewesen waren. Seine Haut war warm gewesen und sie hatte seinen Herzschlag gespürt. Die Nacht als er sie getröstet hatte, war seine Umarmung sehr beruhigend gewesen und während der zwei Wochen hatte sie sich oft danach gesehnt, dass er sie wieder so im Arm nehmen könnte, um sie zu trösten. Aber was dachte sie da nur? Er war ihr Mentor und hatte sie im Stich gelassen! Sie sollte sauer auf ihn sein und sich nicht nach seiner Schulter zum Anlehnen sehnen! „Entschuldige bitte. Ich wollte nicht…“ „Schon gut“, wehrte sie ab. „Es ist deine Meinung.“ „Nein…ich meine…ich wollte dich nicht an ihn erinnern…“ „Schon gut.“ Unter hämischen Grinsen und Getuschel der Shinigami und Lehrlingen gingen Nakatsu und Lily zur Mensa, wo die Situation nicht besser war. Alan, Eric, Hinoko und Grelle saßen bereits dort und erwarteten die Beiden. Es war inzwischen zur Gewohnheit geworden mit ihnen gemeinsam zu essen. Lily und Nakatsu setzten sich dazu und begannen zu essen, während sie sich dabei mit den anderen unterhielten. Grelle Sutcliffe übernahm die Rolle ihres Mentors. Seine Art und Weise unterschied sich sehr von Ronald Knox Methode. Während Ronald sehr darauf bedacht war Autorität zu zeigen und distanziert zu sein, aber gleichzeitig vertrauenswürdig und freundschaftlich, war Grelle dagegen sehr direkt. Er gab sich gar nicht erst die Mühe ein distanziertes Schüler-Mentor-Verhältnis aufzubauen. Lily wollte nicht undankbar sein und Grelle war nicht schlecht als Mentor, aber sie wollte ihren alten Lehrer zurück und hätte sie die Wahl, würde sie sich trotz allem was vorgefallen war, erneut für Ronald als Mentor entscheiden. Grelle Sutcliffe versuchte sie immer wieder aufzumuntern, sowie Alan Humphries, aber es brachte nur wenig Erfolg. Die meiste Zeit sprach Grelle nur davon, wie sehr er doch William T. Spears mochte und was er doch gerne mit ihm anstellen wollte. Er sprach auch von einem Dämon in Gestalt eines Menschen, der sich in der Welt der Menschen herum trieb. Grelle schwärmte von diesem Dämon mit dem Namen Sebastian Michaelis, den er schon so oft während seiner Arbeit getroffen und mit ihm gekämpft hatte. Manchmal war seine Schwärmerei für die Männer auch lästig. Aber jeder wusste, dass es Grelles Art war und man es am besten einfach übersehen sollte. Natürlich brachte der rothaarige Shinigami ihr auch Dinge bei für die Arbeit in der Society. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihr erklärt, wie man die Unkosten berechnete und Absetzten konnte, so dass die Buchhaltung einem die Beträge erstattete. Manchmal waren die Berechnungen der Kosten auch zum Verzweifeln. Niemand machte die Arbeit gerne. Aus Rücksicht auf die Situation hatte Grelle mit ihr in den letzten Tagen so oft es ging im Aktenarchiv gearbeitet, da dort kaum jemand war. Nur selten traf man dort einen Shinigami oder Lehrling an. Wenn sie dort auf jemanden stießen, lächelten sie oder flüsterten hinter vorgehaltenen Händen. „Ich werde mich dann mal auf den Weg machen. Hoffentlich vergisst mein Mentor nicht schon wieder, dass er mit mir trainieren wollte“, sagte Nakatsu und räumte sein Geschirr zusammen. Er verzog bei dem letzten Satz ein wenig das Gesicht. Nachdem sein Mentor einen Aufstand wegen seinem Ohrring gemacht hatte, versuchte er Nakatsu härter dran zu nehmen, vergaß aber oft Trainingstermine oder Strafarbeiten, die er für sein angebliches Fehlverhalten bekommen sollte. Alle waren sich einig, Nakatsus Mentor tat das nur, weil er etwas gegen seinen Ohrring hatte. „Wieso redest du nicht mal mit Spears, wenn dein Mentor inzwischen so senil ist? Du lernst doch kaum was“, sagte Lily und trank ihren Tee. „Außerdem ist es nicht fair, wie er dich behandelt seit du dir den Ohrring hast stechen lassen.“ „Miss McNeil hat Recht. Das meiste lernen Sie nicht durch Ihren Mentor, sondern indem Sie sich dem Unterricht von Ihrer Freundin anschließen“, sagte Alan, der in den letzten Tagen oft genug dabei war, wenn die beiden mit Grelle zusammen lernten. „Dein Mentor ist schon sehr alt“, kam es grinsend wie eine Katze von Grelle. „Wir sind zwar unsterblich, bleiben aber vom alt werden nicht verschont. Auch wenn wir pro Jahrhundert nur um ein Jahr älter werden. Das bringt unsere Arbeit mit sich. Die Anderen altern nicht so wie wir.“ „Heißt wir überleben unsere Familien?“, fragte Lily. Eric nickte. „Genau. Wobei unsterblich nicht das richtige Wort ist. Langes Leben trifft es eher. Es hat irgendwas mit den Seelen und deren Lebenskraft zu tun. Sie überträgt sich wohl ein wenig auf uns.“ „Dein Mentor ist schon sehr lange bei uns und er wird sicherlich bald in den Ruhestand gehen. Vielleicht lässt er sich sogar von jemanden mit der Death Scythe töten, anstatt weiter vor sich hin zu vegetieren bis zum Tod mit diesen fossilen Ansichten.“ Grelles Grinsen wurde breiter, weshalb er noch m ehr wie eine Grinsekatze aussah. „Ich weiß und es ist mir auch klar. Aber ich kann ihn nicht einfach so anschwärzen. Ich möchte nicht, dass er nur durch mein Gespräch mit Spears die Arbeit verliert. Jedes Mal, wenn er von seiner Zeit spricht, merkt man die Hingabe dafür.“ „Es wundert mich sowieso, dass Spears noch kein Gespräch mit Ihnen geführt hat. Ihr Mentor und Sie führen doch ein Berichtsheft und müssen es jede Woche vorlegen“, merkte Eric an. Nakatsu nickte und zog die Schultern hoch. „Ja, er hat schon was gesagt, aber nur, dass er das im Auge behält. Das ist das, was ich weiß. Vielleicht hat er ja mit ihm auch noch alleine geredet.“ Grelle gab einen brummenden Laut von sich. „Dann wird es sicherlich nicht mehr lange dauern bis Sie jemand anderen bekommen“, sagte Alan und biss von dem Brötchen mit Käse ab. „Sicher?“, fragte Lily überrascht. Grelle nickte. „Aber ja. Mein süßer William würde nie zulassen, dass ein Schüler nicht mit den Anderen mithalten kann und das nur durch seinen Mentor. Er ist einfach so toll, mein William!“ „Ich lass mich überraschen. Vielleicht hab ich ja Glück und er hat das Training nicht vergessen. Wir sehen uns später“, verabschiedete sich Nakatsu und ging aus der Mensa. Lily sah ihrem besten Freund nach und rührte lustlos in ihrem Müsli herum. Die vielen Gerüchte und Blicke schlugen ihr auf den Magen. Oft genug hatte sie danach über der Toilette gehangen und ihr Magen hatte seinen gesamten Inhalt geleert. Sie verspürte schon gar keinen wirklichen Hunger mehr und aß nur aus Gewohnheit. „Sie sollten etwas essen“, sagte Alan und warf einen flüchtigen Blick auf die Tageszeitung, während seine Augen hauptsächlich die noch volle Müslischale musterten. „Ich hab aber keinen Hunger“, erwiderte Lily und rührte weiter in der Schüssel herum. „Wenn Sie so weiter abnehmen, fliegen Sie beim nächsten Wind davon“, meinte Eric und musterte sie kurz. Lily wusste, dass dies ein nett gemeinter Versuch war, sie zum Lachen zu bringen und zum Essen. „Wen würde es interessieren?“, gab sie lustlos zurück und sah zu wie Grelle die Mensa als nächster verließ. „Reden Sie nicht so einen Unsinn!“, sagte Alan. „Mr. Shinamoto würde es interessieren und uns auch!“ „Da sind Sie auch die Einzigen!“ Angewidert nahm sie einen Löffel von dem Müsli und würgte ihn hinunter. Lily verzog ein wenig das Gesicht. Die Milch hatte es aufgeweicht und Pampig werden lassen. Es schmeckte wie ein schwerer Brei, der an den Zähnen klebte und sich nur schwer kauen ließ. „Das stimmt gar nicht!“, gab Alan zurück. Lily seufzte. Sie hatte nicht vor mit ihren wenigen Verbündeten Streit anzufangen. Es wäre wieder ein gefundenes Fressen für Carry. „Schon gut. Tut mir leid“, sagte sie und rührte in der immer pappigeren Müslimasse herum. „Sollen wir Sie begleiten?“, fragte Eric und sah sich in der Mensa um, ob sein Lehrling Kayden in der Nähe war. „Nein, schon in Ordnung. Ich warte einfach bis die Meisten gegangen sind.“ „Sicher?“, hakte Alan nach. „Es ist kein Problem.“ „Nein, nein. Ich brauch keine Eskorte.“ „Nun gut, wie Sie wollen.“ Alan und Eric standen ebenfalls auf und gingen davon. Hinoko folgte ihnen nur wenige Augenblicke später. Nun war sie alleine am Tisch. Lily starrte in die Müslischale, die noch immer fast voll war und nahm noch ein paar lustlose Bissen. Sie wartete wirklich bis jeder gegangen und sie alleine in der Mensa war. Sie würde es vielleicht nur um Haaresbreite schaffen pünktlich zu sein. Sicherlich würde Grelle nichts dagegen sagen. Oft genug war er selbst auch unpünktlich, weil er noch sein Make-up richten musste. Lily machte sich auf den Weg zum Büro von Grelle Sutcliffe und schlich durch die Flure der Society. „Na sieh mal einer an, wer hier herumschleicht“, ertönte es plötzlich hinter Lily und im nächsten Moment wurde sie zu Boden geworfen. Sie wirbelte herum und erkannte die hoch gewachsene Gestalt von Carry, die auf sie herab blickte. Ihr Herz schlug sofort schneller. Das Adrenalin strömte in ihre Adern, ihre Muskeln spannten sich an und ihre Atmung ging schneller. Alles war bereit zur Flucht und bereit weg zu rennen. Dennoch konnte sie keinen Muskel rühren, um vor ihr zu entkommen. Mit einem fast schon liebevollen Blick kniete sich Carry zu ihr herunter und wischte ihr mit einem Taschentuch über die Stirn, wo sich vor Angst kalter Schweiß gebildet hatte. Es war eine fürsorgliche Geste und es machte Lily noch mehr Angst. So war ihr Carry noch nie begegnet. Mit der anderen Hand strich ihr Carry über den Kopf, als würde sie ein ängstliches kleines Kind vor sich haben und trösten. Sie lehnte sich zu Lilys Ohr so weit vor, dass ihre Lippen sie fast berührten. Während sie leise sprach, gerieten ihre Haare an der Schläfe in Bewegung. „Weißt du, was ich gestern Nacht gesehen habe, meine Kleine“, flüsterte sie und wartete nicht auf eine Antwort, die Lily ihr vor Angst sowieso nicht geben konnte. Sie strich ihr unaufhörlich über die Haare, während sie weiter sprach. „Ronald Knox ist wieder da. Das ist schön, nicht wahr? Glaubst du mir nicht? Aber ich habe ihn gesehen. Er kam mitten in der Nacht in die Society zurück. Ich habe mit Kayden gesprochen, mein Liebes. Wir haben beschlossen, dass wir dich in Ruhe lassen. Ist das nicht schön?“ Sie machte eine kurze Pause und atmete langsam aus. „Jedenfalls sind wir der Meinung, dass wir dich besser in Ruhe lassen. Immerhin ist mein Ronilein wieder da und das heißt, es besteht noch eine Chance, dass er sich für mich entscheidet. Er liebt mich, weißt du und wir wollen zusammen sein. Aber wenn er dich so sieht, wird er sofort wissen, was wir getan haben und dann wird er mich hassen. Das willst du doch nicht, oder? Wenn du ihn zu sehr beeinflusst, könnte er sich noch gegen mich entscheiden. Dann würdest du zwischen uns stehen, mein Liebes. Glaub mir, du willst nicht zwischen uns stehen. Aber das wirst du ja nicht tun, nicht wahr? Dann ist alles gut. Du brauchst also keine Angs mehr vor mir zu haben. Ich werde dafür sorgen, dass es dir besser geht und dir nichts mehr Schlimmes passieren wird. Wir werden die besten Freundinnen sein und jede Menge Spaß miteinander haben. Aber wenn du dich gegen mich stellst, werde ich Spaß mit dir haben. Es gibt Dinge, die wollte ich schon immer mal ausprobieren. Als wie Widerstandsfähig wirst du dich wohl erweisen? Das wird ein Spaß. Aber du wirst meinem Ronilein nichts davon erzählen, richtig? Nein, nein, das tust du nicht. Das wäre sehr unangenehm für uns beide, findest du nicht auch, kleine Lily? Du sagst nichts und ich sage nichts. Damit sind wir uns einig.“ Carry nahm ein wenig Abstand von ihr und hörte auf Lily über die Haare zu streicheln. Sie richtete ihr stattdessen den Kragen ihrer Bluse und die Krawatte. „Aber genug geplaudert für heute. Lauf, lauf, kleines Mädchen und geh an die Arbeit.“ Lily rutschte auf dem Boden ein Stück von Carry fort, drehte sich um und rappelte sich schnell auf, um los zu stolpern. Was war nur in diese Frau gefahren? Hatte sie jetzt endgültig den Verstand verloren? Was sollte das heißen Ronald Knox war zurück? Log sie oder sagte sie ausnahmsweise die Wahrheit? Woher wollte sie denn so genau wissen, dass Ronald Knox sie liebte? Er hatte kurz bevor er fort musste klar und deutlich gesagt, dass er kein Interesse hat. Seitdem hatte er nicht mehr mit ihr sprechen können. Woher nahm sie also die Gewissheit? Lily stolperte weiter. Ihr Körper zitterte und ihre Beine fühlten sich an wie Pudding. Kalter Schweiß lief ihr vor Angst den Rücken hinab. Ihr Herz schlug schnell. Nicht nur weil Carry ihr so eine Angst gemacht hatte, sondern auch, weil ihr alter Mentor wieder da war! Es war ihr nun egal, ob man sie sah oder nicht. Lily gab sich nicht mehr die Mühe unsichtbar zu sein. Sie wollte nur noch schnell weg von dieser Verrückten. Ihr Atem glich einem Keuchen. Was sollte sie tun, wenn Ronald wirklich wieder da war? Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Was sollte sie sagen? Was sollte sie tun? Wie sollte sie ihm die ganzen Verletzungen erklären? Würde sie wohlmöglich anfangen zu weinen? Wie sollte sie ihm überhaupt unter die Augen treten? Konnte sie ihm denn überhaupt verzeihen? Würde ihr Verhältnis genauso sein wie früher? Lily rannte die Stufen hinaus und Bog in den Flur, der zu dem Büro von Grelle Sutcliffe führte. Sie bog um eine Ecke und lehnte sich keuchend an eine Wand. Ihre Hand lag auf ihrer Burst, als würde ihr das Helfen den Atem unter Kontrolle zu kriegen. Schweiß lief über ihre Stirn herunter und ihr Mund fühlte sich trocken an. Vorsichtig wandte sie den Kopf und spähte in das Treppenhaus, um sicher zu gehen, dass Carry ihr nicht folgte. „Miss McNeil, was machen Sie hier?“, fragte eine vertraute Stimme hinter hier. Lily machte einen kleinen Sprung in die Luft vor Schreck und drehte sich mit stark pochendem Herzen um. Vor ihr standen Alan und Eric. Hinter ihm schaute Kayden sie an und grinste, während er mehrere Akten in der Hand hatte. Lily fuhr sich durch die Haare und schaute abwechselnd zu den beiden älteren Shinigami. Sie begegnete Kaydens Blick, der sie wissend ansah und in seinen Augen lag eine unausgesprochene Drohung. Alan trat einen Schritt auf sie zu und umfasste ihre Schultern, während er sie besorgt musterte. „Sie sehen aus, als ob Sie einen Geist gesehen haben?! Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ja…alles Gut. Ich bin nur etwas spät dran und bin von der Mensa hierher gerannt.“ „Sie sehen aber sehr blass aus“, merkte Eric an und Lily warf kurz einen flüchtigen Blick zu Kayden, der einen Finger auf die Lippen legte. Fieberhaft dachte sie nach, was sie sagen könnte und stotterte ein wenig herum. „Atmen Sie tief durch und dann erzählen Sie in Ruhe.“ Lily tat wie geheißen und atmete tief durch bis sie wieder normal atmen konnte ohne das Gefühl zu haben eine Widerbelebung zu brauchen. „Ich bin schon so spät dran und bin los gerannt. Da habe ich jemanden sagen hören, Ronald Knox sei wieder da. Ist es denn wahr? Ist er wirklich zurück?“ Schnell warf sie einen Blick zu Kayden, der kurz die Augenbraue hoch zog und ihr zunickte. Alan und Eric sahen sich kurz an und nickten, als hätten sie sich über die Gedanken abgesprochen, was zu tun wäre. Alan trat neben sie und führte sie zum Büro von Grelle, während Eric mit Kayden davon ging in die entgegengesetzte Richtung. Als Eric mit Kayden außer Hörweite war, sprach Alan leise zu ihr. „Sind Sie sicher, dass Sie das genau so gehört haben? Geht es Ihnen gut? Von wem haben Sie es gehört?“ „Ja, ich bin ganz sicher. Ja, es geht mir gut und ich weiß nicht, von wem ich es gehört habe. Ich lief nur gerade aus der Mensa als ich es am Rande gehört habe. Mehr weiß ich nicht.“ Alan nickte und klopfte kurz an die Tür zu Grelles Büro. Er wartete keine Antwort ab, sondern öffnete sofort die Tür. Der rothaarige Shinigami saß an seinem Schreibtisch. In den Händen hielt er einen Handspiegel, während seine Haare mit Klammern zurück gehalten wurden und er seine Wimpern schminkte. „Grelle, ich bring dir deine Schülerin“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln und schob Lily ins Büro, während er ihr kurz folgte. Grelle schreckte auf und hielt in seiner Tätigkeit inne. „Alan, du böser Junge! Du kannst eine Lady wie mich doch nicht so erschrecken! Sei froh, dass mein Make up nicht verschmiert ist! Als Shinigami Idol muss ich doch gut aussehen!“ Alan rollte nur mit Augen und schüttelte stumm den Kopf. „Du bist spät dran, meine Liebe! Wo warst du denn? Ist wieder was passiert?“ Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand und er warf einen misstrauischen Blick zu Lily und Alan. Lily winkte ab. „Nein, ich hab mir nur Verspätet. Tut mir leid. Es ist alles ok.“ Grelle nickte und sah wieder in den Spiegel, um sich die Augen fertig zu schminken. Er grinste breit. „Sei froh, dass William das nicht mitbekommen hat. Sonst hättest du jetzt sofort eine Strafarbeit bekommen.“ Lily nickte und setzte sich an den Schreibtisch, um mit der Arbeit anzufangen. „Grelle, hast du kurz einen Zettel und Stift für mich?“, fragte Alan und lächelte ihm freundlich zu. Ohne aufzusehen vom Spiegel, schob er Alan einen Zettel zu und nahm einen Stift aus der Schublade. „Danke“, sagte Alan und beugte sich über den Zettel. Schnell schrieb er mit knappen Worten etwas darauf und faltete ihn zusammen. Den Stift gab er Grelle wieder und nickte ihm mit ernstem Blick zu. „Dann bis später beim Mittagessen.“ Damit verließ er das Büro und ließ sie mit Grelle Sutcliffe alleine, der seine Schminkutensilien fort räumte und in einer Schublade verstaute. Lily hörte wie Grelle ein Stück Papier auseinander faltete. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Offensichtlicher ging es nicht, dass Alan ihm eine Nachricht geschrieben hatte, die sie nicht mitbekommen sollte. Hatten die Beiden das nie in der Schule getan oder waren sie schon zu lange dort raus und hatten es verlernt? Sie hörte, wie er das Papier zerknüllte und im nächsten Moment stand er auf. Er schob das Papier in seine Manteltasche. „Ich werde kurz was erledigen. Bleib du hier und erledige schön deine Arbeit. Ich schaue mir nachher die Rechnungen an.“ Er verließ sein Büro und Lily bleib alleine zurück. Sie schüttelte den Kopf und beugte sich über die Abrechnungen, die sie vorarbeiten sollte. Diskretion war nicht die Stärke von Alan und Grelle. Neugierig war sie ja schon, was Alan Grelle genau geschrieben hatte, aber sie musste die Aufgaben fertig bekommen ehe Grelle zurückkäme. Sie wippte nachdenklich mit dem Bleistiftende auf das Papier vor sich und versuchte sich auf die Rechnung zu konzentrieren. Die Zahlen und Angaben verwirrten sie. Was musste sie angeben? Was war freiwillig? Was brauchte man gar nicht aufschreiben? Zahlen und Rechnungen waren nie ihre Stärke und besonders die Monatsabrechnungen brachte sie zum Verzweifeln. Sie kratzte sich nachdenklich am Kopf während ihre Gedanken abschweiften und zum Zettel zurück wanderten, den Alan Grelle gegeben hatte. Lily fragte sich, was darauf stand. Sicherlich hatte Alan ihm das Gerücht mit Ronald Knox aufgeschrieben. Wahrscheinlich trafen sich jetzt die älteren Shinigami und unterhielten sich darüber ausgiebig. Sie planten sicherlich, wie sie Ronald Knox unangespitzt in den Boden rammen könnten. Immerhin waren sie genauso sauer auf ihn wie Nakatsu. Ihr fiel ein, dass sie unbedingt mit Nakatsu über Carry sprechen musste und über ihr Gespräch. Am liebsten wäre sie sofort zu ihm gegangen, aber sie musste ihre Arbeit machen. Später würde dafür sicherlich noch Zeit sein. Es fiel Lily schwer, ihre Gedanken von dem merkwürdigen Morgen zu lösen und auch von der Tatsache, dass Ronald Knox irgendwo auf diesem Gelände war und vielleicht nicht einmal sehr weit weg. Genervt seufzte sie auf und heftete den Blick wieder auf die Rechnung. Sie nahm sich den Taschenrechner zur Hilfe und machte die Aufgaben. Es dauerte fast den ganzen Vormittag bis Grelle Sutcliffe zurück war und sie beschäftigte sich damit ein wenig das Büro aufzuräumen und noch einmal die Rechnungen durch zu gehen. Als Grelle zurückkam, war seine Laune im Keller, auch wenn er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. Lily merkte aber, dass ihn etwas missmutig gestimmt hatte. Sie konnte sich auch genau denken, was es war. Doch sie wagte nicht ihn darauf anzusprechen. Nachdem er ihre Aufgaben kontrolliert und berichtigt hatte, war es Zeit für das Mittagessen. Grelle ging alleine zur Mensa. Lily wollte unbedingt zu Nakatsu und mit ihm reden. Zielstrebig ging sie zu dem Büro von seinem Mentor. Nakatsu kam gerade heraus und sah erledigt aus. Als er sie erblickte, steuerte er sofort auf sie zu. „Alles ok bei dir?“, fragte er und atmete tief durch. „Ja, alles gut. Ich musste den ganzen Vormittag Abrechnungen machen.“ Sie verzog dabei das Gesicht. „Was hast du gemacht? Du bist ganz rot im Gesicht.“ Nakatsu seufzte auf. „In seinem Büro war es stickig. Der Alte macht ja nicht das Fenster auf und dann scheint da die ganze Zeit die Morgensonne rein. Wenn ich es dann mal angelehnt hatte, meckerte er sofort rum, ihm sei kalt.“ „Klingt ja nicht sehr angenehm.“ „Ist es auch nicht. Dann musste ich seine Berichte schreiben und irgendwas in alten Akten lesen. Von den Monatsabrechnungen hab ich noch immer keine Ahnung, obwohl ich ihn drauf angesprochen hatte, dass wir das in der Schule haben und ich nicht mitkomme!“ „Es wird echt Zeit, dass du mal mit Spears sprichst. Aber apropos sprechen…Ich muss dir dringend was erzählen.“ „Und was?“ „Nicht hier. Später bei mir im Zimmer, wenn wir alleine sind und niemand zuhören kann.“ Nakatsu nickte. „Okay, aber ich muss das jetzt erst einmal nicht verstehen, oder?“ „Nein. Ich erkläre es dir später. Lass uns jetzt Mittag essen gehen.“ „Gute Idee, ich hab riesen Hunger. Mal sehen, was es heute gibt.“ Nakatsu rieb sich über den Bauch, der ein lautes Knurren von sich gab. In der Mensa war es laut und voll. Der Geruch des Essens und Gesprächsfetzten erfüllten die Luft. „Lass uns schnell etwas holen und dann zu unserem Platz gehen.“ Lily nickte zur Bestätigung und reihte sich in die Schlange ein. Das Angebot war wieder riesig und es fiel schwer sich zu entscheiden zwischen Spaghetti mit verschiedenen Soßen oder belegten Broten. Auch die Nachspeisen hatten wieder ein großes Angebot. Angefangen bei Obstsalaten über kleine Kuchen bis hin zu verschiedenen Puddingsorten. Die Küchenkraft verteilte die Warmspeisen und bespritzte Lilys und Nakatsus Jackett mit würziger und warmer Tomatensoße. Es war schwer zu sagen, ob es nur ein Versehen war oder Absicht. Zum Glück war das weiße Hemd sauber geblieben und die kleinen Spritzflecke fielen nicht sonderlich auf. Dennoch war es ärgerlich. Nakatsu und Lily balancierten ihre Tabletts in der Mitte des Ganges zwischen den vollen Tischen hindurch bis zum Stammplatz, an dem sie immer mit Alan und Eric saßen. Lily hatte ihren Blick auf den Boden geheftet, um über keine Füße, Stuhlbeine oder Taschen zu stolpern und ohne aufzublicken setzte sie sich an den Tisch. Grelle, Alan und Eric waren bereits da und begrüßten sie, musterten sie jedoch besorgt. Nakatsu setzte sich neben sie. Sie begrüßte die älteren Shinigami. Lily wollte die Anderen fragen, wieso sie sie so besorgt ansahen und sich ihrem Essen widmen, als ihr Blick auf ihr Gegenüber fiel. Ihre Augen weiteten sich und ihr Herz setzte für ein paar Sekunden aus. Ihre Lungen wollten Sauerstoff und sie musste tief einatmen, um nicht vor Schreck vom Stuhl zu fallen. Ihr gegenüber saß Ronald Knox. Carry hatte die Wahrheit gesagt! Er war tatsächlich zurück! Sie musste hart schlucken und ihr Herz pochte laut gegen ihre Brust während ihr restlicher Körper versuchte ruhig weiter zu atmen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war nicht bereit ihn jetzt schon zu sehen! Was sollte sie tun? Was sollte sie sagen? Wo sollte sie anfangen mit ihren Fragen, die sich in den zwei Wochen angestaut hatten. Vorsichtig sah Lily auf und suchte seinen Blick, während sie versuchte ihn zur Begrüßung anzulächeln. Doch das kleine Lächeln erstarb sofort als Lily bemerkte, dass er ihr keines Blickes würdigte. Lily war sich sicher, dass er sie bemerkt hatte. Er hatte doch eben noch geradeaus gesehen und nun starrte er demonstrativ zur Seite als würde er sie ignorieren. Nakatsu stupste sie in die Seite und sorgte dafür, dass sie Ronald Knox nicht anstarrte. Dankend nickte Lily ihm zu und stocherte mit der Gabel in den Spaghetti mit Tomatensoße herum. Aus dem Augenwinkel schaute sie immer wie zu ihrem Gegenüber. Er hatte ein paar Kilos abgenommen und seine Züge wirkten dadurch kantiger. Seine Haare hingen unfrisiert und leblos an ihm herunter. Selbst der kleine Wirbel, der zu ihm gehörte, war verschwunden. Auch die freche Art in seinem Blick war verschwunden und um sein Gesicht hatten sich kleine Bartstoppeln gebildet. Er hatte seine Hemdärmel hoch gekrempelt und sie konnte seine Muskeln erkennen, die sich in den letzten zwei Wochen gebildet hatten. Unter den Augen hatte er kleine Augenringe bekommen. Dennoch lächelte er die anderen Shinigami an, mied es aber, den Blick in ihre Richtung zu wenden. Ronald beugte sich zu Eric herüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Lily sah von ihrem Essen auf und warf einen Blick durch die Mensa. Am anderen Ende stand Carry und ihre Mode-Mafia-Klone. Sie hatte Ronald erblickt und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. „Ronilein, mein Liebling! Da bist du ja wieder! Ich habe dich so vermisst!“, trällerte sie durch die halbe Mensa und Lily bemerkte, dass er zusammen zuckte und das Gesicht verzog. Sie machte sich so klein wie möglich auf ihren Platz und starrte auf den Teller. Carry trat an den Tisch und schlang beide Arme um Ronald Knox. Sie bemerkte nicht, dass er sich schüttelte und das Gesicht verzog. Sie zog ihn an seine Brust und drückte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel. „Wie siehst du eigentlich aus?“, fragte sie, wartete aber keine Antwort ab. „Du musst dich dringen rasieren. So kannst du unmöglich auf die Willkommen Zurück Party heute Abend. Endlich bist du wieder da! Da werden die Partys wieder der Knaller! Es werden so viele Leute da sein! Es gibt ein Buffet, Wein, Champanger, Sekt…“ „Ich werde nicht kommen“, unterbrach er sie und nahm ihre Arme von seinem Körper. Er wischte sich über den Mundwinkel und nahm dann die Serviette zu Hilfe, um den Lippenstift los zu werden. „Wie bitte? Was hast du gesagt?“ Sie starrte Ronald an als hätte er sie geschlagen. „Du hast mich verstanden. Ich werde nicht kommen.“ „Aber wieso nicht?“ Carry zog einen Schmollmund. „Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben alles zu organisieren. Es werden so viele Leute da sein. Einschließlich meiner neuen besten Freundin Lily!“ Carry warf Lily einen mörderischen Blick zu, während Nakatsu sich an einem Stück Fleisch in der Soße verschluckte und Alan sein Wasser vor Schreck zurück ins Glas spuckte. Lily konnte die Blicke der Anderen auf sich spüren, einschließlich Ronald Knox‘ schockiertem Blick, den er ihr kurzzeitig zuwarf. Ihr Herz pochte und sie wäre am liebsten gestorben als sich das weiter an zu tun. Ronald sagte dennoch nichts. Nur ein Räuspern verließ seine Kehle und er sah wieder woanders hin. „Carry, es ist mir egal, wer alles kommt und wenn es die erotischste Frau der Welt wäre. Es wäre mir egal. Ich habe kein Interesse daran feiern zu gehen und auch nicht mehr an irgendwelchen One-Night-Stands. Ich habe meine Lektion gelernt und wenn es wieder eine Frau in meinem Leben gibt, dann nur noch in einer festen und ernsthaften Beziehung. Solange dies aber nicht der Fall ist, genieße ich meine freie Zeit ohne den vielen Partys wie früher.“ Lily schluckte. Wo war er gewesen, dass er seine Einstellung geändert hatte? „Und es ist mir auch egal, wer deine neue beste Freundin ist. Von mir aus kann es auch die Taube aus dem Garten sein.“ „Wie du willst. Dann eben ein anderes Mal.“ Carry warf Lily einen hasserfüllten Blick zu, als wäre sie an allem Schuld und stampfte davon. Hinter sich konnte Lily Getuschel hören und leises Kichern. War sie ihm so egal geworden, dass es ihn nicht einmal interessierte, wie Carry darauf kam, dass sie nun beste Freundinnen seien? Merkte er denn nicht, wie verletzt sie war und das alles eine große Lüge war? Merkte er nicht, dass Nichts in Ordnung war? „Lily, was meint Carry mit beste Freundinnen?“, fragte Nakatsu und starrte sie ungläubig an. Er war nicht der Einzige, der auf eine Erklärung wartete. Alan, Eric und Grelle warteten ebenfalls auf eine Erklärung ihrerseits. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte und sich Tränen in ihren Augen bildeten. Langsam stand sie auf und ihre Hand umschloss das Glas Orangensaft. Sie packte die Wut. Es war die ganze Wut der letzten zwei Wochen. Alle am Tisch sahen sie an. Alle bis auf Ronald Knox, der seinen Blick durch die Mensa schweifen ließ. Sie hatte ihn in Schutz genommen und verteidigt. Sie hatte alles ertragen, was man ihr an den Kopf geworfen hatte, in der Hoffnung es würde alles wieder gut werden. Sie hatte gehofft, er würde ihr alles erklären und als Mentor wieder für sie da sein. Aber er begrüßte sie nicht einmal oder blickte ihr in die Augen. Es war ihm vollkommen egal, was in der Zeit passiert war. Ihr Griff wurde um das Glas fester und sie kippte den Orangensaft ohne weiter drüber nach zu denken Ronald Knox ins Gesicht. Eric neben ihm wich ein wenig zurück während sich der Saft über sein Hemd verteilte und seinem Gesicht und seinen Harren tropfte. Er starrte sie ungläubig und verwirrt an. „Sie elender Scheißkerl!“, schrie sie lauthals und mit kratziger Stimme. Lily nahm den Teller Spaghetti und warf ihn in sein Gesicht. In der Mensa wurde es augenblicklich still, während der Teller klappernd auf dem Tisch landete. Jeder starrte zu dem Tisch herüber und einige Hälse reckten sich, nur um eine bessere Sicht auf die Geschehnisse zu erhalten. Ronalds Gesichtsausdruck war unlesbar. Spaghetti fielen von seinem Gesicht und landeten auf seinem Hemd oder Tisch. „Erst verschwinden Sie und lassen mich mit dem ganzen Scheiß alleine, den Ihre Freundin Carry angefangen hat und jetzt sind Sie sich auch noch zu fein mich anzusehen! Wissen Sie eigentlich was ich durchgemacht habe in den letzten zwei Wochen? Wissen Sie eigentlich was hier los war? Ich bin froh noch am Leben zu sein, aber Sie interessiert es einen Scheißdreck! Ich habe Sie in Schutz genommen und war fast froh, dass Sie wieder gekommen sind nach all der Zeit! Dabei sind Sie genauso wie Carry und all die anderen hier, die in den letzten zwei Wochen nichts Besseres zu tun hatten als mir mein Leben zur Hölle zu machen! Aber das Interessiert Sie wohl auch nicht! Warum sind Sie überhaupt zurückgekommen? Verschwinden Sie einfach wieder dahin, wo Sie hergekommen sind! Ich brauche Sie nicht, Sie Scheißkerl!“ Lily nahm die Schüssel mit dem Schokoladenpudding und schüttete ihn auch über Ronald Knox Kopf aus. Wütend schob sie den Stuhl zurück und stapfte aus der Mensa. Ihre Brille war beschlagen und heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht. Es war ihr egal, dass ihr jeder hinterher sah, auch Ronald Knox. Sie konnte noch hören, wie ein weiterer Stuhl verrückt wurde und jemand ihr folgte. Nakatsu schloss zur ihr auf und nahm sie mit in sein Zimmer, wo sie sich die Seele aus dem Leib weinen konnte. Kapitel 19: Vertrauen muss man sich verdienen --------------------------------------------- Die ganze Mensa starrte ihn an. Es war so still, dass man eine Stecknadel fallen hören konnte. Aber das Einzige Geräusch war das schmatzende Geräusch des Puddings, der aus seinen Haaren auf den Tisch tropfte, während die Farbe des Saftes sich in sein Hemd getränkt hatte. Einzelne Spaghetti klebten auf seiner Brust und im Gesicht, während die warme Tomatensoße über sein Hemd lief und eine rote Spur hinterließ. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig. Es kostete ihn viel Mühe, während sein Herz alles andere als ruhig schlug. Sein Herz schlug, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich. Langsam hob er seinen Arm und pflückte einzelne Nudeln aus seinen Haaren und von seinem Hemd. Was für eine Schweinerei! Dabei hatte er sich gefreut, sie wieder zu sehen, auch wenn er es nicht so offen zeigen konnte, wie er es gehabt hätte. Am liebsten hätte er sie sofort in den Arm genommen, anstatt so abweisend und kühl zu sein. Ronald gab sich aber damit zufrieden, dass sie am Leben war und seine Abwesenheit gut überstanden zu haben. Sein Herz hatte sogar einen kleinen Hüpfer gemacht und seine Hände waren ein wenig feucht geworden. Er hatte nicht erwartet, dass die Symptome so deutlich wären und es ihn so viel Mühe kostete, sie nicht breit anzugrinsen. Aber was meinte Carry mit „neue beste Freundin“? Da konnte doch etwas nicht stimmen. Zuerst verbreitete sie Gerüchte und dann befreundete sie sich mit Lily? Er pickte eine weitere Nudel aus seinem Haar, die sich zu allem Übel auch noch in seinem Ohr kitzelte. Ronald warf einen Blick zur Tür. Lily war komplett verschwunden und ihr Freund Nakatsu ebenfalls. Wut stieg in ihm auf und am liebsten hätte er sich selbst eine Ohrfeige für sein mieses Verhalten gegeben. Wahrscheinlich würden seine Freunde das nach holen, in dem sie ihm eine Standpauke hielten. Aber er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er durfte es nicht. Immerhin hatte er strikte Anweisungen von William! Würden sie es verstehen? Würde Lily es verstehen, wenn er wieder mit ihr reden durfte? Die Tomatensoße hatte eine leichte Kruste gebildet und sich wunderbar in den Stoff gesaugt. Von dem Orangensaft wollte er gar nicht erst reden. Sein ganzes Hemd klebte davon. Der Pudding gab dem Gesamtbild noch den letzten Schliff, als ob er nicht schon genug Flecken auf seiner Kleidung hatte. Ronald seufzte. Eine Dusche war nach dieser Aktion unausweichlich, wenn er nicht für den Rest des Tages wie ein komplettes Mittagsmenü aussehen und riechen wollte. „Was ist hier eigentlich das Problem?“, fragte er genervt von dem Geruch, der ihm in die Nase stieg. Natürlich hatte er Lilys Worte verstanden und verstand auch, dass sie sauer auf ihn war, aber er verstand nicht, was sie alles durchgemacht haben soll. Er brauchte dringend Informationen zu dem, was während seiner Abwesenheit passiert war. Das Geschirr klapperte, als Grelle es zusammen räumte. Der Shinigami gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Als ob du das nicht wüsstest“, sagte er und seine Stimme klang nicht wie sonst so fröhlich und aufgedreht. Verwirrt betrachtete Ronald seinen älteren Kollegen und warf einen Blick zu Alan, der ihn jedoch nur wütend ansah. Er schien wenig begeistert, dass er zurück war. Eric sah ihn gar nicht erst an. Ein Stuhl wurde gerückt und erfüllte die Stille der Mensa. „Mr. Knox, gut, dass Sie wieder da sind! Lily gehört mal wieder von ihren ordentlich zur Brust genommen!“ Ronald drehte den Kopf schlagartig herum. Ein wenig Pudding fiel heraus, zusammen mit einer Nudel, die er übersehen hatte. Kayden grinste ihn anzüglich und abfällig an. Neben Ronald stand Eric langsam auf und alles an ihm war angespannt. Er machte sich sofort auf seinem Stuhl um einiges kleiner. Mit dem Lehrling wollte er jetzt nicht tauschen. „Kayden!“, donnerte Erics Stimme durch die Mensa. „Auf ein Wort in mein Büro!“ Eric verließ den Platz und ging direkt auf seinen Lehrling zu. Sein Griff war fest um seinen Kragen und er zog ihn mit sich aus der Mensa. An der Stimme und Haltung von Eric konnte Ronald schließen, dass er diese Worte in letzter Zeit öfters verwendet hatte. Es verwunderte ihn ein wenig. Eric war dafür bekannt seine Lehrlinge unter Kontrolle zu haben. Er war streng, aber gerecht. „Was ist hier los? Sind die Lehrlinge komplett verrückt?“, fragte er laut grummelnd und sah dabei zu Grelle und Alan, die als Einzige noch mit am Tisch waren. Grelle machte bereits den Mund auf, doch Alan unterbrach ihn. Er funkelte Ronald wütend an. So hatte er den Shinigami selten erlebt. Es musste wirklich ernst sein, was passiert war, dass der sonst so ruhige Alan wütend wurde. „Lass uns nach Feierabend in meinem Zimmer ein Gespräch führen, Ronald. Hier ist nicht der passende Ort und du solltest duschen gehen.“ Ronald nickte stumm, viel zu verwirrt von Alans dominanz. Vorsichtig drehte er den Kopf und musste feststellen, dass die ganze Mensa noch immer zu ihrem Tisch herüber schaute. Die anderen Shinigami versuchten jedes Wort und jede Reaktion mit zu verfolgen. Kein Wunder, wenn Alan nicht jetzt mit ihm reden wollte, sondern lieber später unter vier Augen oder acht Augen, wenn Eric und Grelle mit dabei wären. Grelle stand auf und verließ ohne Abschiedsworte die Mensa. Er warf Ronald lediglich einen abfälligen Blick zu, während er Alan nur zunickte. Kam es Ronald nur so vor oder war das eine stumme Kommunikation gewesen, dass Alan vielleicht mit ihm schon mal ein paar Worte reden sollte? Doch seine Frage sollte nicht lange unbeantwortet bleiben. „Ronald, es ist viel passiert“, begann Alan mit harter Stimme und räumte das Geschirr zusammen. „Es hat Miss McNeil hart getroffen, dass du einfach so gegangen bist ohne etwas zu sagen oder zu erklären. Viel härter als sie es vielleicht offen zeigt. Ich glaube, nur Mr. Shinamoto weiß, wie es ihr wirklich geht.“ Das konnte er sich bereits denken, nachdem sie ihn so angeschrien hatte. Aber er schwieg und hörte Alan weiter zu, während er sich innerlich schlecht fühlte. Was hatte er nur getan? Er wollte doch nicht, dass es ihr schlecht ging. Erst recht nicht seinetwegen! „Du solltest dich wirklich mal aufklären lassen, was alles passiert ist, ehe du einfach so zurück kommst und versuchst wieder einen auf Freund zu machen, als wäre nichts passiert.“ Alan sprach ruhig, doch die Wut in seinen Worten war deutlich zu hören und fühlte sich wie ein Peitschenhieb an. Ohne weiter ein Wort an ihn zu richten, verließ auch Alan die Mensa und Ronald saß nun alleine am Tisch. Vor sich lag das Chaos vom Mittagessen. Sein Hunger hatte sich gerade von ihm verabschiedet. Ein langer und gedehnter Seufzer entfuhr ihm. Er musste ein Gähnen unterdrücken. Nicht, weil ihn all das kalt ließ, sondern weil die Zeitumstellung anstrengend war. Um diese Uhrzeit hatte er bei den Mönchen bereits geschlafen. Die Umstellung war das Schlimmste. Langsam stand er auf und pflückte sich ein paar Nudeln vom Schoß, die dort gelandet waren. Auch dieses Stück Kleidung hatte die Soße nicht verschont. Er grummelte und machte sich nicht erst die Mühe mit der Serviette darüber zu wischen. Das Geschirr und den ganzen Soßenrest würde eine Küchenkraft schon sauber machen. Alles, was Ronald Knox in diesem Moment wollte, war auf sein Zimmer zu gehen und zu duschen, damit er nicht mehr wie ein Mittagsmenü roch. Die Mensa war beängstigend ruhig und er konnte die unzähligen Blicke auf sich spüren. Vorsichtig warf er einen Blick zu William T. Spears. Wie immer saß sein ehemaliger Mentor alleine am Tisch und aß sein Mittagessen. Er warf Ronald nur einen kalten Blick zu, den er nicht deuten konnte. War er einfach nur distanziert wie immer oder hatte er alles vermasselt? Er verließ die Mensa und ging den Flur entlang, wo er von den Kollegen gemustert wurde, die nicht mit in der Mensa gesessen hatten. Ronald suchte sich einen leeren Flur im Geschoss, wo die Büros lagen und lehnte sich gegen die Wand. Mit der Hand strich er sich ein paar Haare nach hinten und konnte spüren, wie der Pudding seine Haare verklebt hatten. Die Mittagspause war fast vorbei und dann würde selbst diese abgelegene Flur wieder voller Shinigami sein. Ronald zuckte mit einem Mal zusammen und hörte, wie sich eine Tür öffnete und Stimmen deutlich wurden. Er war nicht ganz so alleine wie er gedacht hatte. Das Schluchzen eines Mädchens war zu hören und nur wenige Augenblicke trat Lily McNeil aus dem Büro heraus. Ihr Gesicht war gerötet und sie schien noch vor wenigen Momenten ausgiebig geweint zu haben. Besorgt sah er zu ihr. War es für sie wirklich so schlimm gewesen, dass er sie ignoriert hatte? Oder hatte Carry wieder ihre Finger im Spiel? Langsam macht er zwei Schritte auf sie zu. Was sollte er sagen? Sollte er vielleicht doch mit ihr reden und alles erklären und wieder für sie da sein? Bisher hatte sie ihn nicht bemerkt. Ronald konnte also auch einfach gehen und so tun als hätte er nichts gesehen. Aber das konnte er nicht. Er konnte nicht zu ihr gehen, aber er konnte den Anblick auch nicht ertragen. Ronald rang mit sich und seinen Gefühlen. Seine Hand ballte sich zur Faust und er trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Weitere Stimmen wurden hörbar. „Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird sicherlich alles gut werden und nur halb so schlimm.“ Nakatsu trat aus dem Büro und legte einen Arm um sie. Unweigerlich murrte Ronald und seine Nägel gruben sich in seine Handflächen bis es schmerzte. Er trat weitere Schritte auf Lily zu. Bald war er bei ihr und konnte statt Nakatsus seinen Arm um sie legen. Nakatsu wandte den Kopf und erblickte Ronald. Sofort blieb er stehen und der Lehrling warf ihm einen kühlen und wütenden Blick zu, als hätte er vor, Lily ein Messer in den Rücken zu stoßen. „Wir sind ja bei Ihnen“, sagte Alan und tauchte neben ihr im Flur auf. „Es wird schon gut gehen. Unsere Aussagen werden Ihnen auf jeden Fall helfen“, meinte Eric und klopfte ihr aufmuntert auf die Schulter. „Wir werden alle dabei sein. Du bist also nicht alleine.“ Grelle trat als letzter aus dem Büro und schloss es sorgfältig ab. „Lil, das schaffst du schon. Ich kann zwar nicht dabei sein, aber ich drücke dir trotzdem die Daumen.“ Alan seufzte. „Tut mir leid, dass Sie nicht mitkönnen. Aber das Gericht wird die Aussage eines Lehrlings nicht viel Gewicht schenken. Aus dem Grund sind wir ja auch vorgeladen worden, damit Miss McNeils Worte mehr Gewicht bekommen.“ „Das hat Spears gut eingefädelt. Er wird auch da sein und aussagen.“ „Nicht zu vergessen diesen schnuckligen Arzt, der den Medizinbericht vorlegt.“ Gericht? Vorladung? War heute tatsächlich Lilys Anhörung? Ronald musterte sie. Seine Schülerin sah blass aus und wirkte, als würde sie sich gleich übergeben müssen. Hatte Grelle sie nicht darauf vorbereitet? Natürlich zeigte Spears den Schülern nicht bei der Rundführung das Gericht. Es lag auch außerhalb des Shinigami Dispatch Society Gelände, aber früher oder später musste jeder Shinigami dorthin. Alleine deshalb, wenn es darum ging Rechenschaft über die Arbeit abzuliefern. Aber unter diesen Umständen das Gericht kennen zu lernen, wenn man zu Unrecht beschuldigt wurde, war wirklich keine schöne Sache. Wer würde überhaupt dort sitzen? Das Gremium oder sogar das Gremium und der Rat der Shinigami? Nur der Rat der Shinigami? Das Gremium bestand aus den Abteilungsleitern, dessen Vorsitz immer der Shinigami hatte, der die Abteilung zur Entsendung der Todesgötter leitete. In diesem Fall führte William des Gremiums. Der Rat bestand aus fünf Mitgliedern, die die ganze Society leiteten und die kaum jemand zu Gesicht bekamen. Niemand wusste, was sie genau taten. Selbst Ronald hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. Er konnte verstehen, dass Lily nervös war und zu gerne hätte er sie darauf vorbereitet, was auf sie zukam. „Ich begleite dich noch bis zum Ausgang. Dann muss ich zu meinem Mentor zurück“, sagte Nakatsu und die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung. Es war seine letzte Chance etwas zu sagen. Er hatte das Gefühl ein Ziegelstein würde in seinem Magen liegen. „Wartet!“, rief er über den Flur und lief auf die Gruppe zu. Alan, Eric, Grelle, Nakatsu und Lily verstummten in ihrem Gespräch und drehten sich zu ihm herum. „Was wollen Sie?“, fragte Nakatsu wütend. Ronald schluckte schwer. Sein Mund war trocken geworden, so dass er ein Kratzen im Hals verspürte. „Ich wünschen Ihnen viel Glück“, krächzte er hervor und blickte Lily an, die ihn nur kalt ansah. Wenn ihr Blick töten könnte, wäre er auf der Stelle qualvoll in Flammen aufgegangen und gestorben. „Wie fühlen Sie sich?“ „Das geht dich glaub ich gar nichts an, Ronald“, antwortete Grelle und zog Lily weiter. Nakatsu folgte ihnen. „Alan, komm. Wir sind spät dran und dürfen nicht zu spät kommen.“ Eric war schon ein paar Schritte vorgegangen und hielt kurz wieder inne als er gemerkt hatte, dass Alan ihm nicht folgte. Alan nickte ihm zu und wandte sich an Ronald. „Ronald, du hast dich in der Mensa aufgeführt wie ein Eisklotz und jetzt kommst du an und wünscht ihr Glück.“ Alan schüttelte den Kopf. „Ich sagte dir schon in der Mensa, dass viel passiert ist und du nicht einfach so wieder auf guten Mentor und Freund machen kannst.“ „Was soll ich deiner Meinung nach dann tun?“ „Lass uns nachher das Gespräch führen. Du weißt dann mehr und kannst dir dann Gedanken dazu machen. Miss McNeil ist im Moment nicht in der Lage sich mit dir auseinander zu setzten. Sie hat heute ihre Anhörung und dein Erscheinen hat ihr wirklich den Rest gegeben. Aber wir reden später und geh vorher duschen. Ich muss jetzt gehen. Bis später.“ Alan wartete auf keine Antwort von Ronald, sondern drehte sich einfach um und ging wie die Anderen zu der Anhörung. Ronald knurrte genervt und trat wie ein Kind mit dem Fuß auf. Wie sollte er alles wieder in Ordnung bringen, wenn ihm Niemand etwas sagte? Er war vollkommen Ahnungslos. Wütend murrte er und ging genervt von dem Tag zurück in sein Zimmer. Auf dem Weg dorthin wurde er wieder von Kollegen gemustert. Sie tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Er betrat das Wohngebäude und war froh, dass dort Niemand war. Anstatt den Fahrstuhl zu nehmen, ging er lieber die Treppe hoch. Bei den Mönchen hatte er gelernt, dass ein wenig Bewegung gut tat, um den Kopf von Gedanken zu befreien. Zum Glück hatte sich Niemand während seiner Abwesenheit in seinem Zimmer zu schaffen gemacht und der Shinigami, der dort als Gast genächtigt hatte, hatte alles ordentlich wieder verlassen. Der Geruch des Essens in seiner Kleidung und Haaren hatte sich bereits in seiner Nase festgesetzt und so ungern Ronald es zugab, Alan hatte recht. Er brauchte dringend eine Dusche. Es war ihm unangenehm, diesen Geruch zu verbreiten. Gewürze als Parfüm zu haben war nicht so lustig, wie es klang. Es war widerlich und Ronald musste sich schütteln vor ekel. Was war nur passiert während er bei den Mönchen war? Am liebsten wäre er jetzt auf der Stelle zu Spears gegangen und hätte sich aufklären lassen, aber dieser war sicherlich bei der Anhörung. Er konnte es kaum abwarten, das Gespräch mit den Anderen zu führen, auch wenn es nicht positiv sein würde. Aber nur so, konnte er erfahren, was geschehen war. Langsam bereute Ronald seine Entscheidung. Er hatte sich doch nur für die Abreise entschieden, um sie zu schützen. Es war offensichtlich ein riesen großer Fehler gewesen. Es lief gar nichts so, wie er es gedacht hatte. Eigentlich hätte er es sich schon in der Nacht denken können bei seiner Ankunft. Ohne Begrüßung hatte William ihm seinen Zimmerschlüssel in die Hand gedrückt und als er nachgefragt hatte, ob alles in Ordnung sei, hatte sein ehemaliger Mentor nur abweisend reagiert. William hatte gesagt, er hätte keine Zeit dafür und würde in den nächsten Tagen auf ihn zukommen, wenn es um seine Anhörung ging. Auch Alan, Eric und Grelle hatten ihn nicht gerade wie einen Freund begrüßt. Es war eher als hätte er ein Schwerverbrechen begangen. Ronald kam bei seiner Zimmertür an und davor lag ein dicker Briefumschlag. Die Verwaltung des Gebäudes verteilte die Post und musste sie dort abgelegt haben. Er bückte sich und hob den Umschlag auf, der schwer in seiner Hand wog. Ronald drehte ihn in seiner Hand und erkannte das Wachssiegel der Shinigami darauf. Es war das offizielle Zeichen des Gerichtes. Das Siegel war golden und in der Mitte war ein I, das links und rechts von zwei Halbkreisen umgeben war. Darunter befand sich eine kleine Waagschale. Er schloss die Tür auf und ging in sein Zimmer hinein. Sofort schloss er die Tür und riss brach das Siegel auf. Ronald las den Brief sorgfältig durch. Er las ihn erneut und dann wieder. Mit jedem mal lesen, rutschte sein Herz tiefer in die Hose und sein Gehirn wollte nur mühsam die Worte begreifen. Ronald legte den Brief auf den Tisch. Sein Kopf fühlte sich taub an, als wäre er in Watte gepackt und Informationen sickerten nur langsam durch. Eine Tatsache hatte sich in sein Bewusstsein gebohrt, wie ein giftiger Pfeil. Wenigstens wusste er Bescheid, warum er wieder zurückkommen sollte. In dem Brief stand, dass die Untersuchung während seiner Abwesenheit gemacht worden war und dass durch die vielen Gerüchte kein eindeutiges Ergebnis erzielt wurde. Die schwere der Gerüchte und die Beschuldigung, dass er vielleicht doch etwas mit Lily gehabt hatte, ließ keinen anderen Beschluss zu als ihn von seiner Arbeit zu suspendieren und zu verweisen bis die Angelegenheit vor dem Gericht geklärt und kein Gerücht mehr in der Society sei. Seine Death Scythe war bereits bei seiner Abreise eingezogen worden. Seine Anhörung war in drei Tagen am Nachmittag angesetzt worden. Das Gericht hatte also beschlossen ihn von der Arbeit zu suspendieren. Seine Abwesenheit hatte also nicht geholfen, um genau das zu verhindern. Ronald hatte verhindern wollen, dass es so weit kam, dass das Gericht ihn suspendierte und es eine Anhörung gab. Er wollte mit seiner Abwesenheit verhindern, dass mehr Gerüchte entstanden und Lily schützen. Aber alles war eingetroffen, war er zu verhindern versucht hatte. Nichts lief so, wie er es geplant und gehofft hatte. Wenn die Anhörung auch noch schief lief, würden sie ihn als Shinigami des Dienstes verwaisen und wohlmöglich auch der Welt. Ronald setzte sie Brille ab und fuhr sich über die Augen. Duschen. Das war es, was er dringend brauchte. Nicht nur, um das Essen von sich zu spülen, sondern auch, um die negativen Gedanken, die mit dem Brief gekommen waren. Nach der Dusche würde er sich sicherlich besser fühlen. Danach sah die Welt bestimmt besser aus. Außerdem wollte er keinen unnötigen Dreck in seinem Apartment verteilen. Ronald zog seine Sachen aus und warf sie direkt in einen Müllsack. Die Flecken würden nicht mehr raus gehen. Sein Blick ging zum Fenster und er sah hinaus. Er konnte das aufragende Gebäude der Society erblicken und die vielen Shinigami, die dort ein und ausgingen, wie fleißige Ameisen. Nakatsu verließ gerade das Gebäude. Ein Mann in einer dunklen Kutte und langen grauen Haaren zog ihn hinter sich her. Er schien es eilig zu haben und Nakatsu wirkte verwirrt. Wer war das denn? Ronald hatte ihn noch nie gesehen und er sah nicht aus wie jemand aus der Society. Aber er wäre nicht in das Gebäude gekommen, würde man ihn nicht kennen. Er zog die Schultern hoch und ging ins Bad, um endlich zu duschen. Seine Haare mussten mehrfach durchgespült werden bis auch der letzte Rest Pudding und Soße draußen war und er sich nicht mehr wie ein Mittagessen fühlte. Der Geruch wollte auch nicht so wirklich aus seiner Nase weichen, weshalb er auch mehrfach zum Duschgel griff und sich damit einschäumte. Er trocknete sich ab und ging zurück in sein Wohnzimmer. Ronald hatte sich während seines Exils an die Stille gewöhnt, aber jetzt, wo er wieder zu Hause war, machte sie ihn verrückt. Vor sich auf dem Tisch lag der Brief vom Gericht. Sicher waren Alan, Eric und Grelle noch nicht zurück von der Anhörung. Er hatte also noch viel Zeit. Was sollte er tun? Er durfte nicht arbeiten und Ronald hatte absolut keine Lust zu Carrys Party zu gehen. Hatten die drei vielleicht mit ihrer Aussage genug Gewicht, damit alles wieder ins Lot kam? Gab es also eine Chance, dass er wieder arbeiten durfte? Ein kleiner Hoffnungsschimmer flammte in Ronalds Brust auf, der jedoch gleich von Panik im Keim erstickt wurde. Was wäre, wenn sie davon erfuhren, was ihm während seines Exils klar geworden war? Dann hatte er mit Schlimmeren zu rechnen als nur einer Suspendierung. Seine Gedanken rasten. Er konnte es leugnen, aber dann bestand die Gefahr, dass sie in sein Lebensbuch lesen würden. Dort würden sie die Wahrheit erfahren. Aber wenn er mit Lily aus der Society flog, war es egal. Er konnte offen zu seinen Gefühlen stehen. Er war ja dann nicht mehr ihr Mentor. Ronald wusste aber, dass Lily ihn dann hassen würde und ihm war es wichtig, dass sie glücklich war. Außerdem hatte William schon wesentlich schlimmeres in der Society wieder eingerenkt. Ronald spitzte die Ohren, um eventuell die Stimmen von Alan oder Eric zu hören. Vielleicht konnte er ja ihre Ankunft hören. Aber Ronald war kein geduldiger Mensch. Er konnte nicht einfach still dasitzen und auf die Rückkehr der Anderen warten. Ruhig gesessen hatte er in den letzten zwei Wochen genug. Seine Gedanken machten ihn wahnsinnig. Er brauchte dringend eine Ablenkung. Ein Spaziergang über das Gelände oder ein wenig Training würde ihm sicherlich gut tun. Vielleicht sollte er auch ein paar Bahnen schwimmen gehen. Ronald stand von seinem Sofa auf und schob den Brief in seine Hosentasche. Er durfte nicht vergessen ihn den Anderen zu zeigen oder mit William sogar darüber zu sprechen. Im Flur brannte Licht und er ging die Treppen schnell hinunter. Am letzten Treppenabsatz konnte er sehen, dass sich jemand dem Wohngebäude näherte. Die Schatten zeichneten sich unförmig auf dem Boden und der Wand ab. Sie wurden größer und größer bis er Stimmen hören konnte. Er ging ungestört weiter. Es waren nur zwei Kollegen, die ihre Schicht beendeten und die er nur vom Sehen kannte. Ihre Namen kannte er nicht, da er noch nie etwas mit ihnen zu tun gehabt hatte. Er glaubte sogar, sie arbeiteten in der Verwaltungsabteilung für die Todeslisten. Oder war es die Brillenabteilung? Ronald wusste es beim Besten Willen nicht. Er wusste nur, sie arbeiteten nicht in seiner Abteilung. „Ronald!“, sagte einer der Beiden in einem freundschaftlichen Ton, obwohl sie nie ein Wort gewechselt hatten. „Man, was haben wir dich vermisst!“ Der Kleinere von Beiden klopfte ihm auf die Schulter und grinste ihn an. Ronald war irritiert. Was wollten die Beiden von ihm? Er musterte beide Kollegen genauer. Der Erste von ihnen, der ihn angesprochen hatte, war etwas größer vom Körperbau und hatte braun gebrannte Haut, während seine Haare weißblond waren und einen starken Kontrast bildeten. Der Andere war fast so groß wie er selbst und hatte einige Sommersprossen im Gesicht und flammend rotes Haar. „Wo bist du gewesen, Mann?“, fragte der Rothaarige. „Ich wüsste nicht, was euch das angeht. Ich kenne euch nicht!“ Ronald wollte weiter gehen, wurde aber an der Schulter festgehalten und umgedreht, so dass er den Beiden wieder gegenüber stand. „Wo willst du hin? Wir wollen uns doch nur mit dir unterhalten.“, sagte der braungebrannte Mann. „Lasst mich in Ruhe!“, sagte er leise gepresst. Was wollten diese Typen von ihm? „Bleib doch hier. Wir haben doch nichts Böses vor.“ Der Rothaarige legte einen Arm um seine Schultern. Genervt schüttelte er den Arm von sich ab. Hinter sich hörte er weitere Schritte und die Beiden begrüßten die Neulinge. Ronald drehte sich herum. Es waren wieder Kollegen, die definitiv nicht in seiner Abteilung waren. Jetzt waren sie zu fünft. Sie hatten ihn eingekreist und er hatte keine Möglichkeit mehr zu entkommen. Die Gruppe gab sich gegenseitig ein High Five zur Begrüßung. „Sag mal, Alter, stimmt das wirklich mit dir und der süßen Schnalle aus der Ausbildungsgruppe?“ Einer der Neulinge hatte ihn angesprochen. „Ich hoffe, die Kleine sieht ohne Klamotten genauso heiß aus, wie mit!“, rief der Rothaarige dazwischen. Ronald presste seinen Kiefer aufeinander und ballte die Hand zur Faust. Was ging hier vor sich? „Sie hat ja heute ihre Anhörung, so viel man gehört hat. Vielleicht kann ich sie ja danach trösten. Was denkst du, Knox?“ Das war der braungebrannte Mann. „Dein Trösten kennt man doch. Ihre Sachen sind schneller vom Leib als man bis drei zählen kann.“ Einer der Männer seufzte sehnsüchtig auf. „Diese blonden Haare. Mich würde interessieren, ob es Naturblond ist!“ „Natürlich ist es das!“, rief Ronald erzürnt und mit rotem Gesicht. Doch schon im nächsten Moment schlug er sich die Hand auf den Mund, als hätte er ein Schimpfwort gesagt. Die Männer grinsten ihn listig an und Ronald hätte sich am liebsten für seine Aussage selbst geohrfeigt. „Du hast es also gesehen? Du hast diese Stelle gesehen? Ronald schüttelte den Kopf. Was war er nur für ein Idiot? Er hatte ihnen direkt zugespielt und es war egal, was er jetzt sagen würde. So schnell kam er da nicht mehr heraus. Natürlich hatte Lilys Intimstelle nicht gesehen. Aber er war sich sicher, dass sie nicht gefärbt waren. „Ich würde sie ja am liebsten mal durchkneten.“, seufzte ein anderer. „Am liebsten ihre Titten, Alter!“ Der Weißblonde lachte und gab seinem Gegenüber ein High Five. Er wurde aber schnell wieder ernst und beugte sich zu Ronald herunter, der versuchte die Sprüche auszublenden. So musste sich also seine Schülerin in den letzten zwei Wochen gefühlt haben. Nur das ihr die Angebote direkt gemacht wurden und sie sogar angefasst worden war. Er schluckte hart und sah zu Boden, während sich sein Gesicht Rot färbte. „Mal im Vertrauen, Knox. Wie ist die kleine Schnalle so? Ist sie gut im Bett?“ „Woher soll ich das wissen?“, fragte er bemüht ruhig. „Ach komm. Uns kannst du es erzählen“, sagte der Weißblonde. „Wie ist ihre Haut denn so? Samtig weich oder schon ganz rau und kratzig wie eine alte Matratze? Nach was riecht sie denn so? Frisch und jung oder wie alter Backfisch?“ Ronald ballte die Hand fester zu Faust. Er wollte nichts sagen. Er wollte diesen Kerlen nichts von Lily preisgeben. Weder ihren Geruch noch wie sich ihre Haut anfühlte. Es war ja schon schlimm genug, dass er es überhaupt wusste. Sein Herz schlug schnell, wenn er an diese Dinge dachte. Solche Kerle waren es nicht wert, dass sie etwas über sie wussten. Er würde ihnen nichts verraten! „Denkst du oft an sie? Denkst du an sie, wenn du es selbst machst? Also ich tu es!“, sagte der Shinigami. „Ich würde ja so gerne mit dir tauschen und jeden Tag unanständige Dinge mit ihr tun. Ich würde sie vor mich knien lassen und dann…“ Der Rest des Satzes konnte der Shinigami nicht mehr aussprechen. Ronalds Faust hatte ihn genau ins Gesicht getroffen. Der Shinigami hielt sich schmerzhaft die Wange. „Lasst eure Finger von meiner Schülerin! Wenn ich erfahren, dass ihr sie angefasst habt, könnt ihr euch auf was gefasst machen! Ihr werdet sie in Ruhe lassen!“, schrie er und sah jeden in der Runde wütend an. Er verkniff es sich seine anderen Gedanken laut auszusprechen. Es viel ihm verdammt schwer sich zurück zu halten, dass niemand seine Lily anfassen sollte. Seine Atmung ging schwer und kräftig. „Das gilt für euch alle!“ „Ronald, was ist hier los?“, fragte plötzlich jemand und Ronald erkannte erleichtert, dass es sich um Eric handelte. „Nichts“, presste er hervor und sah die kleine Gruppe wütend an. Eric hob eine Augenbraue und musterte die Anderen, die zustimmend nickten und die Treppe nach oben gingen. „Wie war die Anhörung?“, fragte Ronald als er sich sicher war, dass die Shinigami fort waren. „Ganz gut“, antwortete Alan, der neben Eric stand. „Ein Ergebnis steht aber noch nicht fest. Erst nach deiner Anhörung.“ Grelle trat neben den Beiden. „Ich weiß nicht, wie ihr zwei Schnuckelchen das seht, aber ich bin dafür, wir reden mal mit unserem Ronald.“ „Wo ist Lily?“, fragte Ronald. „Bei Nakatsu. Sie kommt später, aber erstmal reden wir untereinander.“ Er nickte und folgte seinen Freunden in den Fahrstuhl. Schweigend fuhren sie nach oben. Ronald behagte die Stille ganz und gar nicht. Er hatte das Gefühl, eine Katastrophe steuerte auf ihn zu. Alle waren angespannt und ernst. Viel zu ernst. So hatte Ronald seine Freunde noch nie gesehen. Es hatte sich so viel in den letzten zwei Wochen verändert. Der Fahrstuhl hielt an und alle stiegen aus. Sie gingen direkt auf Alans Zimmer zu, der die Tür aufschloss. Eric setzte sich sofort auf einen Sessel, während sich Grelle auf das Sofa setzte und die Beine überschlug. Ronald wusste nicht genau, ob er sich setzen oder lieber stehen sollte. Er entschied sich fürs sitzen und nahm den zweiten Sessel ein. Alan ließ sich neben Grelle nieder. Ronald atmete tief ein. Die Stille war beängstigend. „Könntet ihr mir nun endlich erklären, was hier genau los ist? Ich habe einen Brief vom Gericht erhalten und die Typen eben haben ganz komisches Zeug über Li…ich meine Miss McNeil geredet.“ Ronald sah jeden einzelnen an. Keiner schien seinen beinahe Versprecher mitbekommen zu haben oder sie überhörtes und es interessierte sie einfach nicht. Alan seufzte laut auf und sah zu Eric und Grelle. „Du bist vor zwei Wochen einfach so abgehauen, Ronald“, begann er. „Die Gerüchte hatten schon sehr weit die Runde gemacht. Direkt am ersten Tag. Du und Miss McNeil habt es nicht mitbekommen. Deine Schülerin sagte uns, ihr seid in der Bibliothek und danach im Schwimmbad gewesen. Du bist gegangen ohne etwas zu wiederlegen. Es war wie ein Schuldeingeständnis, dass da was Wahres dran wäre. Die Gerüchteküche war am Brodel wie noch nie! Bei mir im Büro sind sogar schon Leute reingekommen und haben gefragt, ob das mit euch beiden stimmt. Selbst bei Eric haben sie nicht halt gemacht!“ „Was genau sind das für Gerüchte?“, fragte Ronald. Er hatte durch die Männer von eben einen kleinen Einblick bekommen, wollte es aber auch von seinen Freunden bestätigt wissen. „Ihr hättet miteinander geschlafen“, antwortete Eric. „Nicht nur einmal. Die Gerüchte sagen auch, sie täte das nur, um eine bessere Note zu bekommen.“ „Das ist doch völliger Unsinn! Das stimmt nicht!“, platzte Ronald heraus. „Ich hatte sie nur einmal im Arm. Sie hatte schlecht geträumt und da hab ich sie getröstet. Mehr war da nicht! Ich würde doch nicht mit meiner Schülerin…und dann erst recht nicht, wegen besserer Noten!“ „Das wissen wir doch alles“, sagte Grelle und winkte ab. „Wir wissen, was du getan hast. In den letzten zwei Wochen haben wir so viel Zeit mit deiner Schülerin verbracht, dass wir wissen, dass du alles nur gut mit ihr meintest und nie was getan hast, was über das Schüler-Mentor-Verhältnis geht.“ „Aber die anderen Shinigami und die anderen Lehrlinge sehen das anders“, fügte Eric an. „Wie Alan bereits sagte, dein Weggang, war wie ein Geständnis. Mr. Shinamoto wird aus der Klasse ausgeschlossen, weil er zu deiner Schülerin steht. Aber der Junge kann sie nicht immer auf Schritt und Tritt begleiten und wir können es auch nicht immer.“ „Die Kleine ist fertig mit der Welt und mit sich auch. Es ist ein Wunder, dass sie noch hier ist. Dabei war sie schon fast soweit die Society zu verlassen.“ Grelle sprach kühl und vermied es Ronald anzusehen. „Wieso das?“, fragte er. Sein Herz klopfte und seine Hände waren feucht. Es war also alles schlimmer als erwartet. „Das wissen wir nicht genau“, antwortete Alan und sah auf den Tisch, als würde es ihn schmerzen Ronald anzusehen. „Ich hatte sie in mein Zimmer genommen. Die Frauen hatten sie aus dem Gemeinschaftsbad geschlossen und sie hatte nur ein Handtuch um. Eric besorgte ihr ihre Kleidung wieder und nachdem sie sich beruhigt hatte, ging sie auch. Mr. Shinamoto erzählte, dass sie einen Termin bei William hatte und danach nur aufgelöst ins Zimmer gekommen war. Miss McNeil nahm nur ihre Jacke mit und lief aus der Society. Wir haben sie alle in gesucht. Sie war bei einem Freund und blieb dort die ganze Nacht.“ „Was ist bei William passiert?“ Ronald wollte wissen, was geschehen war, dass seine Schülerin sogar die Society verlassen wollte. „Als ich in das Zimmer von meinem William kam, lag sie in seinem Bett und er saß daneben. Sie schien den Tränen nahe zu sein und um Fassung zu ringen. Lily sagte zwar, dass ihr nur schwindlig gewesen sei, aber…“ „Aber wirklich glauben, tut ihr das nicht“, beende Ronald den Satz. Alle drei nickten. „Verstehe. Unternimmt William denn nichts?“ „Spears hat schon Vorträge in der Klasse gehalten, dass dein Weggehen, eine interne Sache sei und nichts mit den Gerüchten zu tun hätte. Er hat sogar mehrere Stunden damit zugebracht Vorträge über Mobbing zu halten und alle ermahnt, damit aufzuhören. Aber es bringt nichts. Selbst das Untersuchungskomitee konnte durch die vielen Gerüchte nichts daran ändern. Sie haben die ganze Klasse befragt und auch das nähere Umfeld von euch beiden, also uns. Wir haben heute vor dem Gericht unsere Aussage gemacht, dass zwischen euch nichts ist. Was denkst du, wie viele Gespräche ich schon mit Kayden hatte? Ich habe mir schon den Mund fusselig geredet und so langsam gehen mir die Ideen für Strafarbeiten aus.“ Eric änderte seine Position im Sessel und machte es sich ein wenig bequemer. „Wie konntest du einfach gehen ohne etwas richtig zu stellen?“, fragte nun Grelle wütend und sprach die Frage aus, die alle auf der Zunge brannte. „Ich hatte meine Anweisung von Spears.“ „Anweisungen!“, schnaubte Grelle verächtlich und warf seine langen roten Haare zurück. „Du weißt gar nicht, was du dem armen Mädchen damit angetan hast!“ „Ja, Anweisungen!“, gab Ronald wütend zurück. Wieso war er der Buhmann? Er hatte doch nichts Schlimmes tun wollen. Interessierte es Niemanden, was seine Absicht war? „Ich hätte gerne die Gerüchte aus der Welt geräumt! Ich hätte alles dafür getan, aber Spears rief mich am selben Nachmittag, wo sie entstanden sind in sein Büro und sagte, es ist so schlimm, dass er mich von meiner Arbeit abziehen muss. Er stellte mich vor die Wahl. Entweder ich unterschreibe meine Kündigung und werde damit aus der Society geworfen, genauso wie Miss McNeil oder ich gehe solange in die Menschenwelt bis der Antrag auf eine Untersuchung und das Untersuchungskomitee ein Ergebnis vorliegen hat. Hätte ich die Kündigung unterschrieben, wäre es, als würde ich für etwas Büßen, was nicht stimmt. So konnte Miss McNeil wenigstens die Ausbildung weiter machen und die Untersuchung würde herausfinden, dass alles nur eine große Lüge ist! Ich konnte doch nicht wissen, dass es so schlimm wird! Ich dachte, ich tu was Gutes! Was hättet ihr getan?“ Alan, Eric und Grelle sahen sich an. Sie schienen zu begreifen und zu verstehen, wieso er so gehandelt hatte. „Wir hätten nicht anders gehandelt“, sagte Alan leise. „Wieso hast du ihr dann nicht bei deinem Weggang erklärt, was los ist?“, fragte Grelle. Seine Stimme war noch immer kalt und abfällig. „Spears hatte mich angewiesen zu Niemandem etwas zu sagen und jeglichen Kontakt zu ihr zu meiden. Ich sollte ihr lediglich mitteilen, dass ich nicht mehr ihr Mentor sei und wer ihr Neuer wäre. Die Anweisung gilt immer noch. Deshalb hab ich auch nichts zu ihr beim Mittagessen gesagt. Glaubt mir, ich würde es gerne tun, aber Spears…Ihr kennt ihn doch! Was denkt ihr, wie es mir dabei erging. Ich hätte es gerne anders geregelt, aber es ging nicht! Liebend gerne hätte ich ihr all das erspart. An dem Abend wäre ich gerne zurückgegangen und hätte sie getröstet. Natürlich ist mir klar, wie schlecht sie sich deswegen fühlt und was es für einen Eindruck macht.“ „Du wurdest wenigstens nicht schikaniert. Lily hat mehr blaue Flecken am Körper als Haut. Sie ist so oft belästigt worden und vor zwei Tagen hatte Mr. Shinamoto sie aus dem Schwimmbecken holen müssen, weil sie fast ertrunken wäre.“ „Hast du mit ihr den Schwimmunterricht nicht weiter geführt?“, fragte er erschrocken. „Wir wussten nicht einmal, dass sie Angst vor Wasser hat“, sagte Eric. Ronald ballte die Hand zur Faust. Er hatte als Mentor komplett versagt. Selbst wenn die Verhandlung positiv ausging, würde er seine Stelle als Mentor verlieren. Es war beängstigend ruhig und Ronald schluckte schwer. „Was soll ich tun? In drei Tagen ist meine Anhörung…“ „Wissen wir. Wir sind wieder als Zeugen geladen worden“, sagte Grelle abschätzig. „Aber wir können dir nicht helfen, Ronald. Du musst für dich selbst entscheiden, was richtig ist“, sagte Eric. „Ich rate dir mit Miss McNeil zu reden. Stell die Sache richtig bevor du deine Anhörung hast. Es wäre ziemlich wichtig für euch beide.“ „Aber, Alan, William hat klar und deutlich gesagt…“ „Ist es dir so wichtig, was William verlangt? Was ist dir wichtig? Ist dir deine Schülerin wichtiger als Williams Anweisung oder willst du lieber den braven Wauwau spielen?“, unterbrach Alan ihn. Ronald nickte und seufzte gequält auf. Langsam erhob er sich und ging zum Fenster und sah hinaus. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und versuchte das Gespräch mit der Anweisung und seinen Gedanken und Gefühlen überein zu führen. Eric und Grelle verabschiedeten sich und legten ihm beide vorher noch aufmunternd die Hand auf die Schulter. Es tat gut zu wissen, dass sie ihn noch nicht ganz aufgegeben hatten. Nachdem die Beiden gegangen waren, war er mit Alan alleine. „Ronald“, begann er und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, dass alles ist nicht leicht. Aber wenn du wieder ihr Mentor werden willst, dann musst du dir ihr vertrauen wieder verdienen.“ Er nickte geistesabwesend. „Ja, ich weiß. Vertrauen muss man sich verdienen.“ „Oder willst du nicht mehr ihr Mentor sein?“ Ronald schwieg und ließ sich mit der Antwort Zeit. Es war alles so kompliziert. Auf der einen Seite wollte er ihr Mentor sein, aber auf der anderen Seite, wäre es einfacher für seine Gefühle, wenn er es nicht wäre. „Ich weiß es nicht…“, sagte er leise nach einigen Momenten der Stille. „Warum nicht?“, fragte Alan und sah ihn besorgt an. „Weil…“ Er zögerte. Er konnte Alan nicht die Wahrheit sagen. „…Ich habe in der Arbeit versagt. Ich bin dem nicht gewachsen. Es ist besser, wenn die Arbeit jemand anderes macht.“ Alan verzog das Gesicht. „Ist das alles? Bisher hast du deine Arbeit gut gemacht und nur weil Carry ein paar Gerüchte streut gibst du auf? Ronald, es ist doch nicht so, dass du wirklich was für Miss McNeil fühlst, oder?“ Ronald sah seinen Freund an und hob eine Augenbraue. Er seufzte tief. „Oh. Mein. Gott“, stieß Alan leise hervor. „Ronald, das ist nicht wahr, oder?“ „Alan, bitte…“, begann er und machte eine Geste mit den Händen, dass er sich beruhigen sollte. „Das glaubst du doch nicht selbst, oder? Warum sollte ich was für sie empfinden?“ „Ach du liebes bisschen“, stieß er hervor und sein Kiefer klappte nach unten. Alan ignorierte seine Worte und sah ihn geschockt an. „Weißt du, was das bedeutet? Du kannst nicht ihr Mentor sein!“ „Alan…“, setzte Ronald an, wurde aber wieder unterbrochen. „Es steht in deinem Lebensbuch!“ „Alan…“ „Wenn William davon erfährt…Oh mein Gott…“ „Alan, denkst du etwa, ich habe mir nicht den Kopf darüber zerbrochen?“ „Wenn das Gericht das rauskriegt bist du geliefert!“ „Ich weiß.“ „Aber du willst ihr Mentor sein? Trotz dessen, was…“ Alan machte eine Bewegung mit der Hand und ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. Er nickte. „Miss McNeil möchte dich auch als Mentor zurück. Aber es könnte ein Problem werden.“ „Ich weiß und ich wäre sehr froh, wenn du darüber kein Aufsehen machst und es für dich behältst. Also, beruhige dich, Alan! Lass das alles mein Problem sein. Bei den Mönchen habe ich eine gute Beruhigungstechnik gelernt und wenn ich die anwende, kann ich mich sicherlich ganz normal ihr gegenüber verhalten. Vielleicht ist das auch nur eine geistige Umnachtung und hat keinerlei Bedeutung. Vielleicht legt sich das auch von selbst. Also behalte es für dich! Ich kann nicht gebrauchen, dass darüber auch noch Gerüchte in Umlauf gelangen.“ „Du meinst so normal, wie heute in der Mensa?“ Skeptisch zog der kleinere Shinigami eine Augenbraue hoch. „Das war nur wegen Williams Anweisung. Kann ich also auf dein Schweigen zählen? Es darf niemand erfahren!“ Alan nickte und atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. „Natürlich.“ Ronald nickte zustimmend. „Danke. Dann werde ich mal gehen und mir das Vertrauen wieder verdienen.“ „Viel Erfolg“, war Alans leise Antwort. Mit schnellen Schritten verließ Ronald das Apartment und lehnte sich draußen gegen die Tür. Er sah zu Boden und betrachtete seine weißen Schuhe, die in dem Licht ein wenig glänzten. Alans Frage schwirrte ihm im Kopf herum. Konnte er sich wirklich sicher sein, dass er etwas für sie fühlte? War das, was er in seinem Exil gedacht hatte, vielleicht nur Sehnsucht nach zu Hause gewesen und es stimmte gar nicht? Hatte er sich vielleicht geirrt? Was genau fühlte er eigentlich und wie konnte er sich sicher werden? Bei den Mönchen schien ihm alles ganz klar gewesen, doch jetzt, wo er wieder zu Hause war, war er sich nicht mehr sicher. Ronald fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Laute Stimmen rissen ihn aus seinen Gedanken und Ronald lehnte sich von der Tür ab. Am Ende des Flures, direkt vor seiner Zimmertür, standen Lily und Kayden. Kapitel 20: Irrungen und Wirrungen ---------------------------------- Kayden hielt Lilys Handgelenke fest und drückte sie gegen die Wand, während sie versucht sich frei zu kämpfen. „Lass mich los!“, rief sie verzweifelt und ihre Nägel gruben sich in Kaydens Handgelenke. Der junge Shinigami drückte ihre Arme nach unten und trat näher an sie heran. „Machst du dich jetzt noch an meinen Mentor ran, du kleine Schlampe?!“, fuhr er sie wütend an. „Denkst du, nur weil du ihn rumkriegst, wird seine Aussage dir helfen hier zu bleiben? Ich wäre froh, wenn sie dich zum Tode verurteilen! Merkst du es nicht? Du bist hier unerwünscht! Niemand sieht mehr in dir als bloßes Spielzeug! Selbst dein ach so hoch geschätzter Mentor Knox. Er kann doch gar nichts anderes in dir sehen, denn du bist Nichts. Du bist weder ein guter Shinigami noch eine gute Frau!“ Lily knurrte und befreite ihre Hand. Sie holte aus und schlug Kayden hart ins Gesicht. Ronald verzog bei dem Geräusch das Gesicht. Kayden sah auf und hatte Lilys Handabdruck im Gesicht. Ein feiner Kratzer zog sich mit über seine Wange. Er sah wütend aus. Er näherte sich den Beiden. Sie hatten ihn nicht bemerkt und waren ganz in ihrem Streit vertieft. Kayden hielt Lily an der Schulter fest und baute sich vor ihr auf. Seine Faust ballte sich, während Lily zusammen zuckte als sich seine Hand hob und ausholte. Ronald packte den Lehrling am Handgelenk und hielt ihn fest. Es war gegen die Anweisung von William. Er nahm Kontakt zu ihr auf und näherte sich ihr wieder. Aber es war ihm egal, was William dachte. Es ging hier um seine Schülerin, die ihm wichtig war und er konnte nicht einfach so tatenlos zusehen, wie sie geschlagen und beleidigt wurde. Wenn niemand etwas dagegen tat, würde er es eben selbst tun! Kayden versuchte seinen Arm aus Ronalds eisernen Griff zu befreien. „Lass mich los, du Penner!“, rief er und sah ihm dabei ins Gesicht. Sein Griff festigte sich. Mit kalten Augen sah er zu Kayden herunter und schob seine Brille zu Recht, wie es William oft genug tat. „Spricht man so mit seinem Vorgesetzten?“, fragte er kalt. „Sei froh, dass ich nicht dein Mentor bin, Junge, sonst würdest du jetzt solange auf dem Trainingsplatz Runden laufen bis du auf dem Zahnfleisch daher kommst! Wir erheben niemals, ich wiederhole NIEMALS, die Hand gegen einen Kollegen und sei er uns noch so wider! Habe ich mich da klar ausgedrückt?!“ Kayden nickte ärgerlich. „Wenn ich dich noch mal dabei erwische, wie du Hand an meine Schülerin legst, wirst du dein blaues Wunder erleben. Also mach, dass du hier weg kommst. Verschwinde aus meinem Blickfeld!“, zischte er wütend. Er sprach leise, aber deutlich genug, so dass Kayden und Lily ihn hören konnte. Ronald nickte mit dem Kinn den Flur entlang und zog ihn am Handgelenk von Lily fort. Wütend sah der Lehrling zu Lily und richtete sein Jackett ehe er in sein Zimmer am anderen Ende des Flures verschwand. Zufrieden mit sich nickte Ronald und sah dem Jungen nach, um sicher zu gehen, dass er wirklich verschwunden war. Seine Wut legte sich und sein Herz begann zu klopfen. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, was er getan hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er irgendetwas zu Lily sagen sollte immerhin hatte er durch die Aktion Kontakt zu ihr aufgenommen. Was sollte er sagen? Er hatte keine Ahnung. Sein Kopf war mit einem Mal wie leer. Langsam drehte er sich zu Lily herum. Sie stand an die Wand gepresst da und zitterte. Ängstlich sah sie zu Ronald auf. „Ist…ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er vorsichtig und machte einen kleinen Schritt auf sie zu. Zaghaft nickte Lily und wich dabei seinem Blick aus. Ronald erwiderte ihr nicken und schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Williams Anweisung hing in seinem Kopf fest und erinnerte ihn daran, in was für Schwierigkeiten sie beide steckten. Lily schien es ähnlich zu gehen. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe und faltete die Hände immer wieder. Leise knackten ihre Fingerknöchel. Sollte er vielleicht einfach so wieder seinen Weg gehen? Aber er hatte sie vor Kayden als seine Schülerin bezeichnet. Sie mussten miteinander reden. Doch wie fing man so etwas am besten an? „Mr. Knox…“, fing Lily leise an und holte ihn damit aus seinen Gedanken. „Wegen heute Mittag…also, das in der Mensa…es…es tut mir Leid…“ Überrascht weiteten sich seine Pupillen. „Wie bitte?“, fragte er verblüffte. Hatte er tatsächlich richtig gehört? „Es tut mir Leid wegen heute Mittag.“ Ihre Stimme klang diesmal fester und sicherer. „Ich habe überreagiert. Aber das heißt nicht, dass ich Ihnen vergebe!“ „Haben Alan, Eric und Grelle mit Ihnen gesprochen?“ Sie nickte. Ein leises Lachen entfuhr ihm. Die anderen hatten also auch mit ihr gesprochen, damit sie sich wieder vertragen konnten. „Was ist daran so witzig?“, fuhr sie ihn an. „Nichts. Schon in Ordnung“, antwortete Ronald und ignorierte dabei ihren wütenden Blick. „Miss McNeil, können wir vielleicht miteinander reden? Wie wäre es bei einem Spaziergang in der Gartenanlage?“ „Ich wüsste nicht vorüber“, gab sie zurück. „Ich dagegen schon. Bitte, lassen Sie mich erklären, warum ich gehen musste. Danach können Sie immer noch sauer auf mich sein. Miss McNeil, ich bin es nicht gewohnt zu betteln und erst recht nicht bei einem Schüler oder einer Frau. In diesem Fall verkörpern Sie sogar beides. Also, was ist? Hören Sie mir zu oder wollen Sie lieber weiter sauer auf mich sein?“ Lily zögerte und musterte ihn vom Kopf bis zum Fuß. „Nachdem ich Sie gerade gerettet habe, glaube ich, eine Chance verdient zu haben“, versuchte er zu scherzen und grinste sie neckisch an. „Na gut“, seufzte sie. „Ich werde Ihnen zuhören und wenn es meine Meinung nicht ändert, lassen Sie mich in Ruhe!“ „Einverstanden.“ Ronald war stolz auf sich. Der erste Schritt war getan. Sie würde ihm wenigstens zuhören. Es war ein kleiner Anfang für einen Neustart zwischen ihnen. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter und hinaus in die Anlage, die an das Wohngebäude grenzte. Es war ein bewölkter Nachmittag und die Luft hing schwer über ihnen. Es war warm und feucht. Vielleicht würde es noch gewittern und regnen. Seite an Seite liefen sie durch den gekiesten Weg durch den Garten. Lily hob ab und zu den Kopf, um Ronald anzusehen, doch er zeigte keine Regung. Dabei arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren und es war ein Wunder, dass Lily nicht die Zahnräder rattern hörte. Fieberhaft überlegte er, wie er das kommende Gespräch am besten anfangen sollte. „Kommt da heute noch was?“, fragte Lily, als sie die Rosenbuschecke hinter sich gelassen hatten und nun zur Baumallee kamen. Ronald zuckte zusammen. Er hatte sich so sehr an die Stille gewöhnt, dass er damit nicht gerechnet hätte. Vorsichtig nickte er und betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie sollte nicht glauben, er würde sie anstarren. Er musste sich wie ein Mentor verhalten. Sachlich und nüchtern. Vor ihm stand seine Schülerin und nicht das Mädchen, dass er möglicherweise mochte. Langsam atmete er aus. „Wo waren Sie?“, fragte Lily und half ihm damit das Gespräch anzufangen. „Ich war in Tibet in der Menschenwelt. In einem Kloster der Shaolin Mönche“, antwortete und vergrub seine Hände in die Hosentasche. Lily nickte bloß zu seiner Antwort. Ronald wies auf eine Bank unter einer Eiche. „Setzen wir uns.“ Lily folgte der Aufforderung und ließ sich auf der Sitzgelegenheit nieder. Ronald setzte sich daneben, ließ jedoch genügend Abstand zwischen ihnen. Sie schwiegen wieder. Innerlich fluchte Ronald. Dabei hatte er gerade einen sehr guten Einstieg für das Gespräch gehabt. Leise räusperte er sich. „Es tut mir leid, was alles passiert ist. Ich bin morgens wirklich sehr verpeilt.“ Mit einem Seitenblick auf Lily konnte Ronald erkennen, dass sie verwirrt war und darüber nachdachte, wovon er sprach. Ihre Stirn hatte sich in Falten gelegt und angeregt dachte sie nach. Dann weiteten sich ihre Augen als es ihr wieder einfiel. „Das hatten wir schon geklärt“, sagte sie nüchtern. „Ich wollte es nur noch mal erwähnen.“ Sie grinste, doch es war ein merkwürdiges und gezwungenes Grinsen. Ronald wusste, sie war noch immer sauer auf ihn und hatte sich nur entschuldigt, weil Alan, Eric und Grelle auf sie eingeredet hatten. Wahrscheinlich war sie auch nur deshalb mit ihm mitgegangen, weil die anderen ihr geraten hatten, sich mit ihm auszusprechen. „Na denn“, sagte sie und lehnte sich nach vorne. Ihre Hände faltete sie ineinander während sich ihre Fingerkuppen in einem gleichmäßigen Takt immer wieder berührten. Ein sicheres Zeichen für ihre Ungeduld und innere Wut. Wenn er genauer hinsah, war ihr Lächeln eher eine Grimasse. „Ihr Mentor, Alan und Eric haben mir erzählt, was Sie in den letzten beiden Wochen durchgemacht haben.“ „So? Haben Sie das?“ Lily klang abweisend. Ihm war dennoch nicht entgangen, dass sie dabei zusammen gezuckt war wie ein geschlagener Hund. „Ja, haben sie und ich hatte auch schon eine kleine Kostprobe davon.“ „Okay.“ „Hören Sie“, sagte Ronald. „Ich wollte nicht, dass es so endet. Ich wollte überhaupt nicht, dass Sie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten!“ „Schwierigkeiten?“, schnaubte Lily und ihre Stimme klang bedächtig ruhig. „Sie wissen gar nichts!“ Ronald konnte etwas Kaltes auf seinem Gesicht spüren, doch er ignorierte es. Sollte es doch ruhig regnen. Die Bäume würden einen sicheren Schutz bieten. Lily klang ungläubig, genauso wie die Andere vorhin. „Ja, das stimmt. Ich weiß wirklich nicht, wie es für Sie war und ich hätte es Ihnen gerne erspart!“, gab er wütend zurück. Langsam war er genervt davon für alle der Buhmann zu sein. Zwar hatte er seine Freunde davon überzeugen könne, aber viel wichtiger war es doch Lily davon zu überzeugen, dass er ihr nie hatte schaden wollte. Immerhin betraf es sie doch am meisten. „Was soll diese freundliche Art auf einmal?“, fuhr sie ihn an und sprang von der Bank auf, während sich über ihren Köpfen ein Regenschauer bereit machte nieder zu prasseln. In den Blättern der Bäume raschelte es, als die Tropfen darauf fielen und sich immer mehr ausbreiteten, so dass auch der Baum kein Schutz mehr für sie beide bot. Innerhalb weniger Sekunden, waren sie beide durchnässt. „Sie haben vollkommen Recht! Sie wissen gar nichts!“, schrie sie ihn weiter durch den Lärm des Regens an. Ronald sprang nun ebenfalls auf. Seine Kleidung klebte ihm am Körper und seine Haare hingen ihm im Gesicht, während der Regen unaufhörlich über sein Gesicht lief. Er hatte Mühe überhaupt etwas zu erkennen, weil er so oft durch das Wasser blinzeln musste, was ihm in die Augen lief. „Lassen Sie mich bitte ausreden!“, rief er verzweifelt. „Nein!“, schrie sie mit erstickter Stimme und gequältem Gesicht. „Ihre freundliche Art können Sie sich dahin stecken, wo die Sonne nicht scheint! Ich falle darauf nicht mehr rein! Ich brauche Ihr Mitleid nicht! Sie wollen mich doch nur genauso fertig machen, wie alle anderen! Nicht mit mir!“ Mit geballten Fäusten und wütendem Gesicht lief sie an ihm vorbei und direkt auf das Wohngebäude zu. Ronald grummelte leise und folgte ihr mit schnellen Schritten. „Warten Sie!“, rief er ihr nach und hinterließ kleine Pfützen und nasse Fußspuren im Flur des Wohngebäudes. Lily ignorierte ihn und wütend folgte er ihr. Ronald rief ihr immer wieder nach, doch es war, als würde er mit einer Wand reden. Doch er musste mit ihr reden. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger würde er noch einmal an sie heran kommen, um alles aufzuklären. Lily rannte bereits die Treppen in den neunten Stock hoch und Ronald folgte ihr auf Schritt und Tritt. So schnell würde er sich nicht abschütteln lassen. Diese paar Treppen waren eine Kleinigkeit im Gegensatz zu dem Training der Mönche. „Miss McNeil, warten Sie doch! Bitte!“, rief er ihr nach und nahm zwei Stufen auf einmal nach oben. Ronald hörte ihren Schlüsselbund klappern und beeilte sich die letzten Treppen zu nehmen. Seine Schülerin stand schon an der Tür und schloss sie auf. Sie schaute kurz über die Schulter. Als sie ihn erblickte, öffnete sie schnell die Tür und gab ihr einen kräftigen Stoß, damit sie ins Schloss fiel. Ronald sprang nach vorne und drückte sie mit seiner Hand wieder auf. Sein Herz raste und er keuchte. „Sie sind verdammt schnell“, schnaufte er und schloss die Tür hinter sich. Lily hatte sich ans andere Ende vom Zimmer gestellt und versuchte ruhig zu atmen. „Sie aber auch“, gab sie ruhig zurück. „Jetzt verlassen Sie sofort mein Apartment! Ich will Sie nicht sehen!“ „Nein“, sagte er bestimmt. Wenn sie ihn jetzt aus der Wohnung warf, würde die Gerüchteküche nur noch mehr am Brodeln. „Ich sagte, ich will mit Ihnen reden und das werde ich auch!“ Lily zuckte unter seiner lauten Stimme zusammen, nickte aber. Sie sah nach draußen in den Regen. „Dann legen Sie mal los“, sagte sie kühl. Ronald wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und seine Brille ab, um sie wie gewohnt mit seinem Hemd zu putzen, doch es war klitschnass. Er setzte die Brille wieder auf und zum ersten Mal hatte er wirklich Zeit seine Schülerin nach all der Zeit ordentlich zu mustern. Erst jetzt fielen ihm die vielen kleinen Veränderungen auf. Vieles lag auch an den nassen Sachen, dass einiges sichtbar wurde. Wieso war ihm das nicht schon vorher aufgefallen? Einiges war so offensichtlich, aber offenbar war er so in seiner Welt und Gedanken gewesen, dass er es vollkommen übersehen hatte. Anstatt des Rockes, trug sie eine lange Hose. Etwas, was ihm sofort hätte auffallen sollen. Auch das Hemd hing an ihr, als wäre es um ein paar Nummern zu groß, genauso wie die Hose. Der Gürtel war eng geschnürt. Jetzt wo sie so da stand und natürliches Licht herein fiel, fielen ihm auch die dunklen Augenringe auf und das sehr blasse Gesicht. Vorsichtig ging Ronald auf sie zu, blieb aber sofort stehen, als sie ihn mit kalten Augen ansah. Er verharrte mitten im Raum und musterte sie weiterhin, was sie gar nicht zu mögen schien. Lily fixierte ihn immer noch mit einem kalten Blick. „Warum sind Sie einfach gegangen? Warum haben Sie mich mit all dem Mist hier alleine gelassen?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens mit halbwegs ruhiger Stimme. Ihr Blick war noch immer kühl und abweisend. „William hatte mich vor die Wahl gestellt. Entweder ich unterschreibe die Kündigung und wir fliegen beide aus der Society oder…“ Er ließ kurz die Worte kurz wirken und unterbrach sie, ehe sie in einen lauten Protestschrei beginnen konnte. „Oder ich verschwinde solange in die Menschenwelt bis die Untersuchung zu einem Ergebnis gekommen ist.“ „Sie haben sich also für Letzteres entschieden, nur damit wir beide nicht gekündigt werden?“ Das schien sie aus der Fassung zu bringen. Ronald nickte. „Spears war der Meinung, dass es eine gute Idee sei, wenn ich verschwinde, damit ein wenig Abstand zwischen uns geschaffen wird und vielleicht auch die Gerüchte von selbst verschwinden. Ich wollte Ihnen also nicht wehtun, sondern ganz im Gegenteil. Als meine Schülerin wollte ich Sie davor schützen. Na ja und mich auch irgendwie.“ Er zog die Schultern verlegen hoch. „William meinte, dass er uns nicht das Gegenteil nachweisen könnte im Moment und selbst wenn die Untersuchung das Gegenteil herausfindet, würden wir beide einen Eintrag in die Dienstakte bekommen. Ich habe ihm mehrmals versucht zu erklären, dass da nichts ist, aber er blieb stur und behaarte auf diese Optionen. Er sagte, er hätte gesehen, wie ich Sie über den Flur in Ihr Zimmer getragen hätte und das es doch sehr eindeutig gewesen sei.“ Ronald verzog dabei ein wenig das Gesicht. Wenn er daran zurück dachte, konnte er nicht erkennen, wo dort etwas eindeutig gewesen sei. Er hatte Lily ja nicht an den Hintern gepackt oder sonst wo berührt, sondern nur über seine Schulter getragen. „Nachdem ich mich dann für den Weggang entschied, hatte er mir verboten mit Ihnen zu sprechen. Ich durfte Ihnen höchstens sagen, wer Ihr neuer Mentor wäre. Mehr nicht. Es tut mir leid, wie sich alles entwickelt hat. Ich dachte, ich täte was Gutes.“ „Wie kommen Sie auf die Idee das ohne mich zu entscheiden?“, fuhr sie ihn wütend an. „Sie hätten mich ja wenigstens fragen können! Oder mich dazu holen können!“ „Das habe ich ja zu William gesagt, aber er hat es nicht erlaubt! Sonst hätte ich es sofort getan!“ Lily sah ihn wütend an. Es war nur für einen kurzen Moment, dann sah sie wieder aus dem Fenster. „Ich sehe, es wäre egal, wie ich mich entschieden hätte, es wäre falsch gewesen.“ Nun wurde er langsam sauer. Er redete sich um Kopf und Kragen und versuchte ihr alles zu erklären. Sie äußerte sich nicht einmal dazu und sah ihn nur mit feindlichem Blick an. Langsam wusste Ronald auch nicht mehr weiter, was er noch sagen sollte. „Eigentlich dürfte ich immer noch kein Wort mit Ihnen reden.“ „Warum tun Sie es dann?“ „Weil ich wieder Ihr Mentor werden will.“ Lily schnaubte abfällig. „Soll das auch Ihre Erklärung für Ihr Verhalten in der Mensa sein?“ „Es tut mir leid“, sagte er und langsam wusste Ronald nicht mehr weiter. „Ich wollte nur die Anweisung befolgen, aber…aber Alan hat Recht. Es ist mir wichtiger, dass wir wieder miteinander reden, anstatt Williams Anweisung.“ Langsam drehte sie sich um und öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, wurde aber unterbrochen. Ein Klopfen am Terrassenfenster unterbrach sie. Ronalds Kopf flog herum. Nakatsu stand dort und klopfte dagegen. Sein Blick begegnete Ronalds und er seine Miene verfinsterte sich. Wie war er auf die Terrasse gekommen? War er von seinem Balkon über das Geländer gesprungen, um zu ihrem zu kommen? Der Junge war verrückt oder einfach nur dumm genug, um den Mut zu haben darüber zu springen. Oder vielleicht beides. Lily ging zur Terrassentür und öffnete sie dem Jungen, der ein wenig nass geworden war. Sofort sprang er in das Apartment und sah ihn wütend an. Doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit sofort Lily zu. „Geht es dir gut? Du bist ja total nass. Geh lieber duschen und zieh dir was Trockenes an. Du erkältest dich sonst noch.“ Lily nickte. „Ja, mach ich gleich.“ „Was macht er eigentlich hier? Hat er dir wehgetan?“ Wieder sah Nakatsu Ronald böse an. „Ich...“ „Er hat nichts getan!“, unterbrach sie Ronald sofort. „Er wollte nur mit mir reden. Das ist alles. Wir waren auch gerade fertig.“ „Und was hat er dir für Lügen erzählt?“ Lily zog die Schultern hoch. „Ich werde erst einmal selbst darüber nachdenken müssen. Ok?“ Nakatsu nickte und blickte Ronald weiterhin kühl an. „Gut…“, sagte Ronald und wippte kurz hin und her. „Ich werde dann mal gehen. Erholen Sie sich gut. Wir können ja ein anderes Mal weiter reden. Es würde mich zumindest sehr freuen.“ Eher er sich umdrehte, schenkte er ihr noch ein kleines Lächeln und öffnete die Tür. Er verließ das Zimmer und seufzte im Flur auf. Das war kein großer Erfolg. Aber was hatte er schon erwartet? Das sie ihm verzeihen würde und alles dann Friede, Freude, Eierkuchen sein würde? So war die Welt eben nicht. Es brauchte eben seine Zeit. Ronald bemerkte einen Zettel an der Tür, auf dem in großen Lettern „Shinigamihure“ drauf stand. Wütend riss er ihn ab und knüllte ihn zusammen. Das Papier stopfte er in seine Hosentasche „Mr. Knox“, sagte eine männliche Stimme und Ronald zuckte zusammen. Er wusste genau, zu wem diese Stimme gehört und diese Person hatte gerade mitbekommen, wie er aus Lilys Zimmer kam, aus dem Zimmer der Person zu der er Kontakverbot hatte. Das war eindeutig nicht sein Tag. Ronald wusste, das würde Ärger geben. „Mitkommen“, befahl Spears und schloss seine Wohnungstür auf und Ronald folgte ihm wiederwillig. Viel Zeit zum Umsehen hatte er jedoch nicht, denn William ging zielstrebig zu seinem Schreibtisch und setzt sich dahinter. Er ignorierte die mauzenden Katzen zu seinen Füßen. Es überraschte ihn, dass William ein Tierfreund war, aber Ronald konnte sich jetzt nicht mit den Vorlieben seines Vorgesetzten befassen. Aus dem Augenwinkel nahm er ein großes Aquarium mit Zierfischen wahr, dessen Filter ein gluckerndes Geräusch von sich gab. Ronald stand vor dem Schreibtisch seines Chefs wie ein kleines Kind, das etwas falsch gemacht hatte und hatte das Gefühl, es würde nicht nur bei einer Predigt bleiben. Mit einem undefinierbaren Blick wurde er von William gemustert, während er sich die Brille richtete. „Sie haben meine Anweisung missachtet, Mr. Knox.“ Seine Stimme war eiskalt und scharf wie ein Messer. „Mr. Spears, ich weiß, aber…“ „Seien Sie ruhig“, unterbrach er ihn. Sofort schwieg Ronald und versuchte ruhig zu bleiben. William zog eine Akte aus seiner Schublade und schob sie ihm herüber. „Das ist für Sie. Lesen Sie es und geben mir die Akte bis zu dem Anhörungstermin wieder. Darin stehen die mir bekannten Angriffe auf Miss McNeil. Ich denke, Sie sollten wissen, was alles geschehen ist. Es könnte von Vorteil für die Anhörung sein. Ich bin sicher, es gab noch mehr, von dem ich allerdings nichts weiß.“ Vorsichtig griff Ronald zur Akte, als wäre sie ein gefährlicher Gegenstand, der ihn beißen könnte, wenn er ihn berührte. Langsam nahm er sie in die Hand. Die Akte war nicht allzu dick, aber auch nicht allzu dünn. Es gab einiges, was er lesen musste. Ronald wurde bewusst, dass es nicht nur Sprüche waren, die Lily zu ertragen hatte. Er hatte es geahnt, aber nun hatte er den Beweis in dafür in der Hand. Er drückte sie an sich, als würde sie ihm Schutz geben vor Williams Schimpftirade oder als wäre sie etwas wertvolles, was er schützen musste. „Sie haben also meine Anweisung missachtet und mit der jungen Frau geredet.“ Es war keine Frage, sondern Feststellung. Er seufzte leise. „Das spielt aber keine Rolle. Es war offensichtlich keine gute Entscheidung Sie fortzuschicken.“ Ronald stutzte. Hatte er sich verhört oder gab William tatsächlich einen Fehler zu? Er war verwirrt. Wenn er keinen Fehler gemacht hatte, wieso behandelte William ihn dann so? „Es ist vielleicht sogar ganz gut, dass Sie mit ihr gesprochen haben“, fuhr Spears fort. „Ist die Anweisung damit aufgehoben?“, wagte Ronald zu fragen. William T. Spears nickte. „Ja, ist es.“ Innerlich stieß er einen Jubelschrei aus. Er war also noch einmal davon gekommen und hatte nichts verkehrt gemacht. Ronald durfte wieder mit ihr reden! Immerhin etwas positives. „Von der Arbeit sind Sie dennoch suspendiert bis das Gericht eine Entscheidung getroffen hat und ob Sie danach noch mal zu ihrem Mentor werden, ist auch noch nicht klar. Auch, wenn die Anweisung aufgehoben ist, seien Sie bitte diskret.“ Er nickte. Damit konnte er leben. „Morgen früh haben Sie einen Termin auf der Krankenstation. Dort werden ihre medizinischen Daten aufgenommen für die Verhandlung. Seien Sie also pünktlich. Sie können dann gehen.“ „Ist gut.“ Ronald nickte. „Wiedersehen.“ Langsam ging er aus dem Apartment und der Gedanke, dass er wieder mit Lily sprechen durfte, erfüllte ihn mit Freude. Egal, was an diesem Tag passiert war, diese Neuigkeit machte alles wett. Ohne weitere Umwege ging er sofort in sein Apartment und machte sich daran die Akte zu studieren. Es war wirklich eine Menge, was geschehen war und er konnte Lily nun noch mehr verstehen, weshalb sie so sauer auf ihn war. Nach fünf Seiten schlug er die Akte zu und warf sie aufs Sofa in die Ecke. Müde fuhr sich Ronald über die Augen und atmete tief ein. Er sollte ins Bett gehen und schlafen. Dieser Tag war anstrengend gewesen, obwohl er nicht gearbeitet hatte und die Akte konnte er auch noch morgen zu Ende lesen. William hatte ihm bis zur Anhörung Zeit gegeben. Ronald stand auf und ging in sein Schlafzimmer. Die Kleidung war schnell abgelegt und er ließ sich erschöpft in die Kissen fallen. Es dauerte auch nicht lange bis er dann einschlief. Alyssas Blick fiel auf die dunkelrote Blutspur, die sich im frisch gefallenen Schnee abzeichnete. Ihr Herz schlug lautstark und sie zitterte, nicht nur durch die Kälte, die sich an diesem kalten Morgen über die Stadt London gelegt hatte. Es war ihr erster Besuch in der Menschenwelt als Schülerin und durfte obendrein ihrem Mentor Undertaker bei seiner Arbeit zusehen. Kalter Wind fuhr ihr über das Gesicht und brannte ihr in den Augen, trotz der schützenden Brille. Die dünnen Handschuhe der Uniform schützten auch nicht wirklich und ihre Hände fühlten sich steif an. Durch jede Ritze der Kleidung zog der Wind unbarmherzig und ließ sie frösteln. Alyssas Beine fühlten sich wund an und sie wusste, sie waren gerötet vor Kälte. Sie zog den Schal ein Stück höher, damit ihr Hals geschützt war und stampfte weiter durch den weißen Pulverschnee, während frischer gerade aus den dicken Wolken über ihnen fiel. Er setzte sich auf Haare und Kleidung ab, aber schmolz sofort. Zitternd hauchte sich Alyssa in die Handfläche und rieb sie kräftig aneinander, um sich aufzuwärmen, während kleine Atemwölckchen in der Luft sichtbar wurden. Vorsichtig warf sie einen Blick zu Undertaker, dem die Kälte offensichtlich nichts ausmachte. Er zitterte nicht wie sie und er zeigte auch sonst keine Anzeichen davon, dass ihm kalt war, obwohl sein Gesicht gerötet war. In seiner rechten Hand hielt er seine Todessense eisern fest. Seine Haare hatte er nach hinten gebunden, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Mit der freien linken Hand schob er sich seine Brille ein Stückchen höher. Alyssa hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten und musste immer wieder durch den Schnee rennen, um aufzuholen. Sie traute sich kaum ihn anzusprechen, doch das Schweigen zwischen ihnen war bedrückend. Alyssa gestand sich nur ungern ein, dass Undertaker sie als Mentor nervös machte. Er war immer so schweigsam und sein Gesicht zeigte nie eine Regung. Ständig sah er sie mit dem gleichen Gesichtsausdruck an und nie konnte sie sagen, ob sie etwas falsch gemacht hatte oder richtig. Er war ein Buch mit sieben Siegeln für sie. Sie saß meistens steif in seinem Büro, wenn sie ihre Aufgaben machte und er seine erledigte. Alyssa traute sich dann immer kaum ein Geräusch zu machen oder zu fragen, weil sein Blick dann immer so kalt war, dass sie glaubte, sie sei dumm und müsse es doch eigentlich wissen. Zu gerne hätte sie ihn einmal lachen gesehen und wenn es über ihre Tollpatschigkeit sei. Sie hatte am Anfang oft genug versucht einen Scherz zu machen und kam sich dann unter seinem abweisenden Blick dumm und kindlich vor. „Wo bleiben Sie?“, fragte Undertaker mit kühler Stimme und blieb stehen. Er drehte sich um und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Trödeln Sie nicht. Dafür haben wir keine Zeit.“ „Ich komme ja schon“, antwortete sie und lief durch den Schnee auf ihn zu. „Sehen Sie die Blutspur?“, fragte er und deute in den Schnee. „Ja, sie wird immer kräftiger.“ Undertaker nickte. „Der Todeskandidat ist in der Nähe und verliert immer mehr Blut.“ „Das heißt?“, fragte sie vorsichtig und sah sich in den verlassenen Straßen Londons um. „Das heißt, dass er bald sterben wird und wir unsere Aufgabe nachgehen sollten anstatt hier rumzustehen“, gab er kühl zurück und Alyssa schauderte es bei seinen Worten. Sie folgte ihm wortlos weiter während ihr Herz noch immer kräftig gegen ihre Brust klopfte. Alyssa bewunderte Undertaker für seine Stärke und sein Wissen. Eines Tages wollte sie auch so geachtet werden wie er. Aber sie wollte auch von ihm geachtet werden. Ein Seufzer entfuhr ihr. Das würde sicherlich nie passieren. Er lobte sie nicht einmal, wenn sie bestimmte Aufgaben gut erledigte oder sprach mit ihr mal über private Dinge. Undertaker wechselte nur das Nötigste mit ihr. Wenn jemand Alyssa fragen würde, was er gerne aß oder trank, würde sie keine Antwort geben können. Sie wusste es schlicht und ergreifend einfach nicht. Dabei wollte sie so vieles über ihn wissen. Oft glaubte sie auch, dass er gar kein Herz hatte, das in seiner Brust schlug, während ihres in seiner Gegenwart dafür umso mehr pochte. Nur ungern gab sie es selbst zu, aber Alyssa liebte diesen kühlen Mentor, auch wenn er sie ignorierte und nie eine Regung zeigte. Sie wusste auch, dass sie es geheim halten musste, weil er sie sonst nicht mehr unterrichten dürfte. Erneut seufzte Alyssa und ihr Herz wurde schwer bei dem Gedanken ihm nie näher sein zu können wie jetzt. „Was stehen Sie da rum und träumen? Beeilung!“, rief Undertaker und Alyssa schloss schnell zu ihm auf, damit sie ihre Aufgabe erledigen konnten. Die Kälte war unerträglich und sie wollte nur noch nach Hause. Am besten ein heißes Bad nehmen und ein paar Kekse essen. Sehnsüchtig seufzte sie und hoffe, dass der Todeskandidat oder die Kandidatin nicht mehr weit weg wäre. „Genießen Sie den Ausflug in die Menschenwelt?“, fragte Undertaker mit einem mal in die morgendliche Stille hinein. Hatte sich Alyssa verhört oder sprach er wirklich ein Wort mir ihr und interessierte sich für sie? Schwang da ein wenig Sarkasmus mit? Verblüfft sah sie Undertaker an. Alyssa hatte das ganze halbe Jahr darauf gewartet mit ihm ein normales Gespräch zu führen und in Gedanken hatte sie alle möglichen Szenarien durchgespielt, aber nun wo es soweit war, war ihr Kopf leer und ihr Herz schlug laut und kräftig gegen ihren Brustkorb. „Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“, fragte er nachdem sie keine Antwort und ein kleines Lachen schwang in seiner Stimme mit. War der Weltuntergang nahe oder musste sie gleich sterben? Wieso sprach er mit einem Mal mit ihr? Wieso zeigte er nach all der Zeit Interesse an ihrem Leben und ob ihr etwas gefiel? Seit wann konnte er Lachen? Alyssa schüttelte den Kopf. „Ich kann mir etwas Besseres vorstellen als bei so einer Kälte das erste Mal in der Menschenwelt zu sein.“ „So?“ Fragend hob er eine Augenbraue. „Was denn zum Beispiel?“ „In der heißen Wanne liegen oder eingekuschelt im Bett und dazu ein paar Kekse“, grummelte sie und vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels. „Sie meinen doch nicht etwa die Kekse, mit denen Sie jeden Tag den Schreibtisch voll krümeln, oder?“ „Doch genau die!“ Es war verblüffend, wie leicht sie sich mit ihm unterhalten konnte und wie angenehm es war, auch wenn seine Stimme noch immer sehr distanziert wirkte. „Was finden Sie nur an denen?“ „Sie sind lecker!“, erwiderte sie und zupfte an ihrem Schal. „Sie sollten Sie mal probieren. Das Rezept ist von meiner Mutter.“ „Ich mag keine süßen Sachen.“ „Oh…verstehe…“ Alyssa wickelte ihren Schal ab, nur um ihn neu zu binden. Ständig rutschte er ihr herunter und ihr Hals war ungeschützt der Kälte ausgeliefert. Undertaker nahm ihr mit einem genervten Seufzer die beiden Enden des Schals aus der Hand und zog sie näher an sich heran. „Das kann man sich ja nicht mehr mit ansehen, wie Sie an dem Ding rumzupfen!“, kommentierte er ihren fragenden Blick. Scharf zog Alyssa die Luft ein und hielt den Atem an, während er ihr mit kurzen Handgriffen den Schal so band, dass er den Hals schützte und sie ihn auch über die Nase ziehen konnte, um das Gesicht zu wärmen. „Eines müssen Sie zugeben, Sie sind ein Chaot.“ Vorsichtig nickte sie. „Ein wenig…ja…“ Alyssa konnte durch den dünnen Stoff der Handschuhe seine warmen Hände fühlen und die Berührung verursachte ihr einen angenehmen Schauer. „Ihnen ist wirklich kalt, oder?“, fragte er und seine Gesichtszüge wurden eine Spur weicher. Sie nickte leicht und zog den Schal bis über die Nase, damit er nicht merkte, wie sie errötete. Obwohl sie es mit Sicherheit auch auf das Wetter schieben konnte. „Wenn das Wetter besser wäre, hätte ich Ihnen die Stadt zeigen können. Immerhin sind bald Ferien und es würde nicht auffallen, wenn wir ein bisschen länger fort wären.“ Ein paar kleine Jungen liefen an ihnen vorbei und lachten lautstark, während sie über gefrorene Pfützen schlitterten. Es war das erste Lebenszeichen an diesem Morgen. Aus dem Augenwinkel sah Alyssa Licht in einem großen Schaufenster mit Spielzeug angehen. In dem Schaufenster hing ein Tannenkranz mit einer großen roten Schleife, während das Spielzeug zu ihnen herüber starte. Der Geruch von gerösteten Kastanien stieg ihr in die Nase. Ihr Magen knurrte leise und erinnerte sie daran, dass sie noch gar nicht gefrühstückt hatte. Alyssa schüttelte den Kopf. „Es ist schon in Ordnung“, murmelte sie in den Stoff ihres Schals. In der Ferne Schlug die Glocke einer Kirchturmuhr und erfüllte die Stille. Eine kleine Gruppe von Menschen stellte sich in die Nähe des Spielzeuggeschäftes. Es waren Männer und Frauen aus unterschiedlichen Altersgruppen. Auch zwei kleine Kinder waren dabei. Sie hatten sich alle dick angezogen und hatten Musikinstrumente bei sich. Ihre Gesichter waren vor Kälte gerötet. Einer der Männer mit einer dicken knubbeligen Nase, sah dabei eher aus als hätte er einen über den Durst getrunken. Ein Mann stimmte seine Gitarre und schlug die ersten Töne an, während eine Frau mit dem Tamburin im Takt mitspielte. Sie alle stimmten ein Weihnachtslied an, was durch die Straße hallte. Ein kleiner Junge hielt eine alte Büchse in der Hand in der ein paar Münzen lagen. Warum wollte Undertaker mit einem mal Zeit mit ihr verbringen? Wieso war er so nett zu ihr? Alyssa war verwirrt. Er war doch sonst nicht so zu ihr. Woller er sich einen Spaß mit ihr erlauben? Wollte er sie testen, ob sie den Versuchungen in der Menschenwelt widerstehen konnte? Oder meinte Undertaker es wirklich ernst, wenn er vorschlug, ihr die Stadt zu zeigen? Aus welchem Grund tat er das? Er zeigte doch sonst nie Interesse. „Dann lassen Sie uns mal weiter gehen und die Arbeit beenden“, sagte er mit ruhiger Stimme und setzte den Weg fort. Alyssa nickte bekräftigend und folgte ihm weiter bis sie London fast verlassen hatten. Nur noch vereinzelt standen Häuser in der Landschaft. Der Schnee hatte den Weg verschluckt. Die Straße war also komplett verschwunden. Die Bäume wirkten, als wären sie mit Puderzucker überzogen fast wie aus einem Traum. Ohne die schützenden Häuser der Stadt war der Wind auf der offenen Landschaft noch Kälter und beißender auf der Haut. Das Blut zeigte ihnen deutlich den Weg. Langsam wurde Alyssa jedoch nervös. Es war das erste Mal, dass sie jemanden zusah, wie er starb. Sie hatte sich am Anfang gefreut und gedacht, es würde sogar aufregend werden, doch nun beschlich sie das Gefühl, nicht bereit dafür zu sein und wäre am liebsten Rückwärts zurück nach Hause gelaufen. Aber es ging nicht. Sie musste es nun durchstehen. Wenn sie jetzt kniff, würde sie jegliche Achtung bei Undertaker verlieren, sollte sie jemals welche bei ihm gehabt haben. Alyssa könnte ihm dann nie wieder in die Augen sehen. Auch könnte sie ihren Kollegen nicht mehr in die Augen sehen und sich selbst schon gar nicht. Undertaker blieb stehen. Mit einer Hand gebot er ihr ebenfalls stehen zu bleiben. Verwirrt hielt sie neben ihn an und sah fragend zu ihm auf. „Wir sind da“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. Alyssa sah sich um. Sie konnte Niemanden entdecken. Lediglich ein Schrei von einem Baby drang an ihr Ohr. Ihr Herz pochte. Es würde doch wohl nicht das Baby sein, das sterben musste? War es nicht zu grausam einen Schüler gleich so einen Tod vorzusetzen? Hart schluckte sie und biss sich auf die Unterlippe. Was würde passieren, wenn es so war und sie zusehen musste, wie ein unschuldiges Kind starb? „Bleiben Sie hier stehen und rühren Sie sich nicht vom Fleck“, sagte er. „Es ist besser, wenn sie beim ersten Mal nicht allzu nahe dabei sind. Außerdem gab es hier irgendwo einen See und ich möchte nicht, dass Sie hineinfallen während ich arbeite.“ Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Sie würde also in einem sicheren Abstand bleiben. Erleichtert atmete sie aus, während Undertaker weiter ging. Seine Schritte knirschten auf dem Schnee und hinterließen frische Spuren. Unsicher was sie tun sollte, wippte sie mit den Füßen auf und ab und ging ein paar Schritte zurück, um noch mehr Abstand zwischen sich und dem baldigen Geschehen zu bringen. Undertaker kniete sich in den Schnee und grub ein wenig davon zur Seite. Der Schrei des Babys wurde lauter und Alyssa wurde bewusst, dass dort jemand lag, den der Schnee verdeckte. Alyssa reckte den Hals, um mehr sehen zu können und schon im nächsten Augenblick setzte Undertaker den leblosen Körper einer Frau hoch. Sie war blau angelaufen und der Körper hatte sich versteift. In ihren Armen hielt sie ein blutiges Tuch mit dem Neugeborenen darin. Undertaker strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht. Es war fast schon zärtlich und Alyssa biss sich auf die Unterlippe, während sich ihre Hand zur Faust ballte. In ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Sie wusste, es hatte nichts zu bedeuten und er trat nur seine Arbeit, aber dennoch konnte sie den Anblick nicht ertragen, wie er die Frau berührte. Alyssa war eifersüchtig auf jemand totes! Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich dafür selbst in den Hintern getreten. Es war dumm und kindisch. Wenn sie sich weiter so benahm, würde sie selbst nach ihrer Ausbildung keine Chance bei ihm haben. Sie ging wieder ein paar Schritte rückwärts. Der Schnee knirschte laut. „Bleiben Sie stehen!“, rief Undertaker ihr zu und sie hielt inne. Er zog seine Sense und stieß damit in ihrem Leib. Sofort stiegen unzählige Cinematic Records auf und die Sense sog sie in sich auf wie ein Schwamm das Wasser. Alyssa starrte auf die Stränge und ihr Mund klappte auf. Dieser Anblick war überwältigend und traurig zugleich. Was würde mit dem Kind geschehen? Würde es ebenfalls sterben noch ehe es überhaupt eine Chance hatte zu leben? Oder würde er es mitnehmen und dafür sorgen, dass jemand es aufnahm? Wo würde er es hinbringen? In ihren Augen bildeten sich Tränen und sie wandte den Blick ab. Wieder ging sie ein paar Schritte zurück. Sie wollte Abstand zwischen sich und dem Geschehen bringen, noch mehr als ohnehin schon bestand. „Bleiben Sie stehen!“, rief ihr Undertaker erneut zu. Er sah sie mahnend und besorgt an. Es wirkte, als würde er aufspringen wollen, um zu ihr zu laufen, aber das war sicherlich nur Einbildung. Undertaker wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Lebenserinnerungen zu und wartete darauf, dass auch die Letzte genommen war. Er legte den Körper zurück in den Schnee und ging wieder auf Alyssa zu. Das Kind schrie immer noch. „Was…was ist mit dem Baby?“, fragte sie vorsichtig und wischte sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel. „Es steht nicht auf meiner Liste. Also geht es uns nichts an“, antwortete er kühl. „Was? Aber es wird sterben, wenn es dort liegen bleibt!“ Wie konnte er nur so herzlos sein? „Dann wird es ein Kollege abholen. Unsere Arbeit ist beendet. Wir haben hier nichts mehr zu Suchen.“ „Aber…“ Sie machte Anstalten wieder ein Stück zurück zu weichen. Alyssa konnte nicht glauben, dass sie einfach so gehen und das Baby alleine in der Kälte zurück lassen sollten. „Können wir denn nichts tun?“ Undertaker schüttelte den Kopf. „Nein. Wir dürfen uns nicht allzu sehr in das Schicksal der Menschen einmischen und jetzt bleiben Sie stehen!“ „Das glaub ich nicht! Wir müssen etwas tun! Wir müssen es irgendwohin bringen!“ Undertaker schüttelte erneut den Kopf. „Das ist uns nicht erlaubt und jetzt bleiben Sie bitte stehen!“ Alyssa wich vor ihm zurück und ihre nassen Haare peitschten ihr ins Gesicht als sie den Kopf schüttelte. „Bleibe Sie stehen, bitte!“ Seine Stimme wurde lauter und Alyssa schreckte zusammen. Ein lautes Knacken erfüllte die Luft und Undertakers Augen weiteten sich. „Kommen Sie sofort her! Da ist der…“ Der Rest des Satzes ging in einem weiteren Knacken unter, gefolgt von einem lauten platschen. Alyssa schnappte nach Luft, doch anstatt Sauerstoff schluckte sie eiskaltes Wasser. Ihr Herz setzte für einige Sekunden aus und fing an stark zu pochen. Panik breitete sich in ihrem Körper aus während sich das Wasser wie tausend stechende Nadeln anfühlte. Sie wollte nach oben schwimmen, doch konnte sich kaum bewegen. Die Kleidung war schwer und hatte sich vollgesaugt. Sie zog sie unbarmherzig nach unten. Davor hatte Undertaker sie also warnen wollen. Deshalb hatte er immer wiederholt sie solle stehenbleiben. Er hatte extra den See erwähnt. Aber sie hatte nicht auf ihn gehört! Alyssa fluchte über sich selbst. Etwas packte sie am Arm und zog sie an die Oberfläche. Prustend holte sie Luft und spuckte Wasser aus. Undertaker hatte ihr Handgelenk fest umschlossen. Er lag flach auf dem Bauch auf dem gebrochenen Eis. Er hielt sie eisern fest und rutschte langsam zurück zum sicheren Ufer, während er sie aus dem Eis zog. Zum Glück war er da und hatte sie heraus ziehen können. Keuchend und zitternd ließ sie sich auf dem festen Boden am Ufer fallen. „Ich sagte doch, Sie sollen stehen bleiben.“ Undertaker klang vorwurfsvoll. „Tut mir leid…“, keuchte sie und hustete. Ihre Lunge brannte vor Schmerz und sie hatte Mühe zu atmen. „Danke….“ „Wir sollten zurück zur Society ehe Sie sich einen Schnupfen holen. Können Sie laufen?“, fragte er und reichte ihr die Hand, damit sie aufstehen konnte. Wenn ihr nicht so kalt gewesen wäre, hätte sie innerlich vor Freude aufgeschrien, weil sie seine Hand nehmen durfte. Aber sie war nass bis auf die Knochen und fror. Jetzt bräuchte sie umso sehr ein warmes Bad, Kekse und einen Tee. Schwankend stand sie an dem Ufer und klammerte sich mit beiden Händen an ihren Mentor fest, um nicht umzufallen. Undertaker war warm und wehrte sich nicht dagegen, dass Alyssa sich an ihm fest hielt. Im Gegenteil. Er stützte sie mit beiden Händen ab. Ein Glücksgefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Ihr Mentor war also nicht so kalt wie er tat. Er hatte auch eine nette Seite. „Kommen Sie, ich trag Sie zurück. Dann geht es schneller.“ Ohne weiter ein Wort zu sagen, hob er sie auf seine Arme und trug sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Das Baby war vergessen. Alyssa schwebte auf Wolke sieben. So nahe war sie ihrem Mentor in der ganzen Zeit nicht gekommen und ihr Herz pochte vor Nervosität. Sie drückte sich näher an ihn heran. Undertaker war warm und am liebsten wäre sie in seinem Arm eingeschlafen, aber sie wusste, wenn sie einschlief, könnte sie erfrieren. Sie musste wach bleiben. Vorsichtig sah sie zu ihrem Mentor auf und begegnete seinem kühlen Blick. Sofort wich jede Freude. Aber hatten sich seine Pupillen für einen Moment geweitet? Fühlte er sich so unwohl dabei, sie zu tragen? Warum trug er sie dann? Die Berührung seiner Hände ging ihr unter die Haut und die Wärme kribbelte auf ihrem kalten Körper. Er machte sie noch immer Nervös und sie vergrub ihr Gesicht an seine Brust. Alyssa konnte seinen Herzschlag spüren. Stark und kräftig schlug es in seiner Brust. Ein wenig zu schnell und zu aufgeregt als würde es tanzen. Es war sein Herzschlag, den sie spüren und hören konnte. Fasziniert lauschte sie dem Pochen und legte eine Hand auf die Stelle. Ihr Herz schlug fast genauso schnell wie seines, aber nur fast. Ihres schlug doch um einiges schneller als seines. Sie wusste genau, dass es nicht nur an der Kälte lag, sondern auch an dem Mann, den sie liebte und der sie gerade in seinen Armen trug. „Ist mein Herzschlag so faszinierend?“ Alyssa schreckte auf und sah in Undertakers amüsiertes Gesicht. Sofort röteten sich ihre Wangen. „Haben Sie etwa gedacht, ich habe kein Herz?“ Hatte sie das gedacht? Hatte sie es geglaubt? Alyssa hatte ihn immer als kühl und unnahbar empfunden, doch sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Manchmal hatte sie sogar im Spaß gedacht, er sei ein Mann ohne Bedürfnisse. Denn sie sah ihn nie in der Mensa essen und er war immer zuerst im Büro und ging auch erst nach ihr. Wenn Alyssa genau darüber nachdachte, kannte sie ihn nur mit der Arbeit. Sie hatte versucht, sich Undertaker schlafend vorzustellen oder beim Essen und das war schon ein verstörender Gedanke gewesen. Ihn mit einer Frau oder in anderen Dingen zu sehen, hatte sie erst gar nicht versucht. Aber dort war der Beweis, dass er ein Wesen wie sie war. Der Beweis war in seiner Brust und schlug gesund und kräftig. Der Herzschlag war unter ihrer Hand und er war lebendig. Während des ganzen Rückweges konnte sie es spüren und verglich es immer wieder mit ihrem eigenen und als sie zurück auf dem Gelände der Shinigami Dispatch Society waren, wollte Alyssa am liebsten im Boden versinken. Alle starrten sie an, denn jeder sah ihren Mentor an. Es war auch nicht einfach ihn zu übersehen, was nicht an seiner Kleidung oder den langen Haaren lag, sondern an der Tatsache, dass er der beste Shinigami in der Society war. Alyssa fühlte sich immer unwohler in seinen Armen, doch er würde sie auch den Rest des Weges zum Wohngebäude tragen. Ihn störte es nicht, dass er von den Kollegen gemustert wurde. Sie machte sich so klein wie möglich in Undertakers Armen und sah auf seinen Mantel als wäre das Webmuster das Interessanteste, was sie je gesehen hatte. Ihre langen weißen Haare bildeten einen guten Vorhang, damit niemand ihr rotes Gesicht sehen konnte. Ein Shinigami begrüßte und Undertaker. „Kommen Sie auch nachher zum Fest?“ Undertaker schüttelte den Kopf. „Wollen Sie etwa arbeiten?“, fragte der Kollege verblüfft. „Nein, ich werde mich um Miss Campell kümmern. Sie ist bei ihrem ersten Ausflug in die Menschenwelt in einen See eingebrochen. Der Bericht muss auch noch fertig werden.“ „Ah, verstehe. Aber ein bisschen Spaß sollten Sie sich trotzdem gönnen.“ Undertaker nickte, sah jedoch nicht begeistert aus, dass der Shinigami ihn darüber belehren wollte, dass er zu viel arbeiten würde. „Nun gut, dann wünsche ich Ihnen ein gutes Fest und schöne Ferien. Wir sehen uns dann im neuen Jahr.“ Der Kollege verabschiedete sich und Undertaker brummte eine Verabschiedung. Alyssa versuchte sich noch kleiner zu machen und starrte weiterhin auf den Mantel ihres Mentors. Überall hörte sie Begrüßungen und Fragen zum Fest und den Ferien. Die Shinigami der Society schienen dieses Jahr ganz versessen auf den alljährlichen Weihnachtsball und die damit verbundenen Ferien. Die Society war geschmückt und überall leuchteten Kerzen. Der Duft von Tannengrün hing in der Luft und an den Treppengeländern du Fenstern sah man grüne Kränze mit einer großen roten Schleife. Die Dame am Empfang der Society hatte einen kleinen Teller mit Gebäck auf dem Tisch stehen, das nach Zimt roch und einen fruchtigen Tee. Auch ein kleiner Blumentopf mit einem Weihnachtsstern stand dort. Im Eingang war eine große Tanne aufgebaut, die mit ein paar bunten Kugeln und Lametta geschmückt war. Im Flur des Wohngebäudes stand ebenfalls ein geschmückter Baum. Von den Fenstern hingen lange Eiszapfen gefährlich herunter. Sie wirkten wie lange Speere. Über der Eingangstür zum Wohngebäude hing ein Mistelzweig, den beide geflissentlich ignorierten. Alyssa hatte nur kurz aufgesehen und schnell wieder den Blickgesenkt, ehe in ihrem Kopf eine Vorstellung entstand, die eh nicht eintreffen würde. Sie durfte nicht dran denken, sonst schlug ihr Herz wieder als wäre sie einen Marathon gelaufen. Irgendjemand hatte kleine Schellen aufgehängt, so dass diese jedes Mal klingelten, wenn die Eingangstür geöffnet wurde. Eine Gruppe bestehend aus Kolleginnen kam ihnen entgegen. Sie waren alle schon in ihren Abendkleidern, rochen nach frischer Seife und Make-up zierte ihre Gesichter. Ein leichter Duft von Parfüm lag in der Luft. Die Frauen lachten, begrüßen Undertaker und warfen ihm verliebte Blicke zu. Ein paar von ihnen riefen „Bis später“ zu, doch Alyssas Mentor gab keine Antwort. Er stieg die Treppe hoch und sagte kein Wort. Alyssa starrte auf das Webmuster des Mantels, ohne wirklich etwas zu sehen. Undertaker sprach nun wieder kein Wort und hatte seine Schultern gestrafft. Er war so kühl und distanziert wie vor dem kleinen Unfall. Aber sie traute sich nicht zu sagen. Wieder war Alyssa viel zu Nervös, um auch nur ein kleines Wort heraus zu bringen. Ging es Undertaker vielleicht ähnlich? Oder wollte er nur so tun als wäre alles normal? Alyssa wünschte sich inzwischen, sie könnte in ihrem Zimmer sein. Nur sie und er alleine. Er könnte sie dann weiter im Arm halten. Aber was dachte sie da? So etwas würde nie geschehen. Sie würde nie alleine mit ihm sein und er würde sie nie privat im Arm halten. Sicherlich würde er sie vor ihrer Zimmertür absetzten und alleine stehen lassen. Seine Arbeit war dann getan. Er hatte seine Schülerin sicher zurück in die Society gebracht. Mit Sicherheit würde er sich in sein Büro verkriechen und die Berichte schreiben. Ihr Herz wurde schwer, wenn sie daran dachte, dass er sie gleich alleine lassen würde. Alyssa zählt ein Gedanken die Etage, die er bereits hochgegangen war. Nur noch drei Etagen und seine Arme würden sie nicht mehr länger tragen. Nur noch drei Etagen und sie würde seinen Herzschlag nie wieder hören. Nur noch zwei Etagen und er würde sie absetzten. Nur noch zwei Etagen und Undertaker würde ihr sagen, sie solle in ihr Zimmer gehen. Nur noch eine Etage und sie würden sich verabschieden. Nur noch eine Etage und sie würden sich bis zum neuen Jahr nicht mehr sehen. Alyssas Hand grub sich in ihren Wintermantel, der noch immer nass was und erst jetzt fiel ihr auf, wie kalt sie eigentlich war. Auch bemerkte sie, dass sie zu zittern angefangen hatte ohne es zu merken. Undertaker sah zu ihr herab bis sie ihn ebenfalls ansah. „Können Sie den Rest laufen?“, fragte er leise. Vorsichtig nickte Alyssa und er ließ sie herunter. Sie standen vor seiner Zimmertür und er schloss auf. Alyssa war verwirrt. Wieso hatte er sie nicht vor ihrer Zimmertür abgesetzt, an der sie vorbeigelaufen waren? Wollte er, dass sie mit in sein Apartment ging oder sollte sie sich verabschieden und in ihr Zimmer gehen? „Was stehen Sie da rum?“, fragte Undertaker mit einem kalten Unterton in der Stimme. „Kommen Sie rein und machen Sie die Tür zu!“ Alyssa schritt über die Schwelle während er das Licht anschaltete. Sie hatte sich inzwischen an die blassen Farben in seinem Büro gewöhnt und die Ordnung die dort herrschte. Seine Wohnung war genauso blass und unpersönlich. Es gab kaum Farbe in dem Zimmer und es gab keine persönlichen Gegenstände. Nur ein paar Bücher und Papiere lagen auf dem Schreibtisch. Es gab keinerlei Unordnung in dem Wohnzimmer. Die Sofakissen waren ordentlich aufgereiht und eine Decke lag zusammengefaltet am einen Ende der Sitzgelegenheit. Kein Staubkorn befand sich auf dem Schrank und kein Fussel auf dem Boden. So viel Ordentlichkeit behagte Alyssa ganz und gar nicht. Es machte sie Nervös und sie hatte den Eindruck in einer perfekten Welt zu sein. In ihrem Kopf tauchten dann Fragen auf, ob sie sich überhaupt setzten durfte oder ob sie überhaupt etwas essen durfte, weil sie damit wohl Unordnung machen würde. Alyssa hatte das Gefühl allein dadurch, dass sie in der Tür stand die Wohnung dreckig zu machen. Sicherlich sahen die anderen Räume genauso sauber aus, dass man beinahe vom Boden essen konnte. Undertaker verschwand in ein Nebenzimmer. Alyssa hatte ein Teil von einem Schrank gesehen und ein ordentlich gemachtes Bett. Dort war also das Schlafzimmer. Neugierig sah sie sich um und überlegte, ob sie sich setzten sollte immerhin war sie noch immer nass bis auf die Knochen. Am Fensterbrett standen ein paar Topfpflanzen, die ein wenig Farbe in das kahle Zimmer brachten. Undertaker kam aus dem Schlafzimmer zurück. „Was stehen Sie da rum? Ab mit Ihnen ins Badezimmer und unter die heiße Dusche oder wollen sie krank werden?“ „Aber…das…ich kann auch bei mir duschen…“, nuschelte sie verlegen. Alyssa konnte es kaum glauben, dass sie tatsächlich bei Undertaker in der Wohnung stand und auch noch bei ihm duschen sollte. „Nein“, sagte Undertaker bestimmt und ging ins Badezimmer. „Mit einer Unterkühlung ist nicht zu spaßen und ich will ein Auge auf sie haben. Der Papierkram wird die Hölle sein, wenn Ihnen etwas passiert.“ Es ging ihn also nur darum, dass er keinen Rechenschaftsbericht ablegen musste. „Wo bleiben Sie?“, fragte er aus dem Badezimmer. „Kommen Sie her und gehen sofort unter die Dusche!“ Alyssa gehorchte widerwillig. Das Badezimmer war genauso sauber, wie das Wohnzimmer und auf einer Ablage lagen frische Handtücher. Alles wirkte wie neu, so als ob der Besitzer es nie benutzen würde. Undertaker klopfte auf die Handtücher. „Damit können Sie abtrocknen, wenn Sie fertig sind. Ihre nasse Kleidung könne sie nachher mir geben. Ich werde sie dann aufhängen und während sie trocknet, ziehen Sie das hier an.“ Er deute auf ein paar trockene Kleidungsstücke, die er aus dem Schlafzimmer geholt hatte. „Während Sie unter der Dusche sind, werde ich ein wenig Tee kochen. Das wird Sie zusätzlich wärmen.“ Undertaker verließ mit diesen Worten das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Etwas unbeholfen stand Alyssa in dem Raum und traute sich kaum, sich zu bewegen. Es machte ihr ein wenig Angst, dass ihr Mentor so nett war und sich so um sie Sorgte. Das war untypisch für ihn und fremdartig. In Gedanken versuchte sie sich zu erinnern, ob er jemals so besorgt um sie war oder ob er jemals so viel mit ihr gesprochen hatte wie am heutigen Tage. Doch Alyssa konnte sich nicht erinnern, dass es je so gewesen war. Immer war er wortkarg und distanziert. Der Einbruch ins Eis hatte doch sein Gutes gehabt und ohne diesen kleinen Unfall wäre sie ihm sicherlich nicht so nahe gekommen. Alyssa musste grinsen und unterdrückte ein freudiges Kichern. Laut klopfte es an der Tür und sie schreckte zusammen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. „Miss Campell, ich höre die Dusche nicht. Gehen Sie unter die Dusche und wärmen sich auf!“ Undertaker klang ungeduldig und herrisch. „Ja!“, rief sie zurück und fragte sich, ob ihr Mentor wirklich glaubte, dass sie eine Erinnerung bräuchte, weshalb sie in seinem Badezimmer in triefnassen Kleidern stand. „Dann beeilen Sie sich!“, rief er zurück und klang ungeduldig. Alyssa traute ihm durchaus zu, dass er solange vor der Tür stehen würde bis er das Wasser der Dusche hören würde. Vorher würde er sicherlich keine Ruhe geben. Wenn er nicht ihr Mentor wäre und ein Mann, war sie sich sicher, würde er sogar im Badezimmer stehen und zusehen, dass sie auch wirklich anständig warm duschte. Bei diesem Gedanken errötete Alyssa und verwarf diesen Gedanken schnell, ehe er in eine Richtung ging, die nicht jugendfrei war. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie ihre Wangen glühten. Eine Dusche bräuchte sie jetzt sicherlich nicht mehr, aber Alyssa konnte ihm schlecht sagen, wieso nicht mehr und selbst wenn sie es konnte, würde er auf eine Dusche bestehen. Vielleicht sogar eine kalte. Schnell zog sie den nassen Schal von ihrem Hals und den schweren Mantel aus. Dicke Wassertropfen fielen auf die Fliesen und bildeten schnell eine Pfütze. Alyssa legte ihre Brille auf das Waschbecken ab und zog ihre Bluse, Krawatte, Schuhe, Strümpfe, den nassen Rock und die Unterwäsche aus. Sie legte die Sachen auf einen Haufen in die Ecke, um nicht viel Unordnung zu verursachen und das Badezimmer mit unnötig vielen nassen Pfützen aus Eiswasser zu füllen. Undertaker würde sie sonst mit Sicherheit zum Putzen verdonnern und darauf hatte sie absolut keine Lust. Alyssa stieg in die Dusche und stellte das Wasser auf eine angenehme Temperatur. Obwohl es nur lauwarm war, fühlte es sich auf ihrer kalten Haut kochend heiß an und von der Kälte waren einige Körperstellen rot angelaufen. Sie hatte die Kälte kaum bemerkt. War Undertaker vielleicht früher auch einmal im Eis eingebrochen, dass er wusste, wie schlimm eine Unterkühlung war? War das der Grund, wieso er sie beobachten wollte? Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein, warum er sich sonst solche Sorgen machen sollte. Aber konnte sie nicht auch in ihrem Zimmer duschen und konnte er sie nicht auch dort beobachten? Wenn Alyssa genau darüber nachdachte war es keine so gute Idee. Ihr Zimmer war nicht ganz so aufgeräumt und steril, wie das ihres Mentors. Es lagen ein paar Kleidungsstücke herum und in ihrer Küchennische stand noch das schmutzige Geschirr vom letzten Backen. Im Badezimmer lagen auch schmutzige Handtücher auf dem Boden vom Morgen und eine schmutzige Uniform, die sie noch waschen musste. An ihr Schlafzimmer wollte sie nicht denken. Das Bett war gar nicht gemacht und ein paar Bücher lagen auf dem Nachttisch und dazu ein Teller mit Kekskrümeln. Wenn Alyssa es also genau überdachte, war es also gar nicht so schlecht, dass sie bei ihm war. Das warme Wasser lief weiterhin über ihren kalten Körper und wärmte sie auf, während sie sich fragte, wie Undertaker wohl auf ihr geordnetes Chaos reagieren würde, sollte jemals ihr Apartment betreten. Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen als sie sich seinen entsetzten Gesichtsausdruck vorstellte. Alyssa stellte die Temperatur des Wassers ein wenig höher ein und griff zur Ablage für die Seife. Doch da lag keine Seife, die nach Lilien und Patchouli duftete, wie bei ihr im Badezimmer. Stattdessen griff sie nach einer Flasche mit flüssiger Seife. Vorsichtig nahm sie die Flasche mit der Seife in die Hand und sah sich nach allen Seiten um, als ob ihr Mentor gleich auftauchen würde, um sie auszuschimpfen, dass sie seine Sachen anfasste. Zögerlich schnupperte sie daran. Es roch nach Zitrone und sehr erfrischend, aber auch ein leichter Geruch von etwas erdigem mischte sich darunter. Alyssa konnte nicht sagen, was es war, aber es roch angenehm und männlich. Unweigerlich fragte sie sich, ob Undertaker jemals so gerochen hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass er nach Zitrone der dergleichen gerochen hatte. Wenn sie darüber nachdachte, war sein Geruch immer sehr dezent und so gut wie gar nicht da. Meist erinnerte sein Duft an feuchte Erde. Gedankenverloren starrte sie auf ihre Handfläche, wo das flüssige Shampoo zu verlaufen begann. Ein ungeduldiges Klopfen riss sie aus den Gedanken und Alyssa drehte den Kopf zur Tür. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen da drin, Miss Campell?“, rief Undertaker durch die Tür und klopfte abermals. „Ich hoffe, Sie haben nicht vor, das fortzuführen, was sie im eiskalten See begonnen haben. Die Duschkabine ist nicht tief genug, um sich darin zu ertränken, sollten Sie auf dumme Gedanken kommen.“ „Ich bin gleich fertig“, rief sie zurück und war verwirrt. Hatte ihr Mentor gerade versucht einen Witz zu machen? Wollte er sie vielleicht aufheitern oder zum Lachen bringen? Alyssa rieb sich mit der Seife ein und beschloss bei nächster Gelegenheit in der Stadt danach Ausschau zu halten. Es roch wirklich gut und angenehm. Schnell spülte sie den Schaum ab und stellte das Wasser ab ehe sie aus der Duschkabine stieg. Sie griff nach einem Handtuch auf der Ablage und trocknete sich damit schnell ab bevor es kalt werden würde. Erst jetzt besah sie sich die Kleidung, die ihr Mentor für sie bereit gelegt hatte. Es war eine schlichte lange dunkle Hose und ein dicker Rollkragenpullover. Die Kleidung war um einige Nummern zu groß und zu lang für sie, doch Alyssa hatte keine andere Wahl, wenn sie nicht im Handtuch oder gar nackt vor ihrem Mentor stehen wollte. Sie zog sich die viel zu großen Sachen an und krempelte die Hosenbeine mehrmals um, damit sie nicht über den Stoff stolperte. Dennoch war ihr die Hose immer noch viel zu lang. Der Hosenbund rutschte ihr von der Hüfte und sie musste aufpassen, dass die Hose nicht gänzlich runter rutschte. Der Rollkragenpullover war nicht viel länger und hätte von der Länge ein kurzes Kleid sein können. Die Ärmel hingen über ihren Händen und auch hier krempelte sie den überflüssigen Stoff soweit zurück wie es nur ging. Die Haare hingen ihr feucht auf den Schultern und würden an der Luft trocknen. Alyssa nahm ihre Brille und ging aus dem Badezimmer heraus. Ihr Mentor kam gerade mit einem Tablett Tee ins Wohnzimmer und lächelte sie an. Sie traute ihren Augen nicht. Träumte sie oder spielten ihre Augen ihr einen Streich? Sollte sie vielleicht in die Brillenabteilung gehen und einen Sehtest machen, ob sich ihre Sehstärke verändert hatte? Undertaker, der Mann ihrer schlaflosen Nächte, lächelte sie an! Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Seit wann scherzte er? Seit wann lächelte er und seit wann sorgte er sich um sie oder sprach ein Wort mit ihr? War sie vielleicht krank und der Arzt von der Krankenstation hatte vergessen ihr etwas zu sagen? „Setzen Sie sich“, sagte ihr Mentor und wies mit einer einladenden Geste auf den freien Platz neben sich. Langsam bewegte sie sich auf das Sofa zu und hielt dabei den Hosenbund ordentlich fest, während sich die Ärmel lösten und der Stoff über ihren Händen hing. Auch die umgekrempelte Hose löse sich an den Beinen und sie merkte, wie sie mehrmals auf den Saum trat und drohte zu stolpern. Zum Glück fiel sie nicht hin, sondern konnte jedes Mal ihr Gleichgewicht halten. Undertaker schüttelte den Kopf und griff mit einem Schmunzeln zur Decke neben sich. Sobald Alyssa sich gesetzte hatte, breitete er die Decke aus und legte sie ihr um die Schultern, so dass sie sich darin einkuscheln konnte. Auf dem Tisch vor ihr stand eine dampfende Tasse mit Tee. Undertaker griff nach ihren Händen und krempelte mit schnellen Handgriffen den Stoff wieder um, so dass sie ihre Hände frei nutzen konnte. Dasselbe tat er mit dem überschüssigen Saum der Hose. „So wie es aussieht, müssen sie noch jede Menge Spinat essen, um in die Kleidung zu passen“, witzelte er und nahm seine Tasse Tee zur Hand. Alyssa konnte nicht anders als ihren Mentor verblüfft anzustarren und in die Augen zu sehen, die hinter der Brille versteckt waren. Ein wehmütiger Seufzer entglitt ihr. „Das war nur ein Spaß. Kein Grund zum Seufzen“, sagte er schnell und deutete ihre Reaktion als traurig. „Ich weiß, dass Ihnen meine Kleidung zu groß ist, aber zum aufwärmen sollte es reichen bis Ihre trocken ist. Es ist besser als gar nichts.“ Alyssa nickte geistesabwesend und trank einen kleinen Schluck Tee. „Jetzt kommen Sie, Miss Campell. Ich beiße Sie schon nicht.“ „Ich glaube, Sie wurden von etwas gebissen“, gab sie zurück und schlug sofort die Hand vor den Mund. „Oh…es…es tut mir leid…es ist mir so rausgerutscht…“ Undertaker sah sie überrascht an, fing aber kurz darauf an zu lachen. „Vielleicht hat mich ja wirklich was gebissen. Aber trinken Sie erst mal Ihren Tee.“ Wieder nickte Alyssa und nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse. „Warum durften wir dem Baby nicht helfen?“, fragte sie nach einem Moment des Schweigens und sah in die Tasse. „Weil wir uns damit in das Schicksal dieses Kindes einmischen würden. Das ist uns leider nicht erlaubt. Wir würden eine sehr hohe Strafe bekommen, wenn wir das tun würden“, erklärte er. „Verstehe“, seufzte Alyssa und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. „Ich hätte dem Kind nur gerne geholfen.“ „Ich auch, aber wir müssen uns auch an die Regeln halten“ Vorsichtig strich er ihr über den Kopf und fuhr mit den Fingern zwischen ihrer schwarzen Strähne entlang. „Es ist aber ungerecht…“ Sie musste an das Kind denken, was wohlmöglich noch immer in der Kälte lag und Schrie. Aber vielleicht war es auch mittlerweile erfroren und ein Kollege hatte es abgeholt. Bei dieser Vorstellung bildeten sich Tränen in ihren Augen und sie musste schluchzen. „Es ist immer hart, jemanden sterben zu sehen und nichts für die Hinterbliebenen tun zu können“, sagte ihr Mentor und legte den Arm um ihre Schulter, damit sie sich an seiner Brust ausweinen konnte. „Besonders das erste Mal ist hart. Es ist also in Ordnung, wenn Sie weinen.“ Sie nickte stumm und schniefte lautstark. Aber das Baby war nicht der einzige Grund, weshalb sie weinte. Alyssa hatte immer den Gedanken verdrängt, dass sie nie eine Chance bei ihm haben würde. Sie wusste genau, dass sie zu unterschiedlich waren. Er war viel zu alt für sie und viel zu versessen auf die Arbeit als dass er sich jemals für sie interessieren würde. Dieser Gedanke hatte sich in den letzten Stunden immer mehr in ihr Bewusstsein gebohrt und es schmerzte. „Hier.“ Undertaker hielt ihr ein weißes Taschentuch vor die Nase. „Putzen Sie sich die Nase und trocknen sich die Tränen. Es ist alles ok und es ist nichts dabei, wenn Sie weinen.“ „Warum sind Sie so nett zu mir?“, fragte sie und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen. Sofort bildeten sich neue Tränen. Was tat sie eigentlich? Sie weinte sich bei dem Mann die Augen aus, der der Grund war, weshalb sie weinen musste, auch wenn ihm das selbst gar nicht bewusst war. „Sie sind doch sonst nicht so freundlich zu mir.“ „Sie sind meine Schülerin“, antwortete er und zog die Schultern hoch. Undertaker griff zur Tasse und trank daraus. „Wenn ich ehrlich bin, sind Sie sogar meine erste Schülerin.“ Alyssas Augen weiteten sich. Sie hatte immer gedacht, Undertaker hatte schon mehrere Schüler gehabt. „Hatten Sie also vor mir keine Schüler? Wieso nicht?“, fragte sie. „Weil ich keine wollte.“ „Warum haben Sie sich dann als Mentor gemeldet?“ „Weil jeder Shinigami mindestens einen Schüler gehabt haben muss und damit die Obersten endlich Ruhe geben, hab ich mich eben dieses Jahr dazu gemeldet.“ Er zog die Schultern hoch und trank erneut einen Schluck. Alyssa sah auf die Tischplatte. Er hatte also wirklich kein Interesse an ihr. Undertaker hatte nicht mal wirkliches Interesse daran, sie zu unterrichten. Wie sollte er da Interesse an ihr haben sowohl als Schülerin als auch als Frau. „Sind Sie deshalb so kühl und abweisend zu mir?“, wagte sie zu fragen und umklammerte die Teetasse. „Warum beantragen Sie denn nicht, dass mir ein anderer Mentor zugewiesen wird, wenn Ihnen meine Ausbildung egal ist?“ Ein Schnauben entfuhr ihm. „Sie haben ja keine Ahnung.“ „Wenn Sie den Mund nicht aufmachen, kann ich auch schlecht eine haben“, konterte sie zurück und in diesem Augenblick war es ihr egal, dass er ihr Mentor war. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und wartete auf eine Reaktion. Er wirkte gequält, als würde er mit sich ringen. Ein Seufzer entfuhr ihm. „Ich hasse es, was Sie mit meinem Leben anstellen“, sagte er ruhig und sah stur auf die Wand gegenüber. „Was…ich mit…Ihrem Leben…anstelle?“, wiederholte sie ungläubig. „Ist hier irgendwo ein Echo?“ „Was stelle ich denn mit Ihrem Leben an?“ „Sie stellen es auf den Kopf. Ganz einfach.“ „Warum lassen Sie es denn zu, wenn ich Ihnen eh egal bin?“ „Egal?“, schnaubte er und sah sie direkt an. In seinem Blick lag Wut, aber nicht auf sie. Er seufzte leise und verdrehte die Augen. Seine Haltung verriet Resignation. „Sie sind laut, aufdringlich, neugierig, fröhlich, witzig…Manchmal sind Sie die reinste Pest, wenn Sie versuchen nicht aufzufallen und dabei kläglich scheitern, weil sie zum Beispiel nicht widerstehen können Ihre Kekse zu essen. Aber egal…egal waren Sie mir von Anfang an nicht.“ Alyssas Herz schlug mit jedem Wort schneller und ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Hart schluckte sie und wusste nicht, was sie daraufhin sagen sollte. In ihrem Magen kribbelte es. „Was ich damit sagen will…“, begann er und zog sie näher zu sich. Alyssa zog die Luft ein und hielt den Atmen gespannt an. Sie waren sich so nahe, dass sich ihre Gesichter fast berührten. „Müssen…müssen Sie nicht zum Weihnachtsball?“, fragte sie schnell und hoffte, die Atmosphäre zu lockern. „Ich gehe nicht hin. Dieser ist nicht anders als die anderen davor auch“, antwortete er und verzog bei dem Gedanken das Gesicht. Undertaker machte keine Anstalten sie los zu lassen. Sein warmer Atem streifte ihr Gesicht. „Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja…Sie sind mir wirklich nicht egal. Ich mag Sie.“ Alyssa konnte kaum noch denken. Das Kribbeln erfüllte ihren ganzen Körper und lähmte sie. Sie war ihrem Mentor viel zu nahe, sie war ihm so nahe, dass sie jede einzelne Wimper sehen konnte und ihr blasses Gesicht in den Gläsern seiner Brille. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, so dass es schon schmerzte. Von diesem Moment hatte sie geträumt, doch nun wo er da war, fürchtete sie sich ein wenig vor den Konsequenzen und vor dem, was danach passieren würde. Undertaker senkte die Lider und beugte sich zu ihr herunter. Seine Finger gruben sich in ihre noch immer feuchten Haare. Alyssa schloss die Augen und wartete darauf, was passieren würde. Vielleicht würde er sie auch nur im Arm halten, wie ein guter Freund und sie machte sich ganz umsonst verrückt. Nur wenige Sekunden später konnte sie seinen Mund auf ihren spüren. Die Festlichkeiten und Ferien waren vergessen. Der Tee, der dampfend auf dem Tisch stand, wurde ignoriert. Kapitel 21: Einbahnstraße ------------------------- Nakatsu hatte sich früh schlafen gelegt. Lange bevor die Sonne hinter ihren dichten Regenwolken untergegangen war, hatte er sich in sein Bett gelegt und versucht zu schlafen. Es war ein unruhiges hin und her wälzen. Mehrmals war er fast eingeschlafen, doch seine Gedanken hörten nicht auf sich um die Dinge zu kreise, die alle passiert waren. Mittlerweile schlief er genauso schlecht wie Lily. In den letzten zwei Wochen war eine Menge geschehen und als Krönung des ganzen war Ronald Knox zurück. Nakatsu kam sich vor wie in einem schlechten Komödientheater. Genervt drückte er sein Gesicht in das Kissen und knurrte. Wieso musste dieser Typ auch zurückkommen? Lily hatte sein Verschwinden angefangen zu verarbeiten und dann kam er zurück. Damit hatte Ronald Knox alles über den Haufen geworfen. Nakatsu war wütend auf diesen Mann. Wenn er nicht sein Vorgesetzter wäre, würde er ihn zusammenschlagen. Zuerst ignorierte er Lily und brachte sie dazu, auszuflippen und zu weinen. Dann kam er bei ihr an und sprach mit ihr, als wäre nie etwas gewesen und bat um Verzeihung. Wollte er ihr wieder wehtun? Warum tat er das? Vor ein paar Stunden war er auch in Lilys Zimmer gewesen. Sie hatte ausgesehen, als wäre sie wieder den Tränen nahe gewesen. Nakatsu verstand all das nicht. Er verstand nicht, wieso dieser Mann sie nicht einfach in Ruhe lassen konnte. Er sollte sich von Lily fern halten. Er sollte sie nicht zum Weinen bringen. Vielleicht ging es ihr dann besser. Aber Lily mochte ihren Mentor und als guter Freund akzeptierte man so etwas, auch wenn man es nicht gerne sah. Nakatsus Hand ballte sich zur Faust bei der Vorstellung, dass Lily wieder seinetwegen weinen musste und er konnte sich gut vorstellen, was er dann mit Ronald Knox anstellen würde. Er würde seine Shampooflaschen vertauschen und seine Haare Lila oder Pink färben. Er würde ihn lächerlich machen und ihn genauso leiden lassen, wie Lily es tat. Vielleicht konnte er auch ein paar Gerüchte über ihn verbreiten, die ihm genauso weh taten. Aber Lily würde ihn dann sicherlich zu Recht stutzen. Aber das war es wert, wenn er dafür sorgen konnte, dass er seine beste Freundin in Ruhe ließ. Ronald Knox sollte einfach seine Finger von Lily lassen. Damit wäre vielen geholfen. Nakatsu seufzte tief in das Kissen und schlug mit den Beinen wütend auf die Matratze. Lily hatte ihm erzählt, was er mit ihr besprochen hatte und auch das Gespräch mit Mr. Humphries später, wo er dabei gewesen war, verlief auf die gleiche Art und Weise. Es ging darum, wieso er gegangen war und das all diese Gerüchte und Lästereien nicht auf seinen Mist gewachsen waren. Nakatsu wollte es nicht glauben und er wusste genau, dass er sich dabei wie ein kleines Kind benahm, das auf sein falsches Recht pochte, aber es ging um seine beste Freundin, die die ganzen zwei Wochen gelitten hatte. So etwas war mit einer einfachen Entschuldigung nicht abgetan. Er sah vom Kissen auf, in dem er sein Gesicht gedrückt hatte und holte tief Luft. Mit einer Handbewegung strich er sich die Haare aus den Augen und schaute auf den Wecker, der auf dem Nachtisch stand. Bald würde er klingeln und ihn zum Aufstehen zwingen. Nakatsu seufzte erneut und dreht sich auf den Rücken. Er starrte die weiße Decke an. Unweigerlich dachte er an den Gerichtstermin zu dem er von einem Shinigami namens Undertaker geschleppt worden war. Es war imponierend gewesen, aber auch furchteinflößend zugleich. Er hatte sich gut vorstellen können, wie es Lily ergangen war, als sie auf dem Stuhl gesessen hatte und die Shinigami sie verhört hatten. Für ihn als uneingeladener Zeuge war es schon hart gewesen, aber als Angeklagte war es sicherlich noch um einiges schlimmer. Nakatsu fragte sich, ob er bei dem Termin von Ronald Knox auch dabei sein sollte. Eine offizielle Einladung hatte er nicht erhalten und er war auch nur durch diesen komischen Shinigami Undertaker dorthin gekommen. Ob dieser ihn auch zu der Verhandlung von Knox zerren würde? Bei dem Gedanken, dass er für diesen Mistkerl aussagen sollte, bekam Nakatsu das kalte Grausen. Er würde niemals im Leben für ihn aussagen, um seine Haut zu retten. Wenn es nach ihm ginge, konnte er wieder zurück nach Timbuktu oder Tibet oder dahin wo der Pfeffer wuchs. Auf jeden Fall würde Nakatsu ihn gerne wieder ins Exil schicken. Aber dann würde Lily sicherlich wieder anfangen zu weinen und das nur, weil sie sich Vorwürfe machte Schuld daran zu sein. Das konnte Nakatsu ihr nicht antun. Genervt griff er zum Kissen neben sich und presste es auf sein Gesicht. Warum musste alles so kompliziert sein? Wieso musste sich im Moment alles um Ronald Knox drehen bei Lily? Konnte sie nicht ein wenig von ihm sprechen oder ihm etwas mehr Aufmerksamkeit schenken? Er war die ganze Zeit für sie da und hörte ihr zu, aber er wollte auch ihre Aufmerksamkeit. Nakatsu gestand sich nur ungern ein, dass es ihn wurmte, dass er eifersüchtig war. Er spielte sogar mit dem Gedanken auch für zwei Wochen wortlos zu verschwinden. Vielleicht würde Lily ihn dann mehr beachten. Aber sollte er sich wirklich auf das Niveau von Ronald Knox begeben? Wütend riss er das Kissen runter und drückte es an seine Brust. So Verzweifelt war er nicht, dass er zu solchen Maßnahmen greifen musste. Er würde Lily auch so beeindrucken können ohne sie zum Weinen zu bringen. Immerhin wollte er als bester Freund für sie da sein, wie ein großer Bruder es tun würde oder der Partner. Was fühlte er eigentlich genau für Lily? Auf der einen Seite wollte er ihr so nahe sein, wie es der Liebste tat, aber auf der anderen Seite wollte er ihre Freundschaft nicht dadurch kaputt machen und wollte ihr dann so nahe sein, wie ein großer Bruder. Nakatsu seufzte auf und schaute zum Fenster. Die Vorhänge verdeckten die Scheiben, konnten aber nicht verhindern, dass die Blitze kurz durch schienen, wenn sie am Himmel aufkamen. Ein lautes Donnern erfüllte die nächtliche Stille und der Regen trommelte gegen die Scheibe. Das Wetter war passend zu seiner Stimmung. Wenigstens konnte der Himmel seine Energie entladen, während es weiterhin in ihm kochte wie in einem Vulkan. Es war nur eine Frage der Zeit bis er explodieren würde. Wenn er genau darüber nachdachte, war er sogar schon explodiert. Nakatsu hatte sich mit Kayden geprügelt vor einem Tag. Lily hatte zum Glück nichts davon mitbekommen und er hatte es gut verheimlichen können. Kayden hatte ihn ganz schön auf die Nase geschlagen. Sie hatte sogar stark geblutet und sie tat immer noch weh, wenn er die Brille höher schob oder sich über das Gesicht rieb. Ein großer dunkelvioletter Fleck zierte seinen linken Oberarm. Nakatsu hatte Kayden unterschätzt, aber trotzdem war er klar als Sieger hervor getreten und hatte das Großmaul zum Schweigen gebracht, auch wenn ihm jetzt einige Körperstellen weh taten. Es hatte aber gut getan und er hatte seine Wut raus lassen können. Kayden war und blieb ein Großmaul. Er hatte es nicht besser verdient. Einige der Worte, die er ihm an den Kopf geworfen hatte, gingen Nakatsu jedoch nicht aus dem Kopf. Hatte er tatsächlich einen Bruderkomplex? Benahm er sich bei Lily wirklich wie ein großer Bruder und gleichzeitig wie ein eifersüchtiger Freund? War es pervers, wenn man jemanden beschützen wollte und ihn gleichzeitig liebte? Aber er und Lily waren nicht verwandt. Also war es kein Inzest wie Kayden behauptet hatte. Obendrein war er ein Einzelkind. Wie konnte man da einen Bruderkomplex haben? Konnte man sowas als Einzelkind überhaupt bekommen? Nakatsu sah Lily aber gar nicht als kleine Schwester, sondern wirklich nur als beste Freundin. Waren sie überhaupt Freunde? An ihrem ersten Schultag abends hatte er sich bei ihr entschuldigt für sein Verhalten. Sie hatte es akzeptiert und danach war er automatisch bei ihr gewesen. Sie hatten sich ganz einfach unterhalten und waren bei den Mahlzeiten, sowie den Hausaufgaben zusammen. Er hatte es als gutes Zeichen für eine Freundschaft gesehen und Lily als gute Freundin lieb gewonnen. Was wäre, wenn sie es aber ganz anders sah? Was wäre, wenn Lily ihn einfach nur akzeptierte und gar nicht als Freund sah? Nakatsu schüttelte den Kopf und drückte das Kissen an seine Brust. Sie sah ihn mit Sicherheit als Freund. Wenn dies nicht der Fall wäre, hätte sie niemals erlaubt, dass er neben ihr im Bett schlief. Sie würde sich sonst nie bei ihm ausweinen oder mit ihm reden. Lily hätte sonst nicht sein Piercing als nachträgliches Geburtstagsgeschenk bezahlt. Bei dem Gedanken daran, wie weh es getan hatte und wie er ihre Hand dabei halten durfte, klopfte sein Herz ein wenig schneller. Unweigerlich fuhr er mit den Fingern vorsichtig über den silbernen Ring und bewegte ihn vorsichtig hin und her. Es tat noch immer ein wenig weh und immer wieder bildete sich eine Wundkruste. Doch Nakatsu war stolz auf sich, dass er den Mut dazu gehabt hatte. Sein Mentor war nicht begeistert gewesen und machte ihm jetzt so gut es eben ging, und ohne gegen irgendwelche Regeln zu verstoßen, das Leben zur Hölle. Zu Nakatsus Glück vergaß er schon mal die ein oder andere Strafarbeit. Aber er sollte wirklich das Gespräch mit William T. Spears suchen. So konnte seine Ausbildung nicht weiter gehen. Er konnte sich nicht ständig die aktuellen Sachen von Lily erklären lassen, nur damit er im Unterricht mitkam. Aber es war im Moment einfach keine gute Gelegenheit mit Spears zu sprechen. Er war ohnehin schon schlecht gelaunt wegen den Gerichtsterminen und den Problem, die Kayden und Carry bei Lily verursachten, da wollte er nicht der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nakatsu wollte einfach nicht seine Wut und miese Laune abbekommen. Wenn er sogar ehrlich war, hatte er auch ein bisschen Angst vor William T. Spears schlechter Laune. Der Mann war aber auch ungenießbar. Es war schlimmer als sonst. Man könnte meinen seine kalten Augen wären ein Eisspieß und drang einem direkt durchs Herz, um einen zu töten. Ein Schauer lief ihm durch Mark und Bein bei der Vorstellung. Laut seufzte Nakatsu und warf das Kissen zur Seite. Er schob die Unterlippe vor und pustete sich Luft in die Stirn, wo sich kleine Schweißperlen gebildet hatten. Es kam ihm vor, als wären in seinem Bett mindestens hundert Grad. Seinem Rücken rann der Schweiß hinunter. Unter diesen Umständen und Bedingungen war erst recht nicht an Schlaf zu denken. Nakatsu schlug die Decke zurück und genoss den kurzen, kühlen Windhauch, der ihm entgegen schlug. Trotz der kühlen Temperaturen, die Zurzeit draußen herrschten, war ihm heiß. Er öffnete das Fenster einen Spalt und ließ frische Luft herein. Das Gewitter draußen war noch immer im vollen Gange. Es war also keine gute Idee sich jetzt draußen auf den Balkon zu stellen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Aber duschen konnte er immerhin. Eine lauwarme Dusche würde ihm sicherlich gut tun und danach würde er sich auch gleich frischer fühlen. Nakatsu öffnete den Kleiderschrank und zog frische Sachen heraus. Danach ging er ins sein Badezimmer und legte die frischen Sachen auf eine Ablage ab. Er zog sein verschwitztes Oberteil aus und warf es auf den Boden zu den anderen schmutzigen Sachen, die gewaschen werden wollten. Wenn er den Haufen so sah, fragte er sich, wie viele frische Unterhosen noch in seinem Schrank lagen. Er sollte wirklich dringend in den Waschkeller gehen. Vielleicht konnte er auch Lily um den Gefallen bitten für ihn zu waschen. Nakatsu hatte dazu absolut keine Lust und schob diese Aufgabe gerne vor sich her. Aber wenn er drüber genau nachdachte, würde Lily ihn wahrscheinlich in den Hintern treten, wenn er sie darum bitten würde für ihn die Wäsche mit in den Keller zu nehmen. Sie würde ihn am Piercing packen und daran runter ziehen. Bei dem Gedanken verzog er das Gesicht. Die Schmerzen wollte er sich nicht ausmalen. Es tat ja allein schon weh, wenn er es desinfizierte und leicht bewegte. Wenn Lily daran ziehen würde, würde sicherlich sein Ohr vor Schmerz abfallen. Er schauderte bei der Vorstellung und betrachtete das Helix im Spiegel, wobei er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Seine Haare waren vom Schweiß verklebt und erinnerten ihn daran, dass er duschen wollte. Nakatsu trat unter die Dusche und stellte das Wasser auf eine angenehme Temperatur. Er schloss die Augen und genoss es, wie das Wasser an ihm herunter lief. Nakatsu seufzte auf und legte entspannt den Kopf in den Nacken. Die Kühle des Wassers tat gut und gleichzeitig war da die entspannende Wärme, die seinen Kopf frei machte, während ein Blitz den Himmel erhellte gefolgt von einem Donnergrollen. Wenn er bei dem Gewitter nachher noch schlafen konnte, war es ein Wunder. Wie konnte Lily eigentlich bei diesem Wetter schlafen oder war sie wieder wach, weil sie schlecht geträumt hatte? Aber er wollte jetzt an nichts denken. Nicht an Kayden oder Carry und erst Recht nicht an Ronald Knox oder seinen Mentor. Nakatsu stellte sich vor, wie er nach der Abschlussprüfung Urlaub machte. Am besten in der Menschenwelt und an einem Sandstrand mit Meer, nicht an einem kleinen See. Die Wellen, die ans Ufer schlugen und rauschten, während die Sonne auf ihn brannte. Vielleicht mit Lily zusammen. Nakatsu musste sie unbedingt fragen, ob sie mit ihm Urlaub machen würde nach der Abschlussprüfung. Als kleine Belohnung für die harte Zeit sozusagen. Sie würde sicherlich mitmachen und gemeinsam würden sie ihren Urlaub planen. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Die Vorstellung unter einem Wasserfall zu stehen und mit Lily schwimmen zu gehen ließ sein Herz vor Freude kräftig klopfen. Er stellte sich vor, das Wasser aus der Dusche wäre der Wasserfall und Nakatsu seufzte auf bei dem Gedanken auf. Es wäre himmlisch, würde das wahr werden und wenn er Lily dazu persönlich Schwimmunterricht geben musste, würde er es tun. Nakatsu schreckte mit einem Mal aus seinen Gedanken auf, als er glaubte zu hören, wie es an der Tür klopfte. Sofort stellte er das Wasser ab und drehte den Kopf zur Tür. Angestrengt lauschte er über die Geräusche des Unwetters hinweg. Wer klopfte denn so spät in der Nacht an seine Tür? Oder ging sein Wecker nach und es war eigentlich schon längst Zeit zum frühstücken? War es vielleicht sogar sein Mentor, der ihm zu einem Straftraining abholte und sich ausnahmsweise mal daran erinnerte? Oder war es sogar Spears, der vor seiner Tür stand und ihm zum Unterricht zerren wollte, weil seine Uhr falsch ging? Aber würde es dann nicht wieder klopfen? Langsam stieg Nakatsu aus der Dusche und wickelte sich ein Handtuch um die Hüften. Es klopfte wieder. Diesmal war er sich sicher. Er hatte sich nicht verhört. Jemand klopfte eindeutig an seiner Tür. Das Licht fing an zu flackern und war mit einem Mal aus. Ein Fluch auf japanisch verließ seine Lippen und vorsichtig tapste er auf nassen Füßen zum Lichtschalter, darauf bedacht nicht auf den Fliesen auszurutschen. An der Tür klopfte es erneut. „Ja, ja, ich komme ja schon…“, murmelte er und drückte an dem Lichtschalter herum. Das Licht blieb aus. Wieder fluchte Nakatsu auf japanisch und öffnete die Badezimmertür. Das Wasser lief noch an ihm herunter und tropfte an seinen Haaren herab. Auf dem Boden hinterließ er nasse Fußabdrücke. Vorsichtig bewegte er sich durch das Zimmer, um nicht irgendetwas in der Dunkelheit umzustoßen oder gegen zu laufen. Nakatsu ertastete den Griff und öffnete die Tür. In der Dunkelheit konnte er den Umriss einer Gestalt ausmachen. „Nakatsu, darf ich…darf ich reinkommen?“ Es war Lily und Nakatsu danke innerlich dem Gewitter für den Stromausfall. So blieb ihnen beiden die peinliche Situation erspart. „Ähm…klar…komm rein…“, stammelte er und prüfte mit der Hand nach, ob das Handtuch gut saß und nicht im nächsten Moment runter fallen könnte. „Danke“, sagte sie und tastete sich an der Tür entlang. Lily ertastete seine Hand und hielt sich an seinem Arm fest. Doch sie ließ ihn sofort los. „Du bist ja total nass. Was hast du gemacht? Warst du etwa im Regen?“ „Nein, ich war duschen als du geklopft hast.“ „Oh“, brachte sie nur hervor und Nakatsu konnte schwören, dass sie in diesem Moment rot anlief wie eine Tomate. „Findest du zum Sofa?“, fragte er, um schnell das Thema zu wechseln. Er berührte sie an der Schulter, um sie ein wenig zu führen. „Ja“, antwortete sie und trat langsam ein. „Okay…ich…ähm…gehe mir nur eben was anziehen…“ Mit diesen Worten ging er, so schnell es in der Dunkelheit möglich war, davon. Nakatsu hörte, wie Lily die Tür schloss. Sein Handtuch rutschte auf halben Weg von seiner Hüfte und er hielt es schnell fest, ehe es sich ganz verabschiedete. Er tapste zurück ins Badezimmer, wo seine Sachen lagen und schloss die Tür hinter sich. Nichts sehen zu können war schrecklich. Er brauchte Licht! Wieso musste gerade jetzt das Licht ausgehen? Aber auf der anderen Seite war er froh, dass Lily nicht hatte sehen können, wie sein Handtuch verrutscht war. Er nahm das Handtuch von seiner Hüfte und rieb sich damit schnell trocken. Nakatsu wollte Lily nicht alleine in der Dunkelheit lassen. Außerdem war ihre Hand eben eiskalt gewesen, als hätte sie sie in Eiswasser getaucht. Es waren zwar nicht die wärmsten Temperaturen draußen, aber diese Kälte besorgte ihn doch. Nakatsu griff nach der langen Unterhose und zog sie sich schnell über, ebenso das frische Oberteil. Er kniete zu Boden und durchwühlte den Wäschehaufen nach einer Hose, die er noch anziehen konnte. Als er eine gefunden hatte, zog er sie schnell an und hüpfte herum, um sie über seine nassen Waden zu bekommen. Der Stoff klebte unangenehm auf der Haut und die Hose wollte sich nicht überziehen lassen. „Komm schon…“, murmelte er wütend und zog sie ein Stück höher. Er hüpfte noch immer ein wenig herum. Nakatsu wusste, dass es gar nichts brachte, aber aus irgendeinem Grund tat er es wie viele andere auch, wenn sie in eine Hose kommen wollten. Seine Beine verhedderten sich in dem liegengelassenen Handtuch und er fiel zu Boden. Ein weiterer Fluch auf japanisch verließ seine Lippen. Das war schon der dritte innerhalb einer Stunde. Ein neuer Rekord. So oft hatte er noch nie auf japanisch geflucht. Nakatsu musste aufpassen. Er wollte seine zweite Muttersprache nicht nur fürs Fluchen verwenden. „Nakatsu, ist alles in Ordnung bei dir da drin?“, fragte Lily besorgt. „Ja, alles gut. Ich bin nur über das Handtuch gestolpert.“ „Du solltest bei dir echt mal aufräumen im Bad. Dein Wäschehaufen könnte auch mal wieder eine Wäsche vertragen.“ „Ich weiß“, sagte er und knöpfte die Hose zu. „Warum tust du es dann nicht endlich mal?“ „Keine Lust“, antwortete er und rieb sich mit dem Handtuch noch einmal über die nassen Haare. „Aber wenn es dich stört, mach du es doch“, sagte er mit einem Lachen in der Stimme. „Ich glaub, die Dusche war nicht kalt genug für dich. Kann das sein?“ Lilys Stimme hatte einen neckischen Tonfall angenommen. Nakatsu musste grinsen. Er liebte ihre Neckereien untereinander. „Och, die Dusche war ganz angenehm. Kälter hätte sie nicht sein dürfen. Aber danke der Nachfrage.“ Nakatsu warf das Handtuch auf den Wäschehaufen und trat aus dem Badezimmer. „Bin fertig.“ Er ging zum Sofa und setzte sich in der Dunkelheit neben Lily. „Was führt dich denn zu mir?“ „Ich konnte nicht schlafen…“, sagte sie leise. „Wegen dem Gewitter?“ „Nein“ Er konnte hören wie sie den Kopf schüttelte und ihre Haare dabei hin und her flogen. „Hattest du wieder schlecht geträumt?“ Lily schwieg. „Komm mal her“, sagte er und legte einen Arm um ihre Schulter. Lily legte ohne zu zögern den Kopf an seine Brust. Etwas, was sie in den letzten Wochen sehr oft getan hatte. Selbst durch den Pullover, den sie trug, konnte er spüren, wie kalt ihre Haut darunter war. Sie zitterte. „Du bist eiskalt“, sagte er und drückte sie ein wenig enger an sich heran. „Ich weiß…mir wird auch nicht warm…“ Ein Schluchzen war zu hören. „Ich hab alles versucht. Ich war heiß duschen, habe drei heiße Tassen Tee getrunken, habe mich in drei Decken eingewickelt, aber mir ist immer noch kalt…Ich weiß nicht, was ich tun soll…“ „Wirst du etwa krank?“ „Ich weiß es nicht…aber mir ist einfach nur schrecklich kalt…“ „Dann ist es ja gut, dass du hier bist. Ich werde dich schon aufwärmen.“ Nakatsu grinste sie an, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Danke…du bist aber auch tierisch warm…Warst du im Backofen?“ „Nein, aber du im Eis so kalt wie du bist.“ Lily brummte. „Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?“ „Nein…es ist nur…ich hab geträumt, ich breche in einen See ein im Winter. Jemand hat mich raus gezogen und ins Warme gebracht…“ „Wie ging es weiter?“ „Er…wir…“ Lily hielt inne und es dauerte einen Moment bis sie weiter sprach. „Wir hatten uns dann geküsst…“ Nakatsu brummte. „Konntest du erkennen, wer es war?“ „Nein…“ „Du träumst echt komische Sachen…“ „Ich weiß.“ „Aber mach dir keinen Kopf darüber. Es war nur ein Traum und jetzt kommt mit. Wir gehen in mein Bett und kuscheln uns in die Decke ein. Dann kannst du noch ein bisschen Schlafen und ich wärme dich dabei.“ „Danke“, murmelte sie und stand mit ihm auf, um ins Schlafzimmer zu gehen. „Sag mal, was glaubst du, wo Hinako hingegangen ist?“ „Wie kommst du jetzt darauf?“ „Nur so…Es fiel mir gerade ein. Es hieß doch, sie ist auf einer Fortbildung oder so was.“ „Ja, sicherlich für Schwertkampf. Bestimmt ist sie zurück nach Japan dafür. Dort gibt es eigentlich die besten Schwertkampftechniken.“ „Wann denkst du, kommt sie zurück?“ „Keine Ahnung, es wird aber sicherlich noch dauern.“ Nakatsu stieg ins Bett und zog sich die Decke über, während er es sich bequem machte. Er spürte wie sich die Matratze bewegte als Lily von der anderen Seite ins Bett stieg. Im nächsten Moment war ihr kalter Körper zu spüren und ihre kalten Füße, die sich an ihm wärmte. Nakatsu fröstelte kurz dabei. Was hatte Lily in der Nacht gemacht, dass sie so kalt war? Sie konnte doch nicht nur so kalt sein, weil sie geträumt hatte, sie brach in einen See ein. Er legte einen Arm um sie und zog sie an sich, während er ihr über die Haare strich. „Schlaf noch ein bisschen. Der Wecker wird pünktlich klingeln und uns wecken. Vor dem Gewitter brauchst du auch keine Angst zu haben.“ „Ich habe keine Angst vor Gewitter…“, murmelte sie. „Aber danke.“ „Nicht dafür. Jetzt schlaf aber.“ Nakatsu zögerte kurz, drückte ihr dann aber einen Kuss auf die Stirn. „Du auch“, flüsterte sie und ihre Atmung entspannte sich. Sie wurde leiser und gleichmäßiger. „Ich versuch es…“ Nakatsu schloss die Augen und rutschte noch näher an Lily heran, wenn es möglich war. Sein Herz klopfte. Wie sollte er denn Schlafen, wenn ihn die Person neben ihn aus dem Konzept brachte? Er strich ihr weiter durchs Haar und versuchte seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. „Du bist schon ein Chaot, Lil, aber ich mag dich trotzdem und bin für dich da.“ Er küsste sie erneut auf die Stirn und schloss die Augen. Vielleicht konnte er noch ein wenig Schlaf finden mit Lily an der Seite. Sie machte ihn zwar oft genug Nervös, aber sie gab ihm auch ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit. Nakatsu hoffte, dass er ihr das auch vermitteln konnte, wenigstens ein bisschen. Besonders jetzt, wo es nicht so leicht war mit ihrem ehemaligen Mentor. Er unterdrückte ein Gähnen und genoss diesen Moment, während Lily schon längst wieder im Land der Träume war. Ronald Knox erwachte am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Besorgnis und des Unbehagens. Im ersten Moment konnte er sich nicht erklären, woher oder wieso es kam. Er brauchte einige Minuten, in denen er sich im Bett wälzte und die Decke bis zum Kinn hoch zog. Am liebsten wäre er wieder eingeschlafen. Am Besten noch mit einem süßen Mädchen an der Seite. Einem süßen Mädchen wie Lily es war und wie er schon einmal neben ihr wach geworden war. Ronald seufzte wohlig auf bei dem Gedanken und sein Herz pochte bei der Erinnerung. Noch immer quälte er sich mit der Frage, ob er sich absolut sicher sein konnte, verliebt zu sein. Bei den Mönchen war er sich sicher gewesen, aber nun quälte ihn der Zweifel. Was wäre, wenn es nur eine freundschaftliche Liebe war? Dann wäre alles gar nicht so schlimm und er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Er wollte einfach nicht glauben, dass er, ein verschriener Frauenheld der Society, verliebt sei. Er, der fast jeden zweiten Abend mit einer Frau ausging und auf Partys anzutreffen war. Wie konnte da ein einfaches Mädchen in ihm den Wunsch wecken, eine feste Beziehung haben zu wollen? Ronald dachte unweigerlich an das Gespräch vom gestrigen Abend mit Lily. Es war alles andere als gut gelaufen. Aber was hatte er hatte eh nicht erwartet, dass sie ihn sofort in die Arme schloss und alles wieder gut sein würde. Vertrauen zu verdienen brauchte eben Zeit. Er atmete tief ein und aus. Der Gedanke an die Anhörung des Gerichts machte sich in seinem Kopf breit. Wenn der morgen mit diesen Gedanken begann, würde der Tag sicherlich nicht besser werden. Ronald hatte das Gefühl, die Last der Probleme direkt auf seinen Schultern zu führen wie mehrere Säcke Reis, die er bei den Mönchen hatte tragen müssen. Sein Gesicht vergrub er in das Kissen und brummte missgelaunt. Er wollte auch nicht an die Akte denken, die er am Abend zuvor von William erhalten hatte und die noch immer auf seinem Sofa in der Ecke lag. Es grauste ihn davor weiter zu lesen. Das, was er bisher gelesen hatte, hatte ihm eigentlich schon gereicht, aber auf der anderen Seite, wollte er wissen, was passiert war. Seine sonst so gute Laune sank noch tiefer in den Keller. Mit einem tiefen Seufzer erhob er sich aus dem Bett und ging unter die Dusche, um einen klareren Kopf zu bekommen. Als er im Badezimmer stand, zögerte er in den Spiegel zu sehen. Er sah sicherlich schrecklich aus nach der durchwälzten Nacht. Vielleicht hatte er eine Chance nicht ganz so schlimm und übernächtigt auszusehen, wenn er erst einmal durch die Dusche wach geworden war. Ronald legte seine Brille ab und zog seine Sachen aus, nur um schnell unter die Dusche zu gehen und den Blick in den verhängnisvollen Spiegel zu vermeiden, der ihm unverblümt die Wahrheit zeigen würde, wie er aussah. Das Wasser tat gut und er fühlte sich gleich wacher, aber dennoch würde er eine Tasse Kaffee brauchen bis er richtig munter war. Er musste auch unbedingt mit den anderen sprechen, vielleicht sogar noch mal mit Lily. Am besten, wenn ihr Freund Nakatsu nicht dabei war. Sollte er vielleicht auch mit William wegen des Termins und über das, was er in der Akte gelesen hatte sprechen? Vielleicht könnten sie gemeinsam einen Weg finden, die Sache mit Carry zu beenden, ohne dass Lily weiter Schaden nehmen würde. Ronald strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und stellte das Wasser ab. Ein lauter Seufzer verließ seinen Mund und er stieg aus der Dusche. Schnell wickelte er sich ein Handtuch um und trocknete sich ab. Ronald überlegt ernsthaft den heutigen Tag blau zu machen. Bei der Vorstellung zum Arzt zu gehen für den Termin und sich den Anfeindungen zu stellen, verkrampfte sich sein Magen, was nur noch schlimmer wurde, als er daran dachte möglicherweise Carry über den Weg zu laufen. Aber er war nicht der Typ, der sich feige verkroch, wie ein Hase. Er würde sich dem stellen, was auf ihn zukam und es durchstehen. Wenn seine Schülerin Lily das konnte, konnte er es erst recht. Außerdem musste er als Mentor ein gutes Beispiel abgeben. Schnell zog er sich seine Uniform an und wischte mit der Hand den Wasserdampf vom Spiegel. Es war etwas ungewohnt wieder die eng anliegende Kleidung zu tragen im Gegensatz zu der locker sitzenden Kutte der Mönche. Die Krawatte um seinen Hals fühlte sich an, als würde sie ihm die Kehle zuschnüren und Ronald glaubte, fast keine Luft zu kriegen, weshalb er sie ein wenig mehr lockerte als sonst. Um diese Uhrzeit würde er schon längst wieder am Wasserfall stehen und meditieren und eigentlich hatte er sich fest vorgenommen das Tai Chi fortzuführen, aber an diesem Morgen fehlte ihm eindeutig die Motivation dazu. Seine Laune wurde von Sekunde zu Sekunde mieser. Seine Haare lagen nicht so wie er es gerne hätte und seine Gesichtsfarbe war bleich, wie bei einer Leiche. Das frisch gewaschene weiße Hemd hing um eine Kleidergröße zu groß an seinem Oberkörper und die Gürtelschnalle musste auch um zwei Löcher weiter zugeschnürt werden, damit seine Hose richtig hielt. Ronald griff noch schnell zum Rasierer und entfernte die vielen Bartstoppeln, die sich in der Zwischenzeit in seinem Gesicht gebildet hatten. Es tat gut sich wieder anständig pflegen zu können. Mit der Hand fuhr Ronald sich mehrmals über seine glatt rasierten Wangen ehe er sich noch ein leichtes Männerparfüm auflegte. Dennoch änderte dieses gute Gefühl seine Stimmung nicht im Mindesten. Ein Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Er fragte sich, was er den ganzen Tag über machen sollte bis er wieder arbeiten durfte. Immerhin war er noch suspendiert und ihm fiel nichts ein, was er tun sollte. Ronald verließ missgelaunt das Badezimmer und sein Blick fiel auf die schmutzigen Hemden im Müllsack. Er konnte sich ein leises Knurren nicht verkneifen. William würde es ihm mit Sicherheit vom Gehalt abziehen, dass er einen Satz neuer Hemden brauchte. Wütend verließ Ronald sein Apartment, um in die Mensa zu gehen. Er hatte zwar keinen Hunger, hoffte aber, dass er dort seine Freunde antreffen würde. Seine Hand fuhr noch schnell in die Hosentasche und er konnte die Münzen fühlen, die darin lagen. Hoffentlich war keine allzu lange Schlange vor dem Kaffeeautomaten. Als Ronald in den Flur kam, der zur Mensa führte, hörte er schon das Geschirr klappern und laute Stimmen, die aus der Mensa strömten, sowie der Geruch von frischem Kaffee. Einige Kollegen standen in dem Flur und vor der Tür herum und unterhielten sich. Ronald kam nicht umhin, zu bemerken, dass einige anfingen zu tuscheln und ihm leise Sprüche zuriefen. Er konnte sich gut vorstellen, dass es bei seiner Schülerin nicht so harmlos abgelaufen war und es für sie eine Tortur gewesen sein musste jeden Morgen hier zu essen. Ihm wäre da sicherlich auch der Appetit vergangen. Am Kaffeeautomaten, der einige Meter von der Tür zur Mensa entfernt stand, sah er William T. Spears stehen, der gerade ein paar Münzen in den Automaten warf und auf einen Knopf drückte. Die Maschine brummte und surrte lautstark während der Kaffee in seine Tasse plätscherte. Ronald trat näher heran und begrüßte seinen Vorgesetzten. William sah auf und nahm seine Tasse aus dem Automaten. „Guten Morgen, Mr. Knox“, sagte er und nahm sich von dem kleinen Beistelltischchen etwas Zucker und Milch. Ronald fiel auf, dass William erschöpft und müde aussah. Er musste wohl wieder bis in den Morgenstunden gearbeitet haben oder zumindest die halbe Nacht. Sein Blick fiel zu der Tasse in Williams Hand, in der er mit einem Teelöffel herum rührte. Es war eine blau-grüne Tasse mit einem Schaf darauf, das einen Anzug trug und hinter einem Schreibtisch saß. Auf und vor dem Schreibtisch stapelten sich Papiere und flogen auch fleißig durch die Luft. Auf der einen Seite stand in großen Buchstaben „Cheftasse“ und auf der anderen Seite neben dem Bild stand „Teamwork ist, wenn viele tun was ich sage“. Ronald musste schmunzeln. Anstatt sie im Schrank verstauben zu lassen, benutzte William tatsächlich die Tasse, die ihm die Abteilung zum Geburtstag geschenkt hatte. William schien seinen Blick zu bemerken und folgte ihm. Er sah kurz zur Tasse aus der Dampf aufstieg und sein Mund verzog sich kurz zu einem leichten Schmunzeln, ehe es wieder die emotionslosen Züge annahm. „Haben Sie die Akte schon durchgelesen, Mr. Knox?“, fragte Spears. „Nein, noch nicht ganz. Ich war gestern sehr müde“, antwortete Ronald und warf ein paar Münzen in den Automaten, während William ihn musterte. Er trank einen Schluck aus seiner Tasse. „Was denken Sie über das bisherige?“ Ronald überlegte. Er hatte sich bisher noch gar keine Gedanken drüber gemacht. Im Gegenteil. Erfolgreich hatte er sich verdrängt. Der Automat warf einen billigen Pappbecher aus und das Gerät brummte wieder lautstark. Nur wenige Sekunden später plätscherte der heiße Kaffee heraus. „Also ganz ehrlich?“, fing er an und nahm das Wechselgeld heraus, das er in seine Hosentasche schob. Ronald nahm dem Kaffee und trank vorsichtig einen Schluck. „Ich frage mich, was Carry damit erreichen will. Es ist ja wohl offensichtlich, dass sie es war.“ William nickte zustimmend. „Das weiß ich, aber beweisen können wir es nicht. Aber eins kann ich Ihnen sagen. Sie tut es, weil sie hinter Ihnen her ist.“ Ronald nickte. So etwas hatte er sich schon fast gedacht. Carry war hochgradig eifersüchtig auf Lily, obwohl es dazu kein Anlass gab. Obendrein waren Carry und er nicht mal zusammen. Ungläubig über die Taten schüttelte er den Kopf. „Verrückt…“, murmelte er. „Dennoch müssen wir dringend Beweise finden“, sagte Spears und musterte Ronald eindringlich. „Aber erst mal bringen wir den Termin hinter uns. Das Gericht muss überzeugt werden.“ Ronald nickte zustimmend, dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich eine Art Geschwür in seinem Magen ausbreitet und wie ein Fels so schwer darin lag. Das klang nicht gerade positiv. Das hieß wohl, dass Lilys Termin und die Aussage seiner Freunde nicht viel gebracht hatten. Umso mehr lag es nun an ihn das Gericht zu überzeugen. Innerlich packte ihn der Entschluss. So schnell würde er seinen Arbeit nicht verlieren und Lily auch nicht. Er würde es wieder gerade biegen. „Nun gut, Mr. Knox, gehen Sie was essen und zu Ihrem Arzttermin. Alles Weitere besprechen wir später, wie den Termin und wie wir Beweise sammeln können.“ Ronald nickte und William verabschiedete sich mit einem leichten nicken. Er sah seinem Vorgesetzten kurz hinterher ehe er in die Mensa ging. Sein Hunger hielt sich noch immer in Grenzen und so ging er mit dem Becher Kaffee in der Hand zu dem Stammtisch, wo bereits Alan, Eric und Grelle saßen. Von Lily und Nakatsu war keine Spur zu sehen. „Hallo“, begrüßte er seine Freunde und setzte sich auf einen freien Platz. Er trank einen Schluck von seinem Kaffee, während seine Augen durch die Mensa auf der Suche nach Carry huschten. Sie war nirgendwo zu erblicken. „Ihr werdet nicht glauben, was gestern Abend passiert ist!“, fing Ronald an, nachdem Alan, Eric und Grelle ihn begrüßt hatten. „Lass mich raten. Du hast mit Miss McNeil gesprochen und dafür ordentlich eine kassiert?“, fragte Eric. „Nein!“ „Sie hat dir verziehen?“, riet Alan. „Nein!“ „Du hast gar nicht mit ihr gesprochen?“, fragte Grelle. „Doch, aber ich weiß nicht, ob sie mir verzeiht. Sie sagte, sie wollte drüber nachdenken.“ „Was ist dann passiert?“, fragte Alan und biss von seinem Toast ab. „Ich hatte ein Gespräch mit Spears. Er hat gesehen, wie ich aus Miss McNeils Zimmer kam.“ Ronald trank erneut einen Schluck Kaffee. Der Becher war fast leer. Er würde sich gleich einen neuen aus dem Automaten ziehen müssen. „Oh das klingt ja gar nicht gut“, kommentierte Eric und faltete seine ausgelesene Zeitung zusammen. „So schlimm war es jetzt nicht“, sagte Ronald, während er den Becher leer trank. „Wie war es denn?“ „Er hat mir eine Akte gegeben, wo sämtliche Vorfälle drin stehen und gesagt, dass es gut war, dass ich mit ihr gesprochen habe. William meinte auch, dass es keine gute Entscheidung war, dass er mich weggeschickt hat.“ Die Augen der drei Shinigami am Tisch weiteten sich. „Soll das heißen William hat einen Fehler zugegeben?“, fragte Eric perplex. Ronald nickte. „Ich denke schon.“ „Das ist echt unglaublich“, murmelte Alan. „Mein William macht doch keine Fehler!“, sagte Grelle empört. Schmollend zog er die Unterlippe vor. „Anscheinend doch“, erwiderte Eric, konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen. Grelle grummelte leise vor sich hin, dass sein William fehlerlos sei, niemals einen Fehler machen würde in der Arbeit und in seinen Entscheidungen. Ronald schilderte kurz das Gespräch, was er mit Lily geführt hatte, nachdem Grelle sich beruhigt hatte. Seine Freunde am Tisch hörten schweigend zu. Während des ganzen Frühstückes suchten Ronalds Augen immer wieder die Mensa nach Lily und Nakatsu ab. Sie waren nicht zu sehen, er konnte aber auch gut verstehen, wieso sie nicht auftauchten. Seine Kollegen beäugten ihn feindselig und gingen ihm aus dem Weg. Selbst jene, mit denen er sich bisher immer gut verstanden hatte, mieden und wechselten kein Wort mit ihm. Aus diesem Grund konnte Ronald gut verstehen, wenn seine Schülerin der Mensa fern blieb. Selbst Carry ließ sich an diesem Morgen nicht blicken, um ihm hinterher zu rennen. Was recht ungewöhnlich war und besorgniserregend zugleich. Ronald fühlte sich schrecklich. Sein Herz pochte und stieß in regelmäßigen Abständen Adrenalin aus. Sein ganzer Körper war angespannt und auf Flucht gepolt. Wie hatte Lily es nur zwei Wochen so aushalten können? War es ihr auch so ergangen, wenn sie an diesem Tisch gesessen hatte? Wenigstens hatte er Alan, Eric und Grelle, die hinter ihm standen, aber er wollte, dass auch Lily ihm glaubte. So ungern er es sich auch eingestand, auch Nakatsu. Denn, wenn die beiden ihm auch glaubten, würde er das Verhalten der Anderen mit Sicherheit besser ertragen können. Immerhin war Lily mit betroffen und wenn sie ihm Glauben schenken würde, konnten sie beide drüber stehen. Denn sie würden beide die Wahrheit wissen, zusammen mit den Anderen. Das würde wirklich so einiges leichter machen, aber solange sie sich nicht blicken ließ, war es ungewiss. „Mach dir keinen Kopf, Ronald. In ein paar Tagen ist die Anhörung und dann wird sich das alles schon wieder klären“, sagte Eric, als hätte er seine trüben Gedanken gelesen. Ronald verzog ungläubig das Gesicht. „Wir werden bei deiner Anhörung dasselbe sagen, wie bei der von Miss McNeil. Wir lassen dich schon nicht im Stich“, versuchte es Alan. „Genau, scher dich nicht drum und lass die anderen reden. Das haben wir ihr auch gesagt“, grinste Grelle ihn an. „Diese Idioten sind nicht besonders einfallsreich mit ihren Sprüchen. Da musst du drüber stehen.“ „Leichter gesagt als getan. So langsam verstehe ich Miss McNeil.“ „Oh, erfreulich zu hören“, sagte jemand hinter ihm und Ronald drehte sich so ruckartig herum, dass sein Hals ein leises Knacken von sich gab. Mit dem Ellenbogen stieß er seinen leeren Kaffeebecher um, der über den Tisch rollte. Lily stand hinter ihm und in Begleitung hatte sie Nakatsu. Sofort schlug sein Herz schneller. Er rückte mit seinem Stuhl ein wenig zur Seite, damit die beiden Lehrlinge Platz haben konnten. Der Stuhl gab ein unerfreuliches Scharren auf dem Boden zu hören, so dass die anderen am Tisch die Gesichter verzogen. Einige Shinigami drehten sich mit den Köpfen kurz zu ihnen herum. „Ähm…wie lange stehen Sie schon da?“, fragte er verlegen. In seinem Hals entstand ein dicker Kloß. „Lange genug“, antwortete sie. „Wie lange?“ „Ungefähr seitdem Sie gesagt haben, Mr. Spears hätte einen Fehler zugeben und die Anweisung zurück genommen.“ „Solange schon?“ Seine Augen weiteten sich. Die Brille rutschte dabei ein wenig von seiner Nase. Nakatsu nickte. „Ja, solange schon.“ Ronald wandte sich an die anderen. „Warum habt ihr nichts gesagt?!“, fuhr er sie empört an, griff nach dem Becher, der über den Tisch gerollt war und richtete seine Brille, wie es William so oft tat. Innerlich hoffte Ronald kurz, dass er sich die Geste nicht angewöhnen würde. „Weil Miss McNeil uns angedeutet hatte leise zu sein“, sagte Grell und grinste listig. „Das ist doch…“, grummelte er und sah seine Freunde beleidigt an. „Sehen Sie es von der Seite, Mr. Knox, wir sind alle informiert und es gibt keine Geheimnisse zwischen uns“, sagte Lily und blickte ihn von der Seite aus an. „Stimmt“, erwiderte er und seine Wut verpuffte. „Heißt das auch, dass Sie wieder mit mir reden und dass Sie mir auch glauben?“ „Ja“, antwortete sie. „Ich hab gestern noch ziemliche lange drüber nachgedacht.“ Innerlich jubelte Ronald vor Freunde auf. Das klang positiv. Hoffnung machte sich in seiner Brust breit. „Mr. Humphries hat gestern Abend noch mit mir geredet und mir alles erzählt.“ Seine Gesichtszüge entglitten. „Was hat er Ihnen erzählt?“ Lily zuckte mit den Schultern. „Na eben alles. Alles, was ich wissen muss.“ „Alles?“, fragte er ungläubig und sah zu Alan, der ihn angrinste. Doch Ronald fragte sich, ob Alan ihr auch verraten hatte, was er durch Zufall rausbekommen hatte. „Ja, alles. Gibt es da ein Problem?“ „Nein…nein…alles ok“, sagte Ronald schnell und sah zu Alan. Er musste wissen, was genau er ihr alles erzählt hatte. Am besten passt er ihn in einem Moment ab, wo sie alleine waren. Hier am Tisch wäre es zu auffällig, wenn er ihn danach fragen würde. „Nakatsu und ich werden dann mal in den Unterricht gehen“, sagte Lily und holte ihn mit den Worten aus seinen Gedanken. Sie verzog das Gesicht. Glücklich sah sie nicht aus. „Nicht unter kriegen lassen“, sagte Grelle und klopfte ihr auf die Schulter, was ihr jedoch nur einen Seufzer und ein mattes Lächeln entlockte. Nakatsu verabschiedete sich ebenfalls. Zusammen gingen die beiden Lehrlinge aus der Mensa. Grelle sah ihnen nach und Ronald bemerkte, dass sein Blick sich auf William verfestigte. Der rothaarige Shinigami gaffte seinen Vorgesetzten förmlich an. Als dieser dann auch aufstand und im Begriff war die Mensa zu verlassen, sprang Grell von seinem Platz auf. Er lief durch die Mensa auf William zu und rief: „Oh mein William, warte auf mich!“ William hatte sich bei dem Lärm sofort umgedreht und stieß Grelle von sich, als er sich an ihn klammerte. Unter lautem Jammern und Bewundern, verließ auch Grelle Sutcliffe die Mensa mit William. Eric schüttelte nur stumm den Kopf dazu. Langsam und gemächlich faltete er seine Zeitung zusammen bevor er ebenfalls auf stand. „Ich muss zum Trainingsplatz“, sagte er auf die fragenden Blicke hin. „Hast du wieder Straftraining mit Kayden?“, fragte Alan. Eric nickte stumm. „Mir gehen langsam die Ideen aus. Der Junge lernt nicht aus den Strafen.“ „Wie wäre es mit Toiletten putzen mit der eigenen Zahnbürste?“, schlug Ronald vor und drehte den Pappbecher in den Händen. Eric schien einen Moment ernsthaft darüber nach zu denken. „Ich werde es mir für den Notfall aufheben, wenn mir gar nichts mehr einfällt.“ Er verabschiedete sich mit einem Lächeln und ging aus der Kantine. Ronald saß nun mit Alan alleine am Tisch. „Du sag mal, Alan…“, fing er langsam an. Er drehte den Becher in der Hand „Was denn?“ „Du hast mit Miss McNeil gesprochen und ihr alles erzählt?“ Alan nickte. „Ja, wieso? Wo ist das Problem?“ Er legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. Ronald verdrehte die Augen. War es so schwer darauf zu kommen, was er wissen wollte? Sollte er es vielleicht doch lieber laut heraus schreien, so dass es die ganze Mensa mitbekam? „Ich meine, alles?“, fragte er und betonte dabei das Wort deutlich. „Auch das mit, du weißt schon?“ Alans Gesicht hellte sich auf und er schien die Worte verstanden zu haben. Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Das habe ich ihr natürlich nicht erzählt. Aber das habe ich dir auch versprochen, Ronald. Ich dachte nur, es könnte dir vielleicht helfen, wenn noch mal jemand mit ihr spricht.“ Ein Stein fiel Ronald vom Herzen und nickte ihm zu. Erleichtert atmete er auf. „Danke, ich wollte es nur wissen, es klang so…“ „Schon okay“, gab Alan zurück und beide schwiegen. Jetzt musste er nur noch die Anhörung gut überstehen, aber genau das war es, wovor er sich am meisten fürchtete. Ronald betete, dass das Gericht zu Lilys und seinen Gunsten entschied. Immerhin stand so viel auf dem Spiel. Bei diesem Gedanken konnte er spüren, wie sein Blutdruck stieg. „Ich werde auch mal los gehen“, sagte er und stand auf. „William hat mir einen Termin beim Arzt zur Untersuchung für die Anhörung beschafft. Wobei ich nicht weiß, wofür.“ Ronald zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich, nicht aber ohne sich vorher ausgiebig zu strecken. „Also bis später.“ Mit langsamen Schritten ging er hinaus. Er fragte sich die ganze Zeit, was er bei dem Arzt sollte. Sein Körper war zwar von blauen Flecken übersät, aber diese stammten alle von seinem Training bei den Mönchen. Erhoffte das Gericht irgendwelche Spuren zu finden, die darauf deuten würden, dass seine Schülerin ihn verletzt hatte, sollte er sie angefallen haben? Ein Seufzer verließ seine Lippen. Wie konnte das Gericht nur so von ihm denken? Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Immer wieder hatte er seine Arbeit so getan, wie William es ihn gelehrt hatte. Es hatte nie Probleme gegeben und jetzt das. Nur, weil jemand Gerüchte streute. Es war obendrein eine unsinnige Regelung, dass man mit Schülern nichts anfangen durfte. Egal, ob man ihr Mentor war oder nicht. Es war dabei auch irrrelevant, ob der Schüler schon Zwanzig war und damit volljährig. Aber wenn man der Mentor eines Schülers war und solche Dinge den Umlauf machten, war es umso schlimmer. Wäre er nicht Lilys Mentor und so etwas würde behauptet werden, würde man nur eine Verwarnung erhalten und für ein Jahr suspendiert werden. Ein weiterer Seufzer verließ ihn. Dabei war Ronald nur ein Jahr älter als Lily. Aber wer konnte schon damit rechnen, dass eines seiner Dates so ein Theater veranstalten oder er sich noch in Lily verlieben würde? Ronald konnte ein weiteres Seufzen nicht unterdrücken und bog mit gesenktem Kopf um die Ecke. „Hey, du abgemagerte Leiche, ich rede mit dir!“ Ronald schreckte beim Klang dieser Stimme zusammen. Es gab nur eine Person, die so eine keifende Stimme hatte, dass es ihn in den Ohren schmerzte. Carrys Stimme erinnerte ihn jedes mal an das Geräusch einer Schiefertafel, wenn jemand mit den Nägeln darüber kratzte. Eigentlich wollte er nicht wissen, wen sie wieder drangsalierte, aber er konnte es sich schon fast automatisch denken. Es gab im Moment nur ein Lieblingsopfer von ihr. „Stimmt es, dass du es mit einem Typen aus der Stadt treibst und der in einem Café arbeitet?“, höhnte Carry geradheraus. „Dir reichen wohl die Leute hier nicht mehr aus. Jetzt verkaufst du dich schon für ein paar Getränke. Du scheinst es ja echt nötig zu haben!“ Obwohl ihm die Worte nicht galten, zuckte Ronald zusammen. Das war selbst für Carry unterste Schublade. So viel zu ihren glorreichen Worten, dass Lily von nun an ihre beste Freundin sei. Er hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass die beiden beste Freunde wären. Carry packte Lily grob an der Schulter und stieß sie gegen die Wand. „Ich rede mit dir, du kleines Miststück!“ Ronald konnte sehen, wie Lilys Hand zitterte und jegliche Farbe aus ihrem Gesicht wich. „Du!“, knurrte Carry. „Du bist schuld daran, dass mein Ronilein mich abweist!“ Ronald bemerkte, dass Carry wie immer perfekt aussah. Von ihrem gepflegten und ordentlich gestylten Haaren bis hin zu ihrem makellosen Make-up und der Uniform mit dem viel zu knappen Rock, der gerade noch so den Regeln entsprach. Wäre ihr Gesicht nicht wutverzerrt, könnte man sie für eine nette Frau halten. Sie musterte Lily von oben nach unten. Ihre Lippen verzogen sich verächtlich. Natürlich war Carry nicht alleine. Sie ging nie irgendwo alleine hin. Ständig wurde sie von ihrer Eskorte begleitet. Durch ihre hohen Absätze waren alle größer als Lily. Ronalds Blick fiel unweigerlich auf seine Schülerin. Er musterte sie ausgiebig und fragte sich, wieso es ihm nicht eher aufgefallen war, dass er sie so sehr mochte. Was hatte ihn nur dazu gebracht, Carry zu einem Date zu bitten? Gedankenverloren schüttelte er den Kopf. Seine Hormone mussten zu der Zeit mal wieder mit ihm durchgegangen sein und sein Hirn eine Pause gemacht haben. Aber wenn er ehrlich war, wusste er es selbst nicht, wieso er es nicht früher bemerkt hatte. Wahrscheinlich hatte er diese Gefühle viel zu sehr verdrängt und ignoriert. Dennoch erklärte es vieles. Seine Reaktionen gegenüber ihren besten Freund Nakatsu, sein übertriebener Beschützerinstinkt und seine Sorge um sie. Eine von Carrys Klonen, die nur wenige Zentimeter von ihr entfernt stand, bemerkte ihn und lenkte sofort Carrys Aufmerksamkeit auf ihn, indem sie sie kurz anstupste. Sofort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Hallo, mein Ronilein!“, rief sie mit schriller Stimme und winkte ihm zu. „Ich habe dich gar nicht bemerkt!“ Ronald ging etwas widerwillig auf Carry zu, aber er konnte Lily jetzt nicht alleine lassen. „Weißt du, Ronilein, ich habe grade mit meiner besten neuen Freundin gesprochen!“ Sie zog Lily an der Schulter zu sich und klopfte ihr imaginären Staub von der Kleidung. „Weißt du, sie hat da irgend so ein Syndrom. Ständig fällt sie Treppen runter, haut sich den Kopf an…“ „Ich habe davon gehört, Carry“, gab Ronald missgelaunt zurück und nahm Lilys Handgelenk. Er zog sie an seine Seite und stellte sich schützend vor sie. Ronald ließ ihr Handgelenk nicht los. Ihre Haut fühlte sich kalt an und sie zitterte. „Aber ich habe auch gehört, Carry, das es dann vorkommt, wenn du in der Nähe bist!“ Die Mädchen hinter Carry zogen scharf die Luft ein, als könnten sie nicht glauben, dass er das gerade wirklich gesagt hatte, aber auch Lily musste kurz nach Luft schnappen. Ronald konnte in Carrys Blick deutlich die Veränderung bemerken. Sie musterte ihn eiskalt. „Komm mir jetzt nicht so, Ronilein. Sie ist doch an allem schuld! Sie ist schuld daran, dass du gehen musstest! Sie ist eine Gefahr für unsere Beziehung!“ Ronald sah kurz zu Lily, griff nach ihrer Hand und drückte diese kurz aufmunternd. Seine Schülerin biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden. Sein Herz hatte kurzzeitig viel zu schnell geschlagen, aber für diesen Höhenflug hatte er jetzt keine Zeit. „Entscheide dich endlich was du willst, Carry“, fing Ronald an. „Du machst eine riesen Szene in der Mensa und schnauzt mich an, ich würde mit meiner Schülerin vögeln und jetzt machst du sie für deine Tat verantwortlich, weil du diejenige bist, die diese Gerüchte in die Welt gesetzt hat! Du schreist rum und beschimpfst mich. Du sagst, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben und jetzt, wo ich weg war, machst du Lily für alles verantwortlich, was auf deinem Mist gewachsen ist und machst dich an mich ran, als wäre nie etwas gewesen! Deine Scheinheiligkeit ist zum kotzen und ich bedaure es sehr, mich jemals auf dich eingelassen zu haben! Wenn ich nur deinen Namen höre, kriege ich schon eine Geschlechtskrankheit!“ Er machte eine kurze Pause, um Luft zu holen. „Weißt du, das macht alles keinen Sinn! Du findest Lily erbärmlich? Schön! Ich finde es viel erbärmlicher so viel Mascara in den Wimpern zu haben, dass man nicht mal blinzeln kann! Und nur zu deiner Information: Wir haben keine Beziehung! Selbst, wenn du die letzte Frau auf dieser Welt wärst, würde ich dich nicht anpacken!“ Ronald starrte Carry mit funkelnden Augen an und wartete schon auf darauf, dass sie jeden Augenblick wie eine Furie auf ihn losstürmen würde, nur um ihn mit ihren langen Nägeln die Augen auszukratzen. „Schimpfst du mich grad aus und stellst mich bloß?“ Carry blinzelte richtig und Ronald konnte sehen, wie sich ihre Wimpern verklebten. Ein leiser Schmerzlaut entfuhr ihr, während sie versuchte ihre Augen wieder zu öffnen. Man konnte deutlich sehen, wie ihr Gehirn arbeitete, um mit den logischen Fakten fertig zu werden. „Nur ein wenig“, sagte Ronald süffisant und grinste. Carry lächelte zurück. „Dieses Mädchen ist nur ein vorübergehender Zustand und ein trauriger dazu. Sie wird hier niemals bestehen können.“ Sie drehte sich um und ging den Flur entlang davon. Ihre Mode-Mafia bildete hinter ihr eine V-Vormation. „Normalerweise zieht sie nicht so schnell ab“, sagte Lily und atmete tief durch. „Danke.“ „Wahrscheinlich muss sie arbeiten.“ Lily schnaubte. „Glauben Sie mir, die arbeitet nicht.“ Ronald musste kurz lachen. „Wahrscheinlich haben Sie Recht.“ Er wollte sich lieber nicht fragen, wie oft Lily diese Behandlung von Carry hatte ertragen müssen und wie sehnlich sie sich den Tag herbei wünschte, wo alles aufhörte. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er noch immer ihre Hand hielt und sie alleine im Flur waren. Schnell ließ er sie los und trat einen kleinen Schritt zurück. Sein Herz pochte stark gegen seine Brust und in diesem Moment wurde ihm wieder deutlich bewusst, dass er mehr in ihr sah, als bloß eine Schülerin. Er unterdrückte ein enttäuschtes Seufzen. Ob sie jemals mehr für ihn sein würde als bloß eine Kollegin? Ronald wollte nicht daran denken, dass sie seine Gefühle nicht erwidern könnte. Der bloße Gedanke daran, ließ sein Herz schwer wie zehn Zentner Blei werden. Verlegen räusperte er sich, um das Schweigen und die Stille zu durchbrechen. „Sie sollten jetzt aber zum Unterricht gehen, sonst kommen Sie wirklich noch zu spät.“ Lily nickte. „Danke noch mal.“ Ronald nickte und sah ihr noch nach, wie sie durch den Flur lief und im Treppenhaus verschwand. Er schüttelte geistesabwesend den Kopf und fragte sich, wie er sich nur in so eine Lage hatte bringen können, die vielleicht eine Einbahnstraße war. Kapitel 22: Willkommen in der Welt von Undertaker ------------------------------------------------- Die Nacht war schrecklich gewesen. So schlecht hatte Emily noch nie geschlafen. Obwohl das Bett sehr weich war, die Decke warm und mehrere Kissen auf dem Bett lagen, hatte sie kaum ein Auge zugetan. Sie vermisste die dünne Strohmatte mit der alten geflickten Decke, die in der Hütte ihrer Eltern lag und auf der sie seit sie ein kleines Kind gewesen war, geschlafen hatte. Auch, wenn die Matte hart und unbequem war, sie hatte immer gut darauf schlafen können. Diese weiche Matratze war sie einfach nicht gewohnt. Viel zu sehr versank sie darin und fühlte sich wie eine Prinzessin, die sie nicht war. Es fühlte sich einfach falsch an. Emily hatte zwar schon immer davon geträumt auf einer edlen und weichen Matratze zu liegen, aber nun wo sie eine Nacht darauf geschlafen hatte, wollte sie lieber wieder die Strohmatte. Was machte ihre Familie wohl? Ob ihr Vater sehr wütend war, dass sie nicht nach Hause gekommen war? Würden sie ohne sie zu recht kommen? Sicherlich musste ihre Schwester Maria jetzt doppelt so hart arbeiten, damit die Familie versorgt werden konnte. Emily fragte sich, wie es dem Bestatter ging. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen und das schlechte Gewissen nagte an ihr. Aber in seiner Nähe fühlte sie sich immer so komisch. Es machte ihr ein wenig Angst. Sie drehte sich auf den Rücken und verscheuchte den Gedanken an den Bestatter. Mit jeder Bewegung federte die Matratze und Emily hatte das Gefühl die Decke lag mit jeder Minute schwerer auf ihren Brustkorb. Mit einem genervten Seufzer warf sie die Decke zurück und strampelte sie mit ihren Beinen an das andere Ende des Bettes. Emily kämpfte sich an den Rand des Bettes und stand auf. Das lange Nachtgewand, was sich in der Nacht um ihren Körper gewickelt hatte, fiel zu Boden und hatte einige Falten vom Liegen in der Nacht bekommen. Unsicher, was sie nun tun sollte, stand Emily einige Sekunden ratlos herum. Die dicken und dunklen Vorhänge hielten das Zimmer in Dunkelheit gehüllt. Nur im schwachen Schein der Öllampe erkannte sie die groben Umrisse des Raumes. Ein großer Kleiderschrank stand gegenüber dem großen Bett, dazu gab es einen kleinen Schreibtisch mit fein geschnitzten Holzmustern. Auf dem Schreibtisch stand ein Fass mit blauer Tinte und einer großen, weißen edlen Schreibfeder und feines Leinenpapier. Es gab auch eine kleine Frisierkommode mit einer Haarbürste und einem großen runden Spiegel. Dazu standen ein Krug mit Wasser und eine Schale bereit mit einem Handtuch. An der Wand hing ein Portrait. Das Licht warf dunkle Schatten auf das Gemälde. Die Augen der Frau darauf schienen sie anzustarren. Ihr Haar war brünett und hochgesteckt worden und das Kleid war in einem blütenreinen weiß. Mehr war in diesem Raum nicht zu finden. Emily ging zum Fenster und versuchte die Vorhänge zur Seite zu ziehen, doch sie bewegten sich keinen Millimeter. Sie waren einfach zu schwer und zu lang. Emily wühlte sich durch die Stoffbahnen, um das Fenster erreichen und einen Blick hinaus werfen zu können. Sie wollte unbedingt auf die Straßen von London sehen, wie die Menschen geschäftig umher liefen und die reichen Leute in ihren Kutschen fuhren. Sie war noch nie aus dem Armenviertel von London hinaus gekommen und wollte sich die reiche Gegend genau ansehen. Vielleicht konnte sie einen Blick auf den Tower werfen und Big Ben die große Uhr. Emily berührte die kalte Glasscheibe und rüttelte an dem Fensterknauf. Der Holzrahmen knarrte und sie konnte nicht mehr sehen als den blauen bewölkten Himmel und eine weit reichende Wiese. Enttäuscht verzog sie das Gesicht und wühlte sich aus dem Stoff heraus. Sie wusste nicht, wie man einen der Diener rief oder wann jemand kommen würde, um sie zu wecken und ihr zu sagen, was sie anziehen soll. Auf nackten Sohlen ging sie zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Emily spähte in den Flur und suchte nach jemanden, den sie fragen konnte. Kein Butler oder Dienstmädchen war in Sicht. Wenigstens waren die Vorhänge im Flur nicht zugezogen. Sie pustete die Flamme der Öllampe aus und ging in den Flur. Leise und auf Zehenspitzen lief sie zum Fenster und spähte hinaus. Wieder sah Emily nur Wolken und eine weite Wiese. Sie konnte aber den Ansatz zu einem weitläufigen Park erkennen, der wohl zum Anwesen gehörte. Durch das geschlossene Fenster konnte sie lautes Hundegebell hören. Nur wenige Augenblicke später liefen die Hunde, die sie am gestrigen Abend gesehen hatte über die Wiese und tollten sich im Gras. Aber das wollte sie nicht sehen. Sie wollte die Stadt sehen. Emily überlegte. Wenn sie vielleicht zur anderen Seite des Anwesens ging, konnte sie vielleicht auf die Stadt sehen. Vielleicht lag das Anwesen am Stadtrand und sie hatte einen Blick auf Feld, Wiese und Garten erwischt? „Kannst du mir mal sagen, was du da treibst?“, fragte eine strenge und weibliche Stimme hinter hier. Emily zuckte zusammen und fuhr herum Vor ihr stand eine Frau in einem hochgeschlossenen dunkelgrünen Kleid. Ihre dunkelblonden Haare waren zu einem straffen Knoten hochgesteckt. Ihr Mund verzog sich zu einer dünnen missbilligenden Linie. Die grün-blauen Augen der Frau funkelten sie streng an. Sie musterte sie von Kopf bis Fuß und blieb an ihren nackten Füßen hängen. Emily starrte zurück, noch zu erschrocken, um ein Wort heraus zu bringen. „Ich habe gefragt, was du da treibst!“, fuhr die Frau sie an. „Bist du taub oder hast du deine Zunge verschluckt?“ Emily schüttelte den Kopf. „Dann antworte!“ „J….ja, Ma‘am….“ „Was treibst du da? Dazu auch noch im Nachtgewand und Barfuß?“ „Ich…ich wollte nur die Stadt sehen….“ „Die Stadt?“ Überrascht über diese Aussage sah die Frau sie an. „Wir sind hier auf dem Land. Das hier ist der Landsitz des Barons. Von hier aus wirst du London nicht sehen können.“ „Oh…“ „Du musst das Straßenmädchen sein, was das gnädige Fräulein Rebecca gestern von den Straßen Londons aufgelesen und mit hierher gebracht hat.“ Sie war sich nicht sicher, ob es eine Frage oder Aussage der Frau war. Zur Sicherheit nickte Emily. „Wie ist dein Name?“, fragte sie. „Emily. Emily Layall.“ „Dein Taufname?“ „Ich habe keinen…“ Ein erschrockener Laut entfuhr der Frau und sie griff sich an die Brust, als hätte Emily etwas Böses gesagt. Die Dame brauchte einige Sekunden um sich zu fassen und klatschte ungläubig in die Hände. „Von der Straße und auch noch Heidin! Herr im Himmel bewahre…“ Sie schüttelte den Kopf. „Fräulein Briggs, was ist hier los?“ Emily erkannte die Stimme. Es war das Mädchen Rebecca. Sie stand im Nachtgewand und in einem langen rosa Mantel gehüllt in der Türschwelle zu ihrem Zimmer. Auch sie trug keine Schuhe. Die Dame, die wohl Briggs mit Nachnamen hieß, stieß einen weiteren missbilligenden Laut aus. „Jetzt sieh nur an, was du angerichtet hast! Jetzt steht auch noch das junge Fräulein unangemessen gekleidet im Flur! Was, wenn einer der Dienstboten sie so sehen würde und dich dazu? Oder der Baron! Noch schlimmer die Baroness! Was wäre, wenn sich das junge Fräulein erkälten würde? Mit ihrer Krankheit kann das tödlich enden!“ „Fräulein Briggs, beruhigen Sie sich. Es ist doch nichts passiert.“ Rebecca trat zu Emily und sah sie fragend an. „Was wolltest du denn?“ Nervös fummelte Emily an dem Stoff des Nachtgewandes, während sie antwortete: „Ich wollte London sehen. Ich dachte, wir wären noch in der Stadt.“ Rebecca lachte laut auf. „Du Dummerchen! Hast du gestern nicht auf den Weg geachtet? Wir sind aus London raus gefahren und auf das Land. Wir verbbringen hier die meiste Zeit. Der Doktor sagt, die Luft wäre hier besser für mich.“ „Achso…verstehe…“ „Hör auf mit deinem Gewand zu spielen! Der Stoff war teuer! Stell dich grade hin und hör auf zu nuscheln. Das ziemt sich nicht für eine junge Dame!“, fuhr die Frau sie an. „Fräulein, bitte beruhigen Sie sich. Emily ist all das nicht gewöhnt. Es gibt also keinen Grund sich so aufzuregen.“ Das Fräulein neigte leicht das Haupt und deute eine Verbeugung an. „Verzeiht, junges Fräulein, aber ich wurde eingestellt, um Euch angemessenes Benehmen beizubringen. Da nun dieses junge Mädchen mit in diesem Haus ist und als Eure Begleiterin da ist, ist es meine Aufgabe auch sie zu angemessen zu unterrichten, um diesem Haus keine Schande zu bereiten. Je eher sie lernt, wie sie stehen, sitzen, gehen, reden und essen soll, umso besser. Mit Sicherheit kann sie auch nicht lesen und schreiben.“ „Verzeihung, das wusste ich alles nicht“, meldete sich Emily zu Wort und machte Anstalten zurück in das Zimmer zu gehen. „Bleib!“, sagte Fräulein Briggs und ging zu einem kleinen Beistelltisch und läutete mit einem Glöckchen. „Du wirst dich alleine nicht zu recht finden und angemessen kleiden können.“ Die Dame wandte sich zur Treppe, wo bereits ein Butler herauf kam. Er verneigte sich kurz. Wenn Emily sich nicht irrte, war es der Butler namens Dustin, der sie gestern hierher gebracht hatte. „Zwei Ankleidedamen!“, sagte sie kurz und knapp. „Sehr wohl, Fräulein.“ Der Butler verneigte sich erneut und ging die Stufen wieder hinunter. „Warum lässt sie zwei Ankleidedamen rufen?“, fragte Emily leise Rebecca. „Damit sie dich und das junge Fräulein zurück in ihre Zimmer bringen und ankleiden.“ „Aber das ist doch nicht nötig. Das Zimmer liegt doch direkt vor meiner Nase.“ „Was nötigt ist und was nicht, entscheide ich. Immerhin übergab man mir die Erziehung des jungen Fräuleins.“ Fräulein Briggs rümpfte die Nase. Zwei Dienstmädchen kamen die Treppe hoch geeilt. Beide trugen dieselbe Dienstmädchenuniform. Sie neigten kurz das Haupt. „Magarete, bringen Sie das junge Fräulein in ihr Zimmer und kleiden Sie sie ein“, sagte das Fräulein. „Brigitte, Sie möchte ich bitten ein Bad für das Kind einzulassen. Baden Sie sie erneut und bringen die Haare in Ordnung. Wenn es sein muss, schneiden Sie sie ab. So zerzaust kann man das Kind niemanden zeigen. Am Ende glaubt man noch, der Baron und die Baronesse wären verarmt. Putzen Sie auch die Zähne dieses Straßenkindes gründlich. Die Zähne müssen weiß sein!“ „Sehr wohl“, antworteten die beiden Dienstmädchen im Chor. Ohne noch ein weiteres Wort an Emily oder Rebecca zu verlieren ging die Dame die Stufen hinunter. Sofort führte eines der Dienstmädchen Rebecca in ihr Zimmer und die Andere führte sie in ihr Zimmer und in einen angrenzenden Nebenraum, in dem eine gusseiserne Badewanne stand. Diesmal war das Wasser wärmer und das Dienstmädchen schrubbte ihre Haut nicht ganz so stark wie ihre Kollegin am vorigen Abend. Nur das Zähneputzen war etwas ungewohnt für sie. Das Dienstmädchen wiederholte die Prozedur mehrfach. Immer wieder trug sie neues Zahnpulver auf die Bürste mit einem kleinen Tropfen Pfefferminzöl. Vier oder fünfmal musste Emily das mit sich machen lassen ehe das Dienstmädchen aufhörte. Das Haare kämmen war jedoch am schmerzhaftesten und Emily befürchtete schon, das Dienstmädchen würde die Anweisung wahr machen und ihr die Haare abschneiden. Sie benutzte lediglich verschiedene Kämme und Bürsten bis alle Knoten heraus gekämmt waren und sie es frisieren konnte. „Das Haare schneiden werden wir dir wohl nicht ersparen können“, kommentierte sie. „Keine Sorge, viel bestimmt nicht, aber es muss ordentlich geschnitten werden. Für den Anfang wird es reichen.“ Das Ankleiden ging schnell, jedoch war es schmerzhaft in ein Korsett geschnürt zu werden. Das Dienstmädchen zog die Bänder immer fester und fester und die Stäbe des Korsetts zwang ihren Körper in eine grade Haltung. Die noch nicht vorhandene Taille wurde zusammengedrückt und hervorgehoben, so dass sich eine kleine Oberweite bildete. Die Luft entwich ihrer Lunge und mehrfach keuchte sie auf. Wenn das der Preis war, wenn man Reich war, dann wollte sie lieber arm bleiben als sich Tag für Tag darin einengen zu lassen. Ihr Magen rebellierte gegen die Enge und Emily hatte einige Male das Gefühl sich übergeben zu müssen. Es war kein Wunder, wenn die reichen Leute so blass waren. Das lag nicht nur an den wenigen Sonnenstrahlen, sondern auch daran, dass die Damen so wenig Luft bekamen. Konnte man so eingeengt etwas essen oder ernährte man sich nur von Wasser? Das Kleid, was das Dienstmädchen ihr anzog reichte bis zu den Knöcheln. Der Stoff war sehr weich und die grüne Farbe war nicht ausgeblichen, sondern noch wie frisch aus der Färberei. Die Ärmel reichten bis zu den Handgelenken und waren ungewohnt eng. Das Kleid allgemein schränkte sie sehr in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Darin würde sie sicherlich nicht spielen und rennen können wie vor einem Tag noch. Aber ihr altes Leben war jetzt eh nicht mehr da. Ab jetzt lebte sie in diesem feinen Haus bei Rebecca und musste sich auch so benehmen. Die weißen Strümpfe juckten ein wenig, doch Emily verkniff sich eine Bemerkung darüber. Das Dienstmädchen schien sie sowieso schon nicht leiden zu können, da sie wegen ihr viel mehr Arbeit hatte. Das Schuhe anziehen war jedoch das unangenehmste. Noch nie in ihrem Leben hatte Emily ordentliches Schuhwerk besessen. Die meisten Schuhe, die sie besessen hatte, waren durchgelaufen oder die Sohle löste sich. Manchmal waren sie auch viel zu groß, so dass nicht wirklich damit laufen konnte ohne sie zu verlieren. Es war Emily daher sehr unangenehm Schuhe zu besitzen, die eine feste Sohle hatten, die sich nicht löste oder durchgelaufen war. Schuhwerk saß genau richtig. Es war auch nicht zu groß. Aber grade, weil es so gut passte, waren Emilys Füße nicht daran gewöhnt und schon nach wenigen Minuten wurde es schmerzhaft. Am liebsten hätte sie die Schuhe sofort wieder ausgezogen, doch das Dienstmädchen schärfte ihr ein, sie solle sie anbehalten und sich nicht von Fräulein Briggs erwischen lassen, wie sie sie auszog und Barfuß herum lief. Emily nickte brav und wusste schon, dass sie das Fräulein Briggs nicht leiden konnte. Sie war viel zu streng, ganz anders als ihre Mutter, die sie liebevoll erzogen hatte. Irgendwie tat ihr Rebecca leid, auch wenn sie tierisch verwöhnt war, unter solchen Fittichen groß geworden zu sein. Nachdem das Dienstmädchen fertig war, wurde Emily von ihr aus dem Zimmer geführt. Ihr fiel auf, dass jemand zwischenzeitlich das Bett hergerichtet und die Vorhänge aufgezogen hatte. Das Fenster stand offen und ließ frische Luft herein. Sie gingen die Treppe hinunter und in einen großen Speisesaal, wo ein ansehnliches Frühstück hergerichtet war. Es stand frisches Brot und Brötchen auf dem Tisch, eine Kanne mit Milch, eine Teekanne, ein kleiner Teller mit Butter, ein Teller mit Wurst und Käse. Eine Schale gefüllt mit Trauben, Äpfeln und anderem exotischem Obst stand in der Mitte des Tisches. Das Silberbesteck glänzte und die Gläser waren aus feinstem Glas, genauso wie das Teeservice und die Teller aus feinstem Porzellan bestanden. Rebecca saß bereits am Tisch, genauso wie Fräulein Briggs. „Es wird ja Zeit, dass du kommst“, schimpfte sie sofort als sie Emily erblickte. „Merke dir eines: Frühstück gibt es pünktlich um Neun Uhr! Keine Minute später!“ Sie warf einen Blick auf die Standuhr in der Ecke. Die Uhr zeigte fünf nach neun an. „Ja“, antwortete Emily. „Es heißt nicht nur „Ja“, sondern „Ja, Fräulein Briggs“.“ „Ja, Fräulein Briggs“, wiederholte sie. „Nun gut, wenigstens bist du jetzt angemessen hergerichtet“, sagte sie mit einem abfälligen Tonfall. „Setz dich und dann wollen wir mit dem Frühstück beginnen.“ Ein Butler kam herbei und zog ihr einen Stuhl hervor und schob sie an den Tisch nahe genug heran. Emily starrte auf das Service und nahm das Tuch vom Teller. Sie schaute zu Rebecca hinüber, die ihr deutete, es auf den Schoß zu legen. Schnell legte sie es auf den Schoß ehe die Erzieherin einen weiteren Grund hatte sie auszuschimpfen. Ein Butler legte ihr ein Brötchen auf den Teller. „Möchtet Ihr Milch oder Tee?“ „Ähm…Tee…“, antwortete sie leise. Der Butler nickte und goss ihr warmen Tee in die Tasse. „Danke…“, nuschelte sie. „Beim Personal wird sich nicht bedankt“, schimpfte die Erzieherin sofort und nahm sich ein Stück Butter vom Teller, den der Butler ihr hinhielt. „Verzeihung…“ „Hör auf zu nuscheln! Das gehört sich nicht!“ Fräulein Briggs seufzte ergeben. „Ich sehe schon, mit dir werde ich viel Arbeit haben.“ Sie warf Emily einen vernichtenden Seitenblick zu. „Fräulein Briggs, speisen Mutter und Vater heute nicht mit uns?“, fragte Rebecca. „Junges Fräulein, Ihr wisst doch, dass die Baroness und der Baron viel zu tun haben. Sie haben schon längst gespeist und sind auf einer wichtigen Reise. In ein paar Tagen sind Ihre Eltern wieder da.“ Rebecca zog einen Schmollmund. „Schon wieder? Immer sind sie verreist!“ Ein Hustenanfall überkam sie. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“, fragte die Erzieherin. „Es geht schon.“ „Dustin!“, rief Fräulein Briggs. „Bringen Sie die Medizin des jungen Fräuleins.“ „Ich will sie nicht einnehmen.“ „Junges Fräulein, ich dulde keine Widerworte. Ihr wisst, dass es wichtig ist, dass Ihr sie regelmäßig nehmt.“ Emily war erstaunt darüber, dass Rebecca bei ihrer Erzieherin nicht das verwöhnte, reiche Mädchen heraus hängen ließ wie am vorigen Abend bei ihrem Vater. Dustin stellte Rebecca ein Glas mit Wasser auf den Tisch und ließ ein weißes Pulver darin fallen. „Nun zu dir Emily“, sagte die Erzieherin. „Du wirst am Privatunterricht des jungen Fräuleins teilnehmen. Der Hauslehrer ist ein angesehener Universitätsprofessor. Da das junge Fräulein schon viel weiter im Unterricht ist, wirst du eine Menge aufzuholen haben. Ich werde nachher mit dem Professor darüber sprechen, damit er dich dementsprechend unterrichten kann. Ich werde auch jemanden kommen lassen, der dir die Haare anständig schneidet. Ich habe schon gehört, dass es geschnitten werden muss.“ Briggs rührte in ihrer Teetasse herum und trank einen Schluck. Emily nickte brav. Es gab wirklich viel zu lernen. Für alles schien es eine Regel zu geben. Den Tee musste man so umrühren, dass man mit dem Löffel nicht gegen die Tasse schlug und der Löffel musste vorsichtig am Rand der Tasse abgestreift werden. Abgelegt wurde er auf der Untertasse. Die Gabel für das Putenfleisch durfte nicht für die Wurst benutzt werden, die Gabel für den Salat hat vier Zinken anstatt drei. Das Frühstück war eine reine Folter gewesen und wirklichen Appetit hatte Emily nicht gehabt. Fräulein Briggs hatte an allem etwas auszusetzen, während Rebecca sich nur mit Mühe einen Lachanfall verkneifen konnte. Anscheinend waren fehlende Tischmanieren bei reichen Leuten, worüber man lachte. Sie kam sich vor wie ein Tier im Zirkus, das bestaunt und begafft wurde. Selbst die Diener warfen ihr abfällige Blicke zu. Aber nicht nur Fräulein Briggs sekündliche Schimpftiraden über ihre fehlenden Manieren verdarben ihr den Appetit, das Korsett trug den Rest dazu bei. Es engte ihren Magen so sehr ein, dass sie schon nach einem halben Brötchen satt war. Natürlich schimpfte Fräulein Briggs auch darüber. „Du musst anständig essen! Oder willst du krank werden? Du kommst von der Straße. So feines Essen wie hier gibt es nicht, wo du herkommst! Ich erwarte, dass du zu Mittag mehr isst!“ „Das Korsett…“, versuchte es Emily. „Was ist damit?“ „Es ist so eng geschnürt…“ „Es muss so eng geschnürt werden. Das gehört sich so.“ „Aber deswegen habe ich keinen Hunger“, sagte sie und hoffte, dass Fräulein Briggs das Korsett neu schnüren ließ. „…Fräulein Briggs“, fügte sie schnell hinzu. „Brigitte schnürt sie ordentlich und richtig. Warte ein paar Tage ab und du wirst dich dran gewöhnt haben. Merke dir aber für die Zukunft, dass das kein Thema zu Tisch ist. Stell dir nur mal vor, wenn Herren anwesend gewesen wären. Das ist ein Skandal! Ich werde aber dieses eine Mal Nachsicht haben. Trink wenigstens ein Glas Milch und versuch noch das restliche Brötchen zu essen.“ Emily nickte brav und tat wie ihr geheißen. Sie konnte die Frau nicht ausstehen und fragte sich, welchen Status sie in diesem Haus hatte, dass sie Rebecca so herum kommandieren konnte. Nach dem Frühstück fing sofort der Unterricht an. Zuerst kamen einige Stunden über vornehmes Benehmen, dass hauptsächlich Rebecca auf ein späteres Leben als erwachsene Dame vorbereiten sollte. Für sie selbst, war das Ganze überflüssig. Viel lieber hätte sie im Hof gespielt und wäre über die saubere und gepflegte Rasenfläche gelaufen. Sicherlich hätten die anderen Kinder von der Straße, mit denen sie oft spielte, sehr viel Spaß gehabt. Es gab niemanden, der sie stören würde und jede Menge Platz. „EMILY!“, schrie die Lehrerin sie erneut an. „Pass gefälligst auf!“ Emily zuckte zusammen und nickte. Sie hatte wieder aus dem Fenster gesehen und geträumt. „Verbeuge dich nun und lass die Bücher nicht von deinem Kopf fallen!“ Sie nickte und nahm das Buch. Vorsichtig legte sie es auf ihren Kopf und versuchte es im Gleichgewicht zu halten. Es wackelte bedrohlich. Langsam ging sie in die Knie. Die Hände bereit, um das Buch jederzeit aufzufangen. „Hände unten! Rücken gerade!“, rief die Erzieherin. Emily verkrampfte sich und versuchte dem Drang zu wiederstehen, die Hände zu Hilfe zu nehmen. Rebecca beobachtete sie amüsiert und ging gekonnt im Zimmer auf und ab. Sie war es seit Jahren gewöhnt, diesen Unterricht zu absolvieren. Das Buch auf Emilys Kopf wackelte bedrohlich und fiel mit einem lauten Poltern zu Boden. Sie hatte versucht es noch aufzufangen, scheiterte jedoch kläglich. „Emily, konzentriere dich!“, schimpfte die Lehrerin. „Bück dich und heb das Buch auf, dann machst du die Übung noch mal!“ Gehorsam nickt sie und ging ein wenig in die Hocke, um das Buch aufzuheben. Mit dem Korsett war es gar nicht so einfach sich zu Bücken. Sie wusste nun, warum so viele adelige Frauen, sich bedienen ließen. In diesem Kleidungsstück konnte man gar nichts tun außer schön auszusehen. Genervt schloss sie die Augen und wünschte sich, wieder zu Hause zu sein. Verschlafen blinzelte Lily. Sonnenlicht fiel durch ein Fenster und erhellte den Raum. Angestrengt blinzelte sie und versuchte klare Konturen zu erkennen, wo sie sich befand. Doch der Blick wollte sich nicht klären. Wo war nur ihre Brille? Sie tastete ihr Gesicht ab, die Taschen, das Bett und die Kommode, doch ihre wichtige Brille, war wie im Erdboden verschluckt. Panik stieg in ihr auf. Wie sollte sie das nur William erklären, dass sie ihre Brille verloren hatte? Das würde mit Sicherheit ärger geben. Wo war sie nur? Was war geschehen? Was war in der Verhandlung geschehen? Lily konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Das Letzte, was sie wusste, war, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte und in dem Gerichtsgebäude Ronald Knox begegnet war. Ihr Kopf schmerzte, als hätte sie ihn sich irgendwo angeschlagen. Sie konnte eine dicke Beule fühlen. Was war nur geschehen? „Oh danke“, sagte sie erleichtert und setzte ihre Brille auf, die ihr jemand hinhielt. Sofort nahm die Umgebung klare Konturen an. Das Zimmer war schlicht gehalten und recht klein. Es gab nicht viele Möbel. Einen Tisch mit Stühlen, ein Schrank mit Geschirr, eine Kochstelle, das Bett, in dem sie lag und einen weiteren Schrank, der sicherlich für Kleidung gedacht war. Neben dem Bett stand eine junge Frau. Ihre Augen waren grün-gelb und zeigten keinerlei Emotionen. Sie waren leer und leblos, wie die Augen eines Toten. Auf ihrer Nase saß eine Brille. Selbst ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. Ihre Haare waren weiß und hatten zwei schwarze Strähnen. Lily entfuhr ein lauter Schreckensschrei und sie rutschte sofort ein Stück von der Frau fort. Die Kante des Bettes kam näher und Lily sprang aus diesem. Rückwärts und ohne die Frau aus den Augen zu lassen, ging sie zur Wand. Sie wusste, dass die Frau tot war. Sie wusste es einfach, doch wie konnte sie ihr hier gegenüber stehen? War sie auch tot? Hatte die Frau einen Zwilling, der tot war? Ihre Knie zitterten, als sie immer weiter zur Wand ging. Die Frau machte keine Anstalten Lily zu folgen. Sie stand wie eine Säule am Bett und beobachtete sie. Dann wandte sie sich ohne weiteres von ihr ab und ging zu der kleinen Kochstelle. „Was war das?“, fragte eine männliche Stimme mit einem Mal und Lily fuhr herum. Undertaker stand in der Tür und sah in das Zimmer hinein. „Ah du bist wach!“, rief er erfreut mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Als er seinen Gast jedoch genauer betrachtete, erstarb das Lächeln. „Was hast du?“ Lily deutete stumm mit dem Finger auf die Frau mit weißen Haaren, die an der Kochstelle stand und dort herum werkelte. „Wer ist sie?“, fragte sie mit zittriger Stimme. Undertaker folgte ihrem Blick und sein Grinsen kehrte zurück. Mit ein paar Schritten stand er neben der Frau und drehte sie zu Lily herum. „Das ist Alyssa Campell“, stellt er die Frau vor und zog sie an der Taille zu sich. „Aber…aber…sie ist tot!“ Undertaker kicherte. „Das darfst du Niemanden verraten, dass sie hier ist. Das ist unser Geheimnis.“ „Sie ist doch ein Shinigami, oder?“ „Du bist ein kluges Köpfchen.“ „Was haben Sie mit ihr gemacht?“ Undertaker konnte sich ein weiteres Kichern nicht verkneifen. „Alyssa und ich kennen uns schon sehr lange. Als sie starb, wollte ich sie zurück von Toten holen. Leider hatte es nicht ganz so geklappt, wie ich es erhofft hatte. Sie ist zwar am Leben, aber auch nicht wirklich. Sie ist wie eine Puppe. Eine leere, seelenlose Hülle.“ „Ein Zombie…“, flüsterte Lily ängstlich. „Das Wort ist so unschön.“ Sein Lächeln erstarb und seine Stimme wurde ernst. „Aber so kannst du es auch nennen.“ „Das ist gegen die Natur! Das ist verboten und ein oberstes Gebot eines jeden Shinigami! Niemals Körper zum Leben erwecken, dessen Seele wir abgeholt haben!“ Undertaker ließ die Frau los. Alyssa, wie er sie nannte, machte sich wieder am Herd zu schaffen, als wäre sie niemals unterbrochen worden. „Ich arbeite nicht mehr für die Society“, gab Undertaker lediglich zur Antwort und zuckte mit den Schultern. Lily blickte zu Boden. Sie konnte eh nichts dagegen tun und der Frau ihren Frieden geben. Dafür war sie noch nicht ausgebildet genug. So etwas musste ein ausgebildeter Shinigami erledigen und sie war keiner. „Was ist passiert?“, fragte sie stattdessen. „Wo bin ich? Was ist aus der Gerichtsverhandlung geworden?“ Undertaker kicherte amüsiert. Mit einer ausladenden Geste mit den Händen wies er durch den Raum. „Du bist bei mir. Genauer gesagt über meinem Bestattungsinstitut.“ Lily sah sich in dem kleinen Zimmer kurz um. Es gab nicht viel darin, was sie nicht eben schon kurz gesehen hatte. Am meisten ging ihr jedoch noch immer ein kalter Schauer über den Rücken. „Die Verhandlung…“, begann Undertaker und tippte sich mit dem Finger nachdenklich an die Lippen. Seine langen, schwarzen Nägel sahen unheimlich aus, so als könnte er sich jeden Augenblick damit verletzen. „Die lief nicht gut für dich. Die alt eingesessen Herren dort haben sich ziemlich leicht um den Finger wickeln lassen von dem werten Herrn Vater der Dame. Es sah nicht gut aus. Weder für dich noch für deinen Mentor.“ „Was mache ich dann hier?“ „Zu Glück habe ich noch ein wenig zu sagen und meine Worte haben immer noch Gewicht vor Gericht.“ Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht und die Narbe spannte sich ein wenig. „Im schlimmsten Fall hättest du den Verwais bekommen und wärst aus der Society verbannt worden und der Mentor wäre versetzt worden.“ Lily nickte missmutig. „Und Sie haben uns geholfen?“ „Ein wenig.“ Wieder kicherte er und schien es zu genießen, dass er sie im Unwissen lies. „Was haben Sie gemacht?“ „Nur die Verhandlung unterbrochen und dich hierher gebracht. Hier ist es sicherer für dich als dort. Die alten Herren sollen erst einmal ihre Vorurteile ablegen und ein anständiges Urteil sprechen. Vorher lass ich dich nicht zurück in die Society und solange wird es auch keine Verhandlung geben.“ „Was ist mit den anderen?“ „Du meinst deine Freunde?“ Lily nickte. „Denen geht es gut. Sie haben vielleicht ein paar Kratzer abbekommen, weil ich mich ein wenig mit dir durchkämpfen musste, aber ansonsten geht es ihnen gut. „Soll das heißen, Sie haben mich hierher entführt?“ „So würde ich es nicht nennen.“ „Wie dann?“ „Ich hab dich aus einer miesen Lage herausgeholt.“ Lily verzog das Gesicht. „Meine Freunde werden sich aber Sorgen machen!“ Undertaker zuckte mit den Schultern. „Du wirst sie wiedersehen.“ „Wann soll das bitte sein?“ „Das wird sich zeigen.“ Kapitel 23: Alan Humphries‘ Melancholie und William T. Spears‘ Hass ------------------------------------------------------------------- Alan schnappte so angestrengt nach Luft, dass sein Brustkorb schmerzte. Seine Lunge brannte wie Feuer. Seine Rippen fühlten sich an, als würde jemand mit einem Brandeisen Löcher einbrennen. Er glaubte fast, seine Knochen würden sich zusammen ziehen, wieder dehnen und drohen auseinander zu brechen. Sein Körper fühlte sich heiß an und kalter Schweiß rann über seinen Rücken. Das Hemd klebte an ihm und ein paar Haarsträhnen hingen ihm feucht im Gesicht. Alan spürte, wie ein Schweißtropfen über seine Schläfen ins Haar rann. Jeder einzelne Muskel tat ihm weh. Sein Herz pochte viel zu schnell und krampfte sich zusammen. Ein Keuchen entfuhr ihm und er unterdrückte einen Schmerzenslaut. Er versuchte den Schmerz zu verdrängen und wandte sich unter den Qualen. Vor seinem inneren Auge bildete sich eine tiefe Schwärze, die ihn zu verschlingen drohte. Diese Schwärze löschte ein paar Sekunden oder auch Minuten der Schmerzen aus. Alan versuchte ein Gefühl dafür zu bekommen, wo er war und wie viel Zeit seit der Gerichtsverhandlung und seinem Zusammenbruch vergangen war. Doch die drohende Ohnmacht erschwerte es ihm mit der Realität Schritt zu halten. Seine einzigen Gedanken waren, wie sich die Wirklichkeit anfühlte. Die Wirklichkeit war nicht schwarz und ohne Schmerzen. Die Realität fühlte sich anders an. Sie war voller Schmerzen, während seine Glieder zuckten und jeder Muskel sich dabei verkrampfte. Alan hatte keine Kontrolle darüber, was sein Körper tat. Ein Zucken durchfuhr ihn und er rollte sich zusammen wie ein kleines Kind. Wie lange lag er schon da? Wie viel Zeit war vergangen seit dieser Shinigami Lily aus dem Gericht mitgenommen hatte? Ging es dem armen Mädchen gut? Wo war sie jetzt nur? Alan hatte keine Ahnung, wie lange er schon in dem Bett lag und sich vor Schmerzen wandte, die langsam nachließen. Vorsichtig öffnete er die Augen. Der Raum, indem er sich befand war dunkel. Wie lange war es schon Nacht oder hatte er mehrere Tage hier gelegen und sich vor Schmerzen gekrümmt? Ein beißender und unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Es war der Duft von Medikamenten und Desinfektionsmitteln. Er lag also auf der Krankenstation, aber es war weder eine Schwester noch der Arzt in Sicht. Selbst der Mond schien nicht durch die großen Fenster herein. Die ganze Nacht lag in tiefer Schwärze. Es war wohl Neumond. Vorsichtig tastete Alan mit der Hand nach seiner Brille auf dem kleinen Tischchen und setzte sie auf. Sein Körper zitterte, obwohl ihm mehr als warm war und noch immer der Schweiß über Rücken und Stirn rann. Alan konnte keine Stimmen hören. Alles war so ruhig, dass die Stille in den Ohren dröhnte. Wo waren bloß Eric, William, Grelle, Ronald und Nakatsu? Ging es ihnen gut? Angestrengt lauschte er in der Dunkelheit. Nicht einmal die Schwestern konnte er tuscheln hören, wie so oft, wenn er hier gelegen hatte. Wo waren nur alle? Alan warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Seine nackten Füße berührten den kalten Linoleumboden. Vorsichtig bewegte er sich in der Dunkelheit vorwärts. Seine Knie zitterten und seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Pudding. Mit den Händen tastete er sich langsam vorwärts. Seine Augen hatten sich an die Schwärze langsam gewöhnt und er konnte die Umrisse der Tür erkennen. Langsam tapste er auf nackten Sohlen durch den Raum und auf den Ausgang zu. Mit jedem Schritt konnte er noch ein Stechen in der Brust spüren. Sein Atmen ging stoßweise. Wo war nur Eric? Sonst war sein ehemaliger Mentor auch immer an seinem Krankenbett, wenn er einen Anfall gehabt hatte. War sein bester Freund möglicherweise in dem Kampf weiter verwickelt worden und lag nun irgendwo schwer verwundet? Der Gedanke daran versetzte Alan in Panik und er lief schneller. Eric konnte so etwas nicht passieren. So etwas durfte ihm nicht passieren. Nicht Eric, der ihn immer noch bei allen Trainingseinheiten schlug. Nicht seinem ehemaligen Mentor, von dem er alles beigebracht bekommen hatte. Er musste zu Williams Büro gelangen. Vielleicht konnte er dort rausfinden, was mit seinem besten Freund war und auch mit Ronald, Grelle, Nakatsu und Lily. Vielleicht hatten sie dem armen Mädchen auch helfen können und sie saßen jetzt alle im Büro. Alan musste es herausfinden. Keuchend verließ er die Krankenstation und ging den spärlich beleuchten Flur entlang zu den Büros. Er kniff kurz seine Augen zusammen, als er von dem dunklen Raum in die beleuchteten Gänge ging. Es dauerte aber nicht lange bis sich seine Augen an den Wechsel gewöhnt hatten. Es tanzten aber dennoch kleine schwarze Punkte vor seinem Auge. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er einem erneuten Anfall nahe stand und sich lieber schonen sollte. Aber er wollte seine Freunde nicht im Stich lassen, wenn sie seine Hilfe bräuchten. Es war kein anderer Shinigami zu sehen. Vermutlich waren sie in der Mensa oder erledigten Aufträge. Die Nachtschicht war sowieso immer mit wenigen Leuten besetzt. Langsam tapste er weiter, musste jedoch immer wieder kleinere Pausen einlegen, um zu Atem zu kommen. Wieso mussten die Büros in solchen Momenten immer mehrere Etagen höher sein und die Fahrstühle in der Nacht ausgeschaltet? Stufe für Stufe erklomm Alan die Treppe. Seine Füße froren bereits und immer wieder verhedderte sich seine Beine in dem langen Saum des Schlafanzuges, dem man ihn angezogen hatte. Genervt krempelte er den Saum um und ging weiter. Er musste durchhalten. Es war nicht mehr weit bis zu Williams Büro. Solange musste er sich zusammen reißen und weiter gehen. Alan biss die Zähen vor Schmerz zusammen und stützte sich am Geländer ab. Am Treppenabsatz angekommen, sank er auf die Knie und keuchte, als wäre er einen Marathon gelaufen. Er verfluchte sich selbst für seine Krankheit. Wenn er damals doch nur besser aufgepasst hätte, hätte er nie dieses Leiden bekommen! Alan schüttelte den Kopf und ein paar Schweißtropfen liefen über sein Gesicht. Er durfte sich jetzt nicht ausruhen und an etwas denken, was er nicht mehr ändern konnte. Langsam und vorsichtig rappelte er sich auf und ging in den Gang, wo sich Williams Büro befand. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zur dunklen Holztür. Als er dort ankam, lehnte er sich dagegen und hörte die Stimme von William, Eric, Grelle, Ronald, Nakatsu und noch einer anderen männlichen Stimme, die er als die Stimme vom Arzt identifizierte. „Inkompetent!“, sagte William plötzlich mit kühler Stimme. Wut schwang darin mit. „Anders kann man Sie beide, Mr. Sutcliffe und Mr. Knox, nicht nennen! Wie konnte er Ihnen zwei entkommen?“ Alan lauschte, während sein Atmen schnell ging. So wollte er seinen Freunden nicht unter die Augen treten. Sie würden ihn sofort zurück ins Bett zerren. Er könnte deutlich hören, wie sie von William einen ordentlichen Einlauf bekamen. Aber er konnte seinem Chef verstehen. Ein Schüler war entführt worden und das auch noch bei einer wichtigen Gerichtsverhandlung. Es war also kein Wunder, wenn er aufgebracht war. Seine Seite schmerzte und er hielt seine Hand fest an die Brust gepresst, als könnte er so seinen stechenden Herzschmerz unterdrücken. Alan konnte William laut seufzen hören. „Laut Ihrer beiden Aussagen ist Undertaker mit ihr im Londoner Hafen zuletzt gesehen worden. Dann werden wir unsere Suche dort fortsetzen. Aber es ist eindeutig, wessen Schuld es ist, dass er entkommen konnte.“ „Ich kann doch nichts dafür!“, empörte sich Grelle mit seiner lauten Stimme. „Woher konnte ich wissen, dass dieser Kerl der legendäre Shinigami ist, dessen Figur in unserer Lebensbücherei steht und dass er auch noch seine Death Scythe hat! Ich kann von Glück reden, dass ich noch am Leben bin! Dieser Kerl hat mir meine Haare abgeschnitten!“ Alan horchte auf. Grelle ohne seine langen Haare? Das war unmöglich und gab mit Sicherheit Mord und Totschlag. „Dabei habe ich nicht mal Spliss! Meine schönen Spitzen!“ Seine Stimme ging in ein weinerliches Jammern über. Alan verdrehte die Augen. Es war also doch nicht so schlimm und Grelle übertrieb wie immer. „Geh lieber erst mal baden, Grelle!“ Das war eindeutig die Stimme von Eric. „Du stinkst wie ein alter gammliger Fisch! Mr. Spears, bitte öffnen Sie die Fenster. Bei dem Gestank kommt man ja noch um.“ Vor der Tür horchte Alan auf. Was war passiert, dass Grelle wie ein Fisch roch? „Sei still, Eric!“, fuhr der Rothaarige ihn an, „Das ist nicht lustig!“ Alan hörte einen Schmerzenslaut von Eric. War er verwundet? „Da muss ich dem stinkenden roten Fischding recht geben. Es war wirklich kein Vergnügen gegen den Kerl zu kämpfen.“ Das war Ronalds Stimme. „Seien Sie bitte vorsichtig, der Arm wird noch gebraucht!“ Anscheinend wurde auch er verarztet. „Und was machen wir jetzt? Wir können doch hier nicht einfach rumsitzen und nichts tun?“ Das war eindeutig Nakatsu. Seine Stimme klang erschöpft. „Das werden wir auch nicht, Mr. Shinamoto“, erwiderte William, „ Und Sie, Mr. Sutcliffe, lassen mich sofort los! Sie stinken scheußlich!“ „William!“, klagte Grelle, „Du bist so gemein zu mir! Aber heißt das, du würdest mich an dich ran lassen, wenn ich gebadet habe? Oh William, wie wäre es, wenn du mit mir badest“ Grelle gab einen vergnügten Laut von sich. „Allein die Vorstellung, dass wir beide zusammen ein Bad nehmen, macht mich ganz hibbelig! Ich bin schon ganz erregt! Mit dir würde ich sofort Kinder in die Welt setzten!“ Alan verzog bei der Vorstellung das Gesicht und konnte sich gut Williams Grimasse dabei vorstellen. Ein kalter Schauder lief ihm bei dem Gedanken über den Rücken. „Nein danke und jetzt gehen Sie sofort auf Ihren Platz zurück! Ich möchte nicht noch genauso schlimm riechen wie Sie.“ „Du bist immer so abweisend zu mir!“ Er konnte William durch die Tür seufzen hören. „Lenken Sie nicht vom Thema ab! Wir haben wichtiges zu besprechen!“ „Aber…aber…Ronald hilf mir doch mal!“ Alan hörte, wie Ronald ein Schnauben von sich gab. „Mr. Spears hat Recht. Du solltest dringend baden, sonst riechen wir alle nach rotem Fischding. Aber wir sollten auch besprechen, wie wir weiter vorgehen sollten. Kann man den heraus finden, wo dieser Shinigami lebt? Oder weiß das jemand?“ „Ich glaube, er lebt irgendwo in London als Bestatter“, sagte Grelle. Diesmal war seine Stimme wieder ernster. „Als ich bei Madame Red als Butler im Dienst war, sind wir einmal dort gewesen.“ Alan horchte auf. Das schien doch eine gute Wendung zu werden. „Weißt du, wie man dorthin kommt?“, fragte Eric hoffnungsvoll. Das Geräusch eines über den Boden scharrenden Stuhls war zu hören. „Wenn du es weißt, dann sag es uns!“ Das war die Stimme von Ronald. „Tut mir leid, ich habe vergessen, wo es war.“ „Das kann doch nicht wahr sein!“, entfuhr es William. „Wie inkompetent sind Sie?“ Auch Alan konnte darüber nur den Kopf schütteln. Aber das war wieder einmal typisch Grelle. Ihm entfuhr ein leises husten. Der Schmerz ließ langsam nach, auch wenn sein Herz noch immer kleine Stiche verspürte. Aber er konnte nicht ewig in diesem Flur stehen bleiben und darauf warten, dass es besser wurde. Eric würde er mit Sicherheit nichts vormachen können, egal wie lange er hier stehen bleiben würde. Sein bester Freund würde sehen, dass es ihm nicht gut ging. Den anderen etwas vorzumachen, war einfacher. Alan atmete noch einmal tief ein und aus, dann drückte er die Klinke herunter und trat in das Büro seines Vorgesetzten. Augenblicklich wendeten sich alle Augenpaare im Raum auf ihn. Erich war der Erste, der von seinem Platz aufgesprungen war und zu ihm eilte. „Alan, was machst du hier? Du solltest doch auf der Krankenstation im Bett liegen!“ Die Angst um ihn, war deutlich in seiner Stimme zu hören. „Mir geht es gut“, antwortete er. „Dein letzter Anfall war schlimmer als sonst, Alan. Du solltest dich wieder hinlegen. Ich begleite dich auch zurück“, sagte Eric und legte seinen Arm um Alans Schultern. Er schüttelte den Kopf und entzog sich Erics Griff. „Ich sagte doch, mir geht es gut.“ „Mr. Humphries, Sie sollten Ihren Anfall nicht auf die leichte Schulter nehmen“, mischte sich der Arzt ein, der bis eben noch an Ronalds Arm verarztet hatte. „Sie haben sich die letzten Stunden nur herum gewälzt und vor Schmerzen gestöhnt. Ich habe Ihnen ein starkes Schmerzmittel gegeben, aber selbst das schien Ihnen keine Linderung gebracht zu haben. Ich muss also darauf bestehen, dass Sie wieder zurück auf die Krankenstation ins Bett gehen. Sobald ich Ihre Kollegen verarztet habe, werde ich zu Ihnen kommen und mich um Sie kümmern.“ „Aber ich sagte, mir geht es gut!“, protestierte er. Der Arzt seufzte. „Mr. Humphries, ich muss darauf bestehen. Es ist zwingend erforderlich, dass Sie die nächsten Tage noch das Bett hüten und ich Sie von Kopf bis Fuß untersuche.“ „Ich kann doch aber nicht tatenlos hier rumsitzen, während Lily irgendwo da draußen bei diesem verrückten Shinigami ist!“ Wütend warf er einen Blick zu William und hoffte, dass sein Chef sich einmischen würde. „Mr. Humphries, Sie hören auf den Arzt“, sagte William nur. Alan biss sich auf die Unterlippe. „Sei vernünftig, Alan. Es ist zu gefährlich für dich. Selbst Grelle, Ronald und ich konnten nichts gegen ihn unternehmen.“ Ein Seufzen entfuhr ihm und er nickte. „Dann will ich wenigstens hier bei der Versammlung dabei sein.“ William nickt, wenn wohl auch widerwillig. Alan musterte seine Freunde genauer und stellte einige Wunden bei ihnen fest. Zum Glück schien Eric nur halb so schlimm verletzt zu sein. Grelle und Ronald hatte es wesentlich schlimmer getroffen. Ronald saß mit nacktem Oberkörper auf einem Stuhl, während die Schwester einen stützenden Verband um seine Schulter legte. Sein Oberkörper war schon in einem Verband gewickelt worden. Seine Wange war geschwollen und er hielt ein kühlendes Tuch darauf. An seiner Stirn und in den Haaren klebte getrocknetes Blut. Grelle hatte ein deutliches Veilchen und viele Kratzer und Schürfwunden im Gesicht. Seine Kleidung hatte viele Risse bekommen und er stank nach Fisch. Eric und Ronald hatten nicht übertrieben. „Grelle, du stinkst!“, entfuhr es Alan und hielt sich die Nase zu. Er wedelte sich mit der Hand frische Luft zu. „Wie haltet ihr das mit dem aus? Das riecht ja wie gammliges Fischöl!“ Grelle entfuhr ein Knurren. „Ja, ich hab es verstanden! Ich rieche nach Fisch! Was kann ich auch dafür, dass der Kerl mich in ein Fass mit Fisch wirft!“ „Alan, setz dich und ruh dich aus“, sagte Eric und drängte ihn zu einem Stuhl. Widerwillig setzte er sich auf den Stuhl und zog die Ärmel des viel zu langen Pyjamas ein Stück höher. „Also wo waren wir?“, fragte Nakatsu und sah in die Runde. „Wo finden wir diesen Shinigami“, antwortete Ronald mit ernster Stimme. „Unser Grelle weiß ja leider nicht mehr, wo er lebt.“ „Kann mich bitte zuerst jemand aufklären, was alles genau passiert ist? Meine Erinnerung ist etwas verschwommen.“ Alan sah bittend in die Runde. „Der Kerl hat sie einfach so entführt. Das ist passiert!“, knurrte Nakatsu. „So viel habe ich noch mitbekommen“, antwortete Alan. „Ich weiß noch, dass der Kerl von Anfang an dabei war, obwohl er keine Einladung hatte. Bei deinen Verhandlungen hatte er Nakatsu als Zeugen mitgebracht.“ „Das er einfach so in das Gericht gekommen ist, lag daran, dass er vermutlich seine Position als legendären Shinigami ausgenutzt hat“, sagte William. „Da er Mr. Shinamoto immer als Zeugen mitgebracht hat, zeigt, dass er ihr helfen wollte. Warum weiß auch ich nicht.“ Alan nickte. „Die Verhandlungen liefen ja überhaupt nicht gut. Ich hatte das Gefühl, die Richter hätten sie am liebsten exekutiert.“ „Das nicht unbedingt. Aber eine Suspendierung und Ausschließung aus unserer Gesellschaft war nicht abwegig.“ „Die Richter wollten gerade in mein Lebensbuch blicken, als er sich eingemischt hatte“, sagte Ronald. Alan nickte und wusste genau, dass er ein riesen Glück gehabt hatte. Wenn die Richter in dem Buch nachgelesen hätten, würden sie jetzt wissen, dass er in seine Schülerin verliebt war und das wäre mit Sicherheit zu Ausschließung gekommen. Der Shinigami hatte ein sehr gutes Timing gehabt oder er hatte es gewusst. Letzteres wäre für seinen Freund ein riesengroßes Problem. „Ich erinnere mich, dass er von der Besucherloge aufgesprungen ist und neben Lily gelandet ist. Er hatte sie im Nacken berührt und dann ist sie zusammen gebrochen. Dann hat er sie sich über die Schulter geworfen und wollte weg.“ „Genau. Dann sind wir dazwischen gegangen. Leider konnten wir ihn nicht angreifen, wegen Lily. Du hast versucht ihn von hinten zu erwischen. Der Kerl hatte dich abgewehrt. Selbst als wir im Team angegriffen hatte, hatte er uns abblocken können. Noch ehe du angreifen konntest, bist du zusammen gebrochen. Er muss dich kräftig erwischt haben, Alan. Der Kerl hatte mich ordentlich an der Hand verletzt.“ Eric zeigte ihm seine badagierte Hand. „Ich habe mich dann um dich gekümmert, während William sich um Nakatsu gekümmert hatte. Grelle und Ronald sind ihm dann nach gelaufen und konnten ihn bis in den Hafen Londons verfolgen.“ „Wo er uns dann niedergemetzelt hat“, knurrte Ronald. „Ein legendärer Shinigami wird man eben nicht einfach so“, kommentierte William tonlos. „Aber wo wir jetzt alle auf demselben Stand sind, sollten wir weiter überlegen, wie wir vorgehen werden.“ „Unser lieber Grelle hat ja leider vergessen, wo er lebt“, sagte Ronald mit mürrischer Stimme. „Vielleicht vernebelt aber nur der Geruch, dem roten Fischding das Gehirn“, meinte Eric und grinste Grelle frech an. „Ihr seid alle so gemein zu mir“, seufzte Grelle und ließ den Kopf hängen. „Mir fällt aber gerade etwas ein!“ „Was denn?“, fragte Alan neugierig. „Mein liebster Sebastian weiß bestimmt genau, wo dieser Shinigami lebt! Immerhin war ich mit ihm dort!“ „Dann sollten wir diesen Sebastian fragen gehen“, sagte Ronald und stand vom Stuhl auf. Er griff nach seinem Hemd und dem Jackett. „Nein!“ „Bist du etwa eifersüchtig auf ihn, mein lieber William?“, säuselte Grelle und drückte sich an Williams Schulter. Mit emotionslosem Blick nahm er Grelles Arm und drehte ihn auf den Rücken. William richtete mit seiner freien Hand seine Brille zurecht und stieß dann Grelle von sich. „Es kommt nicht in Frage, dass wir uns soweit runter begeben und einen Teufel nach Informationen fragen!“ William gab ein leises knurren von sich. „Sie fressen die Seelen, die wir einsammeln müssen! Niemals werden wir so jemanden um Hilfe bitten!“ „Aber…aber Mr. Spears, es ist ein Notfall. Sollten wir nicht da eine Ausnahme machen?“, wagte Nakatsu zu fragen und sah unsicher den Chef der Abteilung an. „Nein. Wir werden es auch ohne dessen Hilfe schaffen. Sie sollten jetzt auch alle Schlafen gehen und sich erholen. Morgen werden wir uns dann auf die Suche machen!“ „Morgen erst? Dann ist der Kerl doch schon über alle Berge!“, empörte sich Ronald und funkelte William wütend an. „Beruhigen Sie sich, Mr. Knox“, erwiderte der schwarzhaarige Shinigami. „Mr. Sutcliffe sagt ja, er lebt dort irgendwo. Also gehe ich davon aus, dass Miss McNeil bei ihm ist. Dementsprechend haben wir Zeit und sollten Kraft tanken und uns gut darauf vorbereiten.“ William wandte seine Aufmerksamkeit zu Grelle. „Sie nehmen am besten ein Bad in Essig. Ich hoffe sehr, dass dieser Gestank sich nicht in mein Büro festsetzt und solange Sie so riechen, kommen Sie am besten nicht mehr aus Ihrem Zimmer.“ Grelle wollte protestieren, schwieg aber unter dem strengen Blick von William. „Mr. Humphries, Sie gehen zurück auf die Krankenstation und legen sich hin. Sie hören genau auf die Anweisungen des Arztes. Ich erwarte dann einen Bericht über Ihren Gesundheitszustand. Sie dürfen dann jetzt alle gehen.“ Resigniert von dieser Ansage verließen Sie alle das Büro. Grelle stapfte wütend als erster aus dem Raum und hinterließ eine Fischfahne. Er wünschte niemanden eine gute Nacht und sagte auch sonst kein Wort mehr. Alan ließ sich von Eric zurück auf die Krankenstation belgeiten. Er wünschte Ronald und Nakatsu noch eine gute Nacht ehe sich die Wege trennten. Die beiden taten ihm irgendwie leid. Er wusste genau, wie wichtig Lily ihnen war und hätte ihnen zu gerne geholfen. Doch sollten sie diesen Sebastian aufsuchen, würde William ihnen einen nach dem anderen den Kopf abreißen. Eric würde ihn auch nicht so ohne weiteres jetzt aus den Augen lassen. Sein bester Freund würde sicherlich die Nacht bei ihm auf der Station bleiben und warten bis der Arzt ihn entlassen würde. Alan seufzte ergeben und tapste auf nackten Füßen zurück durch die Flure. Die Schmerzen an seinem Herzen stachen noch immer und fühlten sich unangenehm an. Wie sehr er doch seine Krankheit verfluchte. Nicht einmal einer Freundin konnte er helfen. Er war zum Nichtstun verdammt. „Ist alles in Ordnung, Alan?“, fragte Eric, nachdem sie die Etage von Williams Büro verlassen hatten. „Ja, es geht mir gut.“ „Nimm es William nicht übel. Er will nur, dass du dich nicht in Gefahr bringst.“ „Ich weiß.“ „Was hast du dann?“ „Eric, du weißt, wie es um mich steht. Ich werde irgendwann sterben! Es gibt keine Heilung und jetzt, wo jemand meine Hilfe dringend brauch, kann ich nichts tun! Ich bin zum Nichtstun verdammt! Wer weiß schon, was dieser Kerl mit ihr anstellt, aber anstatt ihr zu helfen, muss ich auf der Krankenstation liegen!“´ Ein Schluchzen entfuhr ihm. „Diese Krankheit frisst mich von innen auf. Mit jedem Mal wird es schlimmer. Meine Werte werden nicht besser. Im Gegenteil, nach jedem Anfall sinken sie immer tiefer. Irgendwann werde ich gar nicht mehr arbeiten können!“ Heiße Tränen brannten ihm in den Augen und liefen ihm über die Wange. „Alan…“, murmelte Eric nur. Sein Atem stockte ein wenig zwischen den einzelnen Schluchzern. Wieso konnte Eric ihn jetzt nicht einfach in den Arm nehmen, wie er es sonst tat, wenn er einen Anfall hatte? Stellte es so ein Problem für ihn da, wenn er weinte? „Ich will nicht, dass Lily etwas passiert…“, schluchzte Alan. „Ihr wird schon nichts passieren“, versuchte Eric ihn aufzumuntern. Alan konnte seine Hände auf seinen Schultern spüren und er drückte sich an Erics Schulter. „Aber wer weiß, wann wir sie finden…William will ja nicht diesen Teufel fragen!“ Eric drückte ihn an sich. „Wir finden die Kleine schon. Ich hab auch schon eine Idee. Wenn William Sebastian nicht fragen will, machen wir das eben.“ Der Geruch von Fisch hing noch immer in seinem Büro und würde bestimmt nicht so schnell verfliegen. Vermutlich würde William in den nächsten Tagen das Fenster offen lassen müssen, damit der Geruch verfliegen konnte. Vielleicht sollte er sich ein Duftöl oder Räucherwerk besorgen, um den Gestank zu überdecken. Wobei dieser Fischduft so stark in der Luft hing, dass mit Sicherheit auch diese Sachen keine Wirkung zeigen würden. Da könnte er gleich versuchen den Geruch mit bunten Tüchern weg zu tanzen. Wahrscheinlich sollte er sein ganzes Büroinventar verbrennen, ein neues beantragen und diesen Raum jemand anderen überlassen. Am besten dem Verursacher Sutcliffe. Wahrscheinlich hatte sich dieser üble Gestank auch in seinen Kleidern und Haaren festgesetzt. Er würde dringend noch duschen und seine Kleider vor Maisy und Jess verstecken müssen. Die kleinen beiden Katzen würden ihn sonst für ihr Abendessen halten und er wollte sich nicht ausmalen, was sie mit seiner Uniform anstellen würden. Dafür war sie nun wirklich viel zu teuer, als dass er sie sich vom Lohn abziehen lassen würde. Er strich sich durch seine inzwischen zerzausten Haare. Der Tag war einfach nur die pure Hölle gewesen. Ein Glück hatte er jetzt Feierabend und konnte sich in seinem Bett ausruhen. Morgen würde er sich über den Papierkram hermachen und abarbeiten. Es gab eine Menge zu erledigen. Wäre der Freund seiner verstorbenen Mentorin nicht aufgetaucht, wäre die Angelegenheit mit Sicherheit erledigt und er müsste keine Berichte schreiben. Manchmal fragte er sich, wie Alyssa in dieser Situation handeln würde. Aber vermutlich hätte sie gar nicht solche Sorgen gehabt, wie er sie gerade hatte. Sie hätte es von Anfang an richtig gemacht. Sie war eben nie umsonst die Freundin von Undertaker gewesen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, als er die beiden in Aktion erlebt hatte als ein Dämon sie angegriffen hatte. Es war ein perfektes Spiel von Teamarbeit gewesen. William hatte nicht anders gekonnte als seine Mentorin für ihr Können zu bewundern. Sie war immer perfekt gewesen, hatte nie eine Schwäche gezeigt, war immer korrekt gekleidet und die Arbeit war immer pünktlich fertig gewesen. Alyssa Campell war sein Idol und Vorbild gewesen, auch wenn sie eine Frau war. Seine Mentorin war immer stark gewesen. Umso mehr hasste er es, wie sich McNeil anstellte mit den Aufgaben klar zu komme und bisher nur Probleme hatte. Der Gedanke, dass sie das Andenken von Alyssa verdrängen könnte, machte ihn wütend. Aber er konnte dem Mädchen nicht die Schuld für ihren Wunsch geben und bisher stand sie noch am Anfang der Ausbildung. William hegte noch die Hoffnung, dass sie sich bessern würde, so dass der Ruf seiner Mentorin als legendärer Shinigami nicht beschädigt werden würde. Er bedauerte es noch immer, dass sie so früh gestorben war und nicht sehen konnte, was aus ihrem schüchternen Schüler geworden war. Alles nur wegen eines widerwertigen Dämons! Allein bei dem Gedanken daran, wie sie gestorben war, ließ Wut in ihm aufsteigen. Diese Wesen waren einfach nur nervig und lästig. William schloss die Augen. Auch wenn der Dämon tot war, der seine Mentorin getötet hatte, würde er dieser Rasse nicht verzeihen können. Niemals. Er konnte noch immer deutlich sehen, wie Undertaker vor so vielen Jahren durch die Türen geschritten war. Er war durch den vielen Regen durchnässt gewesen bis auf die Knochen. Sein Gesicht, Hals und Hände war von tiefen Wunden übersäht gewesen, aus denen Blut geflossen war und sich mit dem Regen vermischt hatte. In den Armen trug er Alyssa. Sie hatte die Augen geschlossen gehabt und war von Blut nur überströmt gewesen. Der Blick von Undertaker war ausdruckslos gewesen und er hatte sich als Schüler nicht getraut gehabt zu fragen, ob sie am Leben war. Erst viel Später hatte er sich getraut in den Krankensaal zu gehen und zu fragen, wie es ihr ging. Emotionslos hatte Undertaker ihm geantwortet und gesagt, dass sie tot sei. Er hatte es kaum glauben können. Wie hatte es nur passieren können? William hatte sich danach in sein Zimmer zurück gezogen, genauso wie Undertaker. Sie beide hatten um eine Frau getrauert, die sie beide auf ihre Art geliebt hatten. Kein anderer Mentor hatte sie ersetzen können und er hatte sie von Anfang an gemocht. Ihre Knochenkekse waren immer lecker gewesen. Wenn er nicht weiter wusste oder sich über Grelle aufgeregt hatte, hatte sie ihm Kekse angeboten gehabt und gesagt, er solle einen essen. Ihr Lachen war ansteckend gewesen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er daran zurück dachte, wie sie ihn immer wieder zum Lachen gebracht hatte. Aber diese Zeit war nun vorbei. William seufzte ergeben. „Ich wünschte, Sie wären jetzt hier und könnten mir einen Rat geben, was ich tun soll, Miss Campell…“, murmelte er leise. William fuhr sich über die Augen. War da eben wirklich eine Träne gewesen? Er schüttelte den Kopf und versuchte den Gedanken an sie zu verdrängen. Sie war tot und das schon seit vielen Jahren. Inzwischen war er Leiter der Abteilung geworden und schaffte es auch ohne Hilfe. Aber wem hatte er seinen Erfolg zu verdanken, wenn nicht ihr? Immerhin hatte er versucht ihr nachzueifern. Leider hatte er sie nur als Mentorin kennen gelernt und nie als private Frau. Sicherlich war sie privat genauso perfekt wie in der Arbeit. Ein weiterer Seufzer entfuhr ihm und er stand von seinem Schreibtischstuhl auf. William knipste das Licht aus und ließ die Fenster offen, damit der Geruch weiter abziehen konnte. Vielleicht sollte er die späte Stunde nutzen und noch ein Bad nehmen. Es würde sicherlich niemand im Gemeinschaftsbad sein. Der Gedanke klang verführerisch und nach seinen letzten Stunden mehr als nur angebracht den Feierabend damit zu beginnen. Wie war er eigentlich auf seine Mentorin gekommen? Er schaltete das Licht an der Decke aus und schloss die Tür zu seinem Büro ab. Undertaker! Er hatte über die Verhandlung nachgedacht und darüber, dass ihr Freund erschienen war. Aber anstatt an die Vergangenheit zu denken, sollte er sich Gedanken machen um die Schülerin, die er mitgenommen hatte. Sosehr McNeil Probleme machte, es war dennoch seine Aufgabe, sie zurück in die Society und in Sicherheit zu bringen. Jedoch würde er niemals diesen Teufel fragen! William wusste, er würde einen anderen Weg finden, Undertaker zu suchen und zu schnappen. Doch für heute brauchte er dringend ein wenig Schlaf. Mit einem kräftigen Gähnen ging er durch die Gänge und durch das Treppenhaus in die Eingangshalle. Kein einziger Shinigami begegnete ihn und es war still. Ein eindeutiges Zeichen, dass es schon viel zu spät war und er wieder einmal Überstunden gemacht hatte. Er fragte sich, wann er diese bezahlt bekommen würde oder einen freien Tag nehmen konnte. Als er in der Eingangshalle ankam, war der Empfangstresen leer und dunkel. Er schaute sich kurz um und hielt inne. Sein Blick fiel in den Gang, der zur Abteilung der Lebensbücher führte. Eigentlich wollte er das Gebäude verlassen und ins Wohnheim gehen, doch ihm kam eine Idee. William machte auf dem Absatz kehrt und ging mit schnellen Schritten in den Korridor, der zur Abteilung führte. Er wusste nicht, woher es kam, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er dorthin gehen und Lilys Lebensbuch suchen sollte. Vielleicht hatte er eine Chance sie zu finden, wenn er in ihrem Buch nachlesen würde? Wieso war er da nicht eher darauf gekommen? Seine Schritte beschleunigten sich und er öffnete die Tür zur Lebensbuchabteilung. Das Licht war ausgeschaltet. William konnte dennoch ein paar Umrisse erkennen. Der Empfang war leer und es lagen ein paar Papiere auf dem Tisch. Auf einem Wagen lagen ein paar Lebensbücher, die noch einsortiert werden wollten. William schaltete die kleine Lampe am Empfang an, die ein wenig Licht spendete. Er musste zur Abteilung der Shinigami-Bücher. William ging durch die Regale und zur hintersten Abteilung, hielt jedoch schlagartig inne. Das Licht in einer kleinen Ecke war noch an und erhellte den Tisch mit den drei Lebensbüchern darauf. Eines der Bücher war aufgeschlagen. William konnte ein leises kichern hören. „Hallo William“ „Undertaker“, erwiderte er nur. „Ich hatte gehofft, hier ungestört lesen zu können. Aber anscheinend bist du auf die Idee gekommen hier nach Hinweisen zu suchen.“ William schwieg. „Was suchen Sie hier?“ Undertaker kicherte erneut. „Ich wollte mir nur ein wenig Lektüre für den Abend ausleihen.“ „Sie wissen schon, dass wir auf der Suche nach Ihnen sind, um unsere Schülerin zurück zu holen?“ „Ich weiß“, kicherte er, „Aber ich muss dich enttäuschen, kleiner William, ich habe sie nicht hier.“ „Das habe ich auch nicht erwartet.“ „Sie ist gut versteckt und in Sicherheit vor euch allen hier.“ William verzog keine Miene, lediglich seine Augenbraue hob sich skeptisch. Er schob seine Brille ein Stück höher. „Wie kommen Sie darauf, dass sie hier nicht sicher ist?“ „Das sieht doch ein blinder mit dem Krückstock.“ „Ich tue mein Bestes, um jeden Schüler zu beschützen. Sie wissen ja selbst, dass sie unter besonderen Schutzmaßnahmen stehen.“ „Die anscheinend bei ihr kläglich versagt haben“, erwidere Undertaker. Sein Lächeln war schon längst verschwunden. „Genauso wie du als Leiter der Abteilung versagt hast. Du hast es nicht geschafft, sie zu beschützen. Jetzt kümmere ich mich um das Problem.“ William versteifte sich. In diesem Tonfall hatte Undertaker zuletzt während seiner Ausbildung mit ihm gesprochen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Du warst schon immer jemand, der sein Bestes gab und dann auch oft genug versagte. Ich werde also nicht zulassen, dass eine Schülerin dermaßen gedemütigt wird. Zu meiner Zeit hätte es das nie gegeben.“ „Sie sind aber kein Shinigami mehr und Ihre einzige Schülerin war Alyssa! Woher wollen Sie also etwas von Problemen mit Schülern wissen?“, erwiderte William. Undertaker gab einen abwertenden Laut von sich. „Mehr als genug. Alyssa war nicht ganz so perfekt, wie du immer glaubst.“ „Sie war ein sehr guter Shinigami!“ Seine Stimme war lauter geworden. „Das bestreite ich auch nicht. Dennoch hatte sie ihre Macken und Eigenarten. Besonders als Schülerin trieb sie mich oft genug in den Wahnsinn.“ William schnaubte. „Denkst du allen Ernstes, sie hat ihr wahres Gesicht einem kleinen Schüler wie dir gezeigt? Denkst du, du hast ihr nahe gestanden? Du warst nur ihr erster Schüler, mehr nicht. Du kanntest sie nicht einmal.“ „Seien Sie still!“ Undertaker erhob sich seufzend. „Du hast mir nie verziehen, dass ich sie tot zurück gebracht habe, oder William?" Ruhig schob er seine Brille wieder höher. „Nein, ich werde auch nicht verstehen können, wieso Sie ihr nicht geholfen haben.“ Undertaker grinste geheimnisvoll. „Weißt du, es gibt vieles, was du nicht weißt. Weder über Sie noch über mich, noch über deine Schülerin. Aber ich schätze du hast dir nie die Mühe gemacht in den Lebensbüchern nachzulesen. Wie dem auch sei.“ Undertaker machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du hast dich nie gefragt, welcher Shinigami sie abgeholt hat oder?“ "Was soll das jetzt? Worauf wollen Sie hinaus?“ Wieder seufzte der ältere Shinigami. „Es gab niemanden außer uns vor Ort.“ „Wollen Sie damit sagen, dass Sie es waren?“ „Du bist ein schlaues Bürschen. Wenigstens das warst du schon als Schüler.“ schloss das Lebensbuch vor sich auf den Tisch. William hatte Mühe sich zurück zu halten. Es konnte nur eine Lüge sein! Anders konnte er es sich nicht erklären. Dieser Shinigami versuchte ihn zu provozieren. Undertaker log! Er hatte bestimmt nicht seine eigene Freundin abgeholt. Das hätte er nie getan. William hatte noch genau vor Augen, wie die zwei ein Herz und eine Seele waren. Niemals hätte er sie abgeholt und den entscheidenden Schnitt gemacht. „Wenn du mir nicht glaubst, lies selbst. Das hier ist ihr Lebensbuch.“ Er hielt William das Buch hin. „Ich verzichte.“ „Wie du willst.“ Undertaker nahm die drei Lebensbücher unterm Arm. „Ich leihe mir diese Bücher dann mal aus.“ „Warten Sie!“, rief William. „Sie sagen mir noch, wo McNeil ist!“ Undertakers grinsen war zurück. „Hast du nicht zugehört? Ich sagte doch, ich werde mich jetzt darum kümmern, dass sie in Sicherheit ist. Alyssa hat dir doch beigebracht, dass jeder nur eine Seele hat und ich werde jetzt dafür sorgen, dass mit dieser sorgfältig umgegangen wird.“ Er schritt an William vorbei und spielte mit einem Finger an seiner Medaillonkette, die er um die Hüfte trug. Er betrachtete eines davon genauer. Darauf war Alyssas Name zu sehen und ihr Todesdatum. „Du bist jetzt in einer hohen Position. Dir stehen große Kräfte zur Verfügung. Also nutze sie weise. Du weißt nie, wann die Last zu groß sein wird. Du merkst es erst dann, wenn du sie nicht mehr tragen kannst. Bring also deine Leute nicht unnötig in Gefahr. Hör also auf mich, William, das ist eine gut gemeinte Warnung. Ich werde auf deine kleine Schülerin gut aufpassen.“ Mit diesen Worten ging Undertaker und ließ William alleine zurück in der Lebensbuchabteilung. Ihm war bewusst, dass der ehemalige Shinigami Lilys Buch mitgenommen hatte und er jetzt keine Chance mehr hatte, darin nachzulesen, wo sie sich befand. Das dritte Buch war sicherlich sein eigenes gewesen. Seufzend ließ sich William in einen der Sessel sinken. Er stützte seinen Kopf in die Hände. In seinem Kopf drehte sich alles. Wo war McNeil bloß? Wie konnte er sie finden? Sagte Undertaker doch die Wahrheit und er hatte seine Mentorin abgeholt? Ihm war es schon immer bewusst gewesen, dass er ihn nicht gemocht hatte. Es aber zu hören, dass er als Leiter der Abteilung versagt hatte und nicht in der Lage war auf Schülern aufzupassen, saß tief und hatte ihn hart getroffen. Hätte er strenger sein müssen? Hätte er es vielleicht verhindern können? William schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht verunsichern lassen. Seine Position war hart erkämpft und er hatte stets nach Vorschriften gehandelt. Müde schaltete er das kleine Licht aus und verließ ebenfalls die Abteilung. So einfach würde dieser Shinigami nicht davon kommen. Er würde McNeil finden und zurück holen. Kapitel 24: Zwischen Früher und Heute ------------------------------------- Die Straßen Londons gehörten den Katzen. Das war jedem bewusst. Jeder Händler, Bettler und Käufer wusste, dass sie die geschicktesten Diebe waren, wenn es um die Beschaffung von Fressen ging. Besonders in der Nacht war die Stadt ihr Revier. Es gab keine Gasse oder Hinterhof, in denen sie nicht lungerten und den Müll durchforsteten. Ihre glühenden Augen konnten einen Passanten schnell erschrecken. Aber selbst am Tag schienen sie die Stadt mehr und in Besitz zu nehmen. Besonders die Fischverkäufer hatten ihre Sorge mit den Tieren. Auch heute waren sie unterwegs, als die Nacht über London hereingebrochen war. Auf den Straßen war es ruhig und verlassen. Nur ab und zu fuhr eine Pferdekutsche vorbei und das Wiehern der Tiere war zu hören. Hier und da konnte man eine der Katzen mauzen hören oder sich um ein Revier balgen. Um kurz nach Mitternacht brach zusätzlich ein Sturm los, der dunkle Wolken über den Himmel trieb und die Sterne verdunkelte. Blitze zuckten über den Himmel und nur wenige Sekunden später ertönte ein dunkles Donnergrollen. Zusätzlich regnete es noch wie aus Eimern. Es war ein schwerer und starker Regen, so dass die Straße endgültig leer war. Die Katzen suchten sich einen sicheren Unterschlupf, genau wie die Menschen. Viele flüchteten sich in die Schenke zwei Gassen weiter. Es gab keine Passanten mehr die diese Straße entlang kamen. Selbst die Nachbarhäuser hatten ihre Fensterläden zu, so dass nur der Schein einer Kerze durch manche Ritze schien. In dieser Gasse gab es nicht einmal eine Straßenlaterne. Alles war düster und verlassen. Aber wieso sollte man auch in der Nacht sein Geschäft besuchen wollen? Selbst, wenn es nicht regnen würde? Niemand wollte einen Bestatter in der Dunkelheit sehen oder gar sein Geschäft betreten.. Ein weiterer Grund, wieso man die Straßen mied, in denen Bestatter lebten. Die Menschen hatten in der Nacht einfach zu viel Angst vor Leichen. Besonders in einer Nacht wie dieser wurde er gemieden, wie die Pest. Undertaker grinste bei diesem Gedanken, wie die Leute in der Stadt sich gruselten, wenn sie ihn in der Nacht sahen. Er konnte ihr Unwohlsein am ganzen Körper spüren. Er lauschte wie so oft wieder den Geräuschen der nächtlichen Stadt und hing seinen Gedanken nach. Es war alles wie immer und nichts Ungewöhnliches dabei. Leise kicherte er und griff zu einem Knochenkeks, die in der Urne neben ihm lagerten. Er biss ein Stück davon ab und ein paar Krümel fielen auf seinen Umhang. Die Kekse schmeckten wie sie sein sollten. Sie waren genau so, wie sie immer waren. Aber sie wurden auch seit Jahren von ein und derselben Person gemacht. Er biss ein weiteres Stück ab und genoss den süßen Geschmack. Verträumt betrachtete Undertaker den Keks und dachte wehmütig daran zurück, als er Alyssa einmal dabei zugesehen hatte, wie sie gebacken hatte und er ihr helfen wollte. Es war ein einziges Chaos gewesen. Ein Kichern entfuhr ihm und er sah aus dem Fenster, an dem der Regen klopfte und aderförmig an dem Glas herunterlief. Undertaker wandte den Blick wieder ab und lehnte sich wieder an den Stuhl. Ein Bein war angewinkelt und das andere ruhte auf einem anderen Stuhl. Auf dem Tisch neben ihn hatte er Alyssas Lebensbuch aufgeschlagen und darin gelesen. Es gab so viele Erinnerungen mit ihr, die er nie vergessen wollte, die aber nach einiger Zeit doch durch andere Dinge verdrängt wurden. Er dachte gedankenversunken an den Abend zurück, als er ihr gesagt hatte, dass er sie mochte und alles andere als egal war. Niemals würde er ihren Blick vergessen. Sie hatte ihn angeschaut wie ein Rehkitz, dass von einem Zug überfahren wurde. Die Wangen waren gerötet gewesen und der Mund ein Stückchen offen gewesen. Als sie auch noch die Augen geschlossen hatte vor Nervosität, hatte er diesem Anblick nicht mehr widerstehen können. Er hatte sie einfach küssen müssen. Undertaker schloss die Augen und strich sich seine Haare nach hinten. Die Zeit mit ihr war wunderbar gewesen und viel zu kurz. Er dachte an all ihre Versuche zurück, einen Ausweg aus ihrem Verhältnis zu finden, das während der Ausbildungszeit nicht sein durfte. Sie waren alle vergebens gewesen. Immer wieder war es nur von kurzer Dauer gewesen. Keiner von ihnen beiden hatte den anderen ignorieren können, nachdem das Eis gebrochen worden war. Neben ihrem Buch lag ein Stück Papier. Vorsichtig fuhr er über die brüchigen Fasern, die schon gelblich angelaufen waren. Die Tintenfarbe war leicht verblasst, aber die Schrift noch deutlich zu erkennen. Er konnte spüren, wo er damals mit dem Füller zu stark aufgedrückt hatte und die Seite fast gerissen war. Undertaker sah sich noch genau am Schreibtisch sitzen und ihr diesen Zettel schreiben mit seiner unordentlichen Handschrift. Als sein Blick über die Worte flog, die er auswendig konnte, verschwand sein Grinsen. Er hatte oft genug versucht ihr mit einem Brief zu sagen, was er empfand, hatte aber nie die richtigen Worte gefunden und sie nie abgegeben. Einmal hatte er sogar einen Brief angefangen, in dem er seinem Chef versucht hatte zu erklären, wieso er nicht länger ihr Mentor sein wollte. Aber auch diesen hatte er nicht abgegeben. Langsam stand er vom Stuhl auf und ging zu der Stelle, wo Alyssas und Emilys Körper lagen. Selbst als Tote brauchten sie ein wenig Erholung und Ruhe, damit der Körper nicht verfiel. Leise kniete er sich neben Alyssas Körper und fuhr mit den langen Nägeln über ihr Gesicht. Sie lag friedlich dort und wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er glauben können, sie schliefe nur. Doch wie so oft, musste er sich schmerzhaft daran erinnern, dass er es gewesen war, der sie abgeholt hatte. Zudem zeigten die Narben an ihrem Körper, dass sie einen schweren Kampf gehabt hatte und es nicht überlebt haben konnte. Zu gerne würde er ihre Lippen noch einmal spüren, ihren Körper mit der weichen Haut und mit ihr gemeinsam Lachen. Leider war ihm dies verwehrt. Er konnte ihren Körper gerade so erhalten. Wenn er nicht bald ihre Seele wieder in den Körper brachte, würde er irgendwann verfallen und könnte es nicht mehr aufhalten. Würde er sie küssen, würde der Zersetzungsprozess sofort einsetzten. Denn leider vertrug sich der tote Organismus nicht mit dem Lebenden. Es war wie ein Virus, der sich sofort in dem Körper ausbreitete und verwesen ließ. Eine Rettung wäre für den Körper nicht möglich. Also musste er sich zusammen reißen und abwarten, wie so lange schon. Zudem war dieser Körper im Moment nur eine leere Hülle und mehr tot als lebendig. Undertaker mochte zwar sein Geschäft und auch die Arbeit, aber von Nekrophilie hielt er nun doch nichts. Ein Seufzer entfuhr ihm. Mehr als diese kleine Berührung durfte nicht sein. Nicht, solange dieser Körper keine Seele hatte. Was nützte ihm auch ein Körper, der jede Berührung zuließ ohne Emotionen? Gar nichts. Er wollte seine Alyssa zurück. Aber das ging nur, wenn er ihre Seele in den Körper setzt. Inständig betete er, dass sein Versuch klappen würde und er Emilys Körper nicht brauchen würde. Das kleine Straßenmädchen hatte er zwar in sein Herz geschlossen, aber sie war nicht sie. Sie hatte nur ihre Seele besessen. Das war der einzige Grund gewesen, wieso er sich um sie so inständig gekümmert hatte. Wäre Emily nur ein einfaches Straßenkind gewesen, hätte er sich nicht so viel Arbeit gemacht. Aber in diesem Fall ging es um die Seele in dem Körper. Er hatte sie damals sofort wieder erkannt, kaum hatte er ihr in die Augen gesehen. Immerhin waren die Augen der Spiegel zur Seele. Leider hatte er zu dieser Zeit noch nicht gewusst, wie er dem Körper die Seelen nehmen konnte. Andernfalls wäre seine Alyssa schon längst bei ihm. Undertaker stand auf und ging zu dem Bett, in dem Lily schlief. Nun wusste er, wie es ging und der Körper mit der Seele lag direkt vor ihm. Er hatte schon die Gelegenheit gehabt, das Ritual durchzuführen. Doch er hatte es nicht über sich gebracht, dieser Schülerin das Leben zu nehmen. Er hatte sie fast genauso ins Herz geschlossen wie Alyssa. Es war anders als bei Emily. Diesem Kind hätte er damals ohne zu zögern die Seele genommen, aber bei Lily war es anders. Undertaker fragte sich, woran es lag, dass er es nicht konnte. Immerhin hatte er solange darauf gewartet, wieder mit Alyssa zusammen zu sein. Aber er konnte sie nicht töten. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante und strich der jungen Shinigami durch die Haare. Ein paar Strähnen fielen ihr ins Gesicht, die er zur Seite schob. Sie lag friedlich vor ihm und schlief tief und fest, was unter anderem an dem bisschen Schlafmittel lag, was er ihr in den Tee geschüttet hatte. Sie musste dringend Schlaf nach holen. Das hatte er ihr an den Augenringen ansehen können und so stur wie sie war, hätte sie die ganze Nacht wach gelegen und kein Auge zugetan. So hatte er die Gewissheit, dass ihr Körper und Geist zur Ruhe kam und sie diese Nacht von Erinnerungen im Traum verschont blieb. Mit dem Finger strich er ihr über die Wange und zog behutsam den Umriss ihrer Lippen nach. „Du bist genauso außergewöhnlich, wie Alyssa“, murmelte er und küsste ihren Mundwinkel. „Du erinnerst mich in vielerlei Hinsicht an ihr Leben. Schade, dass du nicht auch noch so aussiehst.“ Die Verlockung diese Lippen zu probieren und herauszufinden, ob sie genauso schmeckte wie Alyssa war groß, aber das konnte er ihrem Verehrer nicht antun. Den ersten Kuss sollte er bekommen, wenn er sich nicht zu dumm anstellte und er sich nicht vorher die Seele holen würde. Ein kleines bisschen plagte ihn auch das schlechte Gewissen bei dem Gedanken einen unschuldigen Körper zu töten. Waren das Zweifel? Konnte er Alyssa auch in diesem Körper lieben? Undertaker sah zu dem leeren Körper. Der von Lily war in vielerlei anders, aber auch wieder gleich. Ein Seufzer entfuhr ihm. Er durfte keine Zweifel haben. Er hatte fast ein ganzes Jahrhundert auf diese Chance gewartet. Er durfte keine Zweifel haben. Es war seine einzige Chance seine Geliebte zurück zu bekommen. Er biss sich auf die Lippen und betrachtete Lily, wie sie weiterhin schlief. Bei dem Gedanken daran, dass das Herz endgültig aufhören würde zu schlagen, stießen ihm Tränen in die Augen. Wenn das Ritual schief gehen würde, hätte er nichts mehr. Weder den Körper von Alyssa noch Lily, noch die Seele. Er müsste dann viel Glück haben, dass die Seele erneut wiedergeboren werden würde. Im schlimmsten Fall löste sie sich in ihre Energiebestandteile auf und war verloren. Es war eine schwere Entscheidung, aber wer hätte ahnen können, dass ihre jetzige Wiedergeburt ihn so sehr ans Herz wachsen würde wie die richtige Alyssa? Ein Seufzer entfuhr ihm und er ließ sich neben Lily auf das Kissen sinken. „Du bist echt ein Sonderfall, Kleines“, murmelte er und zog ihren Körper an sich. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er diese Gefühle wieder spüren würde, die seine Schülerin vor so vielen Jahren in ihm ausgelöst hatten. Dieser Shinigami war wirklich etwas Besonderes und er ahnte bereits, dass es nicht einfach werden würde mit ihr, genauso wie mit seiner Geliebten. Undertaker schloss die Augen und genoss die Nähe des Körpers neben ihn, der nicht sofort verfallen würde, wenn er ihn zu lange berührte. Wie er sie so im Arm hielt, erinnerte ihn an den Abend, als er Alyssa zum ersten Mal geküsst hatte. Wehmütig dachte er daran zurück, während er Lilys Duft tief einatmete, der sich stark von Alyssas unterschied. „Alyssa“, flüsterte Undertaker leise und zog den warmen Körper enger an sich. Vorsichtig strich er über ihren nackten Bauch. Sie gab keine Antwort und blieb reglos liegen. Er lauschte ihrem Atem, der etwas unruhig war. Es klang als wäre sie schnell gelaufen. Ein grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Nachdem, was sie getrieben hatten, war es nur verständlich, dass sie außer Atem war. „Hey, schläfst du?“, flüsterte er diesmal etwas nachdrücklicher und strich ihr ein paar Haare aus dem Nacken, nur um sofort kleine Küsse auf die nackte Haut zu hauchen. Vorsichtig biss er hinein und sofort stellten sich die kleinen Härchen auf den Armen auf. Alyssa schlief also nicht. „Was ist? Hat es dir eben nicht gereicht?“, fragte sie müde und verschlafen. Ihre Stimme klang ein wenig rau. Ihr Körper schüttelte sich unter den Berührungen. „Das wüsste ich gerne von dir“, gab er zur Antwort und drückte sich enger an sie. Alyssa lächelte ihn erschöpft an und drehte sich zu ihm herum. Sie schmiegte sich an seine Brust. Undertaker konnte in dem schwachen Lichtschein ihre schmale Iris erkennen und wie die verschiedenen Farben ineinander liefen, um das grün-gelb der typischen Shinigami-Augen zu produzieren. Ihre Pupille war durch die spärliche Beleuchtung geweitet. „Mehr als genug“, antwortete sie schließlich. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Das freut mich. Du warst aber ganz schön gierig.“ „Sagt der richtige“, sagte sie. Nach dem Kuss hatten sie beide das Siezen aufgehört. „Wenn ich morgen noch laufen kann, ist das ein Wunder.“ Ein Kichern entfuhr ihm. „Dann sagst du, es kommt von dem Einsturz im Eis.“ Sie schwieg und er konnte schwören, dass sie die Augenbraue skeptisch nach oben zog, auch wenn er es nicht sehen konnte. „Außerdem ist schon morgen“, sagte er. „Was?“, erschrocken fuhr sie hoch und sah sich panisch um. „Ich bin tatsächlich hier eingeschlafen?“ Er nickte. Ihre Augen weiteten sich. „Ich sollte gar nicht hier sein! Erst recht nicht in deinem Bett und ohne Kleider!“ Das Wort „deinem“ betonte sie dabei am stärksten. Sie klang wie eine hysterische alte Jungfrau, die sie nun mit absoluter Sicherheit nicht mehr war. Undertaker konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Ich glaube, für solche Bedenken ist es zu spät.“ „Das ist nicht witzig! Wir haben ein Problem!“ „Natürlich haben wir das“, antwortete er mit nüchternem Tonfall und sein Lächeln verschwand. „Immerhin bist du meine Schülerin.“ Sie seufzte ergeben und fuhr sich durch die zerzausten Haare. „Was machen wir nur?“ „Liegt das nicht klar auf der Hand?“ „Du meinst, so tun, als wäre nichts gewesen? Kannst du das etwa nach der Nacht?“ Undertaker musste lachen. „Ich schätze nicht.“ Er zog sie zurück ins Kissen, beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss. „Du hast mich gestern zu sehr aus der Fassung gebracht, als dass ich dich jetzt wieder so behandeln könnte wie früher. Aber erwarte keine ständigen Liebesschnulzen.“ „Hab ich davon ein Wort gesagt?“ Verwirrt sah sie ihn an. „Nein, aber nur damit du Bescheid weißt. Ich stehe nämlich nicht auf so etwas.“ „Es hätte mich gewundert, wenn es anders wäre.“ „Du bist echt erstaunlich. Ich hätte nicht gedacht, dass du es so leicht hinnimmst.“ Er schüttelte den Kopf. Dieses Mädchen war wirklich ein Sonderfall. Aber genau das war der Grund, wieso er sie liebte und sie sein Leben so durcheinander brachte. „Hast du etwa erwartet, ich mache jetzt einen Aufstand und benehme wie ein verliebter kleiner Fan?“ „Nein“, er überlegte kurz, „Ich weiß auch nicht, was ich erwartet habe.“ „Sollten wir nicht langsam aufstehen?“, fragte sie und wechselte damit das Thema. „Hast du etwa Hunger?“ „Du nicht?“ „Gerade nicht“, gab er zurück und zog sie wieder an sich. Er wollte diesen Moment genießen, wo sie noch bei ihm bleiben konnte. Sobald sie seine Wohnung verlassen würde, wäre sie wieder seine Schülerin und er ihr Mentor. Er würde sich dann nichts anmerken lassen dürfen, dass zwischen ihnen mehr lief als das, was alle anderen wussten. Es würde eine einzige Herausforderung werden. Vor allem war es nur eine Frage der Zeit bis er nicht mehr widerstehen konnte sie in seine Arme zu nehmen und zu küssen. Er musste sich zusammen reißen, wenn sie miteinander arbeiten würden, genauso wie sie es tun musste. Niemand durfte sie im Büro bei einem Kuss erwischen oder sonst irgendwo. Spontan fiel ihm aber auch kein Ort ein, wo er sich mit ihr Treffen konnte ohne Aufsehen zu erregen. Leise Seufzte er. „Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. Mit einem milden Lächeln schaute er sie an. „Ich denke nur über uns nach.“ „Uns“. An dieses Wort musste er sich erst gewöhnen. Es klang so ungewohnt. Aber was erwartete er? Er war jahrelang ein Einzelgänger gewesen und kaum taucht diese Frau auf, wurden sein geordnetes Leben und seine Prinzipien über den Haufen geworfen. „Woher wusstest du, dass du mich liebst?“, fragte Alyssa plötzlich und holte ihn aus seinen Gedanken. Undertaker überlegte kurz. „Ich weiß es einfach.“ „Aber ab wann war es dir bewusst?“, bohrte sie nach. „Das war, als wir Urlaub hatten. Du bist weggefahren. Ich war wie immer hier und habe meine Arbeit gemacht. Mir fiel von Tag zu mehr Tag mehr auf, dass mich deine Art, die mich immer wahnsinnig gemacht hat, irgendwo fehlte. Eigentlich hatte mich darauf gefreut, meine Arbeit machen zu können, während mir niemand den Schreibtisch mit Kekskrümeln voll krümelt, kein Chaos herrscht in meinem Büro, keine nervigen Fragen stellt und niemand auf den ich aufpassen musste. Aber ich hab gemerkt, es hat mir gefehlt. Da hab ich festgestellt, dass du mir nicht egal bist. In keinster Weise.“ Liebevoll küsste er sie auf die Stirn. „Dabei warst du für mich bis dahin immer die reinste Pest.“ Alyssa legte ihre Arme um seinen Hals. „Das ist irgendwie süß“, sagte sie. Undertaker spüre, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Nie hatte man ihn als „süß“ bezeichnet. Es hatte viele Beschreibungen über ihn gegeben. Allesamt sagten aus, dass er es vorzog alleine zu bleiben, streng und kühl war. Aber „süß“ war nie gefallen. „Darf ich?“ „Was denn? Meine Wohnung auch noch ins Chaos stürzen?“ Er Lächelte ihr zu, damit sie merkte, dass er nur scherzte und es nicht böse meinte. „Das kann ich gerne tun, wenn du das willst“, antwortete sie mit einem frechen Grinsen. „Aber das wollte ich eigentlich nicht…“ Sie streckte sich ein Stück und küsste ihn zärtlich auf den Mund. „Du musst dafür nicht fragen, meine Liebe“, sagte er und küsste sie erneut. Undertaker kam nicht umhin sich einzugestehen, dass er es liebte, wie sie rot wurde und noch immer etwas unsicher war, was sie beide betraf, wo doch die letzte Nacht deutlich bewiesen hatte, dass er sie liebte. Aber immerhin hatte sich ihre anfängliche Anspannung zum Großteil gelöst. Seine Hand schob ein paar Haare zur Seite. Er spürte noch immer ihren warmen Körper. Ob er jemals genug von ihr bekommen würde? „Mein kleiner Tollpatsch“, nuschelte er verträumt. „So wirst du mich aber nicht nennen!“, gab sie sofort zurück. „Du bist ein Tollpatsch. Das ist die reine Wahrheit“, antwortete er. „Oder soll ich dich Die wie ein Hamster niest nennen?“ Alyssa wurde schlagartig rot und Verlegenheit machte sich breit. „Auf gar keinen Fall!“ „Aber so niest du nun mal!“ „So kannst du mich doch nicht nennen! Schlag dir das aus den Kopf!“ „Willst du deinem Mentor etwa widersprechen?“ Er hob gespielt ernst die Augenbraue. „In dem Fall, ja und diese Masche zieht nicht. Du nennst mich niemals so!“ „Na gut, Lys.“ Am liebsten hätte er den ganzen Tag und den Tag danach noch mit ihr im Bett verbracht, aber ein plötzliches Hämmern an der Tür ließ sie auseinander fahren. „Undertaker?“, rief eine männliche Stimme, „Sind sie schon wach?“ Es klopfte weiter an der Tür. Sofort sprang er auf und suchte zwischen den Kleidern am Boden seine Hose und sein Hemd zusammen. Panisch versuche er die Textilstücke zu ordnen und anziehen, verhedderte sich nur. „Sei leise!“, zischte Undertaker Alyssa zu und legte nachdrücklich den Finger auf die Lippen. Sein Herz schlug um einiges schneller und Adrenalin strömte durch seine Adern. Wenn jemand sie jetzt so entdeckte, war alles vorbei. Hektisch sah er sich im Raum nach einem Versteck um. Undertaker strich sich die Haare nach hinten und knöpfte seine Hose zu. Um die Knöpfe vom Hemd zu schließen, fehlte ihm jetzt die Zeit und die ruhige Hand. Es klopfte wieder. „Undertaker, sind Sie da?“ „Ich komme sofort! Einen Moment!“, rief er laut zurück, was den Besucher geduldiger werden ließ. Schnell drückte er Alyssa die letzten verräterischen Kleidungsstücke, die eindeutig einer Frau zuzuordnen wären, in die Hand. Seine Schülerin war ebenfalls aufgesprungen und hatte sich die Tagesdecke umgeschlungen. Er gab ihr einen intensiven Kuss und deutete dann aufs Bett. „Sei mir nicht böse, aber…“, er hielt kurz inne, „Du musst dich verstecken. Los, schnell unter das Bett und bitte mach keinen Mucks!“ Sie schaute ihn ungläubig an und wollte zum Protest ansetzten, doch er hielt ihr den Mund zu. „Bitte, es ist das einzige Versteck für dich, wo dich niemand findet. Vertrau mir. Ich schicke dich da nur ungern runter. Sei mir also nicht böse, ja?“ Bittend sah Undertaker sie an. Er wusste selbst, was das für einen Eindruck hinterließ, aber sie waren von jetzt an ein heimliches Paar und wenn es half, dass es keinen Ärger gab, mussten sie beide da durch. Ein erneutes nachdrückliches Klopfen, schreckte ihn auf. Er half Alyssa unter das Bett zu krabbeln und alle Kleidungsstücke mit zu verstecken, so dass nichts von ihrer Anwesenheit zu ahnen war. Er warf die Decken noch anständig auf das Bett und verließ dann das Zimmer. „Ja?“ Vor ihm stand der Abteilungsleiter, sein Boss. „Guten Morgen“, begrüßte dieser ihn. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie wissen, was mit Miss Campell ist. Sie war gestern Abend nicht auf der Weihnachtsfeier, genauso wenig wie Sie. Es haben ein paar Leute gesehen, wie Sie Ihre Schülerin mit nassen Sachen durch das Wohnheim getragen haben. Ich würde gerne wissen, was das zu bedeuten hat.“ Undertaker schlug das Herz bis zum Hals. Hatte sein Abteilungsleiter vielleicht doch eine Ahnung, dass zwischen ihnen etwas lief? „Bei unserem gestrigen Auftrag ist sie in einen See gefallen. Die Eisfläche war zu dünn und sie ist eingebrochen. Daher die nasse Kleidung“, antwortete er in seiner kühlen und distanzierten Art. Es war auch keine Lüge bisher. „Verstehe“, gab der Abteilungsleiter zurück. „Man hat Sie gesehen, wie Sie das junge Mädchen mit in Ihr Apartment genommen haben. Sie sei aber nicht wieder heraus gekommen.“ „Sie ist spät gegangen“, antwortete er prompt und ohne den Blick abzuwenden. „Ich hatte ihr Tee gemacht und dafür gesorgt, dass es ihr besser geht und sie keine Unterkühlung bekommt. Als es ihr wieder besser zu gehen schien, ist sie in ihr Zimmer gegangen. Deshalb war ich gestern auch nicht auf der Feier, genauso wenig wie sie.“ Sein Chef gab einen brummenden Laut von sich, wo er nicht deuten konnte, ob ihn diese Erklärung zufrieden stellte. „Das ist nur merkwürdig. Ich hab gerade an ihre Tür geklopft und es hat keiner geöffnet.“ „Vielleicht schläft dieser Tollpatsch noch. Ich werde mich später darum kümmern und mich erkundigen, ob es ihr wirklich gut geht.“ Undertaker überraschte es selbst, wie gut ihm diese Lüge von den Lippen ging. Er musste sich weder Räuspern noch stottern. Sein Auftreten war distanziert und kühl wie immer. Sein Chef schien nichts zu bemerken. Vielleicht ging diese heimliche Liebschaft doch noch gut aus und er konnte seine Arbeit behalten. „Gut, gut. Ich hoffe, ich habe sie nicht geweckt. Sie sehen auch sehr verschlafen aus und als hätten sie die Nacht kein Auge zugetan.“ Wir Recht sein Chef doch hatte! Wenn er wüsste, was er die Nacht getrieben hatte und mit wem, würde er schneller eine Kündigung bekommen als er bis drei zählen konnte. Aber nie im Leben würde er ihm das freiwillig auf die Nase binden. Sein Herz schlug noch immer schnell und das Adrenalin floss mit rasender Geschwindigkeit durch sein Blut. Undertaker hoffte, dass es nicht jedes Mal so sein würde, dass er fast einen Herzstillstand bekam, wenn er kurz zuvor noch mit seiner Geliebten einen Kuss austauschte. Andernfalls würde er sehr schnell alt werden. Später, wenn sie ausgelernt war, würde er sich nicht mehr verstecken und den anderen zeigen, dass er jemanden liebte. Später konnte er offen zugeben, dass jemand in seinem Bett lag und er es mit ihr teilte. Die letzte Nacht erschien ihm wie ein Traum. Er hatte kein Auge zugetan und seine Gedanken waren nur über sie, ihn, das „uns“ und ihr Schüler-Lehrer-Verhältnis gekreist, dass er nicht an die Anderen aus der Society gedacht hatte. Undertaker hatte nicht daran gedacht, wie seine Kollegen reagieren würden, wenn er nach ihrer Ausbildung öffentlich mit ihr zusammen war. Ob dann gemunkelt werden würde, dass schon eher etwas lief? In ihren Lebensbüchern wäre in jedem Fall der Beweis. Es stand inzwischen darin geschrieben. „Ich lag noch im Bett, ja. Aber geschlafen hatte ich nicht mehr“, antworte Undertaker. Sein Chef bedankte sich für die Auskunft bei ihm und wünschte ihm noch einen schönen Tag und schöne Urlaubstage. Undertaker verabschiedete sich von seinem Chef. Als er die Tür geschlossen hatte, lehnte er sich dagegen und atmete tief ein und aus. Das war wirklich knapp gewesen. „Lys, du kannst wieder rauskommen!“, rief er ihr zu, nachdem er sicher war, dass sein Boss nicht mehr vor seiner Tür stand. Er hörte sie sie unter dem Bett hervor kam und sich den Staub von der Deck klopfte. „Das war ganz schön scharf“, sagte sie und kam zu ihm in Wohnzimmer. „Aber auf Dauer möchte ich mich nicht unter deinem Bett verstecken und mich mit den Staubflocken anfreunden. Hallo, ich bin Alyssa und ich treib es mit meinem Lehrer.“ Undertaker musste bei der Vorstellung lachen. „Tut mir leid. Wir sollten uns wirklich eine andere Lösung einfallen lassen.“ Entschuldigend gab er ihr einen Kuss. „Soll ich vielleicht gehen, bevor noch jemand verdacht schöpft?“ Er schüttelte den Kopf. Sein Blut rauschte noch in seinen Ohren und sein Herz kam nur langsam zur Ruhe. „Nicht sofort. Nachher. Ich will nicht, dass du jetzt schon gehst.“ „Aber wenn ich jetzt nicht gehe, fangen wir wieder mit anderen Sachen an und kommen gar nicht mehr voneinander los.“ Sie schmiegte sich trotz der Worte in seine Arme. „Entweder das oder irgendwer wird uns wirklich noch erwischen.“ „Na schön. Dann geh wenigstens vorher duschen. Du hast noch ein paar Staubflocken im Haar.“ Er fischte eine große Flocke aus ihrem Haar und ließ sie zu Boden sinken. „Zieh dich anständig an und lass nichts hier rumliegen.“ Alyssa nickte und verschwand im Badezimmer. Langsam öffnete Undertaker die Augen und hielt Lily noch immer fest im Arm. Vorsichtig, um seinen Gast nicht zu wecken, ließ er sie los und stand auf. Er hatte schon lange nicht mehr in einem Bett geschlafen und erst recht nicht neben einer weiblichen Person. Ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er seine Geliebte vermisste und dieses Gefühl schon viel zu lange unterdrückt hatte. Schon lange hatte er nicht mehr so gut geschlafen, aber er durfte es nicht zur Gewohnheit werden lassen, solange Alyssa nicht lebendig war. Er hatte sich zu sehr hinreißen lassen in ihrer Nähe zu sein. Es wäre besser gewesen, wenn er in seinem Sarg geschlafen hätte. Nun sehnte er sich danach, den Körper erneut in die Arme zu schließen. Sein Leben war viel zu still geworden, trotz der Besuche von Ciel Phantomhive. Nun, wo er seinem Ziel so nahe war, wurde die Sehnsucht von Tag zu Tag größer, auch wenn sie ihn oft genug bis aufs Blut gereizt hatte. Alyssa war immer für Überraschungen gut gewesen und hatte oft genug seine Langeweile vertrieben. Undertaker richtete seine zerzausten Haare und ging in sein Geschäft hinunter. Wie lange hatte er neben ihr gelegen und geschlafen? Das Unwetter war nicht mehr zu hören. Er streckte sich ausgiebig und öffnete die Fensterläden zu seinem Bestattungsunternehmen. Ein paar Sonnenstrahlen fielen herein. Es war also schon morgen und die Straßen waren noch immer nass vom Regen. In den Straßengraben hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Jemand ging an seinem Geschäft vorbei. Undertaker grinste. Er musste wirklich lange geschlafen haben, wenn sogar schon die Menschen wieder auf den Straßen unterwegs waren. Wie lange war es her gewesen, dass er ausgiebig geschlafen hatte und nicht in den frühen Morgenstunden aufgestanden war? Er konnte sich nicht daran erinnern. Als er die Tür öffnete, kam ihm die frische Luft des Tages entgegen, während sich der Duft von frischen Keksen in seinem Laden ausbreitete. Alyssa war auch schon wach und er hatte nichts davon mitbekommen, dass sie schon mit backen angefangen hatte. Wie viele Stunden waren es wohl gewesen, die er neben Lily gelegen hatte? Er wollte es lieber nicht wissen. Anderseits hatte es ihm wirklich gut getan. Wie oft er so schlafen würde, wenn Alyssa erst wieder am Leben war, wollte er sich nicht ausmalen. Es würde mit Sicherheit täglich sein. Bei diesem Gedanken stieg wieder die Sehnsucht in ihm auf, zusammen mit der Wut darüber, dass er nur stumm hatte zusehen können, als der Dämon seine Geliebte zerfleischt hatte. Nur wegen der Anweisung von den obersten Shinigami hatte er nicht eingreifen dürfen. Am liebsten hätte er eine der Urnen vom Tisch geworfen, aber das wäre sinnlos gewesen. Diese Aktionen hatte er hinter sich gelassen und sie hatten ihm Alyssa auch nicht zurück gebracht. Aber so war es eben mit den Lebewesen. Sie versuchten die Lücken zu füllen. Es war ein Instinkt, den sich niemand verwehren konnte. War es eine körperliche Wunde, schloss man diese mit einem Verband. War die Seele beschädigt, suchte man sich einen Menschen, der diese Lücke schließen konnte. So war es auch bei ihm. Selbst er konnte sich als legendärer Shinigami diesem Instinkt nicht entziehen. Er versuchte seit fast einem Jahrhundert die Lücke in seiner Seele zu füllen. In so vielen Büchern hatte er gelesen, dass man sich nicht die Seele eines anderen aneignen konnte. Es schien also ausweglos zu sein, dass er die Seele aus Lily in Alyssa bekommen würde. Aber nun hatte er von einem Ritual gelesen, dass dies möglichen machen sollte. Es war eine Chance seine Lücke zu füllen. Ein Seufzer entfuhr ihm. Leider hatte er keine Chance dieses Ritual vorher zu testen. Alle seine Kunden waren tot und besaßen keine Seele mehr. Vielleicht sollte er sich doch jemand anderen Suchen und dem Körper seinen Frieden geben? Sein Blick ging zur Treppe, die in die kleine Wohnung führte. Undertaker schüttelte den Kopf. Lily würde Alyssa niemals ersetzen können. Sie besaß nur ihre Seele. Doch er durfte sich jetzt nicht mehr ablenken lassen. Bald würden sicherlich die anderen kommen und die Schülerin holen wollen. Er musste sich vorbereiten, auch wenn er besser als sie war, unverletzlich war er dennoch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie in sein Unternehmen stürmen würden. Er kicherte. „Wie bei einer Hasenjagd. Fragt sich nur, wer wen jagt, nicht wahr, William?“, murmelte er in den leeren Raum hinein. Kapitel 25: Das Gefühl von Wut ------------------------------ Nakatsu wusste nicht, wie lange er schon bei Lily im Bett lag und ihr Hemd an sich gedrückt hatte. Seit er aus William T. Spears Büro gegangen war, lag er bereits dort und schwelgte seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Er vermisste seine beste Freundin. Sie war jetzt schon seit fast einem Tag fort und keiner wusste, wo sie sich befand oder wohin dieser merkwürdige alte Shinigami mit den langen silbergrauen Haaren sie gebracht hatte. Er konnte nur beten, dass er ihr nichts antun und sie lebend zurückkommen würde. Nakatsu verstand nicht, wieso dieser Shinigami ihn erst zu ihrer und dann zu Knox seine Verhandlung mitgeschleppt hatte mit der Begründung, er solle eine Aussage machen, wenn er sie am Ende entführte. Es ergab für ihn keinen Sinn! Wieso hatte er nur solange gewartet bis es hieß, das Gericht wolle in Ronald Knox Lebensbuch lesen? Er hätte Lily schon viel eher entführen können und hätte nicht erst solange warten müssen. Oder gab es etwas im Lebensbuch von Lilys Mentor, was Niemand erfahren sollte? Hatte er Lily vielleicht deshalb nur entführt, um die Verhandlung zu unterbrechen und ihnen den Hintern zu retten? Dabei war er sich sicher, dass Carrys Gerüchte auch nur Gerüchte waren. In Lilys Lebensbuch hatte nichts über eine heimliche Beziehung mit Knox gestanden und er war die meiste Zeit mit ihr zusammen. Die Beiden hätten also nicht einmal Gelegenheit dazu gehabt. Aber vielleicht stand in dem Lebensbuch von Ronald Knox etwas anderes. Etwas, was zwar Lily betraf, aber wo sie nicht dabei war? Nakatsu seufzte. Diese Idee war gar nicht so abwegig. Vielleicht sollte er morgen früh einen Abstecher in die Lebensbuchabteilung machen und versuchen an das Buch zu kommen? War es für Schüler eigentlich erlaubt in die Lebensbücher zu lesen? Er wusste es nicht, hatte aber auch keine Lust sich aufzuraffen und in die Society zurück zu gehen. Lilys Bett war einfach zu weich und die Sehnsucht nach ihrem Geruch zu groß. Heute Abend saß dort auch niemand mehr, weshalb er es erst recht nur morgen machen konnte. Er drückte das Hemd fester an seine Brust. Wann hörten nur diese Gerüchte auf? Jeder sagte, sie hätte mit Ronald Knox geschlafen. Jeder glaube es und jeder sagte es. Obwohl es nicht stimmte. „Lily…“, seufzte er wieder. Es war nicht das erste Mal an diesem Abend, dass er ihren Namen flüsterte. Er bat inständig darum, dass sie jeden Moment durch die Tür kommen würde. Aber in seinem Herzen wusste er, dass es unmöglich war. Seine beste Freundin war irgendwo in der Menschenwelt und als Schülerin hatte sie, genau wie er, keine Ahnung, wie man zurück kam in die Society. Alles lag in den Händen von den anderen. Das Gefühl, sie verloren zu haben und das vielleicht für immer, machte ihn fast wahnsinnig. Die ganze letzte Nacht und den ganzen Tag hatte Mr. Sutcliffe und Mr. Knox zugebracht die Spuren von dem Alten zu verfolgen. Lily fehlte also schon über einen Tag. Bis zum Nachmittag hatte er auch auf der Krankenstation gelegen und hatte seine geprellten Rippen versorgen lassen. Er war auch in der Schule ausgefallen. Mr. Spears hatte ihn seit dem Kampf im Gerichtssaal in der Obhut des Arztes gelassen. Er hatte versucht Lily zu retten, doch der Shinigami hatte ihm mit der Rückseite des Stabes einen kräftigen Schlag verpasst. Nun waren seine Rippen geprellt und er musste einen schonenden Verband tragen. Nakatsu konnte sich noch gut an die Worte des Shinigamis erinnern. Er hatte ihm kurz vor dem Schlag zugeflüstert, dass er froh sein konnte noch ein Schüler zu sein. Zuerst hatte er nicht gewusst was er gemeint hatte, inzwischen war ihm klar, dass er ihn verschont hatte, weil er ein Schüler war und ihm unterlegen. Nakatsu hatte im Büro von William T. Spears gesehen, wie die anderen nach dem Kampf mit ihm ausgesehen hatten und er musste innerlich wirklich zustimmen. Er war heilfroh ein Schüler zu sein. Dennoch war der Stoß schmerzhaft gewesen. Auf der Krankenstation hatte er zuerst versucht sich mit einem Lehrbuch abzulenken und dann mit ein paar Tageszeitungen. Mr. Slingby war zum Glück in der Society und kümmerte sich um Mr. Humphries, weshalb er ihn gebeten hatte auf sein Zimmer zu gehen und ein paar Hefte zu holen. Er hatte sich dann die Zeit damit totgeschlagen die kleinen Zettelchen zu lesen, die Lily und er heimlich im Unterricht geschrieben hatten. Es war unglaublich, wie viel seit Beginn der Ausbildung passiert war. Dabei lief diese gerade mal knapp drei Monate. Was er am meisten vermisste, war das Gespräch am Abend, was sie immer noch über ihre Balkone geführt hatten. Oft genug war er noch einmal zu ihr herüber geklettert und hatte die Nachtsperre für Schüler so umgangen. Ihre Stimme fehlte ihm. Es war alles so normal geworden, dass er nie darüber nachgedacht hatte, wie sehr sie ihm doch ans Herz gewachsen war. Sie hatten über alles gesprochen, gelacht, sich geärgert und vieles mehr. Selbst wenn sie nichts zu sagen hatten, hatte er die Zeit mit ihr genossen. Es war eigentlich eine kleine unbedeutende Sache, aber erst jetzt merkte er, wie wichtig die Unterhaltungen und abendlichen gute Nacht Grüße ihm waren. Sein Herz zog sich zusammen. Nakatsu roch an dem Hemd und versuchte so die Leere los zu werden, die ihn erfüllte und das Gefühl gab, ein schlechter Freund zu sein. Er hatte zugelassen, dass die Leute so über seine Freundin redeten und hatte es nicht verhindert. „Lily…“ Wieder flüsterte er ihren Namen. Nakatsu dachte an den ersten Tag, wo er sie gesehen hatte. Sie hatte zwischen den Reihen gestanden, unauffällig und mit niemanden gesprochen. Sie war ihm zwar aufgefallen, aber er hatte im ersten Moment durch die Uniform gedacht, sie sei ein sehr femininer Mann. Den Rock hatte er nicht sehen können. Er erinnerte sich noch genau, wie aufgeregt sie gewirkt hatte und wie blass sie geworden war, als sie William erblickt hatte. Auch wenn er es nur hatte aus dem Augenwinkel sehen können, hatte er gesehen, wie schlecht es ihr für ein paar Sekunden ergangen war. Es hatte ausgesehen, als hätte sie sehr starke Schmerzen in der Brust. Er hatte Mr. Spears darauf hinweisen wollen, doch dann war die Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt und sie selbst hatte auch keine Anstalten gemacht etwas zu sagen, weshalb er es gelassen hatte. Nakatsu fragte sich, wie er damals hatte nur so blind sein und sie für einen Mann halten können? Dabei war Lily durch und durch eine Frau, von Kopf bis zur Sohle. Aber es war ihm erst aufgefallen, als William. T. Spears die Namen verlesen hatte. So etwas nannte man wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen? Wenn man etwas erwartete zu sehen, konnte das offensichtliche noch so groß sein. Man sah nur das, was man sehen wollte. Er konnte nicht umhin sich zu fragen, wie er über Lily denken würde, wenn sie wirklich so ein stark weiblicher Mann gewesen wäre. Würde dann sein Herz genauso unruhig schlagen? Oder hatte er vielleicht wirklich eine Herzkrankheit? Vielleicht sollte er den Arzt am nächsten Tag mal darauf ansprechen. Er sollte sowieso noch einmal zu ihm, damit er seine Rippen untersuchen konnte. Da konnte er sich auch gleich darauf untersuchen lassen. Was war nur los mit ihm? Seit er angefangen hatte sich mit Lily abzugeben, war sein ganzer Herzschlag durcheinander. War das nicht der eigentliche Grund gewesen, wieso er sich mit ihr abgegeben hatte? Hatte er so nicht herausfinden wollen, ob er sie liebte? Irgendwie war das durch die vielen Aufregungen in den Hintergrund gerückt. Er war also kein Stück weiter. War das aber noch so wichtig? Immerhin hatte sich seine Meinung über sie stark geändert. Als er sie das erste Mal als Frau gesehen hatte, hatte er sich nur mit Müh und Not ein aufstöhnen unterdrücken können. Er hatte sich gefragt, was eine Frau in der Abteilung für Seelensammlung wollte. Es war doch inzwischen ganz klar eine Arbeit für die Männer geworden. Sein erster Gedanke war, dass sie eine Möchtegern emanzipierte Frau war, die auf stark tat und dann bei dem kleinsten Wehwehchen jammern würde. Sein nächster Gedanke war gewesen, dass sie dann alle Rücksicht auf sie nehmen müssten, weil sie körperlich nicht so stark wäre wie die anderen. Er war damals schon von ihrem bloßen Anblick genervt gewesen und hätte sie am liebsten aus der Klasse gehabt. Das war auch sein Grund gewesen, wieso er sie am Anfang so schlecht behandelt hatte in der Klasse. Er wollte ihr die Ausbildung mit den anderen schlecht machen, damit niemand zurück stecken musste wegen ihr. Inzwischen wusste er, wie dumm es damals gewesen war. Es war mehr als dumm von ihm gewesen, sie so vorschnell zu verurteilen. Beim ersten Training hatte er gesehen, dass sie trotz der Müdigkeit, die man ihr deutlich angesehen hatte, nicht gejammert hatte. Er hatte nicht widerstehen können, ihr einen fiesen Spruch an den Kopf zu werfen und zu versuchen, sie zum Aufgeben zu bewegen. Nakatsu schüttelte den Kopf. Wenn er daran zurück dachte, kam er sich wie ein Idiot vor. Ein leises Lachen entfuhr ihm und er dachte unweigerlich an den Abend, als er in ihr Zimmer eingebrochen war. Nach ein paar Tagen hatten seine Kollegen und er vor dem Problem gestanden, dass allen das Shampoo ausgegangen war. Jeder hatte jeden gefragt, ob noch etwa da sei. Er hatte mitbekommen, dass alle gefragt worden sind und in Zimmer dreiundneunzig sei noch ein Kollege. Seine Kameraden hatten ihm verschwiegen, dass es Lilys Zimmer war und ihn einfach so dort einbrechen lassen. Erst als er in das Bad geschlichen war, bereits nach dem Shampoo getastet hatte und die Frauenkleidung auf der Ablage gesehen hatte, war ihm ein Licht aufgegangen. Er hatte mitten in Lilys Badezimmer gestanden, während sie geduscht hatte. Bei dem Gedanken daran wurde er erneut rot. So nah war er ihr seitdem nicht mehr gewesen und es hatte ihn doch überrascht, dass sie in dem Moment nicht aufgeschrien hatte, als sie ihn bemerkt hatte. So schnell er konnte, war er wieder aus dem Bad und der Wohnung geflitzt und hatte sich ein relativ neutral riechendes Shampoo von ihr stibitzt. Nach dem Duschen hatte er genauso gerochen wie sie, aber nicht nur er. Die halbe Klasse hatte dann genauso gerochen, da alle sich etwas aus der Flasche genommen hatten. So war es nicht ganz so peinlich für ihn geworden. Ein Seufzen entfuhr ihm und Nakatsu hörte das Ticken des Sekundenzeigers der Uhr. Nun war sie fort und er wusste nicht, ob sie noch am Leben war. Er hofft immer noch darauf, dass die anderen Shinigamis sie finden würden. Die Wärme des Hemdes in seiner Hand war schon längst verflogen und auch der Geruch der Besitzerin. Nakatsu konnte sie sich gar nicht mehr ohne den müden Blick und den Augenringen vorstellen, die sie jeden Morgen verzweifelt zu überschminken versucht hatte. Immer mehr Stunden hatte er mit ihr zusammen verbracht und seine Lehrstunden mit seinem Mentor reduziert, um mit ihr zu lernen und sie so wenig wie möglich alleine zu lassen. Nur ungern hatte er sie alleine irgendwohin gehen lassen, aber Lily hatte auch das Recht darauf, ihr eigenes Leben zu führen. Immerhin war Knox zurück. Auch wenn sich seine Begeisterung in Grenzen hielt. Er konnte es ihm dennoch nicht verzeihen. Nicht einmal bei seiner Ankunft hatte er mit ihr gesprochen oder ihr eines Blickes gegönnt. Aber was sollte ein so begehrenswerter Ronald Knox, wie er schon mit einer Schülerin anfangen, die seine Fehler ausbadete, wenn er doch so viele andere Frauen haben konnte? Nakatsu konnte sich gut vorstellen, wie er bereits das Bett mit einer anderen Frau teilte. Am Tisch hatte er zwar vor allen anderen gesagt, er hätte seine Lektion gelernt und ihn Interesse keine Frauen mehr, aber das konnte er sich bei diesem Frauenheld nur schwer vorstellen. Er sah doch jeder hinterher, die pralle Brüste und einen straffen Hintern hatte. Lily Mentor hielt es doch keine Woche ohne eine Frau im Bett aus. Es würde ihn nicht wundern, wenn er seine Wunden als gutes Mitleidsmittel präsentierte, um die ein oder andere Frau aus den anderen Abteilungen oder der Stadt abzuschleppen. Der Gedanke, dass er all das nur tat, um bei Mr. Spears wieder ein besseres Ansehen zu bekommen, machte ihn mehr als wütend. Nakatsus größte Sorge war, dass er irgendwann genauso mit Lily umsprang, wenn sie ihre Ausbildung beendet hatte, wie er es mit den anderen Frauen bisher getan hatte. Eine Nacht zusammen und dann sollte sie gehen. Aber Lily war keine Mädchen für eine Nacht. Die Vorstellung, dass Knox und sie irgendwann mal zusammen eine Verabredung haben könnten oder die zwei zusammen wären, ließ sein Herz ins bodenlose fallen. Nakatsu schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken schnell los zu werden. Er drehte sich auf die Seite und zog mit den Füßen die Bettdecke zurecht. Er konnte Knox die Entschuldigung nicht abkaufen, die er Lily gegeben hatte. Sie hatte ihm später davon erzählt und Nakatsu konnte nicht verstehen, wie sie ihm verzeihen konnte. Aber er konnte ihr anmerken, dass sie noch immer an der Situation zu knabbern hatte. Auch wenn sie ihm Verzieh, musste er ihr Vertrauen erst wieder gewinnen und solange Mr. Spears ihn nicht wieder zu ihrem Mentor machte, würde es auch so schnell nicht gehen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass zwischen den beiden mehr lief, als er wusste und das seit dem Morgen, als Knox bei ihr im Bett geschlafen hatte. Was war dort passiert? Was hatten die zwei in der Nacht miteinander geredet? Lief vielleicht wirklich etwas zwischen ihnen? War Carry nur aufmerksamer gewesen als er? Hatte Carry vielleicht etwas gesehen, was er nicht gesehen hatte? Nakatsu versuchte sich den Abend vor Augen zu rufen. Hatte sie sich vielleicht gewünscht, dass er wieder in sein Zimmer ging, damit sie ungestört die Nacht mit ihm verbringen konnte? Ob sie wohl mit ihm über ihre Geheimnisse gesprochen hatte, als sie alleine im Schlafzimmer eingeschlossen waren? Hatte Lily ihm von ihren Alpträumen erzählt? Dieser Gedanke brachte ihn zum Verzweifeln und ließ ihn an alles zweifeln, was sie je zu ihm gesagt hatte über Knox. Im Kopf pflückte er alles auseinander, was sie zusammen in den letzten Wochen unternommen hatten und wo dabei ihr Mentor als Thema gefallen war. Nakatsu konnte nur raten, ob sie ihn möglicherweise angelogen hatte. Aber die Vorstellung, dass die Antwort Ja sein könnte, tat weh. Er wünschte, die ganze Sache mit Carry wäre nie passiert und alles wäre wie vorher. Vielleicht auch so, dass Knox nie ihr Mentor geworden wäre. Dann wäre ihr mit Sicherheit der ganze Ärger erspart geblieben. Ärgerlich schüttelte er den Kopf, als würde er versuchen diese Tatsache abzuwehren. Es war unmöglich, dass sie ihn so belogen haben konnte. Dazu waren ihre Tränen zu echt gewesen. Sie war zu verzweifelt gewesen. Dafür war er ihr in den letzten Wochen zu nahe gewesen. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn belogen haben soll. Ein Seufzer entfuhr ihm und er sah auf die Uhr, die im Hintergrund die ganze Zeit getickt hatte. Es war schon halb sieben am Morgen. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen. Er seufzte und stand langsam aus dem Bett auf. Das Hemd drückte er ein letztes Mal an sich und ließ es dann liegen. Müde fuhr er sich die Haare. Ein paar Strähnen fielen zurück nach vorne und hingen wirr in seinem Gesicht. Seine Rippen schmerzten noch immer leicht. Es fühlte sich dennoch besser an. William T. Spears bestand jedoch darauf, dass er sich noch einmal auf die Krankenstation begab und zu einer Nachuntersuchung gehen sollte. Schnell ging er in das Badezimmer und machte sich fertig. Als er auf den Flur trat, war noch niemand zu sehen oder zu hören und er ging gemächlichen Schrittes zur Society, wo auch die Krankenstation war. Er mochte die Krankenzimmer nicht. Nakatsu mochte allgemein keine Ärztezimmer. Der Geruch stach ihm unangenehm in die Nase und es erinnerte ihn daran, wie er als kleiner Junge alleine in einem Zimmer gelegen hatte, während sein Bein in einem Gips lag und der Knochen wieder zusammen wuchs. Seit diesem Vorfall verabscheute er Krankenstationen. Noch immer sah er die vielen Leute vor Augen. Alle redeten miteinander und ignorierten ihn und seine Angst. Er selbst hatte nur Gesprächsfetzen aufgefangen und sich den Sinn zusammen gereimt. Sicherlich hatten die Ärzte gedacht, er würde den Sinn nicht verstehen, was sie sprachen. Aber da hatten sie sich geirrt. Er hatte alles verstanden. Besonders im Gedächtnis geblieben, waren ihm jedoch die Worte der Oberschwester, die angeordnet hatte den OP fertig zu machen. Auf seine Frage hin, ob das weh tun würde und er Angst hätte, reagierte niemand. Sie hatten ihn alle ignoriert. In diesem Moment hatte sein Herz schneller angefangen zu schlagen. So wie auch in diesem Augenblick, als er durch die Tür der Society ging. Seine Eltern waren bereits gegangen und er hatte so viel verstanden, dass sie noch einmal wieder kommen würden und er dann in den OP sollte. Aber so war es damals nicht. Kaum waren sie fort, wurde ihm eine Tablette gegeben und er war in wenigen Minuten eingeschlafen gewesen. Nakatsu ging die Treppe hoch und bog in den Gang ein, der zum Arzt und den Stationen führte, wo die Patienten untergebracht waren. Er konnte schon den Geruch von Arzneimitteln riechen. Die Gedanken an seinen früheren Aufenthalt in einem Spital waren wie weg geblasen, als er den langen Raum mit nebeneinander aufgereihten Betten betrat, die durch schneeweiße Vorhänge abgetrennt waren, um etwas Privatsphäre zu schaffen. Eines der Betten war rundherum von einem weißen Vorhang umgeben. Sicherlich lag dort ein Patient drin, der Ruhe brauchte. Nakatsu hörte die Stimme des Arztes hinter dem weißen Vorhang und wie er Anweisungen an eine Schwester weiter gab. Eine zweite Schwester kam auf ihn zu und reichte ihm ein Klemmbrett und Stift. „Bitte füllen Sie die nötigen Felder aus“, sagte sie ohne einen Gruß. „Die medizinische und familiäre Vorgeschichte eingeschlossen.“ Sein Herz klopfte lautstark und Nakatsu brachte keinen Ton heraus, um ihr zu sagen, dass er dies am vorigen Tag bereits getan hatte. Sie brachte ihn zu eines der Betten und zog den Vorhang beiseite. „Der Arzt kommt gleich zu Ihnen.“ Damit ließ sie ihn alleine und er hörte nur noch das gleichmäßige Klacken ihrer Schuhe auf dem Boden. Er legte das Klemmbrett zur Seite und wippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab. Wieso hörte die Zeit bei Ärzten auf zu schlagen? Erging es immer nur ihm so oder kam nur ihm die Wartezeit immer so unendlich lang vor? Die Uhr an der Wand zeigte, dass seit seiner Ankunft weniger als fünf Minuten vergangen waren. Nakatsu seufzte und das Wippen seines Fußes machte ihn mit einem mal unruhig und nervös. Er hörte auf und fing kurz darauf erneut an. Der Vorhang wurde beiseite geschoben und der Arzt setzte sich auf den Hocker vor dem Bett. Neben ihm blieb eine Krankenschwester stehen. „Guten Morgen“, grüßte der Arzt und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Er wandte sich an die Schwester und gab ihr den Auftrag seine Krankenakte zu holen. „Machen Sie den Oberkörper frei“, sagte er nur und holte aus der Schublade ein Blutdruckmessgerät heraus, sowie ein Stethoskop und andere Dinge. Nakatsu tat wie ihm geheißen und er zog die Uniform soweit aus. Die Schwester kam zurück mit der Akte und der Arzt schlug sie auf. Er rückte mit dem Hocker näher an ihn heran. Seine kalten Finger betasteten Nakatsus Brustkorb und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Am liebsten wäre es zusammen gezuckt. „Entfernen Sie den Verband, Schwester“, sagte der Arzt nur und sofort machte sich die Frau daran, den Knoten zu löschen und die Binden aufzuwickeln. Der Arzt tastete erneut über den Brustkorb. Ein Brummen entfuhr ihm und Nakatsu wusste nicht, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen sei. „Messen Sie den Blutdruck“, sagte der Mann zur Schwester und sofort wurde Nakatsu eine Manschette umgelegt, während der Arzt, mit seinen kalten Fingern, die Rippen suchte. Nakatsu versuchte ruhig zu bleiben, während sein linker Arm eingequetscht wurde und seine Nieren an Unterkühlung starben. Wo hatte dieser Mann seine Finger vorher gehabt? Hatte er sie vorher in ein Eisfach gehalten? Das Stethoskop war genauso kalt, wie die Hände des Arztes, als dieser ihm damit den Brustkorb abhörte. Die Schwester nannte die Werte vom Blutdruck und notierte sie in der Akte. „Sehr gut“, sagte der Arzt und legte das kühle Gerät weg. Nakatsu fröstelte kurz. Er wollte nur noch weg und seine warmen Sachen anziehen. „Öffnen Sie den Mund“, sagte der Arzt und schob ihm eine Sekunde später einen Holzstiel hinein. Er drückte die Zunge nach unten und begutachtete seinen Rachen. Zufrieden nickte er und maß nur noch die Temperatur. „Sehr gut, Mr. Shinamoto“, sagte er und notierte sich die Befunde in die Akte. Er zog ein Blatt aus der Schublade und notierte darauf etwas. Als er fertig war, reichte es der Schwester. „Leiten Sie das an, Mr. William T. Spears weiter“, meinte er nur und wandte sich an Nakatsu. „Ihre Rippen sind in einem guten Zustand. Sie sollten sie noch etwas schonen und in den nächsten beiden Tagen den Verband tragen. Ich werde Sie auch vom Kampftraining befreien. Danach dürfen Sie wieder mit den anderen die Ausbildung genießen. Sollten Sie jedoch Probleme haben, kommen Sie unbedingt noch mal herein.“ Während er sprach, wickelte der Arzt ihm wieder den Verband um. „Wenn Sie duschen oder baden, nehmen Sie den Verband ab und lassen Sie sich beim Anlegen wieder helfen. Er muss eng sitzen.“ Nakatsu nickte nur brav und gab zustimmende Laute von sich. „Das war es dann auch schon. Einen schönen Tag noch und gute Besserung“, sagte der Arzt und erhob sich. Er verschwand schnell hinter dem Vorhang und Nakatsu zog sich die Uniform wieder an. Hinter dem Vorhang hörte er den Arzt mit jemanden sprechen. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Schnell stand er auf und knöpfte die letzten Hemdknöpfe zu, während seine Weste offen an ihm herunter hing. Der Arzt unterhielt sich mit dem grauhaarigen Shinigami und reichte ihm ein paar kleine Flaschen. Nakatsu blieb im sicheren Abstand stehen. Er wollte nicht schon wieder auf dieser Station landen und sich von den kalten Fingern des Arztes begrabschen lassen. Seine Atmung ging schneller und sein Körper spannt sich an. Der Arzt ging und der Shinigami stand mit einem breiten Grinsen im Raum. Ein leises Knurren entfuhr ihm. Als hätte der Shinigami es gehört, drehte er sich zu Nakatsu um. Er kicherte, wie so oft und kam mit großen Schritten auf ihn zu. „Da habe ich dich wohl ordentlich erwischt, was?“ Er hob die Hand zum Mund und einer der schwarzen Nägel berührte seinen Mund. Im linken Arm balancierte er die Medikamentenflaschen. „Du musst sogar einen Verband tragen. So schlimm?“ Nakatsu knurrte erneut, diesmal lauter. „DU!“ Sofort nach dem die Worte seinen Mund verlassen hatten, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Er krümmte sich ein wenig. Der Shinigami kicherte. „Oh, wie es scheint, hat der Schlag meiner Wenigkeit zu einer Rippelprellung geführt“, sein Grinsen wurde breiter, „Wer hat denn auch gesagt, dass dein Brustkorb die stumpfe Seite meiner Scythe küssen soll?“ Ein noch amüsierteres Kichern entfuhr ihm. „Diese Jugend heutzutage…viel zu übermütig. Du bist genau, wie Lily. Sie ist auch so stürmisch.“ Wieder knurrte Nakatsu und konnte sich vor Schmerzen kaum Rühren. Er konnte sich nicht daran erinnern jemals so wütend auf jemanden gewesen zu sein. „Was haben Sie mit Lily gemacht? Wo ist sie?“ Das Lächeln aus dem Gesicht seines Gegenübers verschwand. „In Sicherheit“, war die knappe und eintönige Antwort. Er hatte diese Stimme noch nie so ernst gehört. Nur wenige Sekunden später war aber das Kichern zurückgekehrt. „Sie scheint sich aber bei mir sehr wohl zu fühlen. Mein Bett scheint ihr zu gefallen. Es ist sehr bequem und mit ihr darin ist es gleich noch viel angenehmer. Ich habe eine so gute Nacht schon lange nicht mehr gehabt.“ Nakatsus Augen weiteten sich. Er konnte nur schwer seine Wut unterdrücken. Wäre dieser Shinigami nicht stärker als er, wäre er schon längst auf ihn los. So blieb ihm nichts weiter als zu knurren. „Du wirst doch wohl nicht…?“ Nakatsu wollte den Gedanken nicht zu Ende führen und schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben, die sich in seinem Kopf breit machten. „Vergreifst du dich schon an wehrlose Schülerinnen?“ Undertaker kicherte wieder, was ihn umso wütender machte. Fand er es etwa lustig? Hatte er Gefallen daran? „Nicht so stürmisch, Kleiner“, sagte er. „Pass auf, was du für Anschuldigungen anstellst. Sind es nicht genau solche von dieser einen Dame, die genau zu dieser Situation geführt haben? Denk besser nach….“ Er hielt kurz inne. „Aber ich muss sagen, die Nacht scheint ihr gefallen zu haben. Sie hat geschlafen wie ein Baby. Ich kann es ihr aber nicht verdenken bei dem, was hier in letzter Zeit passiert ist. Zu meiner Zeit hat es das nicht gegeben…“ Kurz seufzte Undertaker auf und sah zu Boden. „Was haben Sie mit ihr gemacht?“ „Ihr nur geholfen, Ruhe zu finden, ihr etwas zu Essen gemacht und Tee. Sie ist völlig erschöpft und der viele Gewichtsverlust bekommt ihrem Körper auch nicht. Sei froh, dass ich ihr helfe.“ Das Lächeln war nun gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden. Nakatsu konnte seine Wut nicht mehr Zügeln, doch statt den Shinigami mit seiner Faust zu treffen, landete er bäuchlings auf dem nächsten Krankenbett. Er keuchte auf und hörte ihn kichern. „Ich sagte doch, nicht so stürmisch. Hat dir meine kleine Lektion nicht gereicht?“ Tadelnd schnalzte er mit der Zunge. „Willst du denn nicht begreifen, dass ich deiner Freundin helfe?“ „Als ob!“ „Stimmt. Ich handle auch nicht ganz ohne Eigennutz.“ „Was willst du also von ihr?“ Undertaker ging nicht auf seine Frage ein, sondern sprach einfach weiter, als hätte er seine Frage nicht gehört. „Nicht einmal gefragt hat sie nach dir. Wie Schade, dass sie dich nur als Freund ansieht. Sie hat nur gefragt, wo dieser….wie hieß der Junge Bursche noch gleich? Ronald Knox! Genau. Sie hat nur gefragt, wo dieser Knox sei und ob es ihm gut ginge.“ Undertaker kicherte und legte einen Finger an die Lippen. „Ihr Mund ist so weich…“ Nakatsus Herz schlug bei dem letzten Satz schneller und die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. „Sie haben sie geküsst? Warum machen Sie sich an eine Schülerin ran?“ „Selbst wenn, was willst du tun? Wir wissen beide, dass du nicht an mich heran kommen wirst. Außerdem war ich da nicht der Erste.“ „Was?“ „Zuerst war da dieser Humphries, aber das weißt du ja selbst und dann Knox. An dem Morgen als er neben ihr wach geworden ist.“ Undertaker kicherte erneut. Nakatsus Blick verfinsterte sich. Sein Körper zitterte vor Wut. „Was? Er hat was getan?“ „Aber das bleibt schön unter uns, verstanden? Immerhin haben die zwei schon genug Ärger. Da brauchen die zwei nicht noch mehr Ärger wegen diesem kleinen Missverständnis, was sie ohnehin geklärt haben.“ Er wusste nichts weiter zu erwidern als knurren. Ihm gefiel dieser Gedanke ganz und gar nicht und Nakatsu hoffte, dass dieser alte Shinigami log. Er blickte den Grauhaarigen an. „Sag mir endlich, wieso Sie sie mitgenommen haben! Kommen Sie mir nicht mit Sicher und Ruhe! Ich will eine Erklärung!“ Undertaker kicherte. „Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie schlecht man sie behandelt. Und da habe ich mich erbarmt.“ „Wann bringen Sie Lily zurück?“ Seine Stimme klang ein wenig Verzweifelt, aber das war ihm egal. Undertaker hatte sich bereits zum Gehen abgewandt, hielt jedoch noch einmal inne. „Wenn es wieder sicher für sie hier ist“, antwortete er und wandte sich endgültig von ihm ab. Nakatsu sprang vom Bett auf und sprintete zur Tür. Als er in den Flur sah, war der Shinigami verschwunden und Eric Slingby kam ihm entgegen. Besorgt sag der ältere Shinigami ihn an. „Mr. Shinamoto, was ist passiert? Sie sehen so blass aus!“ „Dieser Kerl war da….“, keuchte er vor Schmerz und krümmte sich ein wenig. Eric stützte ihn und brachte ihn zurück in das Zimmer. Er ließ ihn auf ein Bett nieder. „Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal.“ Eric machte mit den Händen eine beruhigende Geste und deutete Nakatsu, dass er tief ein- und ausatmen sollte. Nakatsu tat wie Mr. Slingby es ihm vormachte und wiederholte seine Worte von eben mit ruhigerer Stimme. „Was? Genau hier?“ Erstaunt sah Eric ihn an und er nickte zustimmend, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Was hat er gesagt?“ Er erzählte dem älteren Shinigami was Undertaker zu ihm gesagt hatte und Eric hörte schweigend zu. Nakatsu ließ jedoch die Stelle aus, dass Ronald Lily geküsst haben soll. Das wollte er erst selbst recherchieren. Ein Seufzen entfuhr ihm am Ende. „Sie müssen Lily finden, bitte.“ Ein Flehen lag in seiner Stimme. Eric nickte nur und sah sich kurz über die Schulter im Raum um, als hoffe er, dass der Shinigami zurück kommen würde. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden McNeil finden.“ Er legte Nakatsu eine Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich warm an und gab ihm ein beruhigendes Gefühl. „Ruhen Sie sich aus. Vertrauen Sie uns. Wir schaffen das und wir haben auch schon einen Plan, wie wir ihre Freundin finden können.“ „Ich hoffe, es geht ihr gut“, seufzte er und sah zu Boden. „Das hoffen wir alle. Aber wir schaffen das!“ Eric lächelte ihm aufmunternd zu. „Ruhen Sie sich aus und lenken Sie sich etwas ab. Wir halten Sie schon auf dem laufenden.“ Nakatsu nickte und erhob sich langsam vom Krankenbett. „Danke“, sagte er noch und verließ dann die Krankenstation. Auch wenn der Arzt ihm Ruhe verordnet hatte, ging er mit schnellen Schritten ins Erdgeschoss und bog n die Abteilung ab, die zu den Lebensbüchern führte. Er musste unbedingt in das Lebensbuch von Ronald Knox oder in Lilys schauen. Egal, in wessen er schauen würde. Es würde in einem von beiden drin stehen. Auch wenn es ihm widerstrebe in Lilys Buch zu lesen, so musste er die Wahrheit wissen. Der Satz von Undertaker ließ ihn nicht in Ruhe und er musste wissen, ob es stimmte, dass er sie geküsst hatte. Nakatsu wusste nicht, wie lange er beim Arzt gewesen war und ob die Lebensbuchabteilung schon auf hatte, aber wenn Eric Slingby schon auf den Beinen war, war es sicherlich spät genug. Nakatsu hatte Glück: Die Abteilung hatte seit einer halben Stunde auf und durch die Gänge waren mehrere Shinigamis zu sehen, die neue Lebensbücher einsortierten und alte wegbrachten. Der Geruch von Tinte lag in der Luft und das Rascheln von Papier war zu hören. Nicht einmal ein Wort von einem der hier arbeitenden Shinigamis. Obwohl er die Abteilung durch die erste Führung von seinem ersten Tag her kannte, fühlte er sich ein wenig unbehaglich und fehl am Platz. Langsam ging er durch den Eingang und begrüßte die Frau am Empfang, die ihn nur mit einem kurzen Nicken begrüßte. Vorsichtig sah er sich um und wich einem Bücherwagen aus, der von einem zierlichen Mädchen mit kräftigen goldblonden Locken geschoben wurde. Er sah viel zu schwer aus für sie. Das Mädchen war auch um ein paar Köpfe kleiner als Lily, so dass sie noch zerbrechlicher wirkte. Er ging schnell einen Schritt zur Seite und lächelte ihr zur Begrüßung zu. Sie murmelte ein Hallo und schenkte ihm ein entschuldigendes und schüchternes Lächeln. Nakatsu folgte ihr in die Abteilung der Lebensbücher der Shinigami. Sein Herz klopfte lautstark. Er ging an dem Bücherwage vorbei, wo das Mädchen anfing die Bücher wieder einzusortieren. Jedes Buch sah identisch aus und er schritt die Reihen entlang, um das von Ronald Knox zu finden. Nakatsu legte den Kopf schief, um die Namen besser lesen zu können und murmelte leise vor sich hin. Am Ende des Regals blieb er stehen und sah verwirrt in den Gang zurück. Das Buch Knox war nicht da, genauso wie das von McNeil. Unzufrieden brummte er und ging die Regale noch einmal durch. Das konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet dieses Buch nicht an seinem Platz war! Unzufriedenheit machte sich in ihm breit. Nakatsu seufzte auf und ging auf das Mädchen zu, das noch immer die Bücher einsortierte. „Hallo…ähm…entschuldigen Sie bitte…“, sprach er und wartete bis er ihrer Aufmerksamkeit sicher war. „Ich suche das Lebensbuch von Ronald Knox und Lily McNeil und kann es nicht finden.“ Sein Blick fiel auf das Namensschild des Mädchens. Isabelle Olivia Morgan. Sie nickte. „Ich komme mit und schau mal. Vielleicht ist es noch beim Gericht. Da ist jemand vor zwei Tagen gekommen und hat beide für die Verhandlung mitgenommen.“ „Oh…“ Mehr brachte Nakatsu nicht heraus. Soweit hatten sich die Gerüchte schon getragen. „Ja, die Gerüchte gibt es hier schon seit ein paar Wochen, dass dieser Knox was mit seiner Schülerin haben soll.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hast du es nicht mitbekommen? Oh Verzeihung…ich meine Sie.“ Nakatsu winkte ab. „Du ist ok. Ich bin noch Schüler in der Seelensammlungsabteilung.“ Isabelle lächelte. „Freut mich. Ich bin hier Lehrling.“ Sie reichte ihm die Hand zur Begrüßung. „Aber dann hast du die Gerüchte doch sicherlich mitbekommen, oder? Immerhin arbeiten die beiden doch in deiner Abteilung!“ Nakatsu scharrte nervös mit dem Fuß. „Ja, hab ich. Um ehrlich zu sein, dieses Mädchen ist meine beste Freundin und wenn du über sie herziehen willst, dann….“ „Oh…“ Isabelle machte große Augen und unterbrach ihn schnell. „Nein, das wollte ich gar nicht! Ich wollte nur sagen, dass ich die Gerüchte totalen Unfug finde und es viel zu sehr von Carry aufgebauscht wird!“ „Tut mir leid, ich wollte dich nicht anfahren….Ich bin nur fertig mit meinen Nerven…“ Isabelle nickte. „Kann ich verstehen. Wenn diese Lily wirklich deine beste Freundin ist, dann hast du es ja auch irgendwo mit abgekriegt. Was ist denn eigentlich genau im Gericht passiert? Da kursiert ja alles Mögliche im Moment. Tut mir leid, wenn ich so neugierig bin.“ „Schon gut.“ Nakatsu überlegte kurz, ob er ihr davon erzählen sollte und entschied sich für die kurze Version. „Verstehe und jetzt willst du in seinem Lebensbuch nachlesen?“ Isabelle kletterte auf eine kleine Leiter, um im oberen Regal nach zu sehen, ob das Buch nach hinten gerutscht war und so aus dem Blickfeld. „So ungefähr“, antwortete er ihr. „Ich hoffe wirklich, dass das bald vorbei ist.“ Sie kletterte die Leiter herunter und schob die Brille etwas höher. „Tut mir leid, es ist nicht im Regal. Auch das von deiner Freundin nicht. Schauen wir mal vorne beim Empfang nach. Da liegt die Liste mit den ausgeliehen und zurück gegeben Büchern.“ „Wieso?“ „Weil Carry seitdem hier mehr ein und ausgeht als sonst. Eine ihrer Mode-Tanten arbeitet auch hier.“ Sie deutete mit dem Finger in Richtung des Empfangs. „Sie muss irgendwo in den Hinterräumen sein und sich die Nägel machen, wie sonst auch.“ „Eine von ihren Tanten arbeitet hier?“ „Ja, aber glaub bloß nicht, dass die schon mal ein Blick in eines der Bücher geworfen hat. Ich glaube, die kann gar nicht lesen.“ Isabelle kicherte. „Aber Carry geht hier seit diesen Vorfällen mehrfach ein und aus und vor ein paar Tagen hat sie sich ein Lebensbuch ausgeliehen.“ Nakatsu folgte ihr nach vorne und sie ging hinter den Tresen. Die Frau sah nur kurz auf und widmete sich dann wieder ihren Aufgaben. Isabelle nahm zwei schwere Bücher zur Hand. Eine dicke blonde Locke fiel ihr ins Gesicht und sie strich sie nach hinten. Mit dem Finger fuhr sie die Tabelle entlang. „Da haben wir es ja…“, sagte sie und Nakatsu horchte auf. „Das Lebensbuch Ronald Knox wurde vor der Verhandlung von einem Gerichtsdiener ausgeliehen und ihm dann gestern nach der Verhandlung zur persönlichen Aufbewahrung überhändigt. Das Lebensbuch deiner Freundin McNeil wurde jedoch nach beiden Verhandlungen wieder zurück gegeben.“ „Dann müsste es doch da sein.“ Sie nickte und sah auf die zweite Liste. „Aber es wurde heute früh von Adrian Crain ausgeliehen.“ „Crain? Wer ist das?“ Nakatsu hatte diesen Namen noch nie gehört. Isabelle zog die Schultern hoch. „Hier steht, er arbeitet in deiner Abteilung. Mehr nicht und Carry hat vor ein paar Tagen ihr eigenes Lebensbuch ausgeliehen.“ Nakatsu nickte. „Danke.“ „Bitte sehr…“ Isabelle biss sich auf die Lippe. „Wenn du mal Lust auf einen Tee hast, würd ich mich sehr freuen!“ Nakatsu nickte. „Gern. Bis dann.“ Sie verabschiedete sich von ihm und er ging zurück in die Society. Er dachte über den Namen nach und was dieser Mann mit dem Lebensbuch von Knox wollte. Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. „…wie konnte er nur! Das wegen dieser seltsamen Lily! Dabei ist sie nicht mal hübsch!“, sagte eine Frauenstimme, die er in den letzten Wochen viel zu oft gehört hatte, Carry. „Ja, du bist viel hübscher als sie, Carry! Sie hat ihn nicht verdient. Knox ist blind, wenn er dich für so eine sitzen lässt!“ „Knox muss geistig umnachtet gewesen sein. Anders kann man es sich nicht erklären!“ Nakatsu spähte um die Ecke und dort stand Carry mit ihren Klonen. Die Klone umschwärmten sie förmlich und Carry genoss es sichtlich, dass man sie so anhimmelte. „Dabei wisst ihr noch gar nicht das Beste!“, flötete die Anführerin der Mode-Mafia. „Was denn, Carry?“ „Spann uns nicht auf die Folter!“ „Ich habe ein Date!“ „Mit wem?“ „Na mit wem wohl!“ „Wie lange hast du ihn zappeln lassen bis du zugestimmt hast?“ „Drei Mal.“ „Drei Mal? Vorhin hast du mir erzählt nur einmal…“ „Wie dem auch sei. Heute Abend kommt er zu mir und dann haben wir endlich unsere heiß ersehnte Verabredung!“ Carry klang mehr als aus dem Häuschen. „Mit dir wird er viel mehr Spaß haben“, versicherte eines der Klone. „Natürlich wird er das“, sagte sie. „Sie ist keine Konkurrenz für dich!“ „Genau! Wie erbärmlich muss man sein, sich an seinen Mentor ran zu machen und dann am Ende alles leugnen. Sie tut doch nur so, als wäre sie die Unschuld vom Lande!“ „Und dann ist sie auch noch so blöd und lässt sich entführen!“ Carry lachte und ihre Freundinnen lachten mit. „Wie sagte man? Des einen Leid, des anderen Freud.“ Nakatsu lehnte sich gegen die Wand. Dieses Gespräch mit anzuhören tat weh. Dabei kannten diese Frauen die Wahrheit ganz genau und drehten sie so, wie es ihnen passte! Tränen stiegen ihm in die Augen und er war froh, dass Lily nicht hier war, um das zu erleben. Wie konnte Knox nur so Falsch sein? Er schwor hoch und heilig Keuschheit und schmiss sich nun nach nicht mal einer ganzen Woche wieder an Carry ran! Hatte dieser Mann nichts aus dieser Situation gelernt? Es würde Lily das Herz zerreißen, wenn sie davon erfahren würde. Wie gut, dass sie gerade fort war. Am liebsten würde er ihm gerade den Hals umdrehen. Nakatsu versuchte das Gespräch auszublenden, doch es ging nicht. „Habt ihr sie diese Woche gesehen?“ „sie sah furchtbar aus. Es sollte verboten werden, Mitternachtscocktails zu trinken, wenn man am nächsten Tag wieder arbeiten muss. Besonders für Schüler.“ „Da sprichst du ein wahres Wort.“ „Und jemand sollte ihr mal sagen, dass ihr die Uniform nicht steht. Schwarz macht sie blass und es gibt etwas, was man Haarschnitt nennt. Sie sollte ihren Frisör verklagen.“ „Vielleicht ist sie auch nur hier, weil sie mit der Uniform Pölster verstecken will. Sie ist der totale Versager. Es würde mich nicht wundern, wenn sie nicht bald vom Dach der Society springt, nur um Aufmerksamkeit zu erregen und damit sie sich weiter an meinen Ronilein ran machen kann.“ „Das ist auch alles. Sie will nur Aufmerksamkeit. Warum sonst arbeitet sie in der Seelensammlung?“ „Weißt du, manchmal denke ich, sie hat das mit meinem Ronilein genau geplant seitdem er ihr Mentor wurde. Nur damit sie Aufmerksamkeit bekommt! Sonst würde doch keiner auf sie achten. Sie ist eine viel zu große Niete, als das… „Halt die Fresse, Carry!“, platze Nakatsu heraus und er trat um die Ecke hervor. Seine Wut brodelte im inneren und alles an ihm war auf Kampf gepolt. Sein Blick war kühl und er hatte große Mühe seine Stimme ruhig zu halten. Carry drehte sich herum. Ihre Augen weiteten sich. „Oh Schnuckelchen, tut mir leid. Ich wusste gar nicht, dass du zuhörst. Das tut mir aber leid. Aber naja…“ Sie zog die Schultern hoch und kam auf ihn zu. „Es ist nun mal die Wahrheit. So leid es mir auch tut, dass ich dein schönes Bild von deiner Freundin kaputt mache.“ Carry kam immer weiter auf ihn zu. Instinktiv wich Nakatsu zurück. So wütend er auch auf Carry war, er konnte keine Frau schlagen. „Nenn mich nicht Schnuckelchen!“, fuhr er sie an. Er war richtig sauer. „Aber, aber….sag doch einfach, dass du neidisch auf meine Verabredung heute Abend bist und du auch gern eine mit mir hättest. Vielleicht können wir ja was zu dritt arrangieren?“, kicherte Carry und trat näher an ihn heran, so dass sie nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Mit einem Finger fuhr sie ihm über die Wange. Nakatsu schauderte. „Das reicht, Carry. Lass den Jungen in Ruhe!“ Grelle trat näher an die Gruppe heran und Nakatsu atmete erleichtert über die Hilfe auf. Der rothaarige Shinigami stellte sich, mit in die Hüfte gestemmten Händen, zwischen Carry und ihm. „Was soll das, Grelle?“, fauchte Carry, „Tu bloß nicht so, als wäre er dein Eigentum! Du hast William!“ Grelle hob eine Augenbraue und lächelte. Er sah kurz über die Schulter zu Nakatsu, der noch immer an der Wand stand. Er zwinkerte ihm zu, so dass Carry es nicht sah. „Und wenn es so wäre, Carry?“, fauchte Grelle zurück. „Dann will ich aber einen Beweis! Seit wann machst du dich an Kinder ran?“ Nakatsu glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Half Mr. Sutcliffe ihm aus der Klemme, in dem er behauptete, er wäre mit ihm zusammen und Carry wolle einen Beweis dafür sehen? Nakatsu schluckte hart und schwer. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. „Und wie?“, fragte Grelle gelangweilt zurück und klang dabei missmutig. „Küsst euch!“, verlangte Carry prompt. „Lieber kuschle ich mit einem Kaktus!“, entfuhr es Nakatsu. „Der Kaktus wäre auch die bessere Wahl!“, kicherte eines der Klone und erntete sofort einen kalten Blick von Grelle. „Ich bin viel hübscher als der Kaktus!“, rief er lauthals mit seiner schrillen Stimme. „Beweist du es nun oder gehst du weg und lässt mich mit dem Jungen alleine?“ Carry klang ungeduldig. Grelle drehte sich zu Nakatsu um und schluckte. So sehr Nakatsu Grelle dankbar war für die Hilfe, ein Kuss ging doch zu weit. Er wollte sich schon wegdrehen und flüchten, als er zwei Hände an seinen Schultern spüre, die ihn zurück an die Wand drückten. Nur eine Sekunde später spürte er wie Grelle seinen Mund auf seinen presste. Er sah Grelles rote Haare und wie dieser die Augen zusammen gekniffen hatte. Die Lippen des Shinigamis waren weich und unweigerlich schloss Nakatsu die Augen. Innerlich betete er, dass der Kuss bald vorbei sein würde. Grelles Hand wanderte in seinen Nacken und zog ihn näher, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Nakatsus überraschtes aufkeuchen, ging im Kuss unter. „Sieht mir eher nach einem gezwungen Kuss aus….“, kam es von Carry. Nakatsu verdrehte innerlich die Augen und tat es Grelle nach. Er legte ihm die Hand in den Nacken und begann den Kuss zu erwidern. Vorsichtig bewegte er die Lippen und saugte an Grelles Unterlippe. Seine Zunge fuhr in dessen Mund und umspielte die andere. Er konnte die spitzen Zähne fühlen und hoffte, dass er sich nicht daran verletzten würde. „Ja, ist ja schon gut. Ich glaub es euch ja, jetzt hört auf damit! Das wird ja ekelhaft!“, hört er Carry sagen und Nakatsu löste sich langsam von Grelle, der ihn mit rotem Gesicht anstarrte. Schnell wandte sich der Shinigami Carry zu. „Beweis genug, Carry?“, fuhr Grelle sie an. „Jetzt lass uns in Ruhe!“ Nakatsu merkte, wie sein Gesicht glühte und sich eine Röte gebildet hatte. Carry winkte ihnen beiden ab. „Schon gut. Ich glaube es ja. Ich hab kein Interesse an kleinen Schwuchteln wie euch. Außerdem will ich meinem Ronilein nicht untreu werden, wo er mich doch heute Abend zu einem Date eingeladen hat!“ Den letzten Satz flötete sie förmlich und rauschte fröhlich und gut gelaunt mit ihren Klonen davon, während Grelle und Nakatsu auf dem Flur mit hochroten Gesichtern zurück blieben. Kapitel 26: Liebe und Lügen --------------------------- Ronald merkte nur zu deutlich, wie ihn alle anschauten, als er durch die Flure der Society ging. Aber an die vielen Blicke hatte er sich in den letzten Tagen gewöhnt. Seit er zurückgekommen war, folgten sie ihm überall hin und er konnte Stimme hören, die leise hinter seinem Rücken tuschelten. Er sagte sich immer wieder, dass er so tun musste, als würde es ihn kalt lassen. Wenn es Gerüchte gab und diese sich so lange hielten, wie diese, dann redeten die Leute eben. So war es auch in der Menschenwelt. Aber irgendwann war auch dort die Luft raus. Seine Schritte beschleunigten sich. Er wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich, Spears Büro und Carry bringen. Vor allen Dingen wollte er so schnell es geht in sein Büro flüchten, bevor die ganze Society von dem Date erfuhr und die Kollegen ihn mit unnötigen Fragen löcherten. Am allerwenigsten wollte er sich mit Sutcliffe auseinander setzen und sich von ihm darüber eine Standpauke anhören müssen. Er konnte seine schrille Stimme schon fast hören und wie er ihm Vorwürfe machte. Es war das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte. Als würde ihm dieser Auftrag nicht schon schwer genug fallen, ohne dass er sich dabei wie eine männliche Prostituierte fühlte. Ein Schauer lief ihm bei diesem Gedanken eiskalt den Rücken entlang und Ronald konnte sich nur mit Mühe zurück halten, auf sein Zimmer zu gehen und sich gründlich von oben bis unten abzuschrubben, so schmutzig fühlte er sich jetzt schon. Dabei war das eigentliche Date noch gar nicht gelaufen. Er verdrängte den Gedanken, wie er sich erst danach fühlen würde. Sein Büro war nicht mehr weit und das Gefühl sich selbst und Lily zu verraten, wurde mit jedem Schritt größer und schien ihn zu erdrücken. Was tat er sich nur an, dass er mit Carry auf ein Date ging? Wie verrückt war das? Wie masochistisch war diese Aktion? Er musste komplett den Verstand verloren haben! Ronald öffnete die Tür zu seinem Büro und schlüpfte durch die Tür. Seine Hände zitterten noch immer. Er war noch nie so aufgeregt gewesen, bei der Frage, ob eine Frau mit ihm ausgehen wollte. Zum Glück war Carry auf sein Liebesgesäusel herein gefallen und hatte zugestimmt. „William…was verlangst du nur von mir…“, nuschelte er und setzt sich an seinen Schreibtisch. „Tut mir leid, Lily…“, seufzte er nach einem kurzen Moment. Es fühlte sich an, als würde er ihr untreu werden, obwohl er nicht mal mit ihr zusammen war. Wieder seufzte er und konnte spüren, wie sich sein Herz zusammen zog. Er vermisste sie. Ronald schloss eine Schreibtischschublade auf und holte ein Buch hervor. Es lag nun vor ihm wie ein unheilvolles Omen. Er musste nicht darin lesen, um zu wissen, was die Worte für Sätze bilden würden. Er kannte den Inhalt ganz genau, Wort für Wort. Sie waren in seinem Geist verankert. Aber es tat gut zu wissen, dass sein Lebensbuch, mit dem hellbraunem Ledereinband, nicht in der Bibliothek stand, sondern, dass ein Gerichtsdiener es ihm persönlich zur Aufbewahrung gegeben hatte. Das Gefühl, dass sein Buch hier lag, hatte gleichzeitig etwas tröstenden an sich. Er schlug es auf und in großen Buchstaben stand sein eigener Name in einer feinen Schrift auf der ersten Seite. In der vergangen Nacht hatte er sich sein Buch zur Bettlektüre gemacht, während die Flure des Wohnhauses still waren und alle schliefen. So vieles war darin, an das er lange nicht mehr gedacht hatte und so vieles, was noch viel zu frisch war. Am meisten hatte ihn jedoch die Stelle fasziniert, als ihm klar geworden war, dass er Lily liebte. Es war ein befremdliches Gefühl gewesen, es aus einer Erzählperspektive zu lesen. Ronald zog eine Schublade auf und nahm sich daraus ein Bonbon, was er sich in den Mund schob. Gelangweilt blätterte er durch das Buch. Bei einem flüchtigen Blick über die Seiten fiel ihm auf, dass ab einem gewissen Alter immer öfter das Wort Frau auftauchte, sowie Verabredung und Bett. Eine Zeit, wo ihm all diese Mädchen und Frauen nichts bedeutet hatten. Eine Zeit, als er nur Spaß haben wollte und sie ihm nichts wirkliches bedeuteten. All diese Mädchen und Frauen, mit denen er einen Abend oder Nacht verbracht hatte, hatten ihm nichts weiter als Vergnügen bedeutet. Sie waren bloß da gewesen, um seine Lust zu befriedigen oder um mit ihm zu flirten und ein paar belanglose Küsse auszutauschen. Aber das war, bevor er Lily begegnet war und ihm bewusst geworden war, dass es mehr als diese belanglosen Nächte gab, wo er bereits die Namen der Frauen schon wieder vergessen hatte. Er klappte das Buch wieder zu und versuchte seine Gedanken zu verdrängen. Seien Konzentration sollte auf die Verabredung heute Abend liegen und nicht bei den Frauen von früher. Es würde nicht mehr lange dauern bis er Carry abholen würde und er musste noch Wein und ein paar Blumen besorgen. Auch hatte noch einmal vor zu duschen und sich frische Sachen anzuziehen. Ein Seufzen verließ seine Lippen. Die Entscheidung mit Carry auszugehen und den Auftrag anzunehmen, war ihm nicht leicht gefallen. Es würde ihn in ein paar Stunden einige Mühe kosten, sich auf seine Rolle, die er ihr vorspielen würde, zu konzentrieren. Er schüttelte geistesabwesend den Kopf und überlegte, ob er Lily schon seit ihrer ersten Begegnung liebte. Nach allem, was geschehen war, konnte er es nicht genau sagen, dennoch hatte er noch genau vor Augen, wie sie sich kennen gelernt hatten. Ronald konnte noch genau sagen, wie die Sonne auf ihr Gesicht gefallen war, wie blass sie gewirkt hatte und wie die Angst in ihren Augen gewirkt hatte. Er konnte sich auch genau daran erinnern, wie sich ihre Blicke gekreuzt hatten. Sie hatte schnell fort gesehen und auch er hatte schnell den Blick abgewandt gehabt. Sein erster Gedanke war gewesen, das sie gar nicht sei Typ von Frau sei, doch inzwischen musste er sich eingestehen, dass er sich das von Anfang an nur eingeredet hatte, damit er die Arbeit bekam. Er hatte sich selbst belogen und etwas vorgemacht, um mit ihr arbeiten zu können, während sein ganzes Unterbewusstsein nur sie wollte. Langsam erklärte sich auch, wieso ihn die Feiern keinen Spaß mehr gemacht hatten und auch die Frauen, mit denen er kurz danach zusammen war. Es war alles unbefriedigend für ihn gewesen. Er schob den Frauen die Schuld zu und hatte sich deshalb Carry gesucht, in der Hoffnung, dass es dann besser wäre. Aber nun wusste er, es hatte an ihn gelegen und die Tatsache, dass er im Hinterkopf an Lily gedacht hatte. Wenn das kein echter Betrug war. Er fragte sich nur, wie er sich hatte nur selbst belügen können. Dabei wollte er nicht mehr als ihr nahe zu sein, so wie vor einigen Wochen. In dieser Nacht war er ihr so nah gewesen, wie er es sich nicht hatte träumen lassen. Ronald hatte nie geglaubt, dass er ihr so nahe sein würde, während er gleichzeitig ihr Mentor war. Er hatte den Duft ihrer Haare riechen können und sein ganzes Inneres sehnte sich danach, das Gesicht in den blonden Schopf zu vergraben und den Geruch tief einzuatmen. Seine Arme wollten sie umschlingen und nie wieder los lassen. Sein ganzer Körper wollte sich an ihren pressen. Er wollte sich mit ihr in seinem Bett herum wälzen und mit den Fingerspitzen langsam über ihr Gesicht streichen. Zuerst die Schläfe entlang, die Wange hinunter und über den Hals und dabei so vorsichtig sein wie bei Schmetterlingsflügeln. Ihre Haut sollte empfindlicher werden und jedes einzelne Haar sich bei seiner Berührung aufstellen. Ganz langsam und zärtlich wollte er ihr die die Haare hinters Ohr streichen, als wären seine Finger eine Feder. Behutsam wollte er ihr die Brille abnehmen und ihr in die grün-gelben Augen sehen. Er wollte darin sehen, wie sehr sie ihn liebte, ihn begehrte und nicht mehr gehen lassen wollte. Ronald zuckte zusammen, als er plötzlich Schritte auf dem Flur und vor seiner Tür hörte. Eine Stimme von einem männlichen Kollegen drang an sein Ohr und er verstand nur einzelne Wortfetzen. Es ging um Lily und wie gut es sei, dass sie fort war. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob er es richtig verstand, aber Ronald glaubte zu hören, wie sein Kollege sagte, dass er gerne mal eine Nummer mit ihr auf seinem Schreibtisch geschoben hätte. Wütend schüttelte er darüber den Kopf. Inständig hoffte er, dass dieses Gerede aufhören würde, sobald Carrys Lebensbuch in Williams Händen war und dieses Weib vor Gericht stand. So könnte er endlich Chancen bei Lily haben und ihr nach der Prüfung alles sagen, was er fühlte. Dann würden seine Gedanken vielleicht auch wahr werden und sie würde ihn mit diesem Blick ansehen, der ihm sagte, dass sie ihn genauso lieben würde wie er sie liebte. Ronald wollte diesen Blick aus ihren grün-gelben Augen sehen, die von den dichten Wimpern umrandet waren und darin versinken. In seinen Gedanken beugte er sich über sie und küsste ihren Mund mit seinen Lippen. Seine Zunge fuhr langsam über ihre Lippen und tauchte langsam in die warme Mundhöhle ein. Er stupste ihre Zunge an und spielte mit dieser, während sie leise in den Kuss stöhnte. Ungeduldig wanderten seine bisher unschuldigen Hände tiefer an ihrem Körper entlang. Er konnte die Hitze spüren, die von ihr ausging. Ronald schluckte schwer, als sich seine Gedanken verselbstständigten und einen eigenen Willen entwickelten, den er nicht stoppen konnte oder wollte. Genau wusste er es nicht. Es fiel ihm jedoch schwer, sich dem Nebel von Gefühlen und Trägheit, den diese Fantasien auslösten, zu befreien. Ihm blieb kaum eine andere Wahl als sich treiben zu lassen. Geübt wie er als Charmeur war, löste er langsam den Knoten der Krawatte und zog ihr den schwarzen Stoff vom Hals. Er öffnete jeden einzelnen Knopf der Weste und des Hemdes, während er mit der Zunge ihres Hals entlang fuhr. Ihr Körper wandte sich unter dieser Berührung und er konnte das starke Klopfen ihres Herzens spüren, als er ihr Dekolleté küsste. Es schlug fast genauso schnell wie seines und in ihren Augen sah er Unsicherheit. Er lächelte sie aufmunternd an. Langsam beugte er sich zu ihr und küsste ihren Mund, nur um kurz danach an ihrem Ohr zu knabbern. Ihr warmer Atem kitzelte an seinem Ohr und er hörte sie leise keuchen. Seine Hände wanderten ihren Körper weiter entlang und schoben den Rock höher. Doch nur kurz, denn sie glitten gleich wieder über ihre Hüfte zurück nach oben zu ihrer Brust. Behutsam fuhr er den unteren Teil entlang und spürte durch den weichen Stoff ihre warme Haut. Seine Finger fuhren über die ganze Brust und massierten sie langsam. Lily keuchte in sein Ohr und flüsterte dabei, wie sehr sie ihn liebte. Sein Herz machte einen Salto rückwärts als ein lautes Krachen ihn aufschrecken ließ. „Grünschnabel!“, kam es von einer lauten Stimme, die ihm nur allzu sehr bekannt vorkam. Ronald zuckte zusammen und setzt sich so schnell anständig in den Schreibtischstuhl. Er war tatsächlich eingeschlafen und sein Traum war mehr als heiß gewesen. Verlegen räusperte er sich und wischte sich über den Mundwinkel, nur für den Fall, dass er gesabbert hatte. „Grünschnabel, hast du etwa geschlafen?“, fragte sein Kollege Grelle Sutcliffe verwirrt und musterte ihn aufmerksam. „Nein…nein…ich hab mich nur ein wenig ausgeruht…“, antwortete er schnell und richtete seine Brille. „Ah ja?“, fragte der rothaarige Shinigami skeptisch. „Dafür hast du aber ganz schön gesabbert und echte Glückslaute von dir gegeben. Von was hast du geträumt? Hast du etwa einen kleinen süßen Todesengel geimpft?“ Ronald merkte, wie sein Gesicht zu glühen anfing und wich dem Blick von Grelle aus. „Von wem hast du geträumt?“, fragte er grinsend. „Von Niemanden.“ „Carry?“ „Nein!“ „William?“ „Nein!“ „Von mir?“ „Nein!“ „Lily?“ „NEIN! Ich meine…nein…“ Grelle zog erschrocken die Luft ein. „Das ist nicht dein ernst, oder Kollege?“ Ronald sah verlegen zur Seite. Niemals hätte er gedacht, dass er so schnell auffliegen würde. Es war schon schlimm genug, dass Alan Bescheid wusste, aber jetzt wusste es auch Grelle Sutcliffe! Ronald überlegte schnell, wie er sich aus dieser Situation retten konnte. Wie sollte er Grelle seine Reaktion erklären? Wie sollte er vor ihm jetzt die Gerüchte rechtfertigen, wenn es doch zum Teil stimmte? Wie sollte er seine Widersprüche erklären? Er glaubte nicht, dass Grelle es verstehen würde. Sein Kollege würde nicht zuhören oder ihm nicht glauben. „Grünschnabel, wie kannst du nur so unsensibel sein?“, fauchte Grelle ihn plötzlich an. „Wie kannst du dich nur auf Carry einlassen, währen du die ganze Zeit jemand anderen liebst! Wie kannst du dich nur selbst so sehr belügen und uns andere mit? Wie kannst du nur behaupten, dich interessieren keine Frauen mehr oder Feiern, wenn es doch gelogen ist? Wieso lügst du dich selbst an und uns mit?“ Ronald setzt zum Sprechen an, wurde aber sogleich von Grelle unterbrochen. „Und wieso lässt du dich jetzt wieder auf Carry ein? Ist McNeil es nicht mal wert, dass du dir anständige Sorgen um sie machst? Gibst du sie so schnell auf und suchst Trost bei der Nächstbesten?“ Grelle gab ein lautes Geräusch von sich, was er nicht wirklich definieren konnte. Es war eine Mischung aus Hicksen und Nase hoch ziehen. „Sutcliffe, ich…“ „Grünschnabel, ich wusste ja schon immer, wie du hinter jedem Weiberrock her bist, aber das hier ist selbst für deine Verhältnisse schäbig!“ Wütend schlug er die Faust auf den Schreibtisch und ein paar Stifte vibrierten und schlugen gegeneinander. So außer sich hatte er seinen Kollegen noch nie gesehen. Sein Gesicht war wütend und gleichzeitig vorwurfsvoll. „Deinetwegen zerläuft mir jetzt auch noch mein Make up!“, schniefte Grelle und wendete sich von ihm ab. „Sutcliffe, ich…“ „Erspar es dir, Ronald Knox…Ich glaube, Shinamoto hatte doch recht, dass er dir nicht glaubt.“ Grelle schüttelte den Kopf. „Dabei hatte McNeil versucht ihm zu erklären, dass du eigentlich ganz anders bist. Wenn sie das erfahren würde, würde sie mit Sicherheit gehen. Ist es das was du willst? Willst du, dass sie geht, damit du sie haben kannst oder was soll deine Aktion jetzt bringen? Hast du denn gar nichts gelernt? Für so dämlich hab ich dich nicht gehalten, Kollege…“ Grelle seufzte enttäuscht. „Ein Date mit Carry…ich kann es immer noch nicht fassen…“ „Wenn du aufhören würdest, mich anzufauchen, kann ich es dir auch erklären, Kollege!“, erwiderte Ronald bissig. „Es gibt für alles eine Erklärung!“ „Und die wäre?“ „Ja, es stimmt, dass ich euch belogen habe, aber nach allem was mit Carry war, wollt ich nicht noch mehr Ärger, wenn rauskommt, dass ein Teil davon stimmt. Ich wollte Lily und auch mir nicht noch Ärger machen.“ Ronald seufzte und fuhr sich verlegen durch die Haare. „Aber ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, mich interessieren keine Frauen mehr. Das tut es auch nicht. Mich interessiert nur eine Frau und das ist Lily. Deswegen gehe ich auch auf keine Feiern mehr und schleppe dort die Mädchen ab!“ Grelle wandte sich ihm wieder zu. Seine Arme waren verschränkt und er musterte ihn aufmerksam, nickte jedoch zu seiner Erklärung. „Ich habe also auch meine Lektion mit Carry gelernt! Da mach dir keine Sorgen, Kollege! Es gibt also keinen Grund für dich, wie ein wildes Nashorn hier in mein Büro zu platzen.“ „Und wieso hat Carry mir dann persönlich erzählt, sie hätte ein Date mit dir?“ Grelle bohrte ihm einen Finger in die Brust. Ronald seufzte ergeben. „Was denkt die sich nur dabei?“ „Also stimmt es, Kollege?“ Grelles Blick verfinsterte sich augenblicklich. „Also habe ich doch recht! Du hast McNeil schon aufgegeben! Dabei dachte ich, du liebst sie. So wie du eben reagiert hast!“ „Sei still, Sutcliffe! Du hast keine Ahnung!“, fauchte Ronald wütend und sprang vom Stuhl auf. „Ich würde es auch nicht tun, wenn es nicht wichtig wäre und es nur den Hauch einer Chance ist, dieses ganze Theater zu beenden! Denkst du, ich denke nicht daran, dass ich damit meine eigenen Gefühle hintergehe? Hältst du mich für so sprunghaft?“ „Kollege, komm runter!“ Grelle hob abwehrend die Hände. „Warum tust du es dann? Warum lässt du dich erneut auf sie ein?“ Ronald atmete kurz ein und aus, langsam und gleichmäßig. Er setzt sich wieder zurück auf den Stuhl. „Wenn es nach mir ginge, würde ich Lily suchen gehen. Ob William dazu die Erlaubnis erteilen würde oder nicht. Mir ist es auch egal, ob meine Wunde erst heilen muss, aber ich würde sie lieber suchen gehen, anstatt hier rum zu sitzen und heute diese Verabredung zu haben.“ Grelle ließ sich auf den zweiten Stuhl nieder und schlug die Beine übereinander. „Wie meinst du das, Kollege? Was soll das bedeuten?“ „Ich muss es tun. Verstehst du? William hat mir diesen Auftrag gegeben. Ich soll damit versuchen an das Lebensbuch von Carry zu kommen. Denn es ist nicht in der Lebensbücherei und die Ausleihliste besagt, dass sie ihr eigenes Buch ausgeliehen hat. Carry wird es aber solange nicht raus rücken bis Lily aus der Society geflogen ist oder der alte Zausel sie umgebracht und in einen Straßengraben liegen gelassen hat.“ Ronald seufzte und legte den Kopf auf den Tisch ab. „Und deswegen sollst du das Lebensbuch beschaffen, damit eure Unschuld bewiesen ist? Denn in deinem würde drin stehen, dass du sie liebst und ihr würdet mächtig Ärger kriegen?“ „Genau. Aber vor allem deswegen, weil Lilys Lebensbuch weg ist. Es ist ausgeliehen worden und ich soll auch bei Carry danach gucken, ob sie es unter einem falschen Namen ausgeliehen hat. Ansonsten war es der alte Knacker.“ „Aber hat William gleich verlangt, dass du dich ihr auf dem Silbertablett servierst?“ Ronald schüttelte mit dem Kopf. „Nein, er sagte nur, ihm sei es egal wie und bei Carry einbrechen wird nicht gehen. Sie wird bestimmt einen ihrer Klone in der Nähe ihres Zimmers haben. Also fiel mir nichts anderes ein, als mich ihr mit Schleife im Bett zu präsentieren.“ „Verstehe…“, sagte Grelle und überlegte kurz. „Aber sie es so, sie frisst dir aus der Hand und das nur durch deine Frage. Aber dafür denkt Shinamoto, du würdest uns alle hintergehen und hättest deine Angebetete angelogen.“ „Sag bitte nicht Angebetete, Kollege.“ Bei diesem Worten merkte Ronald, wie ihm warm im Gesicht wurde. „Das klingt so spöttisch…und bitte, sag niemanden etwas! Bisher weißt nur du es und Alan.“ „Was?“, keuchte Grelle entsetzt. „Der Kleine weiß es und das auch noch vor mir? Da muss ich doch gleich mal ein Hühnchen mit ihm rupfen!“ „Lass Alan da raus. Ihm geht es durch den letzten Anfall schlecht genug. Er hat es auch rausgefunden. Genau wie du. Ich habe es ihm nicht einfach so erzählt. Also mach ihm da keine Vorwürfe. Vor allem würdest du dann mit Eric Ärger kriegen…“ „Wie dem auch sei. So wichtig ist das nicht. Dein Auftrag hat gerade Vorrang!“ „Ich schaff das schon. Ich sehe gut aus und ich weiß, wie ich meine Körpersprache spielen lassen muss.“ Grelle lachte los. „Was ist? Wieso lachst du?“ „Du bist aus der Übung. Du schaffst es so sicherlich nicht, Carry rumzukriegen, dass du ihr Bruch kriegst.“ „Doch, das werde ich. Carry will mich. Sie steht auf mein Aussehen, nicht auf meinen Charakter. Damit hab ich das Buch schon so gut wie sicher!“ „Glaubst du, sie gibt sich mit ein paar Flirtblicke zufrieden, Kollege?“, sagte Grelle mit ernster Stimme. „Vergiss nicht, du bist verliebt. Du kannst jetzt nicht mehr so einfach mit einer anderen Flirten oder sie küssen. Es wird nicht leicht werden. Immerhin wird sich dein Gewissen dabei melden.“ „Das weiß ich und deswegen überlege ich, wie ich das anstelle, ohne das Gefühl zu haben, dass ich Lily betrüge.“ Grelles Augen verengten sich kurz und er grinste breit. „Dann hoffst du mal besser, dass deine Konzentration heute Abend nicht nach lässt, denn ich schätze, dass Carry ein paar körperliche Aktivitäten haben will. Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst.“ „Du meinst…?“ „Ja, genau. Sie wird nicht nur Händchen halten wollen. Carry ist eine Frau, sowie du ein Mann bist. So wie sie hinter dir her ist, wird sie dich ganz haben wollen. Bedenk doch nur, dass sie nur deswegen die Gerüchte verstreut hat, damit Lily als Konkurrenz verschwindet. Mach dich also drauf gefasst, dass du ihr Schlafzimmer sehen wirst.“ Mit jedem Wort spürte Ronald ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut. Den Gedanken daran, wie weit er gehen würde müssen, hatte er bisher erfolgreich verdrängt, aber Grelle hatte ihn laut ausgesprochen und er hatte recht. Carry würde sich niemals nur mit einem Essen zufrieden geben. Sie würde ihn im Bett haben wollen und mit allem was dazu gehörte. „Sei froh, dass McNeil nicht hier ist. Sonst würdest du richtig Tief in der Patsche sitzen.“ Grelle erhob sich vom Stuhl. „Ich weiß und das ist das Einzige gute an der Entführung.“ „Wollen wir deinen Auftrag ein klein wenig Interessanter gestalten? Wie wäre es mit einer Wette?“ „Eine Wette?“ „Ja, genau. Wenn du versagst, gehst du nächsten Montag mit mir Shoppen und kaufst mir, was ich will.“ „Wenn ich gewinne?“ „Dann erzähle ich dir eine geheime Story über mich.“ „Einverstanden.“ Ronald schlug mit Grelle ein. „Die Wette gilt.“ Grelle grinste siegreich und vollführte zur Tür einen Freudentanz. „Jemand, der mit mir einkaufen geht, alles bezahlt und trägt!“ Ronald konnte ihn noch freudig Seufzen hören, als Grelle sein Büro verlassen hatte und durch die Society ging. Er schüttelte den Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es würde nicht mehr lange bis zur Verabredung dauern und er hatte noch keine Idee, wie er Carry rumkriegen sollte, ohne sich übergeben zu müssen. Wie hatte er sie nur mal schön finden können? Sie hatte zu viel Make up auf dem Gesicht. Ihr Parfüm war viel zu aufdringlich und verursachte bei ihm Kopfschmerzen. Ihr Verhalten und ihre ganze Art waren ihm viel zu künstlich. Er schloss entspannt die Augen und nur wenige Sekunden später ging seine Bürotür erneut auf. „Ronald Knox, was muss sich da hören?“ Ronald verzog das Gesicht bei der lauten Stimme. „Sutcliffe hat Slingby in der Mensa erzählt, dass du auf McNeil stehst und mich nur rumkriegen willst, um ihre Haut zu retten! Er hat ebenfalls erzählt, dass ihr eine Wette darüber am Laufen habt!“ Ronald glaubte, dass jeden Moment sein Trommelfell platzen würde bei dem gekreische. Er seufzte ergeben und versuchte ruhig zu bleiben. Später würde er mit Grelle ein ernstes Wörtchen reden müssen. Ronald hatte zwar nichts dagegen, dass seine engsten Freunde und Kollegen davon wussten, aber Sutcliffe hätte besser aufpassen sollen. „Glaubst du wirklich das, was Sutcliffe erzählt?“, säuselte er. „Carry, Liebes, ich würde dich doch nicht um einen gemeinsamen Abend bitte, auf den du schon so lange träumst, wenn ich es nicht ernst meinen würde.“ „Warum erzählt er das denn?“ „Ich kann wohl kaum kontrollieren, was Kollegen sich über mich zusammen reimen, oder?“ „Du liebst sie also nicht und es bleibt bei einem Gerücht? Du gehst also nicht mit mir aus wegen dem Lebensbuch?“ „Natürlich nicht, Liebes. Warum sollte ich auf so eine Schnalle abfahren, wenn es dich hier gibt? Du bist die heißeste Frau der ganzen Society.“ Er ging um den Schreibtisch herum und setzte seinen ganz speziellen Blick ein, mit dem er bisher jede Frau rumgekriegt hatte. Er umfasste ihre Hüfte und zog Carry an sich. „Ich steh doch nicht auf ein kleines Kind. Das weißt du doch. Für mich gibt es nur dich.“ Carry kicherte und ihre Wangen färbten sich rot. Ronald hatte nur Mühe sich selbst den Mund nicht mit Seife auszuspülen und zu übergeben. Alles an ihm war angespannt und wollte sich von ihr lösen, doch wenn er Erfolg haben wollte, blieb ihm keine andere Wahl. „Dann werde ich eben allen sagen, dass er Mist erzählt und wir jetzt zusammen sind.“ „Nein, tu das nicht.“ „Warum nicht?“, fragte sie skeptisch. „Naja, stell dir doch mal vor, wie es wäre, wenn McNeil wieder kommt und sie hört dann das Gerücht, ich würde sie lieben. So ein kleines Ding, wie sie ist, fällt sie sicherlich drauf rein und malt dann kleine Herzchen in ihr Schulheft. Vielleicht glaubt sie dann selbst auch noch, sie sei in mich verliebt. Stell dir vor, wie sie mich dann darauf anspricht und einen Liebesbrief schreibt und erfährt, dass ich mit dir zusammen bin. Wäre das nicht klasse? Es wäre der perfekte Gag.“ Innerlich verfluchte Ronald sein schlechtes Gewissen und hoffte, dass Lily das niemals hören würde und wenn doch, dass sie ihm verzeihen möge. „Oh Ronald Knox, ich liebe dich. Du bist so ein böser Teufel.“, kicherte Carry in seinem Arm. „Du meinst wohl, ich bin ein böser Todesgott?“ Er stieß ein Lachen aus. „Was sagst du also?“ „Du hast Recht. Es ist die perfekte Demütigung für dieses kleine Luder!“ „Eben. Du brauchst also nur den Mund zu halten. Dann wird es schon funktionieren.“ Er stupste ihre Nase an und lächelte sie verliebt an. Letzteres bekam er nur auf die Reihe, weil er in diesem Moment daran dachte, dass Lily vor ihm stehen würde. Ronald verfluchte Carry gleichzeitig für die Beleidigung. „Aber Ronie, denk bloß nicht darüber nach, so was jemals mit mir zu machen. Ich falle darauf nicht rein.“ „Da wäre ich mir nicht so sicher…“, murmelte er leise zwischen zusammen gepressten Zähnen. „Was hast du gesagt?“ „Ich sagte, natürlich nicht. Dafür bist du viel zu schlau.“ Er fühlte sich wie ein gehorsamer Hund an der Leine. „Ach, Ronie…“ Jedes Mal, wenn sie seinen Namen so verschandelte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. „Ich freue mich auf später. Meine Kleidung wird dir sicherlich gefallen. Schwarze Strumpfhose, kurzer Rock, Strumpfhalter…“ „Klingt gut“, nuschelte er und ließ sie los. Ihr Parfüm vernebelte seinen Kopf und verursachte ein Schwindelgefühl. „Ist es auch. Mein Bett ist frisch bezogen und die Kissen gut aufgeschüttelt.“ Sie warf ihm einen Kuss zu und verschwand aus seinem Büro. Ronald seufzte erleichtert auf und schüttelte sich angewidert. Die Vorstellung mit ihr im Bett zu landen, machte das Gefühl nicht besser, dass er sich wie eine männliche Prostituierte fühlte. Aber das war das gute an Carry. Gab man ihr, was sie wollte, gab sie einem im Gegenzug, was man wollte. Sie war zu leicht zu manipulieren. Wie er es versprochen hatte, stand Ronald pünktlich am Abend vor Carrys Zimmertür. Er hatte sich frisch geduscht und saubere Kleidung angezogen. Sein Plan war, Carry abzuholen, mit ihr in eines der Restaurants in die Stadt zu fahren und dann endlich in ihr Zimmer zu kommen und dort das Buch zu suchen. Mehr wie ein paar Küsse wollte er dabei nicht opfern. Immerhin würde bei diesem Essen genug Geld drauf gehen, was ihn die Buchhaltung nicht ersetzen würde. Ronald fuhr sich durch die Haare und richtete ein letztes Mal seine Krawatte. Er war nervös und dachte dabei an die Wette mit seinem Kollegen. Gleichzeitig meldete sich sein Gewissen und flüsterte ihm zu, wie falsch das alles war und dass er gar nicht hier sein sollte. Er sollte zurück auf sein Zimmer gehen und sich mit seinen Kollegen besprechen, wie die Suche weiter verlaufen würde. Aber in diesem Fall musste er unvernünftig sein und sich mit der miesesten Frau, der ganzen Society abgeben. Als Carry die Tür öffnete, lächelte sie ihn freudig an und griff nach seiner Hand. Ihre Haut war warm und weich. „Ich war mir nach unserem Gespräch nicht sicher, ob du kommen würdest.“ Ihre Worte klangen bedürftig und sehnsüchtig. Fast tat sie ihm leid, aber nur fast, denn sofort kam ihm wieder in den Sinn, was sie alles getan hatte. Carry hatte keine Gelegenheit ausgelassen, Lily dauerhaften emotionalen Schaden zuzufügen. Sie hatte versucht, ihre berufliche Kariere zu zerstören und dafür war er hier. Aus keinem anderen Grund. Er wollte, dass Carry ihre gerechte Strafe bekam. „Ich hatte es dir doch versprochen. Warum dieser Selbstzweifel? Das passt nicht zu dir.“, erwiderte er und betrat ihr Zimmer. Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen kurzen Kuss auf Wange. Doch Carry gab sich nicht damit zufrieden. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Er küsste zurück, erwiderte aber nichts. Er legte einen Arm um ihre Hüfte und ging mit ihr zum Sofa. Vielleicht schaffte er es sogar das Buch zu kriegen, ohne sein halbes Monatsgehalt für ein Essen raus zu werfen. Ronald hoffte, dass sie eine Anspannung nicht spüren würde. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir sagen soll, dass ich froh bin, dass dieses kleinen Ding endlich weg ist“, sagte sie. „Endlich gehörst du nur mir und ich muss dich nicht mehr mit jemanden teilen, der wie ein Prachtexemplar eines hässlichen Entleins aussieht.“ „Genieße es.“ „Das im Gericht war echt schrecklich“, jammerte sie und sah ihn dabei mit nassen Augen an. „Als dieser Shinigami dich mit seiner Sense getroffen hat, dachte ich, du würdest sterben! Wie geht es denn deiner Wunde?“ Ihre Hand wanderte zu seiner Brust und ruhte genau auf seinem schnell schlagenden Herzen und am Ende der Wunde, die ihm die Klinge der Death Scythe zugefügt hatte. „Die Wunde heilt gut. Es wird nur eine Narbe zurück bleiben.“ Carrys Augen weiteten sich. „Wie konnte dieser Kerl nur? Das alles nur wegen diesem Flittchen!“ „Berufsrisiko“, erwiderte er und wandte den Blick dabei ab. Er wollte nicht, dass sie sah, dass er diese Narbe mit Stolz trug. „Ich hätte versuchen sollen, dich da raus zu halten und mich mehr auf sie konzentrieren sollen. Das tut mir leid.“ „Was soll das heißen?“, fragte er skeptisch und hob fragend eine Augenbraue. „Oh nichts weiter…“, sagte sie mit einem breiten Lächeln und winkte ab. Sie nahm seine Hand und führte sie zu ihrer Taille. Er nahm sie weg. „Ich wüsste es aber gerne.“ Carry drückte sich enger an ihn heran und überschlug die Beine. Ihr schwarzer Rock, der schon sehr kurz war, rutschte noch ein Stück höher und entblößte dabei die schwarze Spitze ihrer Nylonstrümpfe. Sie fuhr mit der Hand über seinen Bauch. Wollte sie ihn jetzt schon auf dem Sofa flach legen? Ronald rückte ein wenig von ihr ab, doch sie folgte ihm. „Was hast du denn?“, fragte sie mit rauer Stimme. Jeder Zentimeter, den sie näher rückte, nahm ihm die Luft zum atmen und am liebsten wäre er aus dem Raum geflüchtet. „Nichts…“ Suchend sah er sich im Raum nach dem Buch um. Er fand nur eine Zeitung vom heutigen Tage. Die Regale waren leer. Es war kein einziges Buch im Raum. Ronald biss sich auf die Lippen und überlegte, wie er Carry aus dem Raum kriegen konnte, um das Buch in den Schubladen zu suchen und in den anderen Räumen. Das Schlimmste wäre, wenn sie es für diesen Abend einen ihrer Monde-Mafia-Tanten übergeben hätte. Carry zog an seiner Krawatte und rutschte auf seinen Schoß. Sie schloss die Augen und küsste ihn. Ronald verdrehte die Augen und unterdrückte ein würgendes Geräusch. Er ließ sich zu ihr ziehen und legte einen Arm um ihre Hüfte. Die andere Hand ließ er über ihr Bein gleiten. Die Strümpfe fühlten sich glatt, aber auch ein wenig rau durch das Netzmuster an. Mit den Fingern konnte er das fein gewebte Spitzenmuster fühlen und das Band von dem Strumpfhalter. Ronald musste sich die ganze Zeit zusammen reißen, um sie nicht von sich zu stoßen und sich angewidert über den Mund zu fahren. Sie zog ihn näher zu sich und spielte mit seiner Zunge. Während Carry im Kuss vertieft war und leise seufzte, suchte er mit den Augen den Raum weiter ab. Nur kurz schloss er die Augen und küsste sie zurück, um den Schein zu wahren. Noch bevor er sich in dem Kuss gedanklich verlor, setzte sein schlechtes Gewissen ein und ließ ihn an Lily denken. Das war seine einzige Rettung. Carry küsste ihn immer beharrlicher. Ihm blieb keine Wahl. Er musste mehr Körpereinsatz bringen, wenn sie ihm die Nummer abkaufen wollte. Er strich ihr vorsichtig über den Hals und berührte dabei sanft ihr Ohr. Zärtlich küsste er ihre Wange. So gut er auch versuchte das Gefühl zu verdrängen, er kam sich mit jeder Berührung schmutziger vor. Carry öffnete den Knoten seiner Krawatte und erlöste ihn von dem Stoff. Das Gefühl nicht atmen zu können wurde noch schlimmer, auch wenn der schwarze Strick fort war. Sie drückte ihn auf das Sofa und beugte sich über ihn. „Wollten wir nicht zusammen Essen gehen?“, fragte er vorsichtig, während sie ihm die Weste öffnete und sich dann den Knöpfen seines Hemdes widmete. „Du bringst mein Blut in Wallung, Ronald Knox“, flüsterte sie und strich über den Verband, der seine Wunde verdeckte. „Das ist schon lange her, seitdem mir das passiert ist.“ „Carry…das…das ist verrückt…“ „So verrückt, wie meine Gerüchte, um diese Kleine aus dem Weg zu schaffen?“, flüsterte sie. „Deine?“ „Ja…was denkst du denn?“ Ronald schüttelte den Kopf und unterdrückte den Drang, sie von sich zu stoßen und anzuschreien. Ihm fiel auch keine passende Antwort ein, weshalb er sie nur zu sich zog und küsste. Diesmal war es ein tieferer Kuss, bei dem seine Zunge spielerisch die ihre berührte. Er hatte ihr ein Geständnis entlocken können. Alle Gerüchte stammten von ihr. Aber er brauchte Beweise. Er brauchte ihr Lebensbuch. „Ich habe dich so vermisst, während du weg warst…“, seufzte sie und strich seine Brust mit dem Finger entlang. „Ich dich auch…es war so einsam ohne dich…“, erwiderte er und ließ den Blick kurz zur Seite schweifen. Ronald musste sich kurz fassen, um sie nicht Lily zu nennen. Seine Augen erfassten ein ledergebundenes Buch mit Carry Montroe auf dem Buchrücken. Da lag es! Er hatte ihr Lebensbuch gefunden. Sie hatte es unter den Tisch gelegt gehabt. Jetzt musste er sie nur genug ablenken, um daran zu kommen. In seinem Kopf entstand ein waghalsiger Plan. „Sag mir, was du willst, Carry“, flüsterte er, „Ich gebe mich dir hin, mit Körper und Seele.“ Sein nächster Kuss war zarter und es kostete ihn alle Mühe sich vorzustellen, sie wäre Lily. „Ich will dich, Ronie.“ Ronald lächelte und richtete sich etwas auf. Die Haut auf der Brust spannte ein wenig dabei und sein Rücken zitterte. Er zog schnell sein Jackett aus und legte es auf den Boden ab, während er sie in einen Kuss verwickelte. Carry rutschte auf seinen Schoß und keuchte leise. „Ich glaube, wir sollten ins Schlafzimmer gehen. Was sagst du dazu?“ Ronald nickte vorsichtig und sie stand von seinem Schoß auf. Als sie seine Hand nahm, konnte er fühlen, dass ihre warm war und feucht. War Carry etwa nervös? Weshalb war ihre Handfläche feucht oder war es doch seine? Unauffällig wischte er seine Hände an der Hose ab, als sie ihn los ließ. Er war noch nie in ihrem Schlafzimmer gewesen und er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie es aussehen würde. Der Geruch von ihrem Parfüm war hier noch stärker zu riechen und er musste ein Niesen unterdrücken. Das Bett war mit einer blumigen Bettwäsche bezogen und mehrere Kissen in unterschiedlicher Größe lagen darauf. Er kam sich vor, wie im Zimmer einer Prinzessin. Es war ganz anders als Lilys. Alles war ordentlich und auf dem Nachtschrank lag ein kleiner Spiegel und ein paar Cremes. Ronald hatte kaum Zeit sich alles anzusehen, da zog Carry ihn am Handgelenk auf das Bett. Sie rutschte wieder auf seinen Schoß und zog sich das fliederfarbene Halstuch aus. Der Ausschnitt ihrer Bluse war viel zu tief und sie zog auch diese aus. Ronalds Gesicht rötete sich. Er blickte ihr unverwandt in die Augen und versuchte sich nicht ablenken zu lassen. Ihre Hand strich seinem Bein entlang und glitt immer weiter in Richtung Gefahrenzone. Ronald schluckte schwer und schloss die Augen, was Carry als wohlwollen seinerseits verstand. Innerlich betete er um Erlösung. Sie öffnete seinen Gürtel und knöpfte den Knopf auf. Er hörte das Surren des Reißverschlusses. Ihr warmer Atem streifte sein Ohr. „Das wird dir gefallen, mein Liebster.“ Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Es gehörte nicht zu den angenehmen Gefühlen, sondern zu denen, bei dem man sich stundenlang unter der Stunde stellen möchte, um es abzuwaschen. Carry küsste seinen Hals und ihr Mund glitt über seine Brust. „Du bist viel zu verkrampft…entspann dich…“ Ronald seufzte und er konnte nicht verhindern, dass sie genau wusste, wie sie bei ihm körperliche Reaktionen auszulösen hatte. Er zwang sich zur Konzentration und starrte auf den Bettpfosten. Mit den Augen fuhr er das Muster nach. Carry fuhr mit der Zunge über seine Brustmuskeln, während ihre Hand über seine Wade fuhr. Die Holzmaserung erinnerte ihn an ein schiefes Kreuz. Er tat das für Lily und durfte jetzt nicht nachgeben. Sein Körper gehorchte ihm und nicht umgekehrt. Er war der Herr über diesen Körper und diese Frau würde bei ihm keine lustvollen Gefühle auslösen. Ihr Mund hatte seinen Bachnabel bereits hinter sich gelassen und ihre Finger berührten den Saum seiner Unterhose. Ein Lautes Klopfen ließ Carry hochfahren und auch Ronald zuckte zusammen. Sein Herz klopfte laut und schwer in seiner Brust. „Erwartest du jemanden?“, fragte er mit schwerem Atem. War das Eric, der ihn herausholen wollte? Oder war es Grelle, der sie unterbrach, damit er seine Wette nicht gewinnen konnte? Carry sah ihn misstrauisch an. „Nein, ich erwarte niemanden. Meine Freundinnen wissen, dass ich heute Abend nicht gestört werden will.“ Ronald sah sie fragend an. Es war erneut ein Klopfen zu hören. Diesmal lauter und ungeduldiger. Für einen Augenblick war es still und im nächsten Moment war ein lautes Krachen zu hören. Jemand stampfte über den Boden auf das Schlafzimmer zu und riss die Tür auf. „Was zum Henker tun Sie hier? Was denken Sie sich dabei?“ Carry gab einen erschreckten Aufschrei von sich und sprang von seinem Schoß herunter. Sie presste die Bluse an ihre Brust „Was suchst du in meinem Zimmer, du kleiner Bastard?“, fauchte Carry. Nakatsu antworte nicht auf ihre Frage, sondern ging durch das Zimmer auf Ronald zu. „Shinamoto…was suchen Sie hier?“, fragte er verwirrt und konnte nicht verhindern, dass er rot wurde. Nakatsu funkelte ihn wütend an und holte zum Schlag aus. Einen Moment später spürte Ronald einen kräftigen Schlag auf der Wange. „Was fällt dir ein, so mit einem Mentor umzuspringen?“, fuhr Carry ihn an und sprang vom Bett auf. „Das ist kein Mentor“, antwortete er kalt, „Nur ein Scheißkerl.“ „Shinamoto…“, versuchte Ronald anzusetzen und richtete sich im Bett auf. Schnell knöpfte er seine Hose zu. „Schämen Sie sich nicht?“, unterbrach ihn Nakatsu. „Was denken Sie sich nur dabei! Ich hatte ernsthaft geglaubt, Carry würde lügen…Aber als Sutcliffe es in der Mensa erzählt hat…ich dachte, ich höre nicht recht…Wie gut, dass ich nachgesehen habe. Ich weiß, wieso ich Ihnen nicht geglaubt habe!“ Ronald sah den Schüler vor sich verwirrt an. „Nicht geglaubt? Wie…Beruhigen Sie sich erst einmal und lassen Sie uns das draußen klären.“ Er stand vom Bett auf und schloss schnell ein paar Knöpfe seines Hemdes. „Ronie, wo willst du hin?“, fragte Carry und rutschte zum Bettende. Sie hielt seine Hand fest. „Ich bin gleich wieder da, Liebes“, flüsterte er ihr zu und küsste ihren Handrücken. Er zwinkerte ihr verführerisch zu und wandte sich Nakatsu zu. Nakatsu holte bereits Luft für die nächste Schimpftirade, aber Ronald zog ihn am Kragen mit aus dem Schlafzimmer. Er schloss die Tür hinter ihnen und ging schnell zum Sofa, ums eine Krawatte und das Jackett zu holen. „Mitkommen“, sagte Ronald nur und wies Nakatsu an auf den Flur zu gehen. Leise schloss er die Wohnungstür und ging zum Treppenhaus des Wohngebäudes. Er drückte das Jackett an sich. „Was ist hier los?!“, fuhr Nakatsu fort. „Sie lügen selbst Lily an! Kommen Sie sich nicht schäbig vor? Von wegen Sie haben Ihre Lektion gelernt! Von wegen Sie fassen sie nicht mal mehr mit einer Kneifzange an!“ Ronald seufzte genervt und drückte Nakatsu gegen die Wand des Treppenhauses. Er hatte ein Hand auf seinen Mund gelegt. „Seien Sie endlich still!“, zische Ronald wütend. „Wollen Sie Carry darauf noch aufmerksam machen oder einen ihrer Tanten? Es ist alles ganz anders als Sie denken! Also beruhigen Sie sich!“ Ronald sah sich nach allen Seiten aufmerksam um. „Ich lasse Sie jetzt los und dann reden wir leise weiter.“ Nakatsu nickte und er löste langsam seine Hand von dessen Mund. „Deswegen war ich bei Carry im Bett…“ Er hielt sein Jackett hoch und zog den Stoff von dem Buch. „Das ist…“ „Carrys Lebensbuch“, beendete er den Satz. „Sie haben es Ihr gestohlen?“ Ronald nickte und ging die Treppe herunter. „Ich muss es jetzt schnell zu Spears bringen, ehe Carry dahinter kommt, dass das alles nur eine Farce war.“ „Dann ging es gar nicht von Ihnen aus?“ „Natürlich nicht“, gab Ronald zurück und verzog dabei das Gesicht. „Das war alles nur, damit ich an das Buch komme. Sie waren sogar meine Rettung. Ich will mir nicht vorstellen, wie weit ich hätte gehen müssen ohne Ihr Timing.“ Er schauderte und lief schneller. Das Buch hielt er fest in den Händen. „Dann war das ein Auftrag von Spears?“ „Ganz genau. Gehen Sie jetzt also besser zurück in Ihr Zimmer und verhalten Sie sich ruhig. Es kann sein, dass Carry schneller als geplant dahinter kommt und Terror macht. Zur Not gehen Sie zu Eric. Er wird Ihnen sonst gerne behilflich sein. Ich muss mich jetzt beeilen.“ Mit diesen Worten rannte er die Etagen hinunter und über den Gehweg zur Society. Er wusste, wie er aussah. Die Haare zerzaust, die Kleidung unordentlich und sicherlich hatte ihr Lippenstift auch seine Spuren hinterlassen, aber das war ihm egal. Die Mission war erfüllt. Ronald beeilte sich die Treppen nach oben zu gelangen, wo Spears Büro lag. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten waren bereits um und er konnte sich gut vorstellen, dass Carry ungeduldig wurde. Er musste sich beeilen, ehe sie hinter all dem kam und ihn aufsuchen würde. Das Theater wollte er sich nicht ausmalen. Hoffentlich ging es Shinamoto gut und er war so klug gewesen, sich Hilfe bei Eric zu suchen? Wie hatte es nur soweit kommen können, dass seine Freunde und er auf Carrys Abschussliste standen? Als er vor Spears Büro stand, machte er sich nicht die Mühe zu klopfen, sondern öffnete einfach die Tür und ging hinein. Sein Atem ging schnell und seine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. „Knox“, war die knappe Begrüßung von seinem Vorgesetzten, „Was wollen Sie?“ Ronald ging auf den Schreibtisch zu und hatte Mühe seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Er räusperte sich und legte William das Lebensbuch auf den Tisch. „Ich habe es.“ William nahm es in die Hand und musterte es. „Ausgezeichnet. Sehr gute Arbeit.“ Die kühlen Augen seines Chefs fielen über seine unordentliche Kleidung. „Möchte ich wissen, wie Sie das geschafft haben?“ Ronald schüttelte den Kopf. „Ich schätze aber, dass es mit Körpereinsatz war?“ William stand auf und ging zu dem kleinen Tablett, was auf einem Side Board stand. Er goss etwas Wasser in ein Glas und reichte es Ronald. Dankend nahm er es an und trank es in einem Zuge leer. „Sie haben am Hals und am Mund Lippenstift“, meinte Spears auf seinen fragenden Blick hin. Ronald wischte sich über den Hals und Mund. Sein Handrücken hatte eine leichte rötliche Färbung angenommen und er fluchte innerlich. Die Dusche würde für einige Zeit nachher in Benutzung sein, das konnte er schon jetzt sagen. „Mr. Spears…“, fing Ronald vorsichtig an, „Da wir jetzt Carrys Lebensbuch haben, ist doch McNeils Unschuld klar, oder? Und auch meine?“ „Davon können wir ausgehen.“ „Carry hatte mir gegenüber auch gestanden, dass es ihre Gerüchte waren“, sagte er schnell und ignorierte sein schnell schlagendes Herz. William nickte. „Sehr gut. Dann wird das hoffentlich reichen, um vor Gericht stand zu halten.“ „Mr. Spears…wäre…wäre es vielleicht dann möglich, dass…“ „Dass Sie wieder der Mentor von McNeil werden?“, fragte William und setzt sich hinter seinen Schreibtisch. „Nun, das kommt ganz darauf an, ob sie sie finden. Morgen stelle ich einen Suchtrupp zusammen. Solange Sie, Sutcliffe, Slingby und Humphries verletzt sind, werde ich andere Leute beauftragen müssen.“ „Mr. Spears…“ „Sie wollen, dass ich Ihnen den Job jetzt schon wieder gebe, oder?“ Ronald nickte zaghaft und sah auf den Boden. „Sie sind ziemlich ungeduldig. Gehen Sie in Ihr Büro und dann reden wir darüber weiter, sobald McNeil gefunden wurde.“ „In mein Büro? Ich versteh nicht…“ Verwirrt sah er William an und richtete seine Brille. „Ich dachte, ich kann jetzt zurück ins Wohnheim gehen und mich duschen, etwas schlafen und dann morgen bei der Suche helfen?“ William schloss das Lebensbuch in seinen Schreibtisch ein. Bei den Worten blickte er erschrocken auf. „Was?“ „Mein Zimmer, mein Bett.“ „Das habe ich schon verstanden, Mr. Knox. Aber es scheint Ihnen wohl entgangen zu sein, was für ein Charakter Miss Montroe hat. Sie wird Sie suchen? Ich denke, Sie haben sich an der brenzligsten Stelle aus dem Staub gemacht?“ „Naja, ich könnte auch zu ihr gehen und sagen, ich zu Ihnen musste und jetzt einfach nur meine Ruhe möchte. Dann würde Carry nicht ganz so ausflippen.“ „Das ist das Verrückteste, was ich bisher gehört habe und Mr. Sutcliffe gibt ja schon einiges von sich.“ „Aber wenn ich gar nicht zurück gehe, wer weiß, was sie dann anstellt! Wenn sie aber weiß, dass ich da bin, wird sie die Füße still halten und vielleicht erst in ein paar Stunden merken, dass das Lebensbuch weg ist!“ „Mr. Knox…“ Er schaute ihn für einen Augenblick ernst an, dann schüttelte er gedankenverloren den Kopf. „Sie gehen da nicht alleine rüber.“ „Aber…“ „Wenn Sie nicht ins Wohnheim zurückkommen, bin ich derjenige, der der Personal- und Verwaltungsabteilung erklären muss, wie ein Mitarbeiter zwischen Society und Wohnheim verschollen konnte. Die Unmengen Papierkram will ich mir nicht antun und erst recht nicht Rechenschaftsbericht!“ Ronald verzog ein wenig das Gesicht. Es hätte ihn schwer gewundert, wenn William sich wirkliche sorgen um ihn gemacht hätte. „Aber was ist mit der Suche nach McNeil? Ich kann doch nicht tatenlos hier rumsitzen! Vor allem dann nicht, wenn ich wieder ihr Mentor sein will!“ „Mr. Knox, ich habe nicht gesagt, dass ich Ihnen den Posten zurück gebe. Nicht nach allem, was passiert ist. Ich überlege sogar, diese Arbeit bei McNeil selbst zu übernehmen oder es bei Mr. Sutcliffe zu belassen. Was Sie jedoch betrifft…Sie könnten von Mr. Shinamoto der Mentor werden. Seiner wird alt und wird uns bald verlassen. Sie sind im selben Alter. Es dürfte doch keine Probleme damit geben.“ „Keine Chance!“, erwiderte Ronald. Allein der Gedanke, dass er Shinamoto unterrichten würde müssen, bereitete ihm Entsetzten. „Mr. Knox, Sie haben es vielleicht immer noch nicht begriffen. Sie und McNeil stecken in ernsten Schwierigkeiten! Miss Montroe ist es bitter ernst, McNeil aus dieser Society zu kriegen und ihr ist es egal, ob tot oder lebendig. Diese Gerüchte waren nur der Anfang. Das war für sie nur eine Aufwärmübung. Ich kann sie nicht einfach so wieder Mentor von McNeil sein lassen. Warum ist es Ihnen auch so wichtig, bei wem? Seien Sie froh, dass Sie nach der ganzen Sache überhaupt noch einen Schüler kriegen.“ „Mir ist die Sache wichtig, weil…“ Noch ehe er den Satz zu Ende sprechen konnte, wurde die Tür aufgestoßen. Eric betrat das Büro von William und er hielt Carry mit beiden Armen fest. Sie kreischte und zeterte. Ihre Bluse hing mehr schlecht als Recht an ihr und ihre ordentlichen Haare waren zerzaust. „Mr. Spears, ich hab Carry dabei erwischt, wie sie in mein Büro einbrechen wollte.“ Eric hatte Mühe sie fest zu halten, das konnte Ronald deutlich sehen. Sie wandte sich unter seinem Griff und versuchte ihn mit den Nägeln zu erwischen. Erics Arm war voller Kratzspuren, als hätte er sich mit einer wilden Katze angelegt. An einer Stelle war deutlich zu erkennen, dass sie ihn gebissen hatte. „Wirklich?“, fragte Spears und sah Carry aus kalten Augen an. „Lasst mich los! Ich habe nichts getan!“, keifte sie. „Ich will doch nur mein Lebensbuch zurück, was dieser elende Arsch mir gestohlen hat!“ „Seien Sie ruhig, Miss Montroe und benehmen Sie sich!“, fuhr William sie an und Carry hielt still. „Mr. Knox hat in meinem Auftrag gehandelt.“ „Was?“ Ihre Augen richteten sich auf Ronald und sie funkelte ihn hasserfüllt an. „Also war alles gelogen? Du hast mich benutzt und angelogen! Du hast mir nur Lügen erzählt! Von wegen McNeil bedeutet dir nichts!“ Ronald trat näher an sie heran. „Wie du mir, so ich dir. Denkst du ich lasse deine Gemeinheiten auf mir sitzen?“ Carry gab einen abfälligen Laut von sich. „Du meinst wohl eher auf dein geliebtes Schätzchen von Schülerin?“ „Was soll das bedeuten?“, fragte William. „Gar nichts…“, nuschelte Ronald schnell. „Gar nichts? Das sehe ich ganz anders!“, kreischte sie. „Meine Gerüchte sind sicherlich nicht nur wahllos daher gesagt, mein Lieber! Ich bin mir so ziemlich sicher, dass du auf McNeil stehst, aber wenn ich dich nicht kriege, wird es auch kein anderer!“ „Ist ja hoch interessant…“, hörte Ronald Spears sagen. „Ich habe in deinem Buch gelesen als du weg warst. Ich weiß es. Ich weiß alles über dich!“ „Ach und das wäre?“, fragte Ronald und versuchte seine Angst zu überspielen. „Etwa, dass ich mir Sorgen um McNeil gemacht habe? Ich denke, das ist kein Geheimnis und auch nicht weiter schlimm.“ „Davon spreche ich auch nicht…“ „Mr.Spears, ich denke, wir sollten Carry unter Arrest stellen. Was denken Sie?“, mischte sich Eric ein und sah Ronald warnend an. William nickte. „Eine gute Idee. Bringen Sie sie auf ihr Zimmer und sorgen Sie dafür, dass sie dort bleibt bis die Untersuchungen abgeschlossen sind.“ Spears wandte sich kurz an Ronald zu. „Sie können dann auch gehen, Mr. Knox.“ „Ach ehe ich es vergessen…“, sagte Eric und zog etwas aus seinem Jackett heraus. Er überreichte es Ronald. „Sie muss wohl auch in deinem Büro eingebrochen sein und dein Buch genommen haben. Sie hatte es bei sich als sie bei mir eingebrochen war.“ „Bewahren Sie es gut auf“, kam es nur kühl von William. Er nickte und drückte das Buch an sich, als wäre es der größte Schatz der Welt. Carry fing an zu lachen und Eric musste sie festhalten, damit sie nicht zu Boden fiel. „Ich liebe sie…“, lachte sie lautstark, „Ich wette, sie vögelt schon längst diesen Bestatter!“ Ronald zuckte zusammen. Carry hatte aus seinem Lebensbuch zitiert. „Woher weißt du, dass er Bestatter ist?“, fragte Eric wütend und nahm ihm die Frage ab. „Ich weiß es eben. Aber ich habe schon zu viel gesagt.“ Stur sah sie jetzt zu Boden und allen war bewusst, dass sie nichts mehr aus ihr heraus kriegen würden. Ronald verabschiedete sich und beschloss einen Abstecher zu seinem Büro zu machen. Der Türgriff fühlte sich locker in seiner Hand an und es war schlimmer als jeder Zettel oder Gerücht. Das Büro war ein Trümmerhaufen. Es sah aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Was nicht zerstört worden war, war auf einem Haufen geworfen. Die Akten von seinem Schreibtisch lagen in Papierfetzen auf dem Boden zerstreut. Der Tisch von Lily war mit Kratzern übersäht und in Großbuchstaben war dort „Schlampe“ eingeritzt. Die Bücher waren aus dem Regal gerissen worden. Sie lagen unordentlich auf einen Haufen. Ein paar Seiten lagen zerstreut und rausgerissen über dem Boden. Eine Uniform, die er zur Reserve hier hängen gehabt hatte, war in Stofffetzen gerissen und lag auf dem Tisch. Langsam stieg er über das Chaos und ging um den Schreibtisch herum. Seine Schubladen waren aufgerissen worden und er sah kleine Holzsplitter auf dem Boden liegen. Das Schloss war aufgebrochen worden von der Schublade, in der sein Lebensbuch gelegen hatte. Ronald seufzte, aber es ließ sich nicht mehr ändern. William würde nur ziemlich sauer werden über die zerstörten Akten und das Geld für eine neue Uniform würde er ihm vom Gehalt abziehen lassen. So viel zum Thema, er wäre hier sicher vor Carry. Ronald war froh, dass er zu diesem Zeitpunkt bei William war. Er verließ das Chaos und machte sich nicht die Mühe die Tür hinter sich zu schließen. Mit schnellen Schritten ging er zurück ins Wohngebäude. Sein Herz klopfte schnell vor Angst, dass Carry in sein Zimmer eingebrochen war und auch dort so eine Unordnung veranstaltet hatte. Mit dem Fahrstuhl fuhr er schnell nach oben und sah sich in dem Gang um. Alle Türen waren verschlossen und es wirkte friedlich. Vorsichtig ging er zu seiner Zimmertür und berührte den Knauf. Alles war in Ordnung. Die Klinke saß fest, das Schloss war heile und die Tür immer noch eingerastet. Ronald zog seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss vorsichtig auf. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihm. Alles stand noch genauso da, wie er es verlassen hatte. Über dem Sofa hin eine getragene Uniform und auf dem Tisch stand ein halb leer getrunkenes Glas mit Wasser. Über der Lehne des Schreibtischstuhls hing sein feuchtes Handtuch vom Duschen. Er schloss die Tür und lehnte sich erleichtert dagegen. Er stieß einen weiteren Seufzer aus. Diesmal klang er erschöpfter. „Was für ein Tag…“, murmelte er und ließ sich zu Boden sinken. Ronald drückte sein Lebensbuch fest an sich. Carrys Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte es gelesen. Sie hatte die Stelle gelesen, als er zu dem Mönch gesagt hatte, dass er sie liebte. Ronald drückte seine Stirn gegen den Einband und konnte den Geruch von Tinte, Papier und dem Ledereinband riechen. „Wo bist du nur, Lily?“, murmelte er und schloss die Augen. Er kam sich wie ein Versager vor, denn er hatte sie nicht beschützen können. Kapitel 27: Erinnerungen ------------------------ In dem kleinen Zimmer aus Backstein war es dunkel und kalt. Es gab keine Kerze, Lampe oder andere Lichtquelle. Nur durch einen schmalen Spalt, der als Fenster ganz oben an der Wand diente, fiel etwas Licht. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Selbst wenn man es schaffte zu dem Spalt zu gelangen, waren Gitterstäbe davor. Der kleine Raum war wie eine Gefängniszelle. Die Tür bestand aus schwerem Eisen und es gab nur eine kleine Klappe, durch die ein Tablett mit ein wenig Essen geschoben wurde. Es gab noch eine Sichtluke an der Tür. An den Wänden waren Kratzspuren und Blutflecke zu sehen. Spinnweben hingen in den Ecken und Ritzen des Raumes. In jedem Netz gab es mindestens eine Spinne und die meisten von ihnen waren nicht besonders klein. Mehrere Fliegen surrten herum und der Geruch von Urin und anderen Fäkalien lag in der Luft. Altes Stroh, was als Schlafunterlage dienen sollte, stapelte sich in den Ecken und stank vor sich hin. Es gab weder einen Stuhl, Tisch noch eine Pritsche. In einer der Ecken kauerte ein kleiner Junge von etwa acht Jahren. Seine Haut war schmutzig und er stank nach Schweiß, Dreck und Fäkalien. Die Haare waren kurz und schief geschnitten, als hätte sie ihm jemand mit Gewalt abgetrennt. Seine Augen waren Blut unterlaufen und dicke Augenringe waren zu sehen. Sein Blick war voller Angst. Die Kleidung, die er trug waren Stofffetzen und waren nicht mehr als wirkliche Kleidung zu identifizieren. Vor ihm stand ein Tablett mit ein paar Brotresten, die zu Schimmeln anfingen und abgestandenem Wasser. Er wusste nicht, wie lange diese Ration reichen musste. Es gab nicht täglich etwas zu Essen. Nur wenn sein Herr und Meister es für nötig hielt, würde er etwas bekommen. Die Fußfessel aus rostigem Stahl scheuerte an seinem Gelenk und ließ die Wundkruste immer wieder neu aufgehen. Sein Knöchel juckte und brannte gleichzeitig. Aber beschweren durfte er sich nicht. Um seinen Handrücken hatte er sich alte Stoffreste umgewickelt, um die aufgekratzte Haut zu schützen. Aber es hatte nicht verhindert, dass die Wunde eitrig wurde. Sein Rücken schmerzte von der gebeugten, kauernden Haltung, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass er so am schnellsten den Peitschenhieben seines Herren ausweichen konnte. Denn von einem entspannten Leben konnte er nur träumen. Seit man ihn gefangen genommen hatte vor einigen Jahren, kannte er kein anderes Leben mehr. Es war in einem Wald gewesen. Er hatte an einem Fluss gegessen und sich ausgeruht. Die Sonne war auf sein Gesicht geschienen und hatte ihn gewärmt mit den warmen Strahlen. Genüsslich hatte er die Beine ausgestreckt gehabt und vor sich hin gedöst, während der kleine Bach vor sich hin geplätschert hatte. In den Bäumen waren ein paar Vögel laut am Zwitschern und Zanken. Das Blattwerk hatte nur geraschelt, wenn der Wind an den Zweigen gerüttelt oder sich ein Vogel daraus erhoben hatte. Ein Schmetterling war ganz nahe an ihm vorbei getanzt und hatte seine bunten Farben in der Sonne spielen lassen. Er hatte seinen jetzigen Herren nicht kommen hören. Ganz leise war er an ihn heran geschlichen und hatte ihn mitgenommen. Alles was ihm von diesem Tag geblieben war, waren die Überreste der Kleidung, die er getragen hatte und nun wie Lumpen an ihm herunter hingen. Von dem Jungen, der er damals gewesen war, war nichts mehr übrig. Langsam kaute er ein Stück Brot bis es in seinem Mund süßer schmeckte. Seine Zähne taten weh dabei. Denn auch diese hatten unter der Knechtschaft gelitten. Das Quieken einer Ratte war zu hören, die sich durch das Stroh schlich und damit raschelte. Der Junge hatte sich inzwischen an ihre Gesellschaft gewöhnt, aber er musste dennoch aufpassten, dass sie ihm nicht wie vor ein einiger Zeit in der Nacht das Brot stahlen. „Hau bloß ab…“, krächzte er und schluckte den Bissen hinunter. Wütend kratzte er sich am Kopf. Die Läuse und Flöhe machten ihn wahnsinnig und er hatte das Gefühl, er müsste sich die Kopfhaut vom Kopf kratzen. Auch wenn seine hellblonden Haare kurz geschnitten waren, konnte er spüren, wie sie vor Dreck verklebt waren und es hinderte die Läuse nicht darin, sich dort breit zu machen. Wütend zog er an der Kette, die mit der Wand verankert war. Er wusste genau, dass es wenig Sinn hatte. Die Wand war zu Robust und er zu schwach. Aber er wollte nicht täglich tatenlos zusehen und sein Leben in diesem Rattenloch dahin scheiden lassen, wo sich nicht nur diese tummelten, sondern auch Spinnen, Kakerlaken und anderes Getier. Allein bei der Vorstellung überkam ihn ein ekelhafter Schauder und er konnte seine Narbe auf dem Rücken spüren. Die Brandnarbe hatte er von seinen Herren gleich am ersten Tag seiner Gefangenschaft bekommen. Mit einem glühenden Eisen hatte er es ihm in die Haut gebrannt. Conrad konnte noch immer den Geruch seines eigenen verbrannten Fleisches riechen und den Schmerz spüren. Aus den Augenwinkeln hatte das Eisen sehen können. Es war ein Blätterkranz gewesen, der mit einem Kreis verbunden war. In diesem Kreis hatte sich zusätzlich noch ein Dreieck befunden. Er würde dieses Zeichen niemals vergessen. Allein der Gedanke bereitete ihn schmerzen und ihm stießen Tränen in die Augen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem gewesen, was er schon hatte alles ertragen müssen. Die Wunde auf seinem Handrücken stammte daher, dass er immer den Wetzriemen für das Messer straff halten musste. Sein Herr zog das Messer immer über den Riemen und fuhr mit der Klinge über seine Knöchel. Am Anfang hatte er noch laute Schmerzensschreie von sich gegeben. Inzwischen war er daran gewöhnt und ihm entfuhr nur noch ein leises Wimmern. Er konnte dennoch nicht verhindern, dass seine Hand am Anfang immer zitterte, wenn er es in die Hand nahm. Ein paar Bisswunden waren auch auf seinem Körper zu sehen, ebenso blaue Flecke und Narben. Ein wenig Sonne fiel durch den Spalt und erhellte den Raum ein wenig. Damit war ein weiterer Tag vergangen, der sein Leben verkürzte. Immer wenn er die eisige Kälte spüren konnte, so dass selbst der Raum gefror und Schnee vom Wind mit herein getragen wurde, wusste er, dass ein weiterer Winter gekommen war und ein weiteres Jahr vorbei. Er fragte sich manchmal, wie sich die Welt verändert hatte und wie sie aussah. Zu lange schon lebte er in Isolation und hatte keine anderen Kinder mehr gesehen oder Menschen, mit denen er reden konnte. Die einzigen Lebewesen, die er sah, waren sein Meister und seine Gäste und diese behandelten ihn wie ein Stück Dreck, dass es nicht wert war auch nur unter ihren Schuhen zu sein. Der Kontakt war auch nicht anders. Sie schnitten ihm seine blonden Haare ab, ritzen seine Haut auf, um sein Blut in einer Schale aufzufangen. Einmal hatten sie ihn an einen Stuhl gebunden und mit einer Zange einen Nagel aus seinem Finger gerissen. Sein Schmerzensschrei war laut gewesen und hatte den Anwesenden nur Gelächter entlockt. Manchmal ließen ihn auf einem kalten Stein liegen, während jemand aus einem Buch in einer Sprache vorlas, die er nicht kannte und dessen Bedeutung ihm fremd war. Er konnte nur jedes Mal spüren, wie es kalt im Raum wurde und sich in seiner Brust eine Angst breit machte. Sein Herz schlug jedes Mal laut und kräftig. Sein Atem glich einem Keuchen und er spürte wie etwas über seine Haut strich, obwohl niemand da war. Alle Anwesenden waren weit genug entfernt und niemand konnte ihn berührt haben. Oft schon hatte er ein Raunen und Röcheln gehört. Es dauerte meist nie lange bis etwas ihn biss oder kratzte. Anscheinend gefiel es den Gästen seines Herren, denn sie jubelten und frohlockten immer. Er seufzte schwer und setzt sich auf den kalten Stein. Inzwischen war er auch daran gewöhnt, dass die Zeit so langsam und qualvoll verstrich. Was machte wohl seine Familie? Hatten sie je nach ihm gesucht? Oder war er ihnen egal? Die Erinnerung an sie wurde von Tag zu Tag blasser, aber er wusste, sie waren nicht reich gewesen, aber nagten auch nicht am Hungertod, so wie er es jetzt tat. Er war aus einer einfachen Unterschicht gekommen. Leise murmelte er seinen Namen vor sich hin, nur um ihn nicht zu vergessen. Es war das Einzige, was ihm nach all der Zeit geblieben war. Wenn er seinen Namen auch noch vergessen würde, würde er den Rest Menschlichkeit auch verlieren. So bewahrte es ihn vor dem Wahnsinn. „Mein Name ist Conrad Winter und meine Lieblingsfarbe ist rot…“, murmelte er wieder und wieder. Sein Blick fuhr zu der Wand, wo seine Kratzspuren zu sehen waren. Am Anfang seiner Gefangenschaft hatte er versucht zu fliehen. Er hatte sich die Nägel blutig gekratzt und laut um Hilfe geschrien. Seitdem war das Rot die einzige Farbe gewesen, die er je wieder gesehen hatte und er hatte angefangen sie zu lieben. Mit einem lauten Quietschen ging die Tür auf und er sah seinen Herren auf sich zu kommen. Schnell hockte er sich wieder hin. Bereit sofort auszuweichen, sollte er ihn wieder schlagen wollen. Aus den Augenwinkeln sah er zu ihm hoch. Sein Haar hatte graue Strähnen bekommen und um seine Augen hatten sich tiefe Falten gebildet. Er war alt geworden. Viel zu alt für die paar Jahre, denen er bei ihm gewesen war. Conrad wusste, sein Herr machte geheime Experimente und nahm verschiedene Pillen zu sich. Dennoch verwunderte es ihn, wie er von einem Mann mittleren Alters in den wenigen Jahren zu einem Mann im hohen Alter werden konnte. Er verstand es einfach nicht. Was er jedoch genau verstand, war, dass man ihn trotz dieser gebrechlichen Statur nicht unterschätzen sollte. Seine Kraft hatte in all der Zeit nicht nachgelassen und er war grausamer geworden. Sein Herr kam auf ihn zu und löste die Fußfessel. „Beweg dich!“, fuhr er ihn an und stieß ihn mit seinem Gehstock nach vorne. Conrad stolperte und schlug sich das Knie auf. Schnell richtete er sich auf und ging durch die Tür. „Los, schneller, du kleine Ratte!“, fuhr sein Herr ihn an. „Mein Name ist Conrand…“, murmelte er. So viel Angst er auch vor dem Herren hatte, er hatte sich nie abgewöhnen können, ihn mit seinem Namen zu korrigieren. „Schnauze!“, fuhr er ihn an und verpasste ihn einen Tritt, „Lauf weiter oder ich nehme mir deine Augen!“ Conrad brummte. Eine Androhung, die er schon oft genug gehört hatte. Es lag lediglich an seiner eigenartigen Augenfarbe, dass er ihm das androhte. Seine Augen waren stechend grün. Etwas, was seinen Meister die ganze Zeit fasziniert hatte. Aber Conrad wusste selbst nicht genau, warum seine Augen so aussagen und diese Farbe besaßen. Aber er war auch froh darüber, wenn sein Herr ihn deswegen in Ruhe ließ. Am Anfang hatte er versucht heraus zu finden, ob er die Farbe ausblassen oder verändern konnte. Er hatte ihm Tropfen in die Augen getröpfelt und Salben auf sein Augenlid geschmiert. Alles Dinge, die gebrannt und Schmerzen verursacht hatten. Es hatte keinen Spiegel gegeben für ihn, um es zu überprüfen, aber eines Tages hatte sein Meister gesagt, seine Augen hätten einen gelbstich mit angenommen und sie würden aussehen, als würden sie phosphoreszieren. Conrad wusste nicht, was es bedeutete, aber seinem Meister schien es zu gefallen. Er wurde von seinem Herren durch die dunklen Flure geführt und hinunter in den Keller. Heute war irgendetwas anders als sonst. Das konnte er deutlich spüren. Der übliche Geruch von Pflanzen, Erde, Staub und Kerzenruß wurde von einem anderen überlagert. Vorsichtig schnupperte er. Es roch süßlich wie eine von den vielen Lilien, die sein Herr für seine Kräutermischungen benutzte. Gleichzeitig war es wie der Geruch von welkem, nassem Laub. So etwas hatte er noch nie gerochen, aber vermutlich stammte es von einem der Experimente, die sein Herr immer durchführte. „Setz dich!“, blaffte der Mann ihn an und gehorsam ließ er sich auf einen alten Hocker nieder. Was würde er heute von ihm nehmen? Würde er ihm wieder die Haare abschneiden? Oder brauchte er wieder sein Blut? Oder riss er ihm wieder einen Nagel aus? Conrad beobachtete seinen Herren, wie er durch den Raum ging und verschiedene Flaschen aus einem Schrank nahm Er stellte sie sorgsam auf den Tisch, der überlagert war von den Überresten irgendwelcher Tiere, Pflanzen und Dingen, wo er nicht wissen wollte, was sie einmal gewesen waren. Das Licht von den Kerzen spiegelte sich auf dem Dolch und nicht zum ersten Mal spielte Conrad mit dem Gedanken, ihn zu nehmen und damit auf den alten Mann zuzustürmen. Aber er wusste, er würde keine Chance haben. Der alte Mann war zu stark für ihn. Er ließ den Kopf hängen und wartete darauf, was heute auf ihn warten würde. Der Mann ging noch immer geschäftig umher und bereitete mehrere Sachen vor. Zwischen seinen Fingern zerrieb er ein paar Kräuter und goss aus einer der Flaschen etwas hinzu. Aus einer anderen Flasche nahm er einen kräftigen Schluck und hustete kräftig. Aus einem Krug holte der Mann ein paar kleine Knochen heraus und zerrieb sie zu einem feinen Pulver. Conrad schüttelte sich. Er wollte nicht wissen, was er da tat und wofür es gedacht war. Er hörte, wie sein Herr ein weiteres Mal kräftig hustete. Ein missbilligendes Geräusch war zu hören und ein Fluch, den er leise ausstieß. Was war nur los? „Wer sind Sie?“, fuhr sein Meister plötzlich jemanden an. Conrad zuckte zusammen und machte sich schon auf Schläge gefasst. Als er nichts spürte, registrierte sein Gehirn, dass dieser Anschrei gar nicht ihm gegolten hatte. In der Eingangstür zum Keller stand eine Frau. Ihre Kleidung wirkte sauber und ordentlich, aber gleichzeitig auch sehr männlich. Es kam ihm sehr fremd vor, was sie trug. Seit wann trugen Frauen knielange Röcke? Verwirrt sah er die Dame an. Ihre langen Haare waren weiß, lediglich eine schwarze Haarsträhne fiel ihr jeweils an der Seite herunter. „Wer sind Sie und was tun Sie hier unten?“, fragte sein Herr erneut und Conrad rechnete schon damit, dass diese Frau es gleich bedauern würde ihn verärgert zu haben. „Mein Name ist Alyssa Campell“, antwortete sie mit kräftiger Stimme und schob ihre Brille hoch. „Was suchen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren!“, schrie er. „Ich bin hier um Sie abzuholen“, antwortete sie und Conrad konnte die Luft kurz Surren hören. Er blickte auf und sah in ihrer Hand eine weiße Sense. Sein Meister wich zurück und schluckte schwer. Er griff sich an den Hals und hustete kräftig. „Nehmen Sie diese kleine Ratte…Aber verschonen Sie mich…“, krächzte er und Conrad sah zu, wie er zu Boden ging. Die Frau warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Ihre Augen leuchteten grün-gelb und er zuckte zusammen. Schnell machte er sich ganz klein auf dem Stuhl. Ihre Augen hatten sich für einen Moment verengt. „Er steht nicht auf meiner Liste“, war ihre knappe Antwort und es jagte ihm einen Schauder über den Rücken, wie kalt diese Worte waren. Vorsichtig kroch er von dem Stuhl und verzog sich in eine dunkle Ecke. Schnell winkelte er die Knie an und beobachtete seinen Herren und die Frau aufmerksam. In ihrer anderen Hand trug sie einen dicken Ordner. War darin ihre Liste? Ihre Erscheinung schien seinem Herren Angst einzujagen, denn er streckte seine verrunzelte Hand nach ihr aus und sah sie flehentlich an. Er bettelte darum, dass sie ihn verschonen möge. War diese Frau dabei ihn umzubringen? Fasziniert schaute Conrad zu und seine Augen weiteten sich vor Spannung. Sein Meister hustete kräftiger und stärker. Er hörte, wie er nach Luft schnappte und dann am Boden liegen blieb. Die Frau hob die Sense an und schlug mit der Klinge in den Rücken des Mannes. Mehrere Stränge erhoben sich in die Luft und Conrad konnte sehen, dass es Bilder aus dem Leben seines Herren waren. „Alchemist James Brown, Geboren am achten Juli Sechzehnhundertneunzig, gestorben am zwanzigsten Mai Siebzehnhundertfünfundzwanzig“, leierte sie aus ihrem Buch herunter und setzte einen Stempel hinein, „Besondere Anmerkungen keine.“ „Alyssa, hast du endlich den Auftrag erledigt?“, fragte eine andere Stimme plötzlich. Conrad zuckte zusammen. „Ja, habe ich. Es hat nur etwas gedauert bis der Alte den Löffel abgegeben hat. Ich war zu früh dran.“ „Besser zu früh als zu spät. Du kennst ja die Leute aus der Verwaltung.“ Ein Mann mit langem, weißem Haar, das er zu einem Zopf gebunden hatte, kam durch die Tür und ging auf die Frau zu. Er trug eine ähnliche dunkle Kleidung wie die Frau und auf seiner Nase saß ebenfalls eine Brille. Es war offensichtlich, dass sie beiden sich nahe standen. „Interessant“, sagte er mit ruhiger Stimme und betrachtete den toten Mann am Boden. „Er hatte alles getan, um uns aus dem Weg zu gehen und los zu werden. Am Ende ist er durch seine Experimente so gealtert, dass er nach oben gerückt ist auf der Liste.“ „Selbst Schuld“, sagte Alyssa, „Er hat doch auch versucht Dämonen herbei zu rufen, nur um uns von sich fern zu halten.“ Der Mann nickte. „Wie wahr…Wollen wir gehen?“ Sie nickte und sah zu Conrad herüber. Der kalte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden und sie lächelte ihm freundlich zu. Langsam kam sie ihm näher und er drückte sich an die Wand. „Es ist alles gut“, flüsterte sie und hockte sich zu ihm auf den Boden. „Lyss, ich glaube wir sollten gehen. Du weißt, wir dürfen uns nicht in die Angelegenheiten von Menschen einmischen.“ „Das weiß ich, aber wir können ihn doch nicht einfach so hier lassen!“, bittend sah sie ihn an. „Adrian…“ Ängstlich rutschte er ein Stückchen weg. „Hey…bleib hier…ich tu dir nicht weh…du bist frei…du kannst gehen“, flüsterte sie und ihr liebevolles Lächeln erinnerte ihn an das Gesicht eines Engels, das er vor langer Zeit in einer Kirche gesehen hatte. Sie wirkte so friedlich und voller Liebe. Alyssa griff in ihre Tasche und zog ein weißes Tuch hervor. Conrad zuckte zusammen als sie ihn damit berührte und über sein schmutziges Gesicht wischte. Es war eine sanfte Geste, wie er sie in all den Jahren nicht erlebt hatte und er brach in Tränen aus. Ein kräftiges Schluchzen verließ ihn und ihm wurde die Bedeutung ihrer Worte nur langsam bewusst. Er war frei. All die Qualen und Leiden hatten ein Ende. Seine Gebete waren erhört worden. Schon im nächsten Moment schossen ihm die nächsten Gedanken in den Sinn. Wo sollte er hin? Wie sollte er überleben? Würde er alleine in der Welt draußen klar kommen. „Da siehst du, was du anstellst, wenn du dich in die Sachen der Menschen einmischst.“ „Aber er ist kein Mensch, Adrian. Er ist einer von uns.“ „Was?“ „Ich hab es gesehen. Seine Augen sind dieselben wie unsere.“ Ihre Stimme klang eindringlich. Sie stand also auf seiner Seite. „Wir können ihn nicht hier lassen. Er gehört nicht in diese Welt. Er gehört in unsere Welt!“ Der Mann seufzte ergeben. „Na gut. Aber du erklärst das der Verwaltung.“ „Ja, natürlich!“ Sie verdrehte die Augen hinter der Brille und zog die Jacke aus. Vorsichtig legte sie ihm den Stoff um. Es schien ihr nichts auszumachen, dass er so schmutzig war und ihre Kleidung ruinierte. Weitere Tränen bahnten sich über Conrads Gesicht. So etwas hatte er noch nie erlebt gehabt. Diese Nettigkeit war ihm fremd und sein Herz schlug kräftig vor Traurigkeit und Freude in seiner Brust. „Das hätte dir echt nicht passieren dürfen…“, flüsterte sie und wischte ihm ein paar Tränen von der Wange. Er konnte es sich nicht anders erklären. Sie musste ein Fleisch gewordener Engel sein. Ihre Hand war warm und zärtlich, als sie ihm weiter über das schmutzige Gesicht wischte. „Alles ist gut…“, murmelte sie und es schien sie nicht zu stören, dass das weiße Tuch schon ganz schmutzig war, genauso wie ihre Hand. Conrad schloss die Augen und schmiegte sein Gesicht in ihre Handfläche. Er konnte nicht aufhören zu weinen. Sie legte ihre Arme um seinen schmalen, abgemagerten Körper und drückte ihn an sich. Ihr Körper war genauso warm wie ihre Hand und ihre Brust war weich. Er hörte ihr Herz in einem gleichmäßigen Rhythmus schlagen. Der Brustkorb hob und senkte sich passend zum Herzschlag auf und ab. Diese Wärme hatte er noch nie gefühlt, die sich in seinem Körper ausbreitete und er drückte sich enger an sie. Ganz langsam strich sie ihm über seinen Kopf und den Rücken. Ihre Jacke wärmte zusätzlich seinen Körper. Was tat er nur? Er sollte aufhören zu weinen. Ihre weiße Kleidung wurde seinetwegen ganz schmutzig! Conrad wollte sich von ihr lösen, doch sie hielt ihn weiter fest an sich gedrückt. Warum tat sie das nur? Was waren das für Gefühle, die er spürte? War das der Friede, den ein Engel bringen konnte? Wenn ja, wollte er für immer bei diesem Engel mit dem Namen Alyssa bleiben. Er wollte für immer in ihrem warmen Armen sein und sich nicht mehr davon lösen. Ewigkeiten würde er so verbringen wollen und ihren Geruch tief einatmen können. Das war es, was er vorhin auf dem Flur gerochen hatte. Dieser süße Geruch von Blumen und der Mischung aus verwelktem Laub war ihrer gewesen. Sein Gesicht schmiegte sich an ihre Schulter und er konnte ihre Hand auf seinem Rücken spüren, wie sie sanft auf und ab strich. Ihre Wärme konnte er durch den Stoff der Jacke spüren. So viel Liebe hatte er in den letzten Jahren nicht gespürt und er würde diesen Engel nie vergessen. Das schwor Conrad sich. Verschlafen blinzelte er sich den Schlafsand aus den Augen und brummte. „Was für ein Traum…“, murmelte er und strich sich die langen Haare, die ihm ins Gesicht fielen, mit den Fingern schnell nach hinten. Müde fuhr er sich über die Augen und richtete sich etwas auf. Seine Muskeln fühlten sich angespannt an und jede Bewegung schmerzte. Ein lang gezogenes Gähnen entfuhr ihm und er streckte sich ausgiebig. Es war lange her, dass er an seine Vergangenheit gedacht hatte und noch viel länger her, dass er an seine Gefangenschaft gedacht hatte. Erfolgreich hatte er es seit dem verdrängt, wo ihn Alyssa mit in die Welt der Shinigami genommen. Seinen Namen von früher hatte er fast vergessen. Durch diesen Traum war er ihm wieder ins Gedächtnis gebrannt und auch die Qualen, die er erlitten hatte, hatte er wieder deutlich in Erinnerung. Seitdem er die Menschenwelt verlassen hatte, hatte er alles dafür getan, um seinem Engel irgendwann danke zu sagen. Aber er hatte es nie geschafft. Sie war gestorben, als er gerade seine Ausbildung zum Shinigami gemacht hatte. Wozu hatte er sich solche Mühe gegeben? Wozu hatte er sich all die Jahre angestrengt, wenn er ihr doch nie hatte danken können? Dabei hatte er nie mehr gewollt, als dass sie stolz auf den kleinen, schmutzigen und nichtsnutzigen Jungen war, den sie damals gerettet hatte. Sein ganzes Leben hatte er versucht dieses Gefühl los zu werden. Alle Entscheidungen hatte er nur getroffen, um sie eines Tages wieder sehen zu können. Sein Aussehen und seine Haltung hatte er nur Verändert, um sich von dem schwachen Jungen von früher zu distanzieren. Vorsichtig, als würde die Berührung immer noch schmerzen, berührte er seine linke Schulter. Dort war eine der vielen Narben zu sehen, die ihn noch an früher erinnerten. Ganz blass und wie ein Regenwurm zog sie sich über seine Schulter, das Schulterblatt und verband sich auf dem Rücken mit den unzähligen anderen. Sein Körper war eine Schande und er schämte sich in Grund und Boden, wenn er nur an seinen Rücken dachte. Übelkeit stieg in ihm bei der Erinnerung an früher auf und er legte eine Hand auf seinen Bauch. Er roch wieder den Gestank von Urin und Schweiß und hörte wieder das Rascheln von den Ratten im Stroh. Wieso konnte es nicht aufhören? Wieso musste ihn das verfolgen? Er presste eine Hand schnell auf den Mund und unterdrückte den Würgereiz. Kalter Schweiß brach ihm auf Rücken und Stirn aus, währen der das Gefühl hatte, seine Haut würde brennen. Dieses Leben war lange her und er würde sich nicht wieder davon runter ziehen lassen. Er war ein Shinigami der Dispatch Society und in der Abteilung Seelensammlung. Der Mann, der ihn misshandelt hatte, war tot. Alyssa Campell hatte ihn getötet und er hatte seine Lebensaufzeichnungen gesehen. „Niemand kann mir ein schlechtes Gefühl vermitteln ohne meine Einwilligung…“, murmelte er gegen seine Hand, die noch immer auf seinem Mund gepresst war. Ein Satz, den ihn Alyssa bei seinem Abschied gesagt hatte. Oft genug hatte er es sich gesagt, wenn er nachts nicht hatte schlafen können und an früher dachte. Es hatte lange gebraucht bis dieser Satz seine Wirkung gezeigt hatte. Aber wozu? Wozu hatte er sich verändert, wenn alles zu spät war? Er hatte ihr weder helfen können, noch hatte er es verhindern können? Viel zu spät hatte er die Ausbildung angefangen, andernfalls hätte er mit ihr den Auftrag ausführen können. Er schloss die Augen und atmete langsam tief ein und aus. Das Gefühl der Übelkeit verschwand langsam. Vorsichtig nahm er die Hand vom Mund und blieb reglos im Bett sitzen Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen schnell sein Gesicht hinab. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er ein Nichts, ein Niemand war und Versagt hatte. Ein lautes Schluchzen entfuhr ihm und er zog seine Beine eng an seinen Körper heran. Er wünschte sich, Alyssa wäre hier bei ihm und würde ihn in den Arm nehmen, wie bei ihrer ersten Begegnung. Niemals würde er das Gefühl dieser Art von Liebe vergessen, nach der er sich jetzt schmerzlich sehnte. Seine Nägel gruben sich in seine Haut bis es schmerzte. Er durfte nicht schwach sein und er durfte sich von dieser Vergangenheit nicht unter kriegen lassen. Seine Zieheltern hatten ihn groß gezogen und waren immer für ihn da gewesen. Sie hatten immer Verständnis für ihn gehabt und hatten ihn geliebt. Sein Traum war nur ein dunkler Fleck in seinem Leben. Er wischte sich über die Wange und schluchzte erneut laut. Sein Gesicht verzog sich missmutig und er fuhr sich erschöpft über die Augen. Ein Shinigami, wie er weinte nicht und ließ sich davon nicht unter kriegen. Es gab auch wichtigere Dinge, die es zu tun gab. Ein lautes Geräusch riss ihn aus den Gedanken und er hörte im nächsten Moment etwas Poltern. Schnell tastete er nach seiner Brille und stand aus dem Bett auf. Auf nackten Füßen tapste er zu seiner Zimmertür und öffnete sie einen kleinen Spalt. Der Flur war dunkel und alles schien ruhig zu sein. Angestrengt lauschte er und wartete auf das nächste Geräusch. „Lass mich los!“, hörte er plötzlich eine Stimme durch den Flur schreien. Verwirrt öffnete er die Tür noch einen Spalt mehr und sah den ganzen Gang entlang. Es war nichts zu sehen. Aber so sehr geirrt haben, konnte er sich nicht. Sein Gehör war ausgezeichnet. Er hörte wieder ein poltern, gefolgt von einem lauten Fluchen und Fauchen. Verwirrt runzelte er die Stirn. Wie konnte jemand nur so laut sein in einer der anderen Etagen? „Carry, sei still. Du weckst die Damen und Herren im ganzen Haus auf!“, sagte jemand und er konnte die Stimme als Erics identifizieren. Seine Neugierde war geweckt. Hatte Ronald es geschafft und Carry überführt? Er hoffte es stark für seinen Kollegen, denn er hatte wahrlich genug Probleme. Wenn Carry jetzt fort war, konnte er sich in Ruhe auf die Suche nach seiner Liebsten machen. Bei dem Gedanken konnte er sich ein Kichern nicht verkneifen und er schloss schnell die Tür. Die Vorstellung, dass sein jüngerer Kollege mit seiner Schülerin ein Paar werden würde, ließ ihn grinsen. Er konnte sich noch immer nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass der kleine Frauenheld jetzt verliebt war und sich an jemanden binden wollte. Aber dazu galt es erst mal sie zu finden. Ein Grummeln entfuhr ihm, als er an den Kampf gegen den grauhaarigen Shinigami zurück dachte. Dieser hatte ihn doch tatsächlich ins Gesicht geschlagen und getreten. Noch immer hatte er blaue Flecke am Körper, die nur langsam verheilten. Er seufzte und ging müde durch sein Zimmer. Im Bad spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und untersuchte seine Augenringe. Keiner seiner Kollegen sollte sehen, dass er geweint hatte. Alles war jedoch nur halb so schlimm und es war nichts zu sehen. Nachdem er im Bad fertig war, zog er sich eine frische Uniform an. Kaum hatte er den letzten Knopf geschlossen, klopfte es an seiner Tür. Fragend warf er einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht mal nach sieben. Zu spät konnte er nicht sein. Es klopfte wieder und genervt seufzte er auf. „Wer ist das denn schon so früh?“, grummelte er und öffnete die Tür. Verwirrt sah er seine Kollegen Eric, Alan und Ronald an. „Was macht ihr hier?“, fragte er verwirrt. „Wir müssen reden“, sagte Alan mit ernstem Gesicht. Es schien wirklich wichtig zu sein, denn er hatte es noch nie erlebt, dass er nicht grüßte. „Kannst du uns reinlassen, Grelle?“, fragte Ronald. Grelle trat einen Schritt zur Seite und wies seine Kollegen an herein zu kommen. Kurz sah er auf den Flur, ob dort noch jemand war, aber es war noch immer alles friedlich. Er warf sich seine roten Haare zurück und schloss die Tür. Kapitel 28: Der Barbier aus der Fleet Street -------------------------------------------- Alyssa sah mit gerunzelter Stirn auf das Schreiben vor sich. Was dachten sich die Leute aus der Verwaltung nur? Sollte sie jetzt allen Ernstes mehrere Vermisstenfälle auflösen? Was dachten sie nur, was sie war? Ein Shinigami oder ein Spürhund? Sie öffnete die Akte und las sich die Berichte durch, die die anderen Shinigamis geschrieben hatten über die Vermissten. Es war ihnen unmöglich gewesen die Seele einzusammeln, da es keinen Körper gegeben hatte. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Wie konnte man einen toten Körper einfach so übersehen? Nun musste sie nicht nur zwei Personen einsammeln, sondern auch Auflösen, wieso die Seelen nicht eingesammelt werden konnten. Aber wenn Shinigami mit mehreren Jahren Erfahrung es nicht geschafft hatten, was erwarteten sie von ihr, wenn ihre Abschlussprüfung gerade mal ein paar Monate her war? Wieder schüttelte sie den Kopf. Aber sie war froh, dass dieser Fall nicht ihre Abschlussprüfung war. Langsam blätterte sie eine Seite um, blickte kurz darauf und blätterte wieder zurück. Ein Seufzer entfuhr ihr. In den letzten sechszehn Jahren waren mehrere dutzende Männer verschwunden. Sie hatten nicht zum hohen Stand gehört, aber auch nicht zu den vielen Armen, die sie schon gesehen hatte. Sie hatten ehrwürdige Berufe, wie Priester oder Dichter oder sie waren einfache Arbeiter. Alle waren aus London gewesen und waren zuletzt in der Fleet Street gesehen worden. Die Polizei der Menschen hatten Ermittlungen angestellt, da sich ein Priester beschwert hatte. „Wie soll ich mehrere Dutzende Vermisstenfälle auflösen, wenn es die Polizei bis heute nicht geschafft hat?“, flüsterte sie verzweifelt und seufzte. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah in den dunklen Abendhimmel. Die Tatsache, dass einige davon fast sechzehn Jahre her waren, machte es nicht besser. Was hatten ihre Kollegen getrieben, dass keiner es lösen konnte? „Wofür halten die mich nur? Für einen Hellseher?“, murmelte sie wütend. „Reg dich nicht auf, Liebes“, sagte jemand hinter ihr und sie konnte seine Schritte hinter sich hören. „Musst du dich immer so anschleichen?“, fragte sie und drehte sich um. Sie gab dem Shinigami einen flüchtigen Kuss. „Die Verwaltung tut das doch nur, um mich zu ärgern!“ Undertaker seufzte. „Weil du eine Frau bist?“ Alyssa nickte. „Denen passt es doch so gar nicht in den Kram, dass ich meine Prüfung bestanden habe!“ „Lyss, du wusstest doch woher, was auch dich zukommt.“ „Aber doch nicht so etwas!“ Sie schlug mit der Hand auf die Akte. „Alle Zeugen sind teilweise schon tot! Wie soll ich da irgendetwas rausfinden?“ Hilflos hob sie die Arme. „Vielleicht solltest du dich deinem Hauptfall widmen?“, schlug er vor und gab ihr einen beruhigenden Kuss auf die Wange. „Du hast ja recht…“, seufzte sie und schlug die Akte wieder auf. Alyssa strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr der Wind ins Gesicht wehte. Die Luft war kühl an diesem Morgen und sie fror ein wenig. Es roch nach Regen. Sie hoffte, dass sie wieder zurück in der Society war, wenn es anfangen würde. Lust nass zu werden, hatte sie nicht. Viel lieber wollte sie einen warmen Tee trinken, Kekse essen und sich an Undertakers Schulter kuscheln. Endlich brauchte sie aus ihrer Beziehung zu ihm kein Geheimnis mehr machen. Sie hatte ihre Abschlussprüfung vor wenigen Monaten erfolgreich bestanden. Lange hatte sie darauf gewartet. Das restliche halbe Jahr ihrer Ausbildung kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Ständig hatte sie sie damit rechnen müssen, dass man ihr angesehen hatte, wie glücklich sie war und dass man sie bei einem heimlichen Kuss oder Umarmung erwischen würde. Dennoch musste sich Alyssa eingestehen, dass es etwas Aufregendes an sich gehabt hatte. Sie konnte noch immer das Prickeln auf ihrer Haut spüren, wenn sie daran zurück dachte, was sie immer heimlich im Büro gemacht hatten. Immer darauf bedacht, nicht erwischt zu werden und etwas verbotenes zu tun. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und auch nicht vermeiden, dass ihre Wangen rot wurden an die Erinnerung, wie ihr erster Arbeitstag nach Neujahr verlief. Adrian hatte kaum die Finger von ihr lassen können und irgendwann hatte er das Büro abgeschlossen, weil so viele Kollegen zu ihm herein gekommen waren. Kaum war seine Hand über ihr Bein gewandert, war die Tür aufgeflogen und sie musste aufpassen, nicht vor Schreck vom Stuhl zu fallen. Stur hatte sie auf die Abrechnung vor sich gestarrt und ihre Knie hatten gezittert. Als die Leute weg waren, hatte er das Büro abgeschlossen und sie hatte gewusst, dass der Moment gekommen war, wo er es nicht mehr aushielt sie zu berühren. Er hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt gehabt und seine Hand war langsam über ihr Bein nach oben gestrichen. Langsam hatte er den Rock höher geschoben und seine Hand war zu ihrem Slip gewandert, hatte das Stückchen Stoff zur Seite geschoben. Alyssa schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Verlegen räusperte sie sich, als hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen. Oft genug hatte sie das Gefühl, dass ihre Kollegen schon von Anfang an gewusst hatten, dass sie zusammen waren, hatten sich aber einen Kommentar darüber erspart oder wegen mangelnder Beweise nichts gesagt. Aber sie hatte die Blicke gesehen, mit denen einige Leute aus der Society sie angeschaut hatten, nachdem sie das erste Mal mit Adrian Händchen haltend durch die Mensa gegangen war. Sie hatten etwas Wissendes in den Augen gehabt. Alyssa seufzte und schaute durch das Fernglas durch die Straßen. Sie konnte ihr Opfer erkennen. Der Mann stand vor einem Spiegel und putzte ihn mit einem Tuch sauber. Sein Haar war einmal schwarz gewesen, nun war es von grauen Strähnen durchzogen. Um die Augen hatten sich kleine Falten gebildet, doch trotz seines Alters und Standes war sein Gang aufrecht. Der Mann ging zu einem Stuhl und säuberte auch diesen mit dem Tuch von einer roten Flüssigkeit, die auch auf seinem weißen Hemdärmel zu sehen war. „Schon wieder?“, murmelte sie und nahm kurz das Fernglas herunter und putze es mit dem Saum ihres Jacketts. Sie blickte wieder hindurch. Noch immer war das Rot zu sehen. Fassungslos starrte sie weiter ihr Opfer an. „Schon wieder…“, murmelte sie resigniert und mit einem leichten Seufzen in der Stimme. Alyssa sah schnell in die Mappe und überprüfte, ob sie vergessen hatte, jemanden abzuholen. Aber dort stand kein weiterer Name für diese Ecke. So oft sie auch hinein sah, es änderte sich nichts an dem Fall. Er war der einzige Todeskandidat für diesen Stadtteil. Alle anderen Leute, die sie heute abgeholt hatte, waren aus anderen Bezirken gewesen. Der Mann war der Letzte für diesen Tag. Danach konnte sie wieder zurück in die Society und die Berichte schreiben. Alyssa hustete kräftig und blickte zu dem Schornstein, der angefangen hatte, Qualm auszustoßen. Der Rauch war pechschwarz und es stank, als würde jemand Abfälle verbrennen anstatt Holz. „Oh Gott…was ist das nur?“, murmelte sie und drückte sich den Ärmel ihres Mantels an die Nase. Angewidert verzog sie das Gesicht. Sie schaute wieder durch das Fernglas und sah wie ein junger Mann das Geschäft betrat. Er setzt sich auf den Stuhl und sie konnte sehen, wie der Barbier das Gesicht seines Kunden einschäumte und ein Rasiermesser zog. Vorsichtig setzte er es an der Kehle an und zog einen Schnitt von der einen zur anderen Seite. Erschrocken wich sie zurück, als der Kunde zusammen zuckte und sein Körper zu zucken begann, während ihm das Blut über die Brust lief und das Gesicht des Barbieres bespritzte. „Der Kerl ist verrückt…“, murmelte Alyssa. „Das wundert dich?“, fragte Undertaker hinter ihr, den sie inzwischen vollkommen vergessen hatte. Alyssa schreckte zusammen und griff sich an die Brust. Undertaker grinste breit. „Ich habe schon verrückteres gesehen.“ „Ich glaube, ich will ich nicht wissen, was es war, oder?“, fragte sie, „Was machst du hier?“ „Nachsehen ob du Hilfe brauchst.“ „Nein, ich denke nicht. Das scheint mir relativ einfach zu werden.“ Sie schaute wieder durch das Fernglas zu dem Mann, der einen Hebel betätigte und die Leiche des Mannes sank durch einen Schacht im Boden vom Stuhl. „Ich frage mich nur, was der Typ mit den Vermissten auf sich hat, deren Seelen nicht eingesammelt werden konnten.“ Sie seufzte und reichte Undertaker das Fernglas, damit er hindurch sehen konnte. „Musst du die Vermisstenfälle aufklären?“, fragte er und schaute zu dem Mann. „Ja, die Verwaltung erwartet, dass ich die Fälle kläre und wenn möglich die Seelen mit einsammle. Aber ich beobachte diesen Mann schon seit ein paar Stunden. Er tötet einen Mann nach dem anderen und lässt sie durch diesen Schacht verschwinden. Dann putzt er den Stuhl, sein Gesicht und dann geht es von vorne los.“ „Hast du einen anderen Shinigami gesehen?“ „Ja, vorhin war ein Kollege da und suchte nach seinem Opfer, das angeblich hier sterben sollte. Genau in diesem Geschäft, aber er konnte es nicht finden. Er hat sich sogar in das Haus geschlichen und kam wieder raus, aber ohne Erfolg. Sein Opfer war nicht da. Er sagte, er sei auch im Keller gewesen.“ „Das ist in der Tat merkwürdig.“ „Ich glaube, die in der Verwaltung halten uns für Spürhunde statt für Seelensammler“, sagte sie murrend und verschränkte die Arme. „Ich bin mir auch sicher, die Verwaltung macht das mit Absicht.“ „Wie kommst du darauf?“ „Ganz einfach: Manchmal glaube ich, dass einige über uns Bescheid wissen und auch dass es zwischen uns schon länger geht als die paar Wochen, die wir ihnen vorspielen. Aber weil sie uns nichts nachweisen können, brummen sie mir solche schweren Fälle als Anfänger auf!“ Undertaker gab ein nachdenkliches Brummen von sich und runzelte die Stirn. „Seltsam ist es schon“, sagte er langsam, „So einfach es doch sein sollte, so merkwürdig ist es. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Verwaltung so etwas aus Trotz macht. Das kommt mir doch sehr unwahrscheinlich vor, Lys.“ „Ist es denn normal, dass man den Anfängern solche Arbeit gibt?“ Fragend sah Alyssa ihn an. „Ich kenne solche Aufträge bisher nur von dir und was du mir von deiner Anfangszeit berichtet hast, klang es nicht danach, als hättest du solche Jobs da schon gemacht. Seit ich die Ausbildung fertig habe, hat mir die Verwaltung nur Massenmörder, Serienkiller, Schläger, Trinker oder Prostituierte aufgehalst. Ich bin die meiste Zeit nur in den schlechten Teilen Londons unterwegs. Ich kenne Whitechapel besser als alles andere hier!“ Alyssa gestikulierte aufregt mit den Armen. „Du hast neulich sogar darauf bestanden, dass ich mich als Mann ausgebe, als ich in dem Stadtteil unterwegs war. Wie war dein Kommentar noch mal?“ Sie tat, als müsse sie überlegen. „Du willst nicht wissen, was dir dort blüht, wenn du Brüste hast.“ „Und du willst es wirklich nicht wissen“, sagte er und sein Gesicht war unergründlich. „Außerdem kannst du froh sein solche Aufträge zu bekommen. Andere bekommen nur alte Leute und können nur davon träumen.“ Sie seufzte. Alyssa wusste, dass er Recht hatte, aber es machte sie schon stutzig, dass sie keine normalen Fälle bekam, wie viele andere ihrer Kollegen, die mit ihr die Ausbildung abgeschlossen hatten. Murend sah sie wieder durch das Fernglas und beobachtete den Barbier weiter. „Wer ist diese Frau?“, fragte sie und musterte die Dame mittleren Altern, die das Geschäft betrat. Sie sah nicht aus, wie eine Kundin. Alyssa schaute genauer hin. Sie sprach energisch auf den Barbier ein und betrachtete das Blut, das noch immer am Sessel und seiner Kleidung klebte. Die Frau war keine gewöhnliche Frau. Sie gehörte wohl zu der Sorte, die rot anlief und dann laut herum schrie, wenn ihr etwas nicht in den Kram passte. Der Barbier musste ganz schön unter ihren Pantoffel stehen, wenn er sich das gefallen ließ. Dabei dachte Alyssa immer, dass die Männer über die Frauen bestimmten, aber bei diesen beiden, schien es genau umgekehrt zu sein. Sie war froh, dass es mit Undertaker nicht so lief und sie vernünftig miteinander reden konnten. Die Frau in dem Barbiergeschäft hatte sich weiter in Rage geredet und ihre Stimme war so laut, dass dumpfe Wortfetzen zu ihnen herüber auf das Dach kamen. Alyssa war froh, dass sie nicht in dem Geschäft stand. Sicherlich war die Tonlage so hoch, dass sie gerade noch an der Grenze zum menschlichen Wahrnehmungsvermögen lag. Sie warf einen Blick zu Undertaker herüber. Sein Anzug saß wie immer ordentlich. Die Krawatte war zu einem mehrfachen Knoten gebunden, den sie nie hatte lernen können. Er wusste immer genau, was er tat. Er gehörte einfach zu den Besten der Besten. Sogar zu den Allerbesten in der Abteilung. Es würde sie nicht wundern, wenn er eines Tages eine Legende sein würde. Immerhin hatte er bei einem von den alten Meistern gelernt, der ihm dann alle Tricks beigebracht hatte. Manchmal beschlich Alyssa das Gefühl, dass sie nie so sein würde wie er. Undertaker hatte ihr alles beigebracht, was es zu wissen gab und einiges mehr. Auch wenn sich ihr Verhältnis zu ihm seit Weihnachten verändert hatte und sie nicht mehr so angespannt war, wenn sie mit ihm alleine war, war ihr oft genug der Gedanke gekommen, dass sie es nicht schaffen würde. Oft genug hatte sie das Handtuch werfen wollen und sie wusste, dass sie nie den Respekt bekommen würde, wie ihre Kollegen. Man sah immer nur eine Frau in ihr und nicht die Arbeit, die sie tat, egal, wie sehr sie sich anstrengen würde. Dabei war es das, was sie unbedingt hatte tun wollen. Sie war aus dem kleinen Ort extra zum London Department gegangen, hatte sich in der Schule angestrengt und ihr Praktikum sogar in der Lebensbuchabteilung abgehalten. Hätte es im London Department nicht geklappt, wäre sie in die Abteilung ihres Heimatortes gegangen oder in die nächst größer Stadt. Das wäre auch kein Problem gewesen, aber das Department von London war der absolute Hauptgewinn für sie. Die Erfüllung ihrer Träume und dass sie ausgerechnet mit Undertaker zusammen war, machte es umso perfekter. Wenn einige ihrer alten Schulkameraden sie so sehen könnten, würden sie so schnell nicht mehr lachen. Doch es konnte sie niemand so sehen, aber so musste sie auch niemanden von den anderen sehen, wofür sie mehr als dankbar war. Aber immer wieder merkte sie, dass es noch einige Zeit brauchen würde, bis man sie für voll nehmen würde. Schon an ihrem ersten Tag der Ausbildung hatten ihre Klassenkameraden das gesamte Arsenal an Verarschen auf sie losgelassen. Angefangen hatte es mit Frauenwitzen und merkwürdigen Spitznamen. Nachdem sie jetzt ihre Ausbildung beendet hatte, hatten ihre älteren Kollegen ebenfalls angefangen den gesamten Vorrat an Neulingsverarschen auf sie abgefeuert. Inzwischen hatte sie geglaubt, dass es langsam ein Ende nehmen müsste, aber täglich fiel ihnen etwas Neues ein. Sie konnte das Getuschel hinter ihrem Rücken hören, wenn sie etwas sagte und nicht wenige riefen sie „Dorfhuhn“ oder „dumme Dorfgans“. Es war oft so demütigend die Papiere in der Verwaltung abzugeben oder ihre Sense zu holen. Inzwischen hatte sie es sich angewöhnt, ihre Scythe in ihrem Zimmer aufzubewahren und die Papiere nur ins Postfach zu legen, wenn morgens oder abends niemand mehr an der Rezeption saß. Zum Glück wusste Undertaker nichts davon. Er hätte sicherlich einen Aufstand gemacht und das war das Letzte, was sie haben wollte. Anscheinend hatten ihre Kollegen es auch sehr amüsierend gefunden sie in die Pampa zu schicken, wenn sie nachfragte, wo genau sie in London hin musste, was dazu führte, dass sie die Seelen nur mit Müh und Not rechtzeitig hatte abholen können. Schnell hatte sie sich einen Stadtplan von London zugelegt, um pünktlich zu sein. Das Letzte, was sie wollte, war eine Abmahnung des Chefs. Aber am meisten machte ihr die neue Schülerin in der Buchhaltung zu schaffen. Dieses Mädchen war alles andere als unschuldig. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren und hatte inzwischen mehr als einmal mit ihrem Undertaker geflirtet. Für eine Schülerin hatte sie viel zu viel Make-up aufgetragen und war viel zu freizügig gekleidet. Oft genug hatte sie schon miterlebt, wie sie sich an die älteren Shinigamis angebiedert hatte und diese waren auf ihre Masche auch noch herein gefallen. Diese Schülerin tat es doch nur, um an ihre eigenen Ziele zu kommen. Alyssa nahm ihr nicht ab, dass sie noch nie mit einem Jungen oder einem Mann im Bett war, wie sie neulich groß in der Mensa ihren Freundinnen erzählt hatte. Sie schüttelte geistesabwesend den Kopf darüber. „Worüber denkst du nach?“, fragte Undertaker plötzlich. „Über nichts besonders“, antwortete sie und rieb sich über die Augen. „Ich dachte nur grad an unsere Abteilung und die neuen Schüler.“ „Denkst du da an jemand bestimmten?“ Alyssa seufzte. „Um ehrlich zu sein, ja.“ „An wen denn?“ „An die eine neue aus der Buchhaltung?“ „Du meinst die Kleine mit den dunklen, kurzen Haaren? Die immer so eine schrille hat?“ „Genau und die ständig deinen Namen verschandelt, indem sie Undylein trällert, dass einem das Trommelfell fast zerreißt.“ Undertaker lachte. „Wie war ihr Name noch gleich? Irgendwas mit Monte, oder?“ „Carry Montrose“, korrigierte Alyssa und schauderte bloß beim Gedanken an diese Schülerin. Sie hoffte innerlich, dass sie nie die Prüfung bestehen würde oder versetzt werden würde. Denn sie hatte absolut keine Lust mit ihr um Undertaker zu konkurrieren. Alyssa war sich sicher, dass sie es schaffen würde ihn zu verführen. Was hatte sie schon für Chancen? Sie war nicht so groß wie sie und hatte auch keine ellenlangen Beine. Sie konnte auch nicht mit so einer schmalen Hüfte mithalten oder einem knappen Rock. Sie musste eben darauf bedacht sein, dass sie mit der Kleidung und ihrem Aussehen ihre Arbeit im Außendienst verrichten konnte. Da hatte sie nicht wirklich die Möglichkeit auf ein gutes Aussehen zu achten. Außerdem hatte sie viel weniger Oberweite als diese Carry. „Machst du dir etwa Sorgen darüber, dass ich was mit ihr anfangen könnte?“ Alyssa grummelte nur und sah zu dem Fenster herüber, wo sie ihr Opfer beobachten konnte. Adrian lachte. „Ich sage zwar oft genug, du hast meine Prinzipien über den Haufen geworfen, aber das heißt nicht, dass ich mit jeder Schülerin ins Bett gehe. Du bist da die einzige Ausnahme.“ Alyssa spürte seine warmen Hände an ihrer Hüfte und wie er ihr einen Kuss auf die Halsbeuge hauchte. „Mach dir da echt mal keine Gedanken. Ich habe dich und mehr will ich nicht.“ Sie kicherte leise. Manchmal erkannte sie ihn nicht wieder. Seitdem sie zusammen waren, hatte er sich ihr gegenüber verändert. Es schien ihr, als würde er nur anhand ihrer Körpersprache lesen können, was in ihrem Kopf herum ging. „Ich glaube auch nicht, dass du mir fremd gehst.“ „Aber?“ „Aber hast du mal gesehen, wie sie dich anschaut? Wenn das nicht aussagt: Er gehört mir und ich schlafe mich durch ihn hoch und bestehe die Prüfung, dann fresse ich einen Besen mit Stiel!“ „Ja, ich habe es gesehen und es ignoriert, falls es dir nicht auffällt.“ „Was sie aber nicht davon abzuhalten scheint, es weiter zu versuchen. Für sie bin ich ein Grund, aber kein Hindernis.“ „Aber streng genommen bist du auch ihre Vorgesetzte. Sie ist Schülerin, mehr nicht.“ Alyssa brummte unverständlich und wandte sich wieder der Akte zu. Sie wollte sich nicht länger als nötig mit dieser Schülerin befassen. „Ich muss gleich los und den Mann abholen.“ „Ich habe mir die Akte mal angesehen“, sagte er und zog die Stirn nachdenklich kraus. „Ich frage mich auch, was das zu bedeuten hat. Was hat ein Barbier mit verschwundenen Seelen zu tun? Er ist mit absoluter Sicherheit kein Dämon. Das wurde schon überprüft.“ „Ah gut, dann steh ich nicht alleine auf dem Schlauch.“ „Ich gebe dir schon Recht, dass es ein komplizierter Fall ist. Aber ich denke nicht, dass die Verwaltung dir den Kopf abreißt, wenn du es nicht schaffst. So wie ich das sehe, ist der Fall schon durch viele Hände gewandert.“ „Kann ich nicht einfach sagen, dass ich nichts rausfinden konnte und ihn weiter reichen?“ Undertaker sah sie ungläubig an. „Hast du bei mir nichts gelernt, Alyssa?“ „Doch, aber bei sowas vergeht es einem!“ „Versuch es wenigstens. Tu zumindest so, als würdest du recherchieren.“ Sie nickte nur stumm und sah nach unten zu den Straßen. Sie war durch die vielen Einsätze schon gewohnt, dass es alles andere als ruhig in den kleine Gassen und Hinterhöfen war. Trotz der Feierabendstunde waren noch Karren und Kutschen unterwegs. Die Menschen drängten sich auf den Straßen. Es wurde laut geredet, gestritten und geflucht, aber auch gelacht und gesungen. In der Ferne hörte sie einen Leierkasten und unter ihnen hatte sich ein Gaukler mit seinen Jonglierbällen ausgebreitet. Um sich herum hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Ein kleiner Affe tanzte um ihn herum, während ein paar kleine Straßenjungen versuchten ihm in den Schwanz zu kneifen. Ein paar Mädchen tanzten herum und drehten sich im Kreis, während sie laut kicherten. Ihre Kleider waren ebenso schmutzig wie die der Jungen. Die Straße herunter waren zwei Kutschen ineinander verkeilt. Die Pferde wieherten lautstark und die Kutscher verbrachten die Zeit damit, sich gegenseitig anzuschreien, die Schuld zuzuschieben und wüste Beschimpfungen auszustoßen. Es gab auch ein paar belustige Zuschauer, die aus den Fenstern schauten und sich um die Fuhrwerke versammelt hatten, nur um den Spektakel beizuwohnen. London war eine ganz andere Stadt als die Shinigami Welt und das Department. Es war dort viel ruhiger und alles lief friedlicher ab. Der Geruch war auch um einiges besser. Alyssa konnte noch immer kaum fassen, wie blind die Menschen waren und sie auf den Dächern nie wahrnahmen, obwohl sie so offensichtlich dort standen. „Ich muss jetzt los“, sagte sie. „Brauchst du Hilfe?“ „Nein, ich schaffe das schon.“ „Gut, dann warte ich hier auf dich. Alyssa nickte und sprang vom Dach herunter. Sie landete lautlos in einer dunklen Gasse und ging dann in die Menschenmasse hinein. Obwohl sie eine Sense bei sich trug, sah ihr niemand nach oder blieb stehen, um sie aufzuhalten. Der Nachtwächter zündete die Gaslaternen an und das Licht warf einen schwachen Lichtkreis in die Dunkelheit. Es wurde bald wieder Winter und der Tag wurde immer kürzer. Alyssa konnte kaum glauben, dass es fast ein Jahr her war, dass sie schon mit Adrian zusammen war. Sie quetschte sich durch das kleine Tor und wartete an einer Ecke bis ihr Opfer an ihr vorbei gegangen war. Alyssa wartete ein paar Sekunden und folgte dann dem Mann, der zusammen mit der Frau auf die andere Seite des Hauses gegangen war. Sie konnte sehen, wie die beiden eine Kellertür öffneten und hinein gingen. Schnell folgte sie ihnen im sicheren Abstand und folgte ihnen durch die Abwasserläufe der Stadt. Die Gänge waren sehr schmal und sehr alt. Ein paar Ratten flüchteten an ihr vorbei in die entgegengesetzte Richtung und ein Schauer lief ihr über den Rücken. In diesem Moment wünschte sie sich, dass Undertaker doch da war und sie durch den schleimigen und stinkenden Gang führen konnte. Vereinzelt sag sie kleine Lichtstreifen durch ein Eisengitter durchscheinen, was ihr ein wenig Licht spendete. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Es war schwer mit ihrem Opfer mitzuhalten, wenn sie zeitgleich aufpassen musste nicht auf eine Ratte oder einen Kothaufen zu treten. Nach diesem Auftrag würde sie ein Bad brauchen. Angewidert schupste sie eine besonders dick aussehende Ratte mit der Fußspitze in das Kanalwasser. Angewidert gab sie ein Geräusch von sich und verzog das Gesicht. Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang und war froh die Handschuhe tragen zu müssen. So blieb der feuchte schimmlige und glitschige Schleim nur an den Handschuhen. Sie würde ihre ganze Kleidung danach kräftig schrubben müssen und auch den Stab ihrer Sense würde sie sauber machen müssen nach diesem Auftrag. Der Geruch würde sicherlich nicht so schnell verschwinden. Alyssa hört die entfernte Stimme ihres Opfers und der Frau, die bei ihm war. Langsam schlich sie weiter und stolperte über den unebenen Boden. Sie konnte einen Lichtschein ausmachen und drückte sich an der Wand entlang. Die Stimme der Frau kam näher. Sie durfte sich nicht erwischen lassen. Immerhin stand die Dame nicht auf ihrer Liste. Das Geräusch von näher kommenden Schritten wurde lauter. Nur wenige Sekunden später ging die Frau zurück. Alyssa drückte sich in den Schatten und hörte für einen Moment auf zu atmen. Sie sah der Frau nach. Erleichtert stieß sie den Atem aus. Sofort kam der Geruch von Fäkalien in ihre Nase und Alyssa bereute es, das Atmen wieder angefangen zu haben. „Oh Gott….“, murmelte sie, „Mir wird schlecht….“ Langsam ging sie den Gang entlang. Der Lichtstreifen wurde heller. Es dauerte etwas, bis sich ihre Augen an den Wechsel von Dunkelheit zu Licht gewöhnt hatten. Als sie die Umrisse in den Raum klarer erkennen konnte, wäre sie am liebsten wieder rückwärts raus gegangen und zu Undertaker gerannt. Was sie hier sah, verschlug selbst ihm die Sprache. Das konnte es nicht geben und sie konnte auch nur schwer glauben, dass es Wirklichkeit war. „Was geht hier vor?“, murmelte sie und presste eine Hand vor dem Mund, als würde es ihr helfen den Würgereiz zu unterdrücken, der in ihr aufstieg. „Das ist ja widerlich!“ Alyssa schaute sich weiter in dem Raum um. „Das erklärt zumindest die nicht vorhandenen Körper zum Seelen einsammeln…“ Angespannt wartete sie. Jeden Augenblick musste ihr Opfer sterben. Abe wie? Sie sah keinen wirklichen Grund, weshalb er sterben sollte, außer an Herzinfarkt. Der Mann sah jedoch nicht so aus, als würde er gleich an Altersschwäche sterben. Eine Hand legte sich auf ihren Mund und Alyssa versuchte sich schnell zu befreien. Ihr Herz schlug schnell und ihr Schrei wurde durch die Hand erstickt. Die Person wirbelte sie herum. Es war Undertaker. Er legte einen Finger auf die Lippen und deutete ihr, dass sie leise sein sollte. Langsam ließ er sie los. „Was soll der Unsinn?“, fragte sie mit wütender, leiser Stimme. Ihr Puls hatte sich beschleunigt. „Ich will dir nur helfen“, antwortete er. „Indem du mich erschreckst, dass mein Herz stehen bleibt?“ „Ich wollte dich nur warnen.“ „Wovor?“, fragte Alyssa und noch ehe Undertaker antworten konnte, wurde sie von ihm in einen kleine Nische des Kanals gezerrt. Er legte ihr wieder eine Hand auf den Mund. Diesmal sanfter und sein anderer Arm lag um ihre Taille, als würde er sie vor etwas beschützen wollen. Vom Gang kam ein Geräusch und es folgte das Platschen von Wasser. Fragend sah sie zu Adrian, der noch immer eine Hand auf ihrem Mund hatte und angestrengt lauschte. „Diese verdammten Raten!“, rief eine Stimme und im nächsten Moment hörte sie, wie eine laut aufquiekte. Aus dem Augenwinkel sah sie den Schein einer Fackel und wie dieser sich immer mehr auf den Tunnel zubewegte. „Sei still“, flüsterte Undertaker und zog sich mit ihr weiter in den Schatten zurück. „Wir müssen uns ganz leise verhalten. Alle Gitter und Türen, die in den Untergrund führen sind verschlossen. Das hier ist grade unser einziger Weg zurück.“ An seiner Stimme konnte sie hören, dass er sich Sorgen machte. Auch, wenn Undertaker es nie zugeben würde, konnte sie seine Angst deutlich spüren. Wer war da in den Gängen, dass er sich solche Sorgen machte? Waren es Dämonen? Bei der Vorstellung, dass es Letzteres sein könnte, rann ihr kalter Schweiß über den Rücken. Ihr Herz schlug schneller. „Wer ist das?“, flüsterte sie gegen seine Hand. Alyssa spürte, wie ihre Brust schmerzte vom schnellen Schlagen ihres Herzens. Ihre Atmung ging schneller. „Können wir nicht die Gitter aufbrechen?“ „Was denkst du, was das für einen Lärm macht?“, antwortet er leise. „Es würde die Gruppe nur noch mehr auf uns hetzen und jetzt sei bitte leise!“ Alyssa nickte und lauschte angespannt den näher kommenden Schritten. „Die Alte war ja total durchgeknallt!“, sagte eine weitere männliche Stimme. Es war eine andere Stimme als jene, die vor wenigen Augenblicken gesprochen hatte. Sie klang wesentlich jünger. „Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke, wie hier unten…“ Der Mann wurde durch einen zischenden Laut unterbrochen. „Sei still, sonst kann der Kerl uns hören!“ Im Schein der Fackel sah sie, wie zwei Männer in Polizeiuniform von London vorbei gingen. Undertaker drückte sie in den Schatten und beugte sich ein wenig schützend über sie, damit sie nicht entdeckt wurde. Alyssa konnte sehen, wie beide Richtung Kellerraum gingen. Sobald beide vorbei gegangen waren, ließ er sie los. „Was geht hier vor?“, fragte sie und spähte um die Ecke. Die beiden Körper der Polizisten verdeckten ihr die Sicht auf ihr Opfer. „Pass auf, dass du nicht gesehen wirst!“, mahnte Adrian. „Wieso?“ „Weil sie grade jeden töten, der mit der Sache in Verbindung steht und im Moment wirken wir zwei hier unten nicht gerade wie unschuldige Opfer. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Alyssa nickte. Er hatte recht. Mit den beiden Sensen sahen sie wirklich eher aus wie Mörder. Den Menschen zu erklären, dass sie Shinigami seien, würde sie nur ins Irrenhaus bringen. „Du meinst, sie haben gerade die Frau getötet?“ Adrian nickte. „Ja, ihr Name war Nelly Lovett.“ „Hast du sie abgeholt?“ Wieder nickte er. „Was hat die Verwaltung vor, dass die uns so einen Auftrag gibt?“ „Ich weiß es nicht, aber du musst vorsichtig sein.“ „Haben Sie die Frau getötet?“ „Ja, ich hab sie dann abgeholt.“ „Wie bist du dann vor ihnen hier unten gewesen?“ „Sie haben länger gebraucht, um auf die Spur zu kommen als ich. Es sind eben bloß Menschen.“ „Bist du deshalb hier unten, nur um mir zu helfen?“ „Das ist nicht der Punkt. Du hast so eine Anziehungskraft für Gefahren.“ „Ach was!“ Alyssa machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du hast mir alles beigebracht und ich werde schon nicht wie ein Clown auffallen!“ „Du bist ein Tollpatsch! Du fällst grundsätzlich auf!“ „Das stimmt doch gar nicht!“ Ein lauter Knall riss sie aus ihrem Gespräch und ihr setzte für einige Sekunden das Herz aus. Undertaker zog sie hinter sich und umklammerte seine Death Scythe. „Hei, lässt du mich meinen Auftrag durchführen?“, fragte sie empört und konnte aber das Zittern in ihrer Hand nicht unter Kontrolle bringen. „Das wird mir für dich zu gefährlich. Ich mache das!“ „Aber es ist mein Auftrag!“ Alyssa hörte die Stimmen der Männer laut und deutlich. „Endlich haben wir ihn.“ Der Mann lachte. „Echt widerwärtig, was die hier getrieben haben! Haben doch tatsächlich Menschen zu Pasteten verarbeitet! Ekelhaft!“ „Dafür schmoren ihre Seelen auch in der Hölle!“, gab der andere zurück. „Was machen wir mit ihren Leichen?“ „Wir holen den Leichenbestatter und dann kommen Sie unter die Erde.“ „Sollten wir nicht unseren Boss holen?“ „Den Chef?“, rief der andere entsetzt. „Dem wird sich der Magen umdrehen bei diesem Anblick und uns einen Kopf kürzer machen! Außerdem hätte das Gericht auch kein anderes Urteil für die beiden gehabt als den Tod! Was sollen wir da jetzt noch unserem Chef Arbeit machen?“ Alyssa gab ein angewidertes Geräusch von sich. Sie hatte schon die Leichenteile gesehen und die menschlichen Überreste. Es war wirklich widerwärtig gewesen. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie viele Menschen in dem großen Fleischwolf waren, wo das Fleisch zermahlen wurde. Allein die Vorstellung, dass die Menschen ihre Pasteten liebten und genüsslich eine nach der anderen aßen, trieb ihr die Galle hoch. Vielleicht war es keine schlechte Idee, wenn Adrian die Seele einsammelte, aber dann würde die Verwaltung nur einen Aufstand machen und sie für unfähig erklären. Alyssa schob diesen Gedanken beiseite und drängte sich an ihn vorbei. „Was soll das?“, fragte er wütend. „Geh wieder hinter mich!“ „Das ist mein Auftrag! Ich muss die Seele abholen und dann am besten die anderen auch!“ „Aus Knochen kannst du keine Seele abholen und aus diesem Fleischbrei auch nicht!“ „Das weiß ich, aber diesen Barber muss ich abholen!“ Undertaker wirkte, als würde er sich selbst gleich übergeben müssen. „Das kann ich auch tun! Du bist ganz grün um die Nase!“ „Du nicht, oder was?“ „Ich hab schon schlimmeres als das gesehen.“ Skeptisch sah Alyssa ihn an. „Na gut…das ist mit Abstand das schlimmste!“ „Aber die Seelen der anderen können doch nicht weg sein, oder?“ „Ich fürchte schon. Da wir sie nicht mehr abholen können, werden sie zu Geistern und das ist eine andere Abteilung von uns, die sich darum kümmert. Das einzig Positive ist, dass sie kein Dämon zum Opfer gefallen sind.“ Sie seufzte. „Na gut, aber dann lass mich das trotzdem erledigen!“ „Du musst mir versprechen, dass du vorsichtig bist! Diese Menschen schießen auf alles, was verdächtig aussieht!“ „Natürlich! Ich bin ja schon froh, dass ich nicht in dieser Fleischwolfpastetenmatschepampe rumwühlen muss!“ „Nein, sei froh. Aber immerhin kannst du der Verwaltung sagen, wo die Seelen sind und die leiten es dann an die richtige Abteilung weiter.“ „Wer ist da?“, rief plötzlich eine Stimme und ein weiterer Schuss krachte durch die Kanalisation. Die Kugel krachte am Mauerwerk entlang und Putz bröckelte ab. Alyssa riss die Augen auf und machte einen Satz zu Undertaker. Er fluchte und drückte sie wieder hinter sich. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Wieder ein Schuss und er zog gerade noch rechtzeitig den Kopf zurück, um nicht getroffen zu werden. „Kommt raus!“, rief der Polizist. „Wir wissen, dass ihr dort seid!“ „Was machen wir jetzt?“, fragte Alyssa ängstlich und klammerte sich an Adrians Jackenärmel. „Ich überlege.“ „Tut mir leid…Ich war wohl zu laut“, nuschelte sie. Überrascht sah er sie an und strich ihr liebevoll über den Kopf. „Ich bin auch mit dran schuld. Aber entschuldigen kannst du dich, wenn sie mich erwischt haben.“ „Wie kommen wir zum Portal auf dem Dach?“ „So bestimmt nicht“, antwortete er, „Außerdem muss die Seele eingesammelt werden. Der Papierkram und der Anpfiff der Verwaltung, wenn wir ohne zurückkommen, wird schlimmer sein als jeder Schuss. Es gibt nur einen Weg.“ „Der wäre?“ Undertaker antwortete nicht, sondern sah auf den Boden. Sie folgte seinem Blick. „Oh nein! Auf gar keinen Fall!“, protestierte sie, „Ich steige da nicht rein!“ „Willst du lieber erschossen werden?“ „Nein.“ „Dann bleibt uns keine Wahl!“ Alyssa verzog angewidert das Gesicht, ließ sich aber von Undertaker helfen, leise in das hüfttiefe Kanalwasser zu steigen. Sobald sie darin stand, folgte er ihr. „Tief Luft holen. Halte dich am besten an meiner Hüfte fest. Ich versuche uns an die Kerle vorbei zu bringen, so dass wir zur Leiche kommen.“ Sie nickte widerwillig und holte tief Luft. Langsam ließ sie sich in das warme, stinkende Wasser gleiten und kniff die Augen fest zusammen. Das war der Tiefpunkt des Tages. Nach diesem Auftrag würde sie ein Bad in Essig brauchen, um den Gestank wieder los zu werden. Sie konnte eine Ratte an ihrem Bein spüren und zuckte zusammen. Alyssa hatte Mühe nicht den Mund vor Schreck zu öffnen und den Geschmack von Kanalwasser kennen zu lernen. Wenn man ihr gesagt hätte, dass sie jemals so einen Auftrag ausführen würde, hätte sie gelacht und demjenigen nicht geglaubt. Niemals in ihrem Leben hatte sie gedacht, dass sie so tief sinken würde. Ihre Arme schlangen sich um Undertakers Hüfte und klammerten sich daran fest. Vorsichtig öffnete sie die Augen und sah über sich die Reflektion der Fackel, die einer der Polizisten hielt. Durch das schmutzige Wasser konnte sie nur grob die Konturen erkennen. Vor ihren Augen schwamm ein Stück Tuch vorbei oder das, was davon übrig war. Es hatte braune Rückstände im Stoff und Alyssa verdrängte schnell den Gedanken, wofür es verwendet worden war. Langsam bezweifelte sie, ob es eine gute Idee war, in den Außendienst zu gehen. Vielleicht hätte sie doch in die Lebensbuchabteilung gehen sollen. Ob es zu spät dafür war, zu beten, versetzt zu werden? Sie wollte sich nicht vorstellen, was noch an ihrem Bein entlang schwamm außer Ratten. Alyssa klammerte sich weiter an Adrian, der sich vorsichtig zu ihrem Opfer brachte. Ein verfaulter Fuß schwamm an ihr vorbei. Was entsorgten die Menschen alles in der Kanalisation? Wie weit war es noch bis zu ihrem Opfer? Ihr Magen rebellierte gewaltig und sie wusste nicht, wie lange sie das noch aushielt ohne sich zu übergeben. Es würde bestimmt nicht mehr lange dauern. Plötzlich spürte sie seine Hände und wie sie ihre langsam von seiner Hüfte lösten. Dann war sein Körper aus dem Wasser verschwunden. Nur einen Sekundenbruchteil später zog er sie am Handgelenk aus dem Wasser. Alyssa atmete tief durch und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Sie konnte den Geruch es Wassers an sich riechen und unweigerlich musste sie würgen. „Das war das ekligste überhaupt in meinem Leben!“, sagte sie. „Nicht nur für dich!“, sagte Undertaker, „Sammel schnell die Seele ein, dann gehen wir zurück.“ „Ich brauch eine Dusche. Nein zwei oder drei sogar!“ „Wenn ich dir sage, dass du da wohl halbverdaute Brotreste im Haar hast, kotzt du dann oder erhöhst du die Anzahl deiner Duschen?“ „Beides gleich…“, sie presste eine Hand auf den Mund und unterdrückte den sauren und bitteren Geschmack ihrer Galle. „Könnten wir bitte der Verwaltung schreiben, dass man uns Ersatzuniformen und Unterwäsche schickt? Ich kann in diesen Kleidern nicht zurückgehen. Vorher kotz ich mir die Seele aus dem Leib.“ Undertaker gab ein angeekeltes Geräusch von sich. „Dann beeilen wir uns. Bevor auch noch die Polizei merkt, dass wir nicht mehr in der Ecke stehen.“ Vorsichtig ging er zum Ausgang und spähte in den Gang. „Sie suchen gerade die Nische ab, wo wir bis eben waren.“ Er sah wieder zu Alyssa. „Beeil dich, dann können wir uns an ihnen vorbei schleichen und zurück.“ „Ich steige nicht noch mal in die Brühe!“ Alyssa richtete sich auf und nahm den durch das Wasser glitschigen Griff in die Hände. „Wenn die nicht vorher gehen und zurückkommen bleibt uns keine Wahl!“ Alyssa rümpfte die Nase und ließ die Klinge ihrer Sense auf den leblosen Körper des Mannes am Boden nieder sausen. Das Hemd war von Blut getränkt und es war deutlich zu sehen, dass einer der Polizisten auf ihn geschossen hatte. Als die Klinge den Körper berührte, stiegen die Cinematic Records aufs, die sein Leben beinhalteten. Alyssa besah sich die Aufzeichnungen und leierte dabei mit monotoner Stimme die Todesdaten des Mannes herunter. Die Filmstränge waren faszinierend anzusehen. Sein ganzes Leben war darin zu erkennen und auch die vielen Morde an den seinen Kunden. Sie konnte einen Krieg erkennen, in dem er gekämpft hatte und in dem er die Männer als Chirurg versorgt hatte. Als er zurück gekommen war, hatten ihn immer wieder die Gesichter der vielen Toten verfolgt, die gefallen war. War das der Grund, wieso er gemordet hatte? War er vielleicht gar nicht böse gewesen, sondern einfach nur verrückt geworden durch den Krieg? Alyssa schüttelte den Kopf. Egal, was er gewesen war, es war vorbei. Er war tot und er konnte weder sich noch anderen mehr Schmerzen zufügen. Sie wandte den Blick ab. Der Papierkram für diese Arbeit würd die reinste Hölle werden. Carry dürfte sie auf keinen Fall so erblicken oder erfahren, was passiert war. Andernfalls würde sie es sich für den Rest ihres Lebens irgendeinen neuen Spitznamen gefallen lassen müssen. „Ich bin fertig“, sagte sie, „Lass uns bitte schnell irgendwo ein Bad nehmen und dann zurück in die Society, ja?“ Sie hielt ihre Hand auf den Bauch und ließ die Sense mit einem lauten Klirren fallen. Alyssa presste die Lippen zusammen und unterdrückte ein Würgen, was kläglich scheiterte. Schnell rannte sie in eine Ecke des Raumes und ihr Magen gab seinen gesamten Inhalt von sich. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Undertaker besorgt, als sie ein weiteres Würgen von sich gab. „Jetzt ist es amtlich…“, murmelte sie und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, „Das ist und wird der schlimmste Auftrag in meinem Leben bleiben!“ Ein weiteres Würgen folgte. „Wie sind die an uns vorbei gekommen?“, rief einer der Männer und Alyssa hörte ihre Schritte, wie sie auf sie zukamen. „Wir müssen hier weg, Lyss!“ „Ich weiß!“, sagte sie und wischte sich erneut mit dem Ärmel über den Mund. Ihre Sachen würde sie nach diesem Auftrag entsorgen müssen. Keine Wäsche der Welt würde das je wieder sauber und Geruchsfrei kriegen. Sie griff nach ihrer Death Scythe und sah sich nach einer weiteren Fluchtmöglichkeit um. „Wie kommen wir hier raus?“, fragte sie und spähte um die Mauer. Die Polizisten kamen direkt auf sie zu. Alyssa sah zu Undertaker, der an einer der Wände stand und mit der Hand daran entlang tastete. Er hatte seine Handschuhe ausgezogen. Sie zischte ihm zu. „Wir haben keine Zeit die Architektur zu bewundern! Wir müssen hier raus!“ Ein Schuss krachte. „Die schießen mal wieder auf uns!“, sagte sie mit panischer Stimme. „Ich weiß. Ich suche auch grade nach einer Möglichkeit, wie wir hier raus kommen!“ „Wie denn? Wir können nicht durch Wände gehen!“ „Kommt raus! Wir wissen, dass ihr da drin seid!“, rief der Polizist und ein weiterer Schuss krachte an der Mauer entlang. „Ich hab eine Idee und bete darum, dass es funktioniert“, sagte Undertaker und umklammerte seine Sense. „Warum?“ „Weil wir ansonsten erledigt sind.“ Er holte mit der Klinge Schwung und schlug gegen die Mauer. Alyssa hielt sich die Ohren zu und wandte sich etwas ab, als das Mauerwerk zusammenbrach. „Was wird das?“, fragte sie verwirrt und trag an Undertakers Seite. „Wo kommt dieser Durchgang her?“ „Ich hab gefühlt, ob ich einen Luftzug spüren kann. Es gibt mehrere Unterirdische Wege und früher gab es auch Katakomben, die zu den Kirchen führte. Viele sind inzwischen zugemauert und ich habe eben einen kleinen Zug gespürt. Scheinbar hatte ich recht.“ Alyssa machte große Augen, als würde ihr ein Licht aufgehen. „Verstehe. Dann lass uns schnell abhauen. Ich glaube, der Lärm lockt die zwei noch mehr an.“ Sie stiegen über das Geröll, während der feine Staub ihnen die Sicht erschwerte. „Weißt du, wo es lang geht?“, fragte Alyssa und ein Stein rollte unter ihren Füßen weg. Sie griff nach Adrians Arm und hielt sich daran fest. „Ich kann es nur vermuten“, gab er zu und ging mit ihr in den Tunnel. „Sei vorsichtig. Der Boden ist uneben.“ Alyssa nickte und watete mit ihm durch das Kanalwasser. Es war dunkler und sie konnte nur grobe Umrisse erkennen. Die Decke war wesentlich höher und der Stein unebener, wie sie erkennen konnte. Sie hörte eine Ratte durchs Wasser laufen und wie sie laut fiepte. Undertaker hatte ihre Hand genommen und zog sie zielsicher vorwärts. „Wie viel Vorsprung bringt uns das?“, fragte sie und lief mit ihm schnell weiter. „Nicht viel, vermute ich.“ „Was ist das für ein Geruch? Sind das die Katakomben oder die Grube der stinkende Brühe?“ Sie hielt sich angewidert die Nase zu. Es roch schlimmer als das Kanalwasser durch das sie geschwommen waren. „Da bekommt man ja richtig Lust weiter im Außendienst zu bleiben.“ „Willst du etwa aufhören?“ „Nach so einem Auftrag frage ich mich nur, ob sich die Ausbildung gelohnt hat. So viel Ärger mit den Menschen für eine Seele.“ „Apropos Ärger…“, murmelte Undertaker und sah zum Eingang zurück, durch den schwaches Licht fiel. „Komisch, dass wir noch keine haben.“ „Was meinst du?“ „Die Polizisten müssten uns schon längst gefolgt sein, aber ich kann sie nicht hören.“ Es stimmte. Jetzt, wo er es sagte, fiel ihr auch auf, dass sie keine Stimmen, Schritte oder Schüsse mehr von ihnen gehört hatte. Alyssa konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie so schnell aufgeben. Ihr Herz schlug schnell. Wo waren die Männer? Kein Mensch konnte sich so leise bewegen. „Vielleicht trauen sie sich nicht?“, schlug sie hoffnungsvoll vor. „Vielleicht“, antwortete Adrian und dreht sich wieder um. „Lass uns weiter gehen.“ Seine Stimme klang angespannt und besorgt zugleich. Alyssa wandte dem Tunneleingang ebenfalls den Rücken zu und lief schnell an Undertakers Seite. Sie fühlte sich zwar noch immer einem Angriff schutzlos ausgeliefert, aber neben Adrian fühlte sie sich doch sicherer. Mit schnellen Schritten führte Undertaker sie durch die Tunnel. Es war stockfinster und nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie auch grobe Umrisse erkennen. Es lagen unzählige menschliche Knochen an den Wänden. Aus einem Schädel sahen sie rote Augen an und eine Ratte sprang aus den leeren Augenhöhlen heraus. Sie kletterte über den Schädel nach oben zu einem neuen Skelett. Die Krallen kratzten über die Knochen und verursachten ein unangenehmes Geräusch. Alyssa nahm seine Hand und er drückte sie fester. Es gab ihr ein beruhigendes und sicheres Gefühl. Der ganze Tunnel machte ihr Angst. Was wäre, wenn sie sich verirrten und nicht mehr heraus fanden? „Mach dir keine Sorgen“, sagte Adrian. „Ich war schon mal hier und hatte ein paar Aufträge. Ich kenne noch den ungefähren Weg. Es dauert nicht mehr lange und dann kommen wir in einem Mausoleum auf einem Friedhof heraus.“ Alyssa nickte und prallte im nächsten Moment gegen Undertaker. „Still!“, zischte er und lauschte. Angespannt spitze sie die Ohren und lauschte ebenfalls. Sie hörte die Schritte und das Fiepen der Ratten, das leise Plätschern von Wassertropfen und Schritte, die durch das Wasser gingen. „Die Polizisten!“, sagte sie schnell. „Los! Lauf!“ Undertaker rannte los und Alyssa folgte ihm. Nur wenige Sekunden später hörte sie die Schritte der Polzisten deutlich hinter sich und wie sie sie verfolgten. „Wie haben die uns gefunden?“, fragte sie. „Sie müssen einen andere Eingang genutzt haben!“, rief er ihr zu, „Beeil dich!“ Alyssa keuchte und sah hinter sich. Ein Schuss krachte und der Laut hallte in dem Gewölbe wieder. Sie duckte sich und hörte Knochen splittern. Undertaker griff nach ihrem Handgelenk und zog sie um eine Ecke, während ein weiterer Schuss sie nur knapp verfehlte. Sie rannten eine unebene Steintreppe hoch und die Schritte der Polzisten platschten durch das Wasser. Adrian stemmte sich gegen eine Marmorplatte und schob sie zur Seite. „Beeil dich!“, flehte Alyssa und machte sich bereit zur Not ihre Sense einsetzen zu müssen. Er keuchte vor Anstrengung auf und sie hörte das Scharren von Stein, als sich die Platte bewegte. „Bleiben Sie sofort stehen! Sie können nicht entkommen!“, rief einer der Männer. „Komm schnell!“ Undertaker zog sie die restlichen Treppenstufen hoch und raus an die frische Luft. Alyssa stemmte sich mit ihm gegen die Platte und schob sie zurück an den Platz. Sie keuchte vor Anstrengung auf und hörte das fluchen der Männer. Ihr Herz schlug kräftig gegen ihre Brust und sie hatte Mühe zu atmen. Sie lehnte sich gegen die Platte. „Das war knapp…“, keuchte sie. Undertaker nickte stumm und keuchte ebenfalls. „Wir müssen nur weiter!“ „Was? Aber wir haben sie doch abgehängt!“ „Sie könnten die Platte auch zur Seite schieben. Also komm! Wir müssen hier weg und uns in Sicherheit bringen! Noch haben Sie unsere Gesichter nicht gesehen.“ Er nahm ihre Hand und zog sie weiter. Sie liefen über den unebenen und matschigen Boden des Friedhofes. Überall standen Grabsteine und die Glocke der Kapelle läutete. Die Luft war erfrischend angenehm und ein feiner Nieselregen fiel herab, aus dem bald ein Londoner Regen wurde, der schmutzig war, bevor er den Boden erreichte und der Stadt das zurückgab, was aus den Schornsteinen aufgestiegen war. Die Wassertropfen fühlten sich nach dem schmutzigen Abwasser erfrischend an, dennoch würde sie zuerst ein Bad nehmen müssen. Alyssa roch die modrige Graberde und sah einige Kerzen vor den Grabsteinen. Sie wirkten wie kleine Irrlichter in dem dämmrigen Abendlicht. Einige Kreuze waren abgebrochen oder verwittert über die Zeit. Wie alt war der Friedhof über den sie liefen? Undertaker sprang über einen kleinen Stein und sie machte es ihm nach. Vorsichtig warf sie einen Blick zurück und konnte erkennen, wie sich jemand aus der Erde erhob. „Wir sollten uns beeilen!“, rief sie keuchend und deutete nach hinten, als Adrian sie fragend ansah. Er fluchte und blieb stehen. Undertaker zog sie an sich und hob sie hoch. „Was hast du vor?“, fragte sie verwirrt. Das letzte Mal als er sie so getragen hatte, war während ihrer Lehrlingszeit gewesen, als sie noch nicht so hoch springen konnte und alleine durch das Portal durfte. „Ich bin schneller, wenn ich dich trage und du brauchst eine Pause!“ Undertaker sprang nach oben auf das Kirchendach und sah nach unten zu den Gräbern. Undertaker ließ sie herunter und Alyssa warf einen Blick über den Rand des Daches nach unten. Sie konnte die Fackel des einen Polizisten sehen und wie sie den Friedhof nach ihnen absuchten. Alyssa hörte das Schlagen von taubenflügeln und drehte sich herum. „Schickst du eine Nachricht an die Zentrale?“ Undertaker nickte. „Ich habe geschrieben, dass wir dringend neue Uniformen brauchen und etwas später zurückkehren werden, wenn nicht sogar erst morgen früh.“ Alyssa nickte. „Ich hoffe, unser Abteilungsleiter reißt uns nicht den Kopf ab, wenn wir mit den versauten Uniformen zurückkommen.“ „Ich glaube, er wird es uns vom Gehalt abziehen, dass wir neue brauchen.“ Sie stöhnte gequält auf. „Dann sollen die uns nicht so einen Auftrag geben!“ „Ich finde auch, dass man uns die Uniformen stellen sollte. Die Regelung, dass wir die Arbeitskleidung bei Beschmutzung oder Beschädigung vom Gehalt abgezogen kriegen ist einfach nur dreist von der Verwaltung!“ Sie nickte stumm und sah zu, wie die zwei Männer den kleinen Friedhof abgrasten. Es würde Ewigkeiten dauern, bis sie sie finden würden. Bei dem Gedanken kicherte Alyssa leise. Der Mann, der die Fackel trug rief seinem Kollegen etwas zu, was sie nur schwer verstehen konnte. Es dauerte auch nicht lange und sie verließen die Ruhestätte. Erleichtert ließ sich Alyssa auf das Dach nieder und streckte sich. „Was denkst du, wie lange die von der Verwaltung mit den Uniformen brauchen? Es wird langsam kalt.“ „Zieh dir die Jacke und die Weste aus“, sagte er und zog den Mantel, Jackett und Weste aus. Alyssa tat es ihm gleich. „Frieren wir so nicht noch schneller?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein, durch das Verdunsten der Nässe friert man schlimmer. Es ist wie im Sommer, wenn man aus einem Schwimmbecken kommt. Im Prinzip hat man es nackt besser, aber keiner will sich ausziehen.“ Adrian nahm ihr die Sachen ab und schlang beide Arme um ihren Körper. „Ist das nicht grade eklig für dich?“, fragte sie verlegen, „Ich muss doch total schlimm riechen!“ „Ich rieche nicht besser. Daher fällt es nicht auf. Außerdem sind wir an der frischen Luft und es regnet. Ich will außerdem nicht, dass du zu kalt wirst. Es wird bestimmt noch dauern bis wir ins Badehaus können.“ „Ich hoffe es geht schnell. Weißt du wie erpicht ich auf ein Bad bin?“ „Das glaube ich dir. Ich zeige dir mal die Badegelegenheiten hier in London.“ „Das klingt gut.“ „Es gibt mehrere Badehäuser hier, die auch oft von den Armen genutzt werden, wenn man den Dreck abschrubben will. Aber da wir mehr Geld haben, werde ich dich bestimmt nicht mit den Armen baden lassen. Ich geh mit dir in das erste Klasse Bad. Da kriegen wir das sauberste und heißeste Wasser.“ „Warst du schon mal in so einem Badehaus?“ Adrian nickte. „Damals war es aber in der untersten Schichtklasse und ich hab mich nicht wirklich sauber danach gefühlt. Später war ich dann mal in der ersten Schichtklasse. Das Wasser war viel sauberer und fast durchsichtig. Später habe ich erfahren, dass manchmal das Wasser der feinen Leute in die Becken für die Mittelschicht gelangten und dann die Reise zu den Gemeinschaftsbecken der Unterschicht fortführte. Manchmal kommt es da noch mit Seife an, um auch dort etwas sparen zu können. Jemand sagte mal, man würde nie den Tisch mit dem Bürgermeister oder Baronen teilen, aber wenigstens teilte man das Bad mit ihnen und das machte aus vielen einen stolzen Londoner.“ „Das klingt eklig, aber ich traue es den Menschen zu. Können wir vielleicht schon zu dem Bad gehen? Die Taube wird uns doch sicherlich finden, oder?“ „Kannst du nicht mehr warten? Bist du so ungeduldig?“ Alyssa nickte. „Aber wie willst du uns da eigentlich reinbringen? Wir sehen nicht gerade aus, wie jemand aus der Oberschicht und Männer und Frauen werden doch streng voneinander getrennt.“ „Das lass mal meine Sorge sein. Ich hab da schon eine Idee.“ Undertaker grinste sie verschwörerisch an und nahm sie wieder in die Arme. Er sprang mit ihr vom Dach und brachte sie zu dem Badehaus. Einige Treppen führten zur Tür des Hauses hinauf und sah von außen aus, wie ein ganz normales Wohnhaus. Niemals im Leben hätte Alyssa gedacht, dass es so etwas in der Londoner Innenstadt gab. Undertaker öffnete die Tür und sofort wurden sie von einer Dame begrüßt, die sie kritisch musterte. Sofort wandte sich Adrian ihr zu und griff in seine Manteltasche nach seinem Geld. „Schauen Sie nicht so unhöflich drein, als wären wir arme Schlucker!“, fuhr er sie an. Alyssa zuckte zusammen. So hatte sie ihn noch nie reden gehört und sein Blick betrachtete sie von oben herab. Das junge Mädchen zuckte unter seinem Blick zusammen und sah ihn direkt devot und entschuldigend an. „Meine Frau und ich brauchen dringend ein Bad für uns zwei! Unsere Kutsche hatte einen Unfall und Sie sehen ja, wie wir aussehen!“ Er schob ihr ein paar Münzen und ein paar Scheine zu. „Sehr wohl. Ich lasse sogleich zwei Bäder vorbereiten“, sagte sie mit zittriger Stimme und zog an einer langen Kordel, die die Glocke für die Dienstboten läutete. „Sagte ich etwas von zwei Bäder, Sie einfältiges Ding?“ „Oh Verzeihung. Dann werde ich für Sie ein Bad vorbereiten lassen.“ „Darum bitte ich und wir wollen nicht gestört werden!“ Sie knickste. „Sehr wohl!“ Alyssa kicherte leise und beobachtete sie Szene. Sie konnte kaum glauben, wie gut er sich verstellen konnte und dem armen Mädchen glauben machte, sie seien adelige Leute. Die Frau überreichte ihm einen Schlüssel und zwei Dienstmädchen kamen aus einer versteckten Nebentür. Sie brachten sie zu einem ruhigen Raum, wo sie sich entkleiden und ihre Sachen liegen lassen konnten. In weichen Handtüchern gehüllt liefen sie in das Nebenzimmer. Der Raum war mit einer hohen Decke ausgestattet und der Boden aus purem Marmor. Das Wasser war so heiß, dass feiner Dampf aufstieg und ihre Schritte hallten ein wenig wieder bei der Größe des Raumes. Die Wände waren weiß gestrichen und hatten prunkvolle Blütenblätter als Verzierung. Es waren einige Marmorsäulen in den Raum gestellt worden, die ihm einen italienischen Touch verliehen. Alyssas Augen weiteten sich. So etwas hatte sie noch nicht gesehen. „Habe ich dir zu viel versprochen?“ Sie konnte nur den Kopf schütteln. „Das Beste daran ist, die Kosten übernimmt die Verwaltung!“ „Wieso hast du dann ein Bad genommen?“ „Denkst du ich habe Lust mich vor den warmen Jungs in acht zu nehmen, wenn du verstehst, was ich meine? Bei meinem ersten Besuch in der adeligen Schicht hatte es mich doch etwas verstört. Seitdem kann ich nur davon abraten ins große Becken zu gehen.“ Alyssa kicherte. „Ich kann es mir bildlich vorstellen. Aber gib es zu. Du genießt es mit mir hier zu sein und das auch noch auf Verwaltungskosten!“ „Habe ich etwas Gegenteiliges behauptet?“ Sie grinste ihn an und stieg in das warme Wasser. Wohlig seufzte sie auf. Adrian folgte ihr. „Es gibt hier auch noch mehr Becken, wie die Schwitzbäder, kalte und heiße Bäder. Es gibt auch Massagen in manchen Häusern. Vieles davon ist aus dem Orient oder Italien übernommen worden.“ „Interessant. Aber ich glaube, so eine Massage von dir wäre mir lieber.“ „Willst du damit irgendetwas sagen?“ „Wenn du mich so fragst, ja. Massierst du mich?“ Adrian lachte und seine warmen Hände fuhren über ihre nackte Schulter und kreisten über die Haut. Wohlig seufzte sie unter der Berührung auf. Wenn solche Aufträge immer damit endeten, dass sie in so ein warmes Bad durfte und Undertaker sie massierte, würde sie diese Art von Arbeit öfters machen. Sie spürte seine Lippen auf ihrer Schulter und seufzte. Er ließ sie los und Alyssa drehte sich zu ihm herum, um zu protestieren, da hielt er schon ein Stück Seife in der Hand und begann ihren Rücken zu schrubben. Der Geruch stieg ihr in die Nase und allein deswegen fühlte sie sich gleich viel sauberer. Sie könnte für den Rest des Tages in dem Wasser bleiben. Die Seife verteilte sich über ihre Haut und Adrian spülte mit einem Schwamm den Schaum fort. Alyssa seufzte und tauchte einmal mit dem Kopf unter Wasser, um auch die letzten Dreckreste fortzuspülen. „So etwas könnten wir öfters machen“, sagte sie und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. „Das glaube ich dir, aber gewöhn dich nicht zu sehr daran.“ „Wieso denn?“ „Weil die Verwaltung so etwas nicht immer bezahlt. Das hier ist eine Ausnahme, mein Engel.“ „Dann sollte die Verwaltung mal so etwas einführen oder bei uns einbauen lassen.“ Er nickte und begann sich ebenfalls mit der Seife sauber zu waschen. Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. „Gnädige Frau, verzeihen Sie, aber da ist jemand, der Sie sprechen möchte“, kam es von einem Dienstmädchen durch die Tür. Alyssa sah verwirrt zu Undertaker und ihr Herz klopfte schneller. Hatten die Polizisten Sie gefunden? Woher wussten sie, dass sie hier waren? „Geh schon“, meinte Adrian und nickte ihr aufmunternd zu. „Vielleicht ist es nur eine Botin aus der Verwaltung, die uns die Uniformen bringt.“ Sie stieg aus dem warmen Wasser und griff sich eines der Bademäntel. Schnell wickelte sie sich darin ein. „Ja?“, fragte sie vorsichtig und öffnete die Tür ein Stückchen, so dass etwas Wasserdampf entkommen konnte. Das Dienstmädchen knickste förmlich und senkte das Haupt. „Verzeihen Sie, ich weiß, Sie möchten nicht gestört werden, aber da ist eine junge Dame für Sie, die sie unbedingt sprechen und etwas abgeben möchte. Sie ließ sich auch nicht fortschicken.“ Alyssa nickte und versuchte so erhaben zu sprechen, wie Undertaker es vorhin getan hatte. „Du kannst gehen. Schick die Frau rein.“ Das Mädchen nickte und machte noch einmal einen förmlichen knicks vor ihr, ehe sie sich abwandte. Nur wenige Augenblicke später trat Carry Montrose herein. Jegliche Farbe wich aus Alyssas Gesicht. „Na Dorfhuhn!“, trällerte Carry zur Begrüßung und hielt ein Bündel mit Kleidung in der Hand sowie eine Akte. „Da hast du deinen Auftrag ganz schön ins Wasser fallen lassen. Oder sollte ich sagen in den Kanal?“ Alyssa verdrehte die Augen. „Deine Wortwitze sind so schlecht wie du selbst.“ „Ach komm, Dorfhuhn, den Zettel, den du uns geschickt hast, stank tierisch und glitschig war der auch!“ „Undertaker hat ihn geschickt.“ Carrys Augen weiteten sich kurz. „Oh der Arme! Dass er so etwas durchmachen musste, nur weil du zu dämlich bist, eine Seele abzuholen.“ „Es war seine Idee.“ „Ein Beweis dafür, wie dämlich du doch bist, Dorfhuhn! Wenn du dich nicht von der Polizei hättest erwischen lassen, wäre es nie passiert.“ „Ich glaube, die Verwaltung hat vergessen zu erwähnen, dass da unten auch Polizisten sind, die den Mann erschießen und auf alles andere was sich bewegt. Wenn ich mich recht erinnere, bist du doch so gut befreundet mit einer Schülerin in der Verwaltung!“ „Willst du mir unterstellen, dass ich meine Finger mit im Spiel habe und die Verwaltung gesagt habe, sie sollen dir den Fall geben?“ „Habe ich das gesagt?“ Carry knurrte und drückte ihr das Bündel mit Kleidern in die Hand. „Hier, Kanalratte. Ich versteh sowieso nicht, wieso du eine neue Uniform brauchst. Du stinkst doch eh schon nach Hühnerkacke!“ Alyssa antwortete nicht sondern nahm wortlos das Bündel mit Kleidern in die Hand. Sie prüfte, ob alles vorhanden war. „Du weißt schon, Carry, dass es Schülerin nicht gestattet ist in die Menschenwelt zu gehen und erst recht niemanden aus der Verwaltung oder Buchhaltung? Dafür haben wir in der Seelensammlung unsere Boten.“ Carry zuckte mit den Schultern. „Was interessiert mich das?“ „Lass mich raten, du hast auch schon mit einem Boten aus meiner Abteilung geschlafen, der jetzt auch zu deinen Bewunderern zählt? Wie sonst bist du zum Portal gekommen?“ „Willst du mich verpetzen, Dorfhuhn?“, fragte sie mit lässiger Stimme. „Mach es doch. Dann bestell dem Personalchef einen Gruß von mir und richte ihm aus, dass ich gern eine Gehaltserhöhung hätte. Das erspart mir einen Termin bei ihm.“ Alyssa wusste nicht, was sie über so viel Dreistigkeit einer Schülerin sagen sollte. Was glaubte sie, wer sie war? „Ach ja, ehe ich es vergesse, Dorfhuhn“, Carry drückte ihr die Akte in die Hand. „Was ist das?“, fragte Alyssa verwirrt. „Eine Akte. Bist du so hinterwäldlerisch, dass du nicht mal das kennst, Dorfhuhn? Das kannst du aufschlagen und dann stehen da Buchstaben drin. Die ergeben dann Wörter und stell dir vor, dass ergibt Sätze! Lesen kannst du wohl noch, oder?“ „Nein, kann ich nicht, ich bin nämlich taub.“ Alyssa verdrehte die Augen. „Carry, geh und vögel irgendwelche Kerle, aber nerv mich nicht!“ „Na gut“, sagte sie und lächelte. Carry ging an Alyssa vorbei und öffnete die Tür zum Bad einen Spalt. „Wo willst du hin?“, fragte Alyssa knurrend. „Na zu Undylein!“, trällerte sie. „Du sagtest doch, ich soll irgendwelche Kerle vögeln und da drin wartet ein Sahneschnittchen von einem Mann!“ „Fass ihn auch nur einmal an und du hast meine Klinge im Rücken!“, knurrte Alyssa wütend und drückte die Tür zu. Sie schaute Carry über den Rand ihrer Bille wütend an. „Oh ist das Dorfhuhn etwa eifersüchtig?“, kicherte sie. „Nein, aber ich will nicht, dass er sich Krankheiten bei dir einfängt, die du dir beim Billignutte spielen gratis geholt hast.“ Carrys Gesicht verfinsterte sich. Einer ihrer langen Fingernägel bohrte sich in Alyssas nackter Haut. „Pass auf was du sagst, sonst wirst du nur noch solche Aufträge kriegen, Kanalratte!“ „Darf ich das als Geständnis sehen, dass du Schuld daran bist, dass ich nur in den mieseren Gegenden Londons arbeite?“ „Ich gebe gar nichts zu und jetzt entschuldige mich, ich habe besseres zu tun, als mit einer stinkenden Ratte wie dir zu reden. Nachher färbt dein Geruch auf mich noch ab. Denn ich kann meine Verabredung jetzt schon hören: Aber, Carry, du duftest doch sonst nach Orangen. Was ist das für ein neues Parfüm? Urin?“ Alyssa zuckte mit den Schultern. „Dann verpeste du mal dein Date. Ich genieße noch ein wenig mein Bad mit „Undylein“.“ Carry rümpfte die Nase und stolzierte aus dem Zimmer. Erleichtert atmete Alyssa auf und warf ungestört einen Blick in die Akte. Genervt seufzte sie auf, klappte die Unterlagen zu und ließ sie auf einer Ablage liegen, während sie zu Undertaker wieder ins Badezimmer ging. „Wer war denn da? Das hat ganz schön lange gedauert.“ „Carry“, antwortete sie nur, als würde das alle Fragen beantworten. „Carry? Was wollte sie hier? Sie darf doch gar nicht durch das Portal!“ „Sie hat unsere Uniformen gebracht und mir einen neuen Auftrag aufgedrückt.“ „Was? Ein weiterer Auftrag? Aber du hast Feierabend!“ „Ich weiß! Aber ich muss mich beeilen. Denn in einer Stunde stirbt die Person und es ist in Whitechapel. Also am anderen Ende der Stadt!“ Kapitel 29: Der Alchemist von Whitechapel ----------------------------------------- Undertaker seufzte ergeben. „Dann hat sich das entspannte Baden als Einleitung für den Feierabend wohl erledigt.“ Alyssa nickte. „Die Verwaltung hat einen an der Waffel! Das schaff ich doch nie pünktlich!“ „Willst du damit sagen, dass Carry mit Absicht getrödelt hat, nur um dir zu Schaden?“ „Ich könnte es mir bei ihr gut vorstellen“, erwiderte sie und nahm sich eines der Handtücher, um sich abzutrocknen. „Weißt du, wie du zu deinem Auftrag kommst?“ „Ich habe keine Ahnung!“ „Soll ich dich dann begleiten?“ „Du hast Feierabend!“ „Du auch!“ „Nein, habe ich nicht. Der Auftrag kam rein und das bedeutet Überstunden!“ „Dann machen wir zu zweit Überstunden. Ich lasse dich als Frau nicht alleine nach Whitechapel!“ Alyssa seufzte und zog die frische Unterwäsche an. Sie hoffte inständig, dass Carry kein Juckpulver oder anderen Zeug reingetan hatte. Aber sie hatte keine Zeit um sich darüber Gedanken zu machen. „Adrian, ich will mich nicht mit dir Streiten.“ „Na also. Dann ist es doch geklärt. Ich begleite dich!“ Undertaker grinste und küsste sie auf die Stirn. Alyssa verzog ein wenig das Gesicht, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich kann doch eh sagen, was ich will, oder?“ „Da hast du auch wieder Recht.“ Schnell zog sie die Uniform an und reinigte mit dem einem Lappen ihre Sense, damit diese nicht mehr so glitschig war. „Das ist doch reine Schikane!“, schimpfte Alyssa los und konnte ihre Wut kaum verbergen. „Soll ich dich tragen?“ „Nein. Ich schaff das schon irgendwie.“ „Lyss, vergiss bei deinem Ehrgeiz nicht, dass die Seele wert voll ist und an erster Stelle steht. Wir müssen pünktlich sein.“ „Ich weiß, aber es macht mich nur so sauer!“ „Wegen Carry?“ Undertaker sah in den Spiegel und band sich die Krawatte. „Auch! Dieses Biest hat seine Finger da mit absoluter Sicherheit im Spiel und hätte ich ihr nicht gerade die Tür vor der Nase zugeknallt, wäre sie hier einfach so reinspaziert und hätte sich zu dir ins Bad gesetzt!“ Undertaker lachte. „Das schien ja sehr interessant gewesen zu sein zwischen euch.“ Alyssa warf ihm einen genervten Blick zu. „Lass uns lieber gehen. Sonst komme ich total zu spät und wer weiß, was Carry noch für Beziehungen in der Verwaltung hat. Nicht, dass ich dann auch noch Suspendiert werde.“ „Ich werde schon dafür sorgen, dass wir pünktlich sind und du keinen Ärger kriegst!“ Alyssa konnte nicht glauben, wie viel Mühe er sich machte und konnte nichts anderes als Dankbarkeit empfinden. Sie griff nach der Akte und nahm ihre Death Scythe in die Hand. Schnell liefen sie die Treppen des Hauses hinunter, riefen dem Empfangsmädchen einen Abschiedsgruß zu und liefen auf die Straße. „Wir sollten über die Dächer dahin!“, rief Undertaker und sprang mit einem einfachen Satz auf das Dach des nächst gelegenen Gebäudes. Alyssa nickte und tat es ihm gleich. Undertaker sah sich auf den Dächern um. „Wie viel Zeit hast du noch?“ „Etwa dreißig Minuten.“ Adrian nahm sie wieder auf den Arm und lief los. „Halt dich gut fest“, sagte er und sprang mit schnellen Schritten über die Dächer von London. Der kalte Regen fiel ihr dabei ins Gesicht und sie hatte Mühe die Unterlagen fest zu halten. Alyssa vergrub das Gesicht an seiner Schulter. Sie fühlte sich dabei gleich viel wohler und das Gefühl unter Zeitdruck zu stehen, verschwand wie im Flug. Als Adrian sie wieder absetzte, standen sie vor einem alten Herrenhaus, an dessen Wänden sich der Backstein löste und an einer Stelle war die Fassade schwarz gefärbt von einem Feuer. Die Fenster waren zugemauert worden und nur ganz oben, konnte sie mehrere kleine Schlitze erkennen, die als Lichtquelle dienen sollten. Zusätzlich waren Gitter vor den schmalen Fenstern angebracht worden. „Was ist das? Ein Sanatorium?“, fragte Undertaker und sah Alyssa fragend an. „Laut der Akte nicht“, antwortete sie, „Der Mann, der hier lebt, stirbt im Alter von fünfunddreißig Jahren. Er ist Alchemist und experimentiert. Eines seiner Versuche bringt ihn um.“ „Also geht irgendwas darin schief. Sei bloß vorsichtig.“ „Das bin ich.“ Alyssa sah die Fassade hoch. „Da oben ist ein Fenster auf. Können wir von dort einsteigen?“ Undertaker folgte ihrem Blick und nickte. „Das sollte kein Problem sein.“ Er griff um ihre Hüfte und sprang zu dem Fenster hoch. Vorsichtig landete er auf dem Fenstersims und half Alyssa durch das Fenster zu steigen. Nur einen kurzen Moment später folgte er ihr. Alyssa sah sich in dem Raum um. Der Boden war abgelaufen und überall standen Kerzen in unterschiedlichsten Farben, Formen und Größen herum. Von vielen war der Wachs herunter gelaufen und hatte sich an den Möbeln festgeklebt und am Boden. Mit Farbe waren verschiedene Symbole an Wänden und Türen gemalt worden, die inzwischen verblichen waren und abblätterten. In der Mitte des Raumes stand ein alter, dunkler Holztisch mit feinen Schnitzereien und Verzierungen. Es roch muffig und abgestanden. Die Luft im Raum war zum Schneiden dick und der Gestank nach Kräutern und anderen Dingen hing in den Möbeln und Textilien fest. Was einmal ein Sofa gewesen sein musste, stand staubig und dunkel in einer Ecke. Ein altes Kissen lag drauf und darunter konnte man die ursprüngliche weiße Farbe der Sitzgelegenheit sehen. Alyssa konnte eine Kakerlake über das Sofa krabbeln sehen und erschauderte. Sie sah nach oben und ein schwarzer Kronleuchter hing von der Decke herab. Die Kerzen waren mit Staub überzogen und dicke Spinnen hatten sich dazwischen ihre Netze gebaut, die inzwischen auch von Staub überzogen und von den Erbauern verlassen waren. An der Wand stand ein hohes Regal, das über und über mit Büchern vollgestellt war, deren Buchrücken sich langsam lösten. Die Seiten waren ebenso vergilbt und staubig wie der Rest des Regales, die sich unter dem Gewicht zu biegen begonnen hatten. Alyssa nieste unwillkürlich und schniefte laut. „Der Geruch ist eklig. Da ist die Frage, was schlimmer ist. Der Kanal oder das hier!“ „Eine gute Frage.“ Undertaker ging durch das Zimmer und hinterließ einige Fußabdrücke im Staub. Er betrachtete einen alten Kelch, auf dessen Glas sich ebenfalls Staub gebildet hatte. Die Flüssigkeit darin war schwarz und trübe. Angewidert wandte Alyssa den Blick ab und sah weitere Fußabdrücke im Staub. „Ich glaube, mein Opfer ist durch die Tür“, sagte sie und deute zu der bemalten Holztür, die mit merkwürdigen Symbolen verziert war. „Wir müssen uns auch beeilen, denn er stirbt bald!“ Adrian wandte seine Aufmerksamkeit dem verblichenen Portrait eines rundlichen Mannes ab und folgte ihrem Fingerzeig zur Tür. Er nickte und gemeinsam gingen sie in den Flur, der von ein paar Kerzen erhellt wurde, die an Wandhaltern angebracht waren. Es gab keine Türen. Lediglich ein verblichener dunkelgrüner Teppich lag auf dem Boden und mit jedem Schritt stieg eine kleine Staubwolke daraus hervor. Die Fenster waren schmutzig vom Regen, Ruß, Pollen und Vogelmist. Sicherlich waren sie seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Es war schwer etwas durch den Schmutz zu erkennen. Alyssa konnte nur grob die Straße sehen und ein paar Bäume. Wer lebte nur in so einem Anwesen? Sie hatte die Akte nur grob überflogen, doch selbst, wenn dieser Mann verrückt war wie ihr letztes Opfer, so konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass man ihn so verwahrlosen lassen würde. Mit schnellen Schritten ging sie den Flur entlang und öffnete die Tür, die in ein Treppenhaus führte. Das Geländer sah nicht minder verwahrlost und schmutzig aus. „Ich sag doch, die Verwaltung hasst mich.“ „Wie meinst du das?“ „Wenn ich mir meine Aufträge so ansehe. Ich frage mich, was grade schlimmer ist. In dieser verwanzten Bude nach dem Kandidaten zu suchen oder im Kanalwasser zu schwimmen.“ „Ich glaube, das Kanalwasser war schlimmer.“ „Ich glaube es auch. Aber allein die Vorstellung, wie viele Spinnen, Ratten, Kakerlaken und anderes Getier hier ist, lässt meine Haut schon jucken!“ „Denkst du, Carry hat da ihre Finger im Spiel?“ „Sie hat vorhin so etwas angedeutet, aber nachweisen kann ich ihr nichts. Selbst wenn, ich werde mich nicht beschweren. Ich bin froh, wenn ich überhaupt Arbeit kriege.“ „Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Wenn Carry darin ihre Finger im Spiel hat, wird es irgendwann raus kommen. Wir sollten jetzt leise sein, sonst hört uns dein Opfer noch.“ Alyssa nickte. Sie war noch immer sauer, wenn sie an das Gespräch mit Carry dachte. Was fiel diesem Biest bloß ein? Sie war eine Schülerin und hatte ihr nichts zu sagen. Zusammen mit Undertaker folgte sie den weiteren Fußspuren, die im Staub zu sehen waren, in einen neunen Korridor in eine Etage tiefer. Der Boden war aus dunklem Stein und die Wände schwarz von einem Feuer. Niemand hatte sich die Mühe gemacht es zu renovieren oder zu putzen. Als sie die Tür öffnete, schlug sie den Ärmel ihres Jacketts vor die Nase. „Was ist das?“, fragte sie angewidert. Adrian hatte es ihr gleich getan und das Gesicht vor Ekel verzogen. „Ich weiß es nicht“, keuchte er. „Das riech tja schlimmer als das Abwasser!“ Langsam ging sie hinein. Den Ärmel des Jacketts auf die Nase gedrückt. Die Luft war unnatürlich dick und der Geruch war so ätzend, dass er ihr in den Augen brannte. Es roch nach Rost, Qualm und anderen Dingen, die sich nicht definieren konnte. „Oh Gott…“, murmelte sie gequält und ging langsam den Flur bis zum Ende entlang weiter. An den Wänden hingen alte Halterungen für Kerzen und Fackeln. Irgendwo war Feuchtigkeit eingedrungen und es hatte sich ein moosgrüner Schimmel gebildet. Sie hörte eine Ratte quicken und sah aus dem Augenwinkel etwas Fettes den Gang entlang huschen. Es verschwand zwischen den Mauersteinen. Ihre Augen glitten zur Decke und eine große weiße Spinne hing in einer Ecke. Angeekelt sah sie weg und ging ein paar Schritte schneller, ehe sich das Tier dazu entschloss sich herab zu lassen und in ihren Nacken zu krabbeln und weiter den Rücken entlang. Allein beim Gedanken daran, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Ein knacken war unter ihren Füßen zu hören. Prompt hielt sie inne und sah widerstrebend zu Boden. Etwas weißes war unter ihren Schuhen zerbrochen und beim genaueren Hinsehen, konnte Alyssa erkennen, dass es Knochen von einer Maus waren, die sie zertreten hatte. Schnelle machte sie einen großen Schritt darum und sah in einer Ecke das nächste tote Tier, auf das sich Fliegen und Maden gebildet hatten. Sie hörte deutlich das Summen der Flügel und wie sich die weißen Tiere um das tote Fleisch wanden. Eine Pfütze aus dunklem Blut hatte sich gebildet. Die Haut mit dem Fell war eingefallen und ein paar Organe schauten aus der offenen Bauchhöhle heraus. Aber dieses tote Tier allein konnte nicht die Ursache für den Gestank sein, der den ganzen Flur verpestete. Fast konnte Alyssa glauben, der schwarze Tod hatte wirklich so gerochen. Sie hatte die Tür am Ende des Ganges erreicht. Rost hatte sich an den Scharnieren angesetzt und auch an einigen anderen Stellen war die Farbe abgeblättert und das Eisen gerostet. Sie sah schwer und massiv aus. Es gab eine kleine Klappe für Essen und einen kleinen Schlitz, um den Insassen beobachten zu können. Alyssa verzog das Gesicht beim Gedanken, was sie gleich sehen würde und schob den Schlitz zur Seite. Der Raum hinter der Tür war klein und dunkel. Nur ganz oben an der Decke waren schmale Fenster angebracht und zusätzlich mit Gitter versehen. Das war einer der Räume, die sie von der Straße aus hatte sehen können. Alyssa konnte erkennen, dass altes Stroh überall verteilt lag. Fliegen schwirrten herum und sie konnte die roten Augen einer weiteren Ratte erkennen. Der Geruch von Schweiß, Blut und Fäkalien kroch durch den Schlitz und ließ sie vor Ekel aufkeuchen. Dennoch sah sie weiter in den Raum hinein, ob sie jemanden erkennen konnte. In einer Ecke lag etwas mehr Stroh, was wohl die Schlafstätte sein sollte. An der Wand hingen rostige Ketten und sie konnte im schwachen Licht Überreste von Blut und Kratzspuren erkennen. Ein klares Anzeichen dafür, dass die Person versucht hatte heraus zu kommen. Sie sah zu dem anderen Ende der rostigen Eisenkette und konnte daran ebenfalls getrocknetes Blut erkennen. Auf dem Boden stand ein alter Teller mit Essensresten, die schimmlig waren. Das Brot sah hart und ausgetrocknet aus. Ein weißlicher, grün-blauer Pelz hatte sich gebildet und den Großteil davon überzogen. Deutlich sah sie, dass jemand es angefangen hatte zu essen. Inständig betete Alyssa, dass die Person schon lange fort war und das Brot noch frisch gewesen war, aber sie hatte die Befürchtung, dass dies nicht der Fall war. Eine kleine Schale stand daneben und sie konnte erkennen, dass darin altes Wasser war. Es wirkte genauso trüb, wie der Kelch mit seiner roten Flüssigkeit aus der oberen Etage. Aus einer der Ecken stahl sich eine Maus und huschte zur Schale. Alyssa beobachtete, wie sie sich an den Rand wagte und daran schnupperte. Sie schien selbst angewidert davon zu sein und hielt es nicht mal als Putzwasser für die Körperpflege gut genug. Wie lange stand das Wasser schon dort, dass selbst eine Maus oder Ratte es verschmähte? Die Maus drehte sich auf dem Rand herum. Für einen Moment hielt sie still und dann erkannte Alyssa, dass kleine dunkle Punkte hinein fielen. Wäre es nicht so eklig gewesen und würde sie mit Sicherheit wissen, dass diese Zelle leer war, dann hätte sie darüber vielleicht sogar noch schmunzeln können. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf. „Die Zelle ist leer“, sagte sie und schob den Riegel wieder zu. Auch wenn die Zelle so verwahrlost war, konnte das alte Stroh, der Urin und die Fäkalien nicht dafür verantwortlich sein, dass es so widerlich roch. „Diese hier willst du nicht sehen“, meinte Undertaker und schob den Riegel wieder zu. „Warum?“ Er schüttelte sprachlos den Kopf. „Menschliche Knochen.“ „Von?“ „Von keinem Kind, wenn du das wissen willst. Es sah aus wie ausgewachsen. Aber ich bin kein Experte, um zu sehen, ob es mal ein Mann oder eine Frau war.“ Alyssa schüttelte den Kopf. „Wie lange die Person wohl gelitten hat?“ „Das weiß wohl keiner.“ „Wie konnte unser Kollege die Seele einsammeln und so etwas hier weiter zulassen? Das ist doch barbarisch!“ „Du weißt, wir dürfen uns nicht einmischen. Egal, wen wir hier noch finden, wir müssen sie alle zurück lassen!“ „Das weiß ich!“ Alyssa wandte sich einer weiteren Zellentür zu und spähte durch den kleinen Schlitz. Dieser Raum hatte etwas mehr Licht und sie konnte deutlicher erkennen, was darin lag. Wie in der Zelle davor lag altes und gammliges Stroh auf dem Boden. Doch anders als davor, war in diesem Raum jemand. Alyssas Herz schlug schneller. Lebte dort tatsächlich jemand? Sie drückte ihre Nase fester gegen die kalte Eisentür, um mehr erkennen zu kennen. Eine dicke Eisenkette hing an der Wand und daneben lag ein verrotteter Fuß, um den sich die Fliegen gesammelt hatten. Er war grünlich angelaufen, als hätte sich eine Fäulnis gebildet neben den bläulich-grauen Totenflecken. Die Haut schälte sich langsam vom Knochen und die Maden tummelten sich in dem roten Fleisch. Alyssa spähte von dem Körperteil ein Stückchen weiter. Auf dem Boden war noch immer die Blutspur zu sehen, die der Besitzer des Fußes hinterlassen hatte. Doch weit war er nicht gekommen. Nur wenige Meter von der rettenden Tür entfernt lag der erschlaffte und tote Körper. Die Haut hatte sich über die Knochen gespannt und der ganze Körper wirkte ausgetrocknet und dürr. Der Mangel an Nahrung und Wasser hatte die Muskeln abgebaut und den Mann um Jahre altern lassen. Auf dem Kopf befanden sich noch einzelne Haare seiner schwarzen Haare. Der Rest war schon durch den Verfallsprozess und die Misshandlung ausgefallen. Die Kleidung war um einige Nummern zu groß. Die Augen waren eingefallen und die Augäpfel hatten jegliche Farbe verloren. Eines rollte in der Höhle herum und fiel auf den Boden. Es gab ein unschönes, schmatzendes Geräusch dabei von sich. Sie konnte in der Hand des Toten einen Glassplitter erkennen. Hatte er sich damit etwa selbst den Fuß abgetrennt, nur um flüchten zu können? Alyssa konnte die Tränen in ihren Augenwinkeln spüren, ebenso die Übelkeit in ihrem Magen. Wie konnte man jemanden nur so grausam behandeln und zu solche selbstzerstörerischen Taten bringen? Was für schmerzen er gehabt haben musste, wollte sie sich nicht ausmalen. Angewidert wandte sie sich ab und schloss die Sichtklappe. „Oh Gott“, murmelte sie gegen ihre Hand und versuchte den Anblick zu vergessen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Undertaker besorgt und schloss ebenfalls die Luke einer weiteren Zelle. „Das ist alles so grausam…und widerwertig“, brachte sie mühsam hervor. „Die Zelle ist auch nicht besser. Darin liegen gleich zwei Leichen“, sagte er und drückte Alyssa an sich. „Ich will hier weg!“ „Soll ich den Auftrag übernehmen?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Ich will nicht, dass du Ärger bekommst oder Carry irgendwas zu meckern hat.“ „Gut, dann geh ihn schnell erledigen. Ich bleibe hier und sehe mich noch um.“ Alyssa nickte und ging zurück zur Treppe. Sie folgte den Fußspuren mit schnellen Schritten nach unten in die Kellerräume. Eine leise, raue Stimme dran an ihr Ohr. Das erste Lebenszeichen in diesem Haus. Alyssa begann zu rennen. Ein weiterer Geruch mischte sich unter dem muffigen Gestank von Schimmel und Feuchtigkeit. Es roch nach Kerzenqualm, Kaminrauch, Kräuter und verbranntem Fleisch. Sie rümpfte die Nase und folgte weiter der Stimme bis sie zu einer Treppe kam, die in den Keller führte. Langsam und leise stieg sie diese hinab. „Setz dich!“, blaffte eine Männerstimme. Sie klang rau und kratzig. Alyssa öffnete die Akte und sah hinein. Das Bild des Mannes war noch nicht so alt und er war höchstens dreißig. Aber die Stimme, die sie gehört hatte, klang wie fünfzig. Die Tür stand einen Spalt breit offen und sie konnte an der Wand Schatten entlang tanzen sehen. Auf dem Hocker saß eine schmächtige Gestalt. Es war ein Kind mit blonden Haaren. Die Kleidung hing in Fetzen und er war von oben bis unten schmutzig. Der Blick des Kindes lag auf dem Mann, der im Raum hin und her ging. Er sortierte verschiedene Flasche auf dem Tisch vor sich und das Kind schien darauf zu warten, dass der Mann fertig wurde. Alyssa betrachtete die beiden. Sie konnte kaum glauben, dass der Mann mit dem kräftigen Husten ihr Todeskandidat war. Er wirkte so alt und ganz anders als auf dem Bild. Aber es war ausgeschlossen, dass sie den kleinen Jungen abholen sollte. Er hatte eine ganz andere Haarfarbe als der Mann. Alyssa öffnete die Tür vorsichtig einen kleinen Spalt. Der Mann stellte sorgsam ein paar Flaschen auf den großen Tisch, der überlagert war von Überresten irgendwelcher Pflanzen und Tiere. Sie konnte einen Dolch erkennen auf dessen Klinge sich das Kerzenlicht spiegelte. Der kleine Junge sah zu dem Dolch hinüber und sie konnte sich gut vorstellen, was in seinem Kopf vor sich ging. Sie konnte durch seine abgemagerte und untersetzte Gestalt nicht sagen, wie alt der Junge war, aber er tat ihr irgendwo leid. Auf der anderen Seite konnte sie nichts mit Kindern anfangen. Aber anstatt den Dolch zu ergreifen, ließ er den Kopf hängen und auf sein Schicksal zu warten, währen der Mann noch immer hin und her ging, um Sachen vorzubereiten. Zwischen den Händen zerrieb er ein paar Kräuter und warf sie in eine Schale. Schnell griff er danach zu einer Glaskaraffe, um etwas davon über die Kräuter zu mischen. Während er an der Schale beschäftigt war, griff er mit der anderen Hand zu einer weiteren Flasche und nahm einen großzügigen Schluck daraus. Nur wenige Sekunden später hustete er kräftig und Alyssa glaubte, er würde sich die Seele aus dem Leib husten. Es klang kehlig und schmerzhaft, so wie er sich anhörte. Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es würde nicht mehr lange dauern bis er sterben würde. Aber was sollte sie nur mit dem Kind machen? Der Junge konnte unmöglich zusehen, wie sie mit der Sense auf einen Körper einstach und die Seele einsammelte. Es würde ihn für den Rest des Lebens verstören. Aber sie konnte ihn auch nicht mitnehmen. Das wollte sie auch nicht. Alyssa hatte keine Ahnung von Kindern und wie man richtig mit ihnen umging. Es hatte nie Geschwister gegeben mit denen sie groß geworden war oder kleine Cousinen oder Cousins. Kinder waren ihr bisher immer nervig erschienen und selbst mit Adrian hatte sie bisher nie über dieses Thema eigener Kinder gesprochen. Allein der Gedanke war für Alyssa absurd. Sie würde keine gute Mutter sein. Aber wie erklärte sie einem so kleinen Kind die Lage? Woher sie kam und dass sie den Mann getötet hatte? Kleine Kinder waren anhänglich und sie wollte kein Menschenkind mit in die Society nehmen müssen. Es würde nur noch mehr Papierkram bedeuten und jede Menge Ärger geben. Leise stieß sie einen Fluch aus. Ein weiteres Husten von dem alten Mann riss sie aus den Gedanken. Alyssa hörte, wie er ein missbilligendes Geräusch von sich gab und Fluchte. Sie seufzte. Der kleine Junge würde wohl zusehen müssen, wie sie dem Mann das Leben nahm. Es führte kein Weg daran vorbei. Seine Zeit war gekommen. Langsam öffnete sie Tür und trat in den Raum hinein. Sie konnte die Blicke des Mannes auf sich spüren und des Jungen. Alyssa sah den Alchemisten aus kühlen Augen an und ließ sich ihre Angst, Abscheu und Unsicherheit nicht anmerken. „Wer sind Sie?“, fuhr er sie an. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der Junge zusammen zuckte. Es war nicht das erste Mal, dass der Alchemist ihn anschrie und sie vermutete, dass er auch geschlagen wurde. Sie konnte den Handrücken des Knaben sehen. Er war mit einem schmutzigen Tuch verbunden, um eine Wunde zu verdecken. Was hatte der Mann nur mit ihm angestellt, dass er so verängstigt war? „Wer sind Sie und was tun Sie hier unten?“, fragte er erneut. „Mein Name ist Alyssa Campell“, antwortete sie mit kräftiger Stimme und schob ihre Brille hoch. „Was suchen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren!“, schrie er. „Ich bin hier um Sie abzuholen“, antwortete sie und zückte ihre Death Scythe, so dass die Luft kurz surrte vom Schwung. Der Todeskandidat wich zurück und schluckte schwer. Er griff sich an den Hals und hustete kräftig. „Nehmen Sie diese kleine Ratte…Aber verschonen Sie mich…“, krächzte er und sie sah wortlos zu, wie er zu Boden ging. Alyssa wandte den Kopf und zum ersten Mal konnte sie ihn richtig von vorne begutachten. Der Junge zuckte zusammen und machte sich auf dem Stuhl ganz klein, als würde er erwarten, dass sie sich auf ihn stürzen würde wie ein wildes Raubtier. Innerlich schüttelte Alyssa mit dem Kopf. Wie konnte dieser Mann es nur wagen? Ihre Augen verengten sich kurz zu schmalen Schlitzen. Schnell sah sie wieder zu ihrem Opfer. „Er steht nicht auf meiner Liste“, antwortete Alyssa knapp und versuchte so viel Kälte und Abscheu in die Stimme zu legen, wie es nur möglich war. Sie konnte keine Gnade oder Mitleid mit ihm empfinden. Das, was er getan hatte, war nicht zu verzeihen. Er hatte Menschen gefoltert, gequält und diesen Jungen misshandelt. So wenig sie Kinder auch leiden konnte oder mit ihnen zurechtkam, umso mehr tat ihr dieser Junge leid. Er gehörte nicht in diese Welt. Seine Augen waren grün-gelb wie ihre. Ein Zeichen dafür, dass er ebenfalls ein Shinigami war. Aber wie war der Alchemist an ein Kind aus ihrer Welt gekommen? War der Junge ausgesetzt worden? Alyssa sah aus dem Augenwinkel, dass der Junge vom Stuhl kroch und sich in eine Ecke verzog. Um ihn würde sie sich später kümmern und entscheiden, was mit ihm geschehen würde. Sie konnte keinen Shinigami hier lassen. Er gehörte ganz klar in ihre Welt. Alyssa durfte sich nicht ablenken lassen, so sehr es sie überraschte ein Kind aus ihrer Welt hier zu sehen. Der Auftrag stand im Vordergrund. Danach konnte sie sich dem Jungen zuwenden. Aber Alyssa wusste, dass sie ihn in jedem Fall irgendwie hier raus holen würde. Sie hatte zwar noch keine Idee, wie sie es schaffen sollte, ohne Unmengen von Papierkram zu erledigen oder Ärger zu kriegen, aber es war klar, dass er nicht in dieser Menschenwelt bleiben konnte. Ihre Erscheinung schien ihrem Gegenüber Angst einzujagen und Alyssa hatte Mühe sich ein grinsen zu verkneifen. Der Mann streckte die Hand nach ihr aus, als würde er sich an ihrem Saum irgendwo fest halten wollen. Als wäre ihre Kleidung der rettende Strohhalm und sie würde sich erweichen lassen. Alyssa trat einen Schritt zurück und sah ihn aus kalten Augen an. Der Mann flehte sie an, dass sie ihn verschonen möge, doch selbst, wenn Alyssa es gekonnt hätte, nachdem, was sie in diesem Haus gesehen hat und was er mit dem Shinigami-Jungen angestellt hatte, hatte er nichts anderes verdient. Dieses Haus war eine reine Mörderburg. Alyssa sah entspannt zu, wie der Alchemist immer kräftiger hustete und nach Luft schnappte. Er war zu Boden gesunken und griff sich an die Brust, als würde es ihm helfen Sauerstoff zu bekommen. Sie wartete und zählte in Gedanken die Todeszeit herunter. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zu dem Tod und bis ihre Arbeit erledigt war. Zufrieden nickte sie, als er auf dem Boden reglos liegen blieb. Alyssa hob die Sense an und schlug mit der Klinge in seinen Rücken. Sie wollte nicht lange zögern, sondern es schnell und schmerzlos hinter sich bringen. Dieser Mann widerte sie nur an und sie hatte Mühe die Klinge nicht mehrfach auf ihn einzuschlagen. Aber sie wusste, sie musste ihre Fassung bewahren und durfte nicht ihre Neutralität ablegen. Kaum berührte die silbrige Klinge den Körper stiegen die Stränge der Cinematic Records auf und zeigten sein Leben. Alyssa sah sie sich nicht an wie sonst, sondern schlug die Akte auf. „Alchemist James Brown, geboren am achten Juli Sechzehnhundertneunzig, gestorben am zwanzigsten Mai Siebzehnhundertfünfundzwanzig“, leierte sie aus ihrem Buch herunter und setzte einen Stempel hinein, „Besondere Anmerkungen keine.“ „Alyssa, hast du endlich den Auftrag erledigt?“, fragte eine andere Stimme plötzlich. Sie zuckte zusammen und drehte sich zu Adrian herum. „Ja, habe ich. Es hat nur etwas gedauert bis der Alte den Löffel abgegeben hat. Ich war zu früh dran.“ „Besser zu früh als zu spät. Du kennst ja die Leute aus der Verwaltung.“ Er wandte sich dem Mann am Boden zu und musterte seinen leblosen Körper. Sein Blick glitt über den Tisch, der ebenfalls mit Symbolen und Zeichen versehen war, wie der Tisch im obersten Stockwerk. „Interessant“, sagte er mit ruhiger Stimme, „Er hatte alles getan, um uns aus dem Weg zu gehen und los zu werden. Am Ende ist er durch seine Experimente so gealtert, dass er nach oben gerückt ist auf der Liste.“ „Selbst Schuld“, sagte Alyssa, „Er hat doch auch versucht Dämonen herbei zu rufen, nur um uns von sich fern zu halten.“ Er nickte. „Wie wahr…Wollen wir gehen?“ Sie nickte und schaute zu der Ecke, wohin sie den Jungen hat sich verkriechen sehen hatte. Der kalte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden und sie lächelte ihm freundlich zu. Langsam näherte sie sich ihm, während er sich an die Wand drückte. Er schaute sie an, wie ein scheues Reh vor dem Gewähr eines Jägers. „Es ist alles gut“, flüsterte sie und hockte sich zu ihm auf den Boden. Alyssa hatte keine Ahnung, was sie tun oder sagen sollte. Sie hatte nur einmal gehört, dass man bei Kindern immer auf Augenhöhe gesehen sollte, um mit ihnen zu reden. Vielleicht half dieser Trick ja, um ihn zu beruhigen und mit in die Shinigami Welt zu nehmen. Am liebsten hätte sie Feierabend gemacht, aber der Gedanke, dass er in der Menschenwelt alleine zurück bleiben würde, gefiel ihr nicht. Seine Wunden sahen entzündet aus, das Gesicht war dreckverschmiert und die Wangen waren eingefallen. Der Junge bestand nur aus Haut und Knochen. Auch wenn sie mit kleinen Kindern nichts anfangen konnte, konnte sie ihn nicht zurück lassen, damit er am Hungertod starb. Seine Augen sahen sie ängstlich an, als erwartete er, dass sie ihn jeden Moment schlagen würde. Sollte sie sich jemals dazu entschließen doch Kinder haben zu wollen, würde sie nie die Hand gegen sie erheben. Das schwor sich Alyssa. Dieser Ausdruck in den Augen des Jungen war schrecklich. Der Junge öffnete vor Angst leicht den Mund und sie erhaschte einen Blick auf seine spitz zulaufenden Zähne. Was hatte dieser Mann mit dem Jungen angestellt? Innerlich schüttelte sie den Kopf. „Lyss, ich glaube wir sollten gehen. Du weißt, wir dürfen uns nicht in die Angelegenheiten von Menschen einmischen.“ „Das weiß ich, aber wir können ihn doch nicht einfach so hier lassen!“, bittend sah sie ihn an. „Adrian…“ Ängstlich rutschte der Junge ein Stückchen weg. „Hey…bleib hier…ich tu dir nicht weh…du bist frei…du kannst gehen“, flüsterte sie und lächelte ihm liebevoll zu. Sie wollte nicht, dass er Angst vor ihr hatte. Ihr Herz schlug vor Nervosität schneller. Alles, was Alyssa wollte, war ihn zu retten. Sie griff in ihre Tasche und zog ein weißes Tuch hervor. Vorsichtig näherte sie sich ihm und strich ihm vorsichtig über die schmutzige Wange. Der Ruß und Dreck hinterließ dunkle Flecken auf dem weißen Stück Stoff, doch sie wischte sein Gesicht weiter sauber. Dabei versuchte sie so sanft wie möglich zu sein, damit er merkte, dass sie ihm nichts Böses wollte. Alyssa hielt inne, als er kräftig Schluchzte. Aus großen, sehnsüchtigen Augen schaute er ihr in die Augen und sie erkannte darin, dass er ihre Worte verstanden hatte. Sie lächelte ihm weiter aufmunternd zu. Seine Qualen und Leiden waren vorbei und hatten ein Ende gefunden. Er würde mit ihr in die Shinigamiwelt gehen und dann würde sie ihn in ein Waisenhaus bringen, damit er in eine bessere Familie unterkam. „Da siehst du, was du anstellst, wenn du dich in die Sachen der Menschen einmischst.“ „Aber er ist kein Mensch, Adrian. Er ist einer von uns“, erwidere Alyssa und sah Undertaker mit energischem Blick an, der keine Widerworte duldete. „Was?“ „Ich hab es gesehen. Seine Augen sind dieselben wie unsere. Wir können ihn nicht hier lassen. Er gehört nicht in diese Welt. Er gehört in unsere Welt!“ Adrian seufzte ergeben. „Na gut. Aber du erklärst das der Verwaltung.“ „Ja, natürlich!“ Sie verdrehte die Augen hinter der Brille und zog die Jacke aus. Was dachte Undertaker? Dachte er, dass sie ihn behalten wollte? Er wusste doch genau, dass sie keine Kinder mochte und froh war, wenn sie den Papierkram hinter sich gebracht hat. Vorsichtig legte sie ihm den Stoff um, damit er nicht merkte, wie genervt sie bei der Vorstellung war, was auf sie zukommen würde. Sie musste ihm zeigen, dass er ihr vertrauen konnte und sie ihm nur helfen wollte. Dabei spielte es auch keine Rolle, wenn sie schon die zweite Uniform an diesem Tag ruinierte. Der Junge hatte zu weinen begonnen und dicke Tränen liefen ihm über das Gesicht. Alyssa seufzte. Wie ging man nur mit einem weinenden Kind um? Sollte sie ihn einfach so in den Arm nehmen oder doch nur ein paar tröstende Worte sagen? „Das hätte dir echt nicht passieren dürfen…“, flüsterte sie und wischte ihm vorsichtig ein paar Tränen von der Wange. Er schaute sie noch immer an wie ein scheues Reh, doch in seinem Blick lag auch die Suche nach Sicherheit. Flehentlich sah er sie an. Alyssa strich ihm mit der Hand über das Gesicht. Seine Haut fühlte sich rau und kalt an, als wäre er tot. Die Tränen hinterließen einen feinen hellen Streifen auf der Haut, als sie den Dreck ein wenig weg wischten. Er war so blass wie eine Porzellanpuppe. Wann hatte er zuletzt das Sonnenlicht auf seiner Haut gespürt? Wie lange war es her, dass er sich gebadet hatte und die Haare gekämmt wurden? Kannte er solche Dinge wie Schnee und Regen überhaupt oder war ihm das alles unbekannt, weil er in dieser Zelle groß geworden war? Konnte er überhaupt sprechen? Alyssa fiel auf, dass er nur kratzige Laute hervor brachte beim Schluchzen, aber noch kein richtiges Wort gesagt hatte. „Alles ist gut…“, murmelte sie und das Kind schloss die Augen. Sein Gesicht schmiegte sich in ihre Handfläche und es schien, als würde er noch ewig weiter weinen können. Langsam legte sie ihm einen Arm um den Körper und konnte dabei die Knochen unter der Haut spüren. An ihrem Arm spürte sie die Wirbel des Rückens und unter ihren Händen die Rippen. Alyssa erinnerte sich an den Anblick des verdorbenen Essens in der einen Zelle und schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie konnte man nur so etwas einem Kind antun oder überhaupt einem Menschen? Wann hatte er zuletzt etwas Anständiges gegessen? In ihrem Kopf entstanden die wildesten und verrücktesten Vorstellungen, wie er gelitten haben musste und eine war schlimmer als die andere. Sie strich ihm über den schmutzigen Kopf und merkte die verfilzten Haare, die dringend gewaschen und geschnitten werden mussten. Der Junge wollte sich von ihr lösen, doch Alyssa drückte ihn wieder an sich. So wie er schluchzte, konnte sie ihn nicht einfach so gehen lassen, auch wenn er ein Kind war und an ihrem Rockzipfel hängen würde. Sein Gesicht legte sich an ihre Schulter und sie strich ihm über den Rücken, wie Undertaker es so oft getan hatte, wenn sie traurig an seiner Schulter lag. Vorsichtig hob sie den Jungen hoch auf ihre Arme und stand auf. Er klammerte sich sofort an sie und innerlich musste sie zugeben, dass es ein angenehmes Gefühl in ihr auslöste, wie er sich benahm. Waren das etwa Mutterinstinkte, die sich bemerkbar machten? „Lyss, du willst ihn doch nicht mitnehmen, oder?“ „Doch, ich kann ihn schlecht hier lassen.“ „Aber du weißt, was das für Ärger geben wird?“ „Ja, aber er ist einer von uns!“ „Das sehe ich auch. Ich bin ja nicht blind!“ „Mach dir keine Sorgen, Adrian, ich werde das schon irgendwie erklären können.“ Undertaker seufzte und sah den Jungen eindringlich an, der seinen Blick fragend erwiderte, als wüsste er nicht, ob er sich dazu äußern sollte oder nicht. In seinem Blick lag lediglich Angst wieder allein sein zu müssen und er schluchzte erneut los. Alyssa wandte ihre Aufmerksamkeit ganz den Jungen zu. „Beruhige dich doch. Es ist alles gut“, flüsterte sie und der Junge grub seine Nägel in den Stoff ihres Hemdes. „Du kommst erst einmal mit mir mit und dann kannst du ein Bad nehmen, ich koche dir eine leckere Suppe und dann ruhst du dich aus.“ „Lyss, du willst ihn doch wohl nicht bei uns schlafen lassen?“ Alyssa seufzte. „Doch, genau das hatte ich vor.“ „Aber die Verwaltung wird uns die Hölle dafür heiß machen! Außerdem, wer weiß, ob er nicht irgendwelche Krankheiten hat oder Läuse oder Flöhe!“ „Er wird ein Bad nehmen, ehe er auf dem Sofa oder sonst wo schläft. Mach dir darüber also keine Sorgen.“ Alyssa warf einen Blick auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk. „Was die Verwaltung angeht, die hat schon Feierabend und woanders können wir ihn nicht hinbringen. Also muss er bei uns schlafen. Da gibt es nichts anderes und wenn die Verwaltung morgen meckern sollte, dann sollen sie längere Arbeitszeiten in ihrem Bereich machen.“ „Die Verwaltung wird sicherlich keine längeren Arbeitszeiten einführen.“ „Genau und deswegen sollen sie sich dann auch nicht beschweren!“ „Lyss, bist du dir sicher, was du da tust?“ Alyssa nickte entschlossen und ging mit dem Jungen auf dem Arm die Kellertreppe nach oben. „Ich bin mir sicher und ich werde auch den Papierkram dafür erledigen.“ „Du willst ihn also der Verwaltung überlassen, damit sie Tests mit ihm machen?“ „Es gibt keine andere Lösung. Ich kann ihn ja schlecht als unseren Sohn ausgeben, oder?“ „Das geht wirklich schlecht“, seufzte Undertaker ergeben und sah zu dem Jungen, der in ihrem Arm eingeschlafen war. „Schon allein vom Alter her ginge es nicht. Oder willst du ihn etwa adoptieren?“ Alyssa seufzte. „Nein, ich kann nicht so gut mit Kindern umgehen. Vielleicht später mal.“ Erleichtert stieß Adrian den Atem aus. „Gut, denn mit einem Kind im Haus könnten wir unsere Arbeit nicht mehr richtig erledigen. Es würde den Großteil unserer Zeit einnehmen und ich dachte, die Arbeit wäre dir wichtig.“ „Ist es auch. Ich schließe nur nicht aus, dass es später mal anders sein könnte. Denn eines zu adoptieren und eines zu bekommen, sind zwei paar unterschiedliche Schuhe. Wenn ich eines gebären würde, könnte ich mich vorher darauf einstellen. Aber das hier wäre zu abrupt.“ Sie waren an der obersten Treppenstufe angekommen und öffnete die Eingangstür mit einem lauten Knarzen. Draußen war es bereits dunkel und die Straßen waren verlassen. Alyssa drückte den Jungen enger an sich und wickelte ihm die Jacke um den Körper. Gemeinsam mit Adrian gingen sie zu dem Portal, das sie zurück in die Society bringen würde und das versteckt in der Menschenwelt lag. Der Regen hatte aufgehört und in den Straßengräben hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Eine Kutsche fuhr mit ratternden Rädern vorbei und die Pferde schnauften vor Anstrengung. „Zum Glück schläft der Kleine“, murmelte sie und hörte seinen leisen Atem an ihrem Ohr. „Wer weiß, wie lange er eingesperrt war. Sicherlich würde ihn das alles hier verschrecken.“ „Ich wüsste gerne, wie er heiß“, flüsterte sie und strich ihm über die blonden Haare. „Wenn er keinen Namen hat?“ „Dann gebe ich ihm einen!“ „Welchen würdest du ihm denn geben?“ „Grelle Sutcliffe“, antwortete sie prompt. „Wie kommst du denn auf den Namen?“ „Ganz einfach. Im griechischen steht der Name für „Charon“ dem Fährmann, der die Toten über den Fluss Styx in den Hades bringt.“ „Also du willst ihn nach einem mythologischen Todeswesen benennen?“ „Ja, wieso nicht?“ „Ist das eine Anspielung auf unsere Arbeit?“ „Ein wenig.“ „Der Name Sutcliffe?“ „Bedeutet so viel wie „von der südlichen Klippe“.“ „Eine Anspielung auf deine Heimat?“ Alyssa nickte. „Genau. Ich hatte dir doch erzählt, dass ich in der Nähe vom Meer groß geworden bin und südlich von unserem Haus waren eben Klippen.“ „Du willst ihm wohl eine kleine Erinnerung an dich verpassen, was?“ Undertaker grinste sie wissend an. „Vielleicht.“ Alyssa grinste ihn wieder an. Sie hatten die alte Kapelle erreicht, durch die sie am Nachmittag gegangen war. Vor der Kirche war ein kleiner Friedhof mit alten, verwitterten Grabsteinen und hüfthohem Gras. Das Gebäude selbst war alt und verfallen. Das Dachgeschoss war ausgebrannt und das Dach wies mehrere riesige Löcher auf, so dass man in den Himmel blicken konnte. Die Fassade war alt und bröckelig. Die bunten Glasfenster waren ausgebaut oder gestohlen worden. Einige davon sogar eingeschlagen. Das alte Tor, das in die Kapelle führte stand offen und gewährte einen Blick in das alte Haus. Alyssa blieb vor dem Tor stehen und sah sich nach allen Seiten um, ob niemand sie sehen würde. Dann ging sie hinein. Es war dunkel und es roch nach altem Holz, das Schimmel angesetzt hatte. In dem spärlichen Licht konnte sie einen herunter gestürzten Balken erkennen, der ein paar Bänke zerstört hatte und in der Schräge hin. Durch den Regen hatte sich irgendwo eine Pfütze gebildet, in die nun vereinzelt ein paar Tropfen fielen und von den Wänden widerhallten. Auf dem Altar lag ein altes Tuch, das mit altem Laub übersäht und durch den Staub schmutzig und grau war. An der Stelle, an der die Gebetskerzen gestanden hatten in ihren mit Gold überzogenen Halterungen, war eine weiße Stelle zurück geblieben auf dem Tuch. Ein paar Spinnweben hatten sich an den Ecken des Altares ausgebreitet. Das Kreuz an der Wand war vom Brand schwarz geworden, dennoch konnte Alyssa die Überreste der Figur erkennen. Sie ging den Mittelgang entlang und auf den Bänken sah sie aus dem Augenwinkel alte Gebetsbücher mit den Liedern, die hier gesungen worden waren. Das Leder war abgegriffen und zerfleddert. Es tat ihr irgendwie leid, die Bücher in so einem Zustand zu sehen. Alyssa war am Ende des Ganges angekommen und ging um den Altar herum auf die Portaltür zu, die im Schatten verborgen war unter dem abgebrannten Kreuz mit Jesus. Es war eine Besonderheit, die mit ihren Augen zu tun hatte, dass sie die Tür sehen konnten. Jegliche Portale, die in die Shinigamiwelt zurückführten, lagen immer im Schatten verborgen und konnten nur die die phosphoreszierenden Augen gesehen werden. So vermied man es, dass ein Mensch jemals versehentlich durch so eine Tür ging und die Menschenwelt verließ. „Schläft der Kleine richtig?“ Alyssa warf dem Jungen einen kurzen Blick zu und lauschte seinem Atem. Sie nickte. „Ja, er schläft tief und fest.“ „Gut. Denn er soll nicht wissen, wo die Portale sind.“ „Ich weiß. Er ist kein Shinigami und hat nicht unseren Ausweis, die uns erlaubt in diese Welt zu gehen.“ „Aber du hoffst, dass er mal einer wird?“ Undertaker sah sich um, ob jemand sie beobachten könnte, dann griff er zur Türklinke und öffnete das Portal. „Ich weiß nicht“, seufzte sie, „Ich hoffe nur, dass es ihm bald besser geht. Morgen sollte er auf jeden Fall in die Krankenstation, wenn wir es der Verwaltung erklärt haben.“ Adrian nickte. „Seine Wunden sehen schlimm aus.“ „Du solltest sie nachher schon mal reinigen und verbinden.“ Alyssa nickte und ging mit dem Jungen im Arm durch die Tür. „Sag mal, du bist nicht begeistert, was den Jungen angeht, oder?“ „Merkt man das?“, fragte er etwas kühler zurück und der Tonfall jagte ihr einen Schauer über den Rücken. So hatte er schon länger nicht mehr mit ihr gesprochen. Alyssa nickte und spürte an ihrer Schulter die Wände des engen Durchganges, der sie zurück nach Hause bringen würde. Undertaker blieb stehen und drehte sie zu sich herum. „Hör zu, ich will nur nicht, dass du oder dass wir Ärger kriegen.“ In der Dunkelheit konnte sie seine leuchtenden Augen sehen und wie nervös ihn das Gespräch machte. Er fuhr sich durch den langen Pony. „Wir haben solange durchgehalten, mein Engel, ich will das nicht durch so einen kleinen Jungen gefährden.“ Alyssa nickte. Sie konnte sich vorstellen, was er meinte. „Ich…Wir…Also…Es hat mich damals so viel Mühe gekostet zu verheimlichen, dass ich dich mag bis zu diesem einen Abend und danach viel es mir noch schwerer es vor den Kollegen geheim zu halten. Ich will einfach nicht, dass unsere kleine Lüge auffliegt und wir beide gefeuert werden. Ich weiß, du liebst diese Arbeit genauso sehr wie ich sie liebe.“ „Adrian, ich weiß, was du meinst“, flüsterte sie zurück. „Lyss, du bist eine der wenigen, der ich vertraue und die meinen richtigen Namen kennt. Ich liebe dich und genau deswegen will ich nicht, dass irgendwer das Gerücht verbreitet, der Junge wäre von uns.“ „Mit irgendwer meinst du Carry?“ Er nickte. „Ich will einfach nicht, dass dieses Weib auf die Idee kommt, wir hätten schon seit der Ausbildungszeit etwas miteinander. Selbst, wenn sie es vermuten. Sie können uns nichts, weil wir offiziell erst nach deiner Prüfung zusammen waren. Daher interessiert es keinen. Aber wenn so etwas in den Umlauf kommt, würde es sie interessieren und irgendwer würde nachforschen oder in unseren Lebensbüchern nachlesen. Dann wäre die Katze aus dem Sack und wir hätten riesen Ärger am Hals.“ „Ich weiß, aber wir können ihn doch nicht im Stich lassen!“ „Lyss, ich bin auch nicht dagegen, dass wir ihn im Stich lassen oder ihm helfen. Aber du bist mir wichtiger! Unsere Beziehung ist mir wichtiger! Ich kenne dieses Kind nicht. Es bedeutet mir nichts!“ „Soll das heißen, dass du keine Kinder magst?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich…ich würde mich sogar freuen irgendwann mit dir welche zu haben. Aber eben erst irgendwann!“ Nun war es an Alyssa zu seufzen. „Ich habe dir vorhin ja gesagt, dass ich jetzt keine Kinder will und erst später vielleicht. Es ist nicht so, dass ich den Kleinen adoptieren will, aber ich kann ihn auch nicht hilflos zurück lassen.“ „Ich verstehe dich ja und das bringt mich eben in dieses Dilemma!“ Wieder fuhr Adrian sich durch die Haare. „Bitte streitet nicht…“, kam es leise und mit kratziger Stimme von dem kleinen Jungen. Alyssa sah überrascht zu Undertaker und dann zu dem Jungen. Es war ihr unangenehm, dass er ihren Streit über ihn mitbekommen hatte. Verschlafen blinzelte er sie an und gähnte. „Tut mir leid, dass wir dich geweckt haben“, flüsterte sie ihm zu. „Lasst mich lieber zurück, aber streitet euch nicht.“ „Du bleibst nicht zurück!“, sagte Alyssa bestimmt. „Warum streitet ihr euch dann über mich?“ „Wir...“ Alyssa seufzte. Es hatte keinen Sinn zu leugnen. Er war alt genug für die Wahrheit. „Es gibt Dinge, die du nicht verstehst und über die wir diskutieren, weil wir eine andere Meinung haben.“ „Aber er mag mich nicht…“ Der Junge sah zu Undertaker, der kurz zusammen zuckte. „Er macht sich nur um mich Sorgen“, erklärte sie. „Aber ich mache euch einen Vorschlag. Wir bringen dich erst zur Krankenstation. Damit niemand denkt, du wärst unser Kind und dann schläfst du dort. Morgen sehen wir uns dann wieder und klären alles Weitere. Du brauchst auch keine Angst vor der Station zu haben. Alle sind sehr freundlich.“ Der Junge nickte und schmiegte sich an ihre Schulter. Adrian seufzte. „Na gut. Das klingt immer noch besser als dass er bei uns im Zimmer schläft.“ „Gut, dann lasst uns jetzt weiter gehen. Ich habe Hunger.“ Ehe sich Alyssa umdrehen konnte, gab ihr Undertaker einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Der Junge gab ein angeekeltes Geräusch von sich, doch sie ignorierte es. Alyssa musste grinsen, denn es bedeutete, dass er nicht von klein auf in Gefangenschaft war, sondern unter Menschen. Er sprach auch ganz normal, was ebenfalls bedeutete, dass er Kontakt mit anderen Menschen hatte. Es bedeutete aber auch, dass er einmal ein Leben gehabt haben musste und einen Namen. „Junge, wie heißt du eigentlich?“, fragte Alyssa, grinste aber als er keine Antwort gab, sondern nur ein leises Schnarchen von sich gab. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, drückte ihn aber wieder an sich und ging weiter. Es würde nicht mehr lange dauern bis sie das Ende des Durchganges erreicht hatten. Sie konnte schon die kühle Luft spüren und den süßen Duft der Blumen riechen. Nur wenige Augenblicke später traten sie durch das Portal auf der Brücke und standen in dem großen runden Pavillon im Garten. Es war zum Glück ein milder und angenehmer Abend. Lediglich der Wind war etwas kühl. Sie konnte das Wasser plätschern hören und wie es sich einen Weg durch den Garten bahnte und unter ihnen den Pavillon passierte. Vier kleine Stege führten zum Garten und zurück zur Society, die hoch in den Himmel ragte. Es brannten nur noch wenige Lichter in den Büros. Die einzigen Fenster, die durchgehend beleuchtet waren, waren die der Krankenstation und der Mensa. Alyssas Magen gab ein knurren von sich und es war eindeutig ein Zeichen dafür, dass sie sich in die Mensa setzen und etwas Essen sollte. Sie gingen weiter über die Brücke. „Wo ist der Wachmann?“, fragte Undertaker und stellte sich schützend vor sie. Alyssa sah sich suchend um. „Stimmt. Wo ist er?“ Es war ihr gar nicht wirklich aufgefallen, dass der Wachposten fehlte, der immer die Ausweise kontrollierte, wenn jemand durch gehen wollte. Undertaker war angespannt und hielt seine Death Scythe fest im Griff. Auch Alyssa spannte sich an und hielt den Jungen fester im Arm. „Wo ist er? Für eine Wachablösung ist es noch zu früh. Die war erst vor etwa zwei Stunden.“ „Das weiß ich nicht. Aber wenn etwas passiert ist, dann sollten wir vorsichtig sein.“ Sie nickte und sah sich weiter um. Das Knacken von Ästen drang an ihr Ohr und sie wirbelte herum. Auch Adrian wandte seine Aufmerksamkeit dem Geräusch zu. Die Blätter raschelten und man konnte deutlich eine Bewegung ausmachen. „Wer ist da?“, rief Undertaker mit kalter Stimme. Für einen Moment war es ruhig, dann steckte jemand den Kopf aus dem Gebüsch. „Oh…Verzeihen Sie…“, nuschelte der Mann und richtete sich auf. Sein Hemd stand halb offen und er steckte es schnell in seine Hose, die ebenfalls offen war. Alyssa wandte beschämt den Blick ab, als er die Hose zuknöpfte und den Reißverschluss zuzog. „Was haben Sie in dem Grünzeug zu suchen?“, fauchte Undertaker mit kalter Stimme und seine Haltung entspannte sich. Dafür richtete er sich zu voller Größe auf. Verlegen sah sie den Mann an und konnte die Dienstmarke erkennen, die ihn als Wachmann auszeichnete. „Ich…ähm…ich…“ Verlegen knöpfte er das Hemd zu und zupfte ein Blatt von seiner Uniform. „Wo sind Sie gewesen?“, fragte Adrian erneut und sah den Mann mit kalten Augen an. „Sie wissen doch, dass Sie hier stehen müssen, um für Sicherheit zu sorgen!“ „Ja, natürlich…“, nuschelte er. „Dann machen Sie Ihren Job gefälligst richtig! Heute Nachmittag war eine Schülerin aus der Buchhaltungsabteilung in der Menschenwelt!“ „Was…ich…nun…“ „Wenn rauskommt, dass Sie dafür verantwortlich sind, können Sie schon mal Ihre Sachen packen!“ „Was schreien Sei denn so?“, fragte eine weitere Stimme und Alyssa wandte den Kopf. Aus dem Gebüsch trat Carry und wischte sich mit dem Finger über den Mundwinkel. Ihre Uniform saß unordentlich und ein Ast mit ein paar grünen Blättern steckte in ihrem Haar. Aus ihrer Tasche blitzte ein Stückchen Stoff, was sich bei genauerer Betrachtung als ihren Slip herausstellte. Sie zwang sich den Blick davon abzuwenden. „Carry?“, fragte Alyssa überrascht, obwohl es sie nicht wirklich überraschen sollte. Wie sonst hätte sie durch den Durchgang gekonnt? Als sie zurückgegangen war, musste der Wachmann wohl auf seinen Preis bestanden haben. „Oh Kanalratte, was machst du hier?“, fragte sie süffisant und wischte sich mit dem Finger am anderen Mundwinkel entlang. Wollte sie wirklich wissen, was sie mit dem armen Wachmann angestellt hatte? „Wie ich sehe, hast du ein Souvenir mitgebracht.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Das wird Ärger geben.“ „Ich wüsste nicht, was dich das interessiert. Du hast genug Ärger selbst am Hals.“ „Ach weißt du. Der Personalchef ist ein…wie sag ich das am besten?“ „Kunde von dir?“ „Nein, ein guter Bekannter. Ich glaube, er wird Gnade vor Recht ergehen lassen. Immerhin bin ich noch eine Schülerin und so ein Fehler kann doch jedem Mal passieren, dass man sich in die Menschenwelt verirrt.“ „Dabei aber zufällig die Sachen bei hat, die ein Bote bringen soll?“ „Ich hatte ihn zufällig getroffen, Dorfhuhn. Aber danke, dass du dir solche Sorgen um mich machst. Aber ich würde mir Sorgen wegen dem Kind machen. Du weißt doch, Menschen sind hier nicht gestattet.“ „Er ist kein Mensch“, gab Alyssa zurück. „Oh, dann ist er etwa deiner?“ Sie schaute zu Undertaker. „Wenn ich ihn mir so ansehe, musst du ihn schon ganz schön lange versteckt gehalten haben. Was sagst du denn dazu Undylein? Er ist doch sicherlich nicht von dir, oder? Wenn doch, dann würde das ja bedeuten, dass du was mit deiner Schülerin hattest!“ Alyssas Augenbraue zuckte gefährlich. „Miss Montrose, es kann Ihnen doch völlig egal sein! Sie haben genug Ärger, wie Miss Campell Ihnen bereits gesagt hat! Sie waren in der Menschenwelt unerlaubterweise und wenn ich mir die Situation so ansehe, dann spricht einiges dafür, dass Sie den Wachmann bestochen haben!“ Carry zuckte unter den harten Worten zusammen. „Ich habe doch gar nichts getan!“, jammerte sie und brachte ein Schluchzen hervor. „Er hat mich ins Gebüsch gezerrt!“ „Was?“, fuhr der Wachmann sie an und sein Gesicht verlor an Farbe. „Es ist wahr…“, schluchzte sie. „Carry, halt die Klappe!“, fuhr Alyssa sie wütend an. „Du hast Mist gebaut und nun steh dazu! Keine Krokodilstränen der Welt werden dir hier weiter helfen. Weder bei Undertaker noch bei mir! Du hast den Wachmann bestochen und jetzt, wo du auf frischer Tat ertappt bist, willst du ihm eine Vergewaltigung unterstellen! Ich glaube, ich höre nicht richtig! Außerdem was erlaubst du dir für einen Umgangston mit mir! Ich bin deine Vorgesetzte, also benimm dich gefälligst! Ich erwarte ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“ Alyssa war sich bewusst, dass sie sich in Rage geredet hatte und immer lauter geworden war. Aber sie konnte Carry die Nervosität ansehen. „Stell dich auf ein Disziplinarverfahren ein“, sagte sie noch und wandte sich zum Wachmann um. „Was Sie betrifft, Sie werden für heute Suspendiert. Schicken Sie ihre Ablösung her!“ „Was ist denn los?“, fragte der Junge verschlafen. „Mir tut das Ohr weh…“ Alyssa zuckte zusammen. Sie hatte bei ihrer Wut den Jungen total vergessen. „Oh, das tut mir Leid, Kleiner“, flüsterte sie und sah wieder die beiden an. „Wie Sie sehen, habe ich noch was zu erledigen. Schönen Abend noch!“, fauchte sie und ging wütend davon. Undertaker folgte ihr. „Lyss, das war…“ „Ich weiß, ich habe überreagiert.“ „Nein, das war gut.“ „Was?“ „Du hast ihr endlich mal die Meinung gesagt und welchen Stand sie hat. Das war gut. Ich hätte es nicht anders gemacht, wenn du es nicht getan hättest.“ „Danke“, nuschelte sie verlegen. „Wer war die?“, fragte der Junge leise. „Niemand wichtiges“, gab sie zurück. „Ich mag sie nicht.“ „Ich auch nicht.“ „Sie ist gemein zu dir.“ Alyssa lachte. Das war süß von dem Jungen. „Mach dir keinen Kopf darum. Ich komme zurecht. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich.“ Sie brachte den Jungen auf dem schnellsten Weg in die Krankenstation und ignorierte dabei die fragenden und irritierenden Blicke der noch arbeitenden Kollegen. Es dauerte auf der Station nicht lange bis der Arzt Zeit hatte. Er erfasste schnell den Namen, Conrad Winter, und andere Daten. Der Arzt verstand auch das Problem, dass die Verwaltung schon Feierabend hatte, er aber eine dringende Untersuchung brauchte, worüber Alyssa mehr als froh war. Die Schwestern brachten ihn in einen Baderaum und wuschen ihn sauber, damit die Wunden grob gesäubert wurden. Sie steckten ihn auch in einen weißen Schlafanzug und gaben Alyssa ein paar Kleidungsstücke in die Hand. Die Behandlung dauerte etwas, doch die körperlichen Wunden waren nur das geringste Problem. Conrad hatte ein erhebliches Gewichtsproblem und musste in den nächsten Wochen zunehmen. Er war unterernährt und hatte einen Mangel an den wichtigsten Vitaminen und Mineralien. Alyssa versprach dem Arzt, dass sie sich um ihn kümmern und ihm die richtige Nahrung geben würde bis die Verwaltung beschlossen hatte, was mit ihm passieren würde. Der Arzt reinigte die Wunden und desinfizierte sie. Am meisten überraschte sie jedoch die Narbe auf dem Rücken des Jungen. Der Mann musste sie ihm mit einem glühenden Eisen eingebrannt haben, wie bei einem Tier. Eine der Krankenschwestern fertigte eine Akte für die Verwaltung an und der Doktor legte ein Schreiben mit dabei, um dem Personal verständlich zu machen, dass die Behandlung nicht hätte verschoben werden können. Alyssa fiel ein Stein vom Herzen. Das erleichterte ihr am nächsten Morgen die Arbeit erheblich. Sie konnte dem Arzt kaum genug danken. Eigentlich sollte Conrad über Nacht auf der Station schlafen, damit der Doktor ihn im Auge behalten konnte, doch er wollte bei Alyssa bleiben und bettelte darum, dass er bei ihr schlafen dürfe. Sie besprach sich kurz mit Adrian und er willigte ein, dass er bei ihnen bleiben dürfe. Gemeinsam gingen sie in das Wohngebäude und sie kochte dem Jungen eine kleine Mahlzeit, die er mit schnellen bissen verschlang. Sie blieben nach dem Essen noch etwas wach und fragten Conrad ein wenig nach seinem Leben vor der Gefangenschaft aus und erklärten ihm, was am nächsten Tag auf ihn zukommen würde und wie es weiter ginge. Als Alyssa später im Bett lag und sich eingekuschelt hatte, konnte sie kaum glauben, was an dem Tag alles passiert war. Es war wirklich unglaublich. Conrad lag eingekuschelt neben ihr und er schmiegte sich an sie, als würde ihre Nähe ihn beruhigen. Adrian lag hinter ihr und hatte sie an sich gezogen. Alyssa genoss die Wärme, die er ausstrahlte und die Berührung, wie er sie im Arm hielt. „Du hast heute gute Arbeit geleistet“, sagte er. „Danke“, gab sie leise zurück. Undertaker küsste ihren Nacken. „Ich bin stolz auf dich. Schläft der Kleine?“ „Ja, tief und fest.“ „Das ist gut.“ Er zog sie fester an sich und Alyssa spürte seinen warmen Atmen im Nacken. Sie schloss die Augen. „Ich liebe dich, Adrian.“ „Ich dich auch, mein Engel“, gab er leise zurück. Alyssa lauschte der Stille und hörte den gleichmäßigen Atem von Undertaker, während der kleine Junge neben ihr ebenfalls gleichmäßig atmete. Der Schlaf übermannte sie und nur am Rande nahm sie wahr, dass Conrad sich herumwälzte. „Schlaf weiter, Conrad“, nuschelte sie und legte ihm einen Arm um den Körper. „Das werde ich“, antwortete er leise und noch immer mit kratziger Stimme. „Das bin ich dir schuldig“ Alyssa wollte ihm antworten, doch brachte vor Müdigkeit kein Wort mehr heraus. Sie drückte den Jungen an sich und schlief ein. Alles um sie herum war weich. Weich und bequem, wie sie weiter feststellte. Es war auch warm. Zusammengerollt lag sie auf der Seite, die Decke hatte sie bis zum Kinn hoch gezogen und ihr Kopf ruhte auf einem Kissen. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, erinnerte an feuchter, modriger Erde. Es war aber nicht dieser unangenehme Duft, sondern es erinnerte sie daran, wie es nach frischem Regen roch. Sie kuschelte sich tiefer ins Kissen. Lily wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatte. Es musste länger her gewesen sein. Es waren mehr als nur ein paar Tage her, fast schon ein paar Wochen. Sie wusste genau, wann sie sich zuletzt so wohl gefühlt hatte. Das war der Moment gewesen, als ihr Mentor sie in der Nacht getröstet und neben ihr im Bett gelegen hatte. Auch, wenn sie nervös gewesen war, hatte sie sich in seinem Arm sicher und geborgen gefühlt. Sie zog die Decke enger um sich und rollte sich zusammen, wie ein Fötus. Das warme Gefühl in ihrer Brust, ließ sie sehnsüchtig aufseufzen und sie sehnte sich danach, es wieder zu spüren. Ohne die Augen zu öffnen rieb sie ihr Gesicht an das weiche Kissen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre sie durch dicken Nebel gegangen. Ein klarer Gedanke wollte nicht in ihren Sinn kommen, obwohl ihr Kopf wach war und den Traum Revue passieren ließ. Gleichzeitig fühlte sie die Müdigkeit, die sie dazu bringen wollte, sich wieder in das weiche Bett zu kuscheln und weiter zu schlafen. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Bett. So viel wollte ihr Verstand ihr mitteilen. Aber was war es? Immer, wenn der Gedanke zum Greifen nah war, entschwand er wieder ihrem Geist. Es war zum verrückt werden. Ihr Geist war wach, aber ihr Körper war zu müde, um sich auch nur ansatzweise zu bewegen. Lily atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Dieser Traum war zwar nicht so schön, aber doch angenehmer als die anderen beim Aufwachen. Es war ungewohnt, dass sie nicht von irgendwelchen Unfällen, Morden oder anderen schmerzlichen Dingen träumte, wie sonst. Oft genug hatte sie schmerzen gehabt nachdem sie wach geworden war. Doch diesmal fühlte sie sich sicher und geborgen. Lily konnte noch immer den warmen Arm fühlen, der sich um ihre Hüfte im Traum gelegt hatte. Genauso wie den warmen Körper, der sich an ihren gedrückt hatte. Noch nie hatte sie sich so sehr gewünscht wie jetzt, dass man sie genauso in den Arm hielt. Selbst, wenn es in diesem Moment Ronald Knox gewesen wäre, wäre es ihr nur recht gewesen. Aber so etwas durfte sie nicht denken! Diese eine harmlose Nacht zwischen ihnen hatte ihr mehr als genug Probleme eingebracht. Sie hatte vor Gericht gestanden und dann hatte sie der alte Shinigami mit den langen grau-weißen Haaren entführt. Lily schreckte auf und saß senkrecht im Bett. Genau das war es, was ihr der Verstand die ganze Zeit hatte sagen wollen. Sie lag nicht in ihrem Zimmer in der Shinigami Dispatch Society und sie träumte auch nicht davon im Bett eines Geliebten zu liegen. Sie lag auch nicht bei Nakatsu im Bett, wie es in den letzten Wochen oft genug der Fall gewesen war. Lily lag im Bett von dem alten Shinigami Undertaker. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und versuchte den Gedanken so schnell es geht zu verdrängen, dass sie sich wohl in seinem Bett gefühlt hatte. Zum Glück war es dunkel und er selbst schien auch irgendwo zu schlafen, so dass niemand sehen konnte, wie ihr bei dem Gedanken die Röte ins Gesicht stieg. Diese Gefühle kamen nur durch Traum, das wusste sie. Sie durfte sich davon nicht beirren lassen. Langsam atmete sie tief ein und aus. Ihr Herz schlug nur durch den Traum so schnell. Es hatte keine Bedeutung. Müde fuhr sie sich durch die Haare und seufzte. Wieso hatte sie solche Träume? Woher kamen sie? Lily schloss die Augen und atmete tief durch. Es fühlte sich an, als wäre sie nicht sie selbst. Jede Nacht war es das selbe Spiel. Jede Nacht wachte sie mit Gefühlen auf, die sie durch einen Traum übernommen hatte. Manchmal fühlte sie sich wie eine fremde Person. Verschlafen blinzelte sie und sah sich in dem dunklen Zimmer um. Etwas Mondlicht fiel in das Zimmer und brachte etwas Licht herein, so dass sie schwach die Umrisse erkennen konnte. Etwas Mondlicht fiel in das Zimmer und brachte etwas Licht herein, so dass sie schwach die Umrisse erkennen konnte. Neben sich konnte Lily ein leises Geräusch hören. Gleichmäßig atmete jemand. Lily beschlich eine kleine Ahnung und rechnete damit, dass Undertaker neben dem Bett saß und auf einem Stuhl oder auf dem Boden auf einer Pritsche schlief. Vorsichtig drehte sie sich zur Seite. Der Shinigami schlief nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Das Mondlicht ließ seine Haut blasser erscheinen und tauchte es in silbriges Licht. Die Decke hatte er sich bis zur Brust hochgezogen und Lily konnte seine Körperwärme fast spüren. Wieso war es ihr nicht vorher aufgefallen? Er lag so nah bei ihr, dass sie sich fast berührten. Deutlich konnte sie sein Gesicht erkennen, was sonst durch die Haare verdeckt wurde. Der Shinigami hatte schöne Gesichtszüge, wie sie feststellte. Fasziniert sah sie ihm beim Schlafen zu. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb. Sein ganzer Körper wirkte entspannt und friedlich, als wäre er schon lange nicht mehr zum Schlafen gekommen. Lily beugte sich etwas über ihn und betrachtete die feinen Narben, die sich an seinem Hals, Gesicht und Brust abzeichneten. Sie hatte ihn noch nie ohne sein Grinsen auf den Lippen gesehen und es wirkte fremd ihn so zu sehen. Eigentlich hätte sie die Tatsache erschrecken müssen, dass er neben ihr lag, aber es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Was hatte sie außerdem gedacht, wo er die letzten Tage geschlafen hatte? Im Raum gab es kein anderes Bett und sie bezweifelte, dass er in einem der Särge geschlafen hatte. Es war also nur logisch, dass er neben ihr geschlafen hatte. Doch obwohl er sie entführt hatte, verspürte sie keine Angst. Er hatte ihr die ganze Zeit über nichts getan. Im Gegenteil. Er hatte sich rührend um sie gekümmert und fast glaubte Lily ihm, dass er sie vor Carry und den anderen beschützen wollte. Sie dachte nur an das Nachthemd, was sie im Augenblick trug. Das hatte er für sie besorgt, genauso wie ein paar andere Kleidungsstücke, die sie tragen konnte, damit sie nicht die ganze Zeit in ihrer Uniform herum laufen musste. Undertaker hatte ihr gesagt, dass es die Kleidung von Alyssa war, die er aufbewahrt hatte. Lily konnte ihm nicht böse sein, nach allem, was er für sie getan hatte. Er hatte viel mit ihr geredet und zugehört, genauso wie ihr Mut gemacht. Sie hatte nicht das Gefühl eine Gefangene zu sein, obwohl er sie gebeten hatte in diesem Zimmer zu bleiben. Aber dennoch wollte Lily so schnell es ging zurück in die Society und einen normalen Alltag nachgehen, die Ausbildung weiter führen und dieses Kapitel abhaken. Noch immer betrachtete sie Undertaker, wie er friedlich schlief. Sie kämpfte gegen den Drang an mit einem Finger seine Narbe im Gesicht oder auf der Brust nachzufahren. Zu gern hätte sie gewusst, woher er sie hatte und irgendwo in ihrem Inneren hatte Lily das Gefühl genau zu wissen, woher sie stammten. Sie konnte sich dieses Gefühl nicht erklären. Es war so, als wäre ihr vieles vertraut, obwohl sie es gar nicht kannte. Dieses Gefühl verwirrte sie und es war beängstigend. Am liebsten hätte Lily sich an seine Schulter geschmiegt und weiter geschlafen. Aber das konnte sie nicht tun. Er war ihr Entführer. Außerdem hatte sie sich schon unwohl gefühlt, als ihr Mentor neben ihr gelegt und sie in den Arm genommen hatte. Dabei war er nur ein Jahr älter. Dieser Mann war einige Jahrzehnte älter als sie. Lily schüttelte den Kopf und seufzte. Sie warf die Decke zurück und stand leise auf. Das hellblaue Nachthemd von Alyssa war ihr etwas zu groß und war während des Schlafens nach oben gerutscht. Schnell richtete sie den Stoff und ging zum Fenster. Lily brauchte dringend etwas Abstand von dem Shinigami. Mit einem Seufzen ging sie zum Fenster und atmete tief durch. Solche Träume konnte sie in diesem Moment nicht gebrauchen. Es war schon schlimm genug, dass Lily sie fast jede Nacht hatte, aber bei jemand eigentlich Fremden, der im Traum dann auch noch vorkam, konnte sie diese nicht brauchen. Wütend fuhr sich Lily durch die Haare und lief vor dem Fenster auf und ab. Leise knurrte sie. Warum hatte sie solche Träume? Was hatte es zu bedeuten? Schon seit Wochen stellte sie sich diese Fragen und konnte keine Antwort finden. Selbst in der Lebensbuchabteilung waren die Bücher der beiden Frauen dauerhaft ausgeliehen, weshalb sie nicht nachlesen konnte, wer sie waren. Doch jetzt waren sie hier. Direkt vor ihrer Nase waren Alyssa Campell und Emily Lyall in Fleisch und Blut. Wie war so etwas möglich? Wie konnten zwei Personen aus ihren Träumen als Personen hier sein? Dabei waren sie in ihren Träumen gestorben. Lily war sich absolut sicher, dass sie von deren Tod geträumt hatte und selbst der Shinigami hatte nicht abgestritten, dass Alyssa ein Zombie war. Zu Emily hatte sie gar nichts mehr gesagt. Es war immer noch unheimlich zu wissen, dass irgendwo in den Räumen unter ihr zwei Zombies lagen. Lily seufzte und rieb sich über die Arme. Das Gefühl in ihrer Brust war noch immer da und schien so schnell nicht verschwinden zu wollen. Sie sah aus dem Fenster und konnte gegenüber ein Backsteinhaus erkennen, aus dessen Fenster schwaches Licht drang. Neugierig trat sie näher heran. Die Häuserreihe erstreckte sich die ganze Gasse entlang. Sie hörte eine Kutsche entlang rollen und das Geschrei von einem Betrunkenen. Eine Glasflasche klirrte und im nächsten Moment vernahm sie die Stimme einer Frau. Lily drückte sich dichter an das Fenster heran und ihre Nase an der Scheibe platt, um einen Blick auf die Straße zu erhaschen. Sie hört etwas gegen die Scheibe trommeln. Es hatte angefangen zu regnen und dicke Tropfen schlugen auf die Straße und gegen das Fenster, was ihre Sicht auf die umstehenden Häuser erschwerte. Etwas weiter zur Straße rauf, war das Schild für ein Blumengeschäft zu sehen. Zwei Gestalten bogen in die Gasse ein. Lily konnte erkennen, dass eine Gestalt kleiner und zierlicher war als die andere. Sie vermutete einen Mann und eine Frau. Die zwei gingen bis zum Ende der Gasse, wo die Frau an den Lattenzaun gedrückt wurde. Verwirrt runzelte die Stirn. Was taten sie da? Lily kniff die Augen etwas zusammen und beobachtete weiter das Geschehen. Plötzlich fühlte sie mehrere starke Finger, die ihre Schulter umfassten und im nächsten Moment sah sie in zwei phosphorisierende Augen. Erschrocken zog sie die Luft ein und wich zurück. Sie prallte gegen die Fensterschreibe. „Macht es dir Spaß den beiden zuzusehen?“, fragte Undertaker sie mit seinem üblichen Grinsen. „Oh...nein...ich wollte mir die Straße ansehen...“, gab sie verlegen zurück und Lily spürte, wie sich ihre Wangen vor Scham rot färbten. „Wieso bist du nicht im Bett und schläfst?“ „Ich bin wach geworden“, antwortete sie. „Dann hast du nichts anderes zu tun als anderen nachzuspionieren?“ „Nein! Ich wollte mir nur die Straße ansehen. Seit ich hier bin, habe ich nichts anderes gesehen als dieses Zimmer!“ „Die Gegend ist auch nicht besonders Sehenswert.“ Er trat an das Fenster und warf einen Blick auf die Gassenseite, wo noch immer der Mann und die Frau am Zaun beschäftigt waren. „Ich schätze mal, so etwas hast du noch nie gesehen, oder?“ Lily schüttelte den Kopf. „Wir sind hier in einem ärmeren Stadtteil von London und es ist ganz normal, dass die Prostituierten ihre Freier in den Seitengassen befriedigen.“ Undertaker sprach darüber, als wäre es das natürlichste der Welt, während ihr Gesicht sich dabei rötete. „Oh“, war alles was Lily hervorbrachte. Sie sah auf das Fensterbrett und kratzte mit dem Nagel an der Maserung. „Ist dir das Thema so unangenehm?“ „Ein wenig“, gestand sie leise und sah noch immer auf das Holzmuster. Aus dem Augenwinkel sah sie zu der Prostituierten und konnte im schwachen Licht erkennen, dass sie ein paar Münzen vom Boden aufsammelte. Der Mann ging und schenkte ihr keinerlei Beachtung mehr. „Beachte es nicht weiter, wenn es dir so unangenehm ist. Nur bedenke, es ist das älteste Gewerbe der Welt, genauso wie meines.“ Er ging zurück zum Bett und erst jetzt, wo das schwache Licht besser auf ihn fiel, fiel Lily auf, dass sein Rücken und Oberarme muskulös waren. Unter seiner dunklen und abgetragenen Kleidung hatte er immer so unscheinbar und schwach gewirkt. Undertaker ließ sich auf die Matratze sinken und sah sie mit einem breiten Grinsen an. „Welches Gewerbe meinen Sie eigentlich?“, fragte sie verwirrt und vermied es ihn anzusehen. Der Anblick, wie er halbnackt auf dem Bett lag und sie grinsend ansah, war ihr nicht hilfreich. Das Gefühl wurde sogar noch schlimmer und ihr Herz schlug schneller. „Ich bin Bestatter“, antwortete er. Lily nickte. Wenn er Menschen beerdigte, war es nur natürlich, dass er vom Ausheben der Erde so viele Muskeln bekommen hatte. Nun, wo er es gesagt hatte, erinnerte sie sich auch daran, dass Emily ihn als solchen auch kennen gelernt hatte. Wie hatte sie diesen Traum nur vergessen können? „Woran denkst du?“, fragte er mit ruhiger und neugieriger Stimme. „An nichts bestimmtes.“ „Du siehst nur so gedankenversunken aus.“ Lily schüttelte den Kopf, als würde es ihr helfen, die Gefühle und verschiedenen Erinnerungen los zu werden. „Was ist los?“, fragte Undertaker. In der Dunkelheit konnte sie seine Augen sehen, die interessiert auf ihr ruhten. „Was hast du für Gedanken, die dich nicht schlafen lassen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es sind viele Dinge...“ „Zum Beispiel?“ „Sie sind ziemlich neugierig.“ „Ich interessiere mich lediglich für meinen Gast.“ Lily musste leise kichern. „Eine merkwürdige Art der Gastfreundschaft.“ „Nach allem, was du durchgestanden hast, würde ich es unschön finden, wenn es noch mehr Dinge gäbe, die dich belasten.“ „Was soll ich machen? Ich habe auch ein normales Leben außerhalb meiner Ausbildung.“ Undertaker verzog das Gesicht. „Schade, dabei hatte ich gehofft, dass dir der Aufenthalt hier hilft zur Ruhe zu kommen. Du sahst so angespannt und erschöpft aus.“ „Das ist ein schöner Gedanke, aber die Dinge, die im Kopf sind, lassen sich nicht abschalten.“ „Was geht in deinem hübschen Köpfchen vor?“ Lily errötete und seufzte. Sie begann wieder vor dem Fenster auf und ab zu laufen. „Es ist so viel.“ „Ich habe Zeit. Auf mich warten nur die Toten und die laufen mir schon nicht weg.“ Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es sind Erinnerungen.“ „Erinnerungen woran?“ „An merkwürdige Dinge.“ Sie seufzte und fuhr schnell fort, ehe er die nächste Frage stellen konnte. „Dinge, die sich während des Schlafens zeigen.“ „Bist du deshalb aufgewacht?“ Lily nickte. Undertaker stand vom Bett auf und hielt sie an den Schulter fest, damit sie nicht mehr länger auf und ab lief. Er stand nur wenige Zentimeter entfernt. „Was sind das für Dinge? Bitte hör auf damit auf und ab zu gehen, sonst läufst du mir noch den Boden durch.“ „Tut mir leid...“, nuschelte sie und sah auf seine nackte Brust. Wieder überkam sie der Drang mit dem Finger die Narbe entlang zu fahren. Schnell wandte sie den Blick ab, doch sie konnte nicht anders als hinsehen. „Die Narben...“, fing Undertaker an, als er ihren Blick gespürt hatte. „…hast du durch einen Kampf mit einem Dämon bekommen, als Alyssa gestorben war, die du vorher auch noch selbst abgeholt hast“, beendete sie den Satz und berührte mit dem Finger die Narbe. Während Lily gesprochen hatte, war sie diese ganz langsam entlang gefahren, als wäre sie in Trance. Undertaker schloss die Augen und seufzte unter der Berührung auf, als hätte ihn schon Ewigkeiten niemand mehr berührt. Schnell zog Lily die Hand zurück und starrte mit rotem Gesicht zu Boden. Er zog die Luft scharf ein und stieß sie langsam wieder aus, als hätte er sie angehalten. „Lyss…“, flüsterte er leise und öffnete mit einem Seufzen die Augen. Er sah sie mit verträumtem und glasigem Blick an, der sich sofort klärte, als er Lily erkannte. Undertaker streckte die Arme aus und hielt sie auf Abstand. Ihr Körper zog sich innerlich zusammen und schrumpfte unter der Berührung zu einem einzelnen Punkt zusammen. Es fühlte sich an, als würde dieser Punkt vor Hitze glühen. Es war ein friedliches und warmes Gefühl. „Alles in Ordnung?“, fragte Lily vorsichtig. „Prima…“, murmelte er und seine langen Haare fielen ihm wieder ins Gesicht. „Das sieht mir nicht danach aus…“ Die Geräusche von der Straße entfernen sich nicht, dennoch klangen sie dumpf in ihren Ohren. Sie hatte noch nie einen Mann so nahe gestanden und erst recht nicht, wenn sein Oberkörper nackt war. Lilys Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wusste nicht, wie sie mit seiner Reaktion über ihre versehentliche Berührung umgehen sollte. Die Wärme, die seine nackte Haut ausstrahlte, konnte sie spüren, auch ohne, dass er sie berührte. Lily schloss die Augen und versuchte das Schlagen ihres Herzens zu ignorieren. Genauso wie die Erinnerungen an den Traum und was sie empfunden hatte darin. Sie hatte Undertaker geleibt. Sie war im Traum in ihn verliebt gewesen und mit ihm zusammen, aber das konnte nicht sein. Er war ihr erst ein paar Mal über den Weg gelaufen und es blieb nur ein Traum. Lily rief sich ins Gedächtnis, was Träume waren. Sie waren Wünsche und Verarbeitungen des Unterbewusstseins. Diese Gefühle waren nicht echt. Es war mit Sicherheit nur der Wunsch ihres Unterbewusstseins nach einer Beziehung, dass sie gerade davon geträumt hatte und so empfand in diesem Augenblick. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, wie es sich anfühlen würde, wenn sie mit der Hand über seine muskulösen Arme streichen würde, über die Schultern und Brust. Lily versuchte die Vorstellung zu verdrängen, welche Reaktion es ihm entlocken würde. Diese Gedanken waren ihr so fremd, wie Französisch als Sprache. Sie gehörten nicht ihr und sie durfte nicht daran denken. Es gab zudem jemanden, den sie mochte und das stand außer Frage. Undertaker rührte sich immer noch nicht und er sah noch immer zu Boden. Die Müdigkeit machte sich wieder Bemerkbar, aber so konnte sie nicht ins Bett gehen. Dieses sehnsüchtige Seufzen, das sie ihm entlockt und nach mehr geklungen hatte, stand zwischen ihnen. Er hatte zudem statt ihren Namen den von Alyssa geseufzt. Was hatte es zu bedeuten? Plötzlich fing er an zu sprechen. „Es tut mir leid“, murmelte er leise und blickte sie aus den grün-gelben Augen traurig an. „Ich wollte dich nicht Lyss nennen. Es ist mir einfach so rausgerutscht.“ „Mir tut es leid….ich hätte nicht…“ Undertaker schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin dir nicht böse. Du sollst nur wissen, dass ich nicht…“ „Hören Sie, ich werde es keinen sagen! Ich werden Sie nicht in Schwierigkeiten bringen!“ Er schwieg und Lily spürte, wie er sie nicht mehr auf Abstand hielt. „Das ist mir egal“, sagte er. „Weil Sie schon mal mit einer Schülerin Sex hatten?“ Schnell schlug sich Lily die Hand vor den Mund. Sie hatte es nicht sagen wollen, aber es war ihr einfach so rausgerutscht. Sie sah Undertakers überraschten Gesichtsausdruck. „Du weißt davon, dass ich mit Alyssa geschlafen habe als sie noch meine Schülerin war?“, fragte er leise. Lily nickte. „Es tut mir leid…ich wollte Sie nicht kränken…“ „Woher?“, fragte er lediglich und schüttelte über ihre Entschuldigung den Kopf. „Durch die Träume.“ „Also doch…“, murmelte Undertaker mehr zu sich selbst als zu ihr. „Was? Ich verstehe nicht…“ „Das musst du auch nicht verstehen“, gab der Bestatter zurück. „Ich will nur nicht, dass du mich hasst.“ Lily konnte den Blick auf sich spüren, die Berührung seiner Hände an ihren Armen. Aber sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, so unangenehm war es ihr zu wissen, wie sein erstes Mal mit Alyssa gelaufen war. Auch wenn sie es im Traum selbst erlebt hatte, fühlte sie sich wie ein gemeiner Spanner. Die röte war ihr ins Gesicht gestiegen. „Warum ist es Ihnen so wichtig?“, fragte sie. „Weil du was Besonderes bist“, flüsterte er zurück. „Sie kennen mich doch aber gar nicht!“ „Ich kenne dich einfach. Ich würde dich überall erkennen. Du bist sie, auch wenn du es nicht weißt.“ Jetzt war sie sich sicher, dass er verrückt war. Sie war sie selbst, Lily McNeil. Niemand sonst. Wovon redete er also? „Ich bin aber niemand…“ Undertaker antwortete nicht und ihr wurde bewusst, dass er keine Antwort geben würde. Aber Lily wusste auch, dass es einen Grund gab, wieso er sie ausgewählt hatte. „Du wirst es noch verstehen. Irgendwann, aber noch ist nicht die Zeit dafür“, sagte er. „Ich habe lange geschlafen. Viele Jahrzehnte lang, aber jetzt….jetzt bin ich wach und du bist da.“ „Aber ich kenne Sie doch nicht!“ „Wenn du genau nachdenkst, doch. Oder woher sonst, weißt du so viel?“ „Es sind die Träume!“, gab sie zurück, „Bloß Träume! Daran ist nichts Reales! Nichts davon ist wirklich passiert!“ „Was ist dann mit den Narben und dass ich Alyssa als Schülerin schon geliebt habe? Wie nennst du das?“ „Zufall!“, gab sie zurück und Lily hörte, wie ihre Stimme einige Oktaven höher klang als sonst. „Das ist alles bloß Zufall!“ „Du willst es nicht wahr haben, oder?“, fragte Undertaker mit leiser Stimme. „Ich will nur, dass es aufhört!“, schluchzte sie plötzlich und merkte, wie ihr die Tränen aus den Augenwinkeln flossen. „Ich kann nicht mehr schlafen! Ich wache auf mit Schmerzen, mit Gefühlen, die nicht meine sind! Ich will mein Leben leben!“ Undertaker seufzte. „Du machst es mir nicht einfach. Ich kann deinen Mentor verstehen…“ Er strich sich die Haare nach hinten, die wieder nach vorne gefallen waren. Auf seinen Lippen war ein kleines Lächeln zu sehen. „Was meinen Sie damit?“ Er schüttelte den Kopf. „Das verrate ich dir nicht.“ Undertaker legte einen Finger auf seine Lippen. Lily spürte seinen Atem ganz nah an ihrem Gesicht. Dann schloss er die Augen und küsste sie. Kapitel 30: Auf frischer Tat ---------------------------- Kapitel 30 – Auf frischer Tat Das Gefühl von Sorge verließ ihn gar nicht mehr. Schon seit Wochen verfolgte es ihn und ließ ihn auch nicht mehr entkommen. Die Nächte, die er hatte schlafen können, konnte er an einer Hand abzählen und er konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt tief und fest geschlafen hatte. Sein ganzer Körper war geschunden und von Kratzern übersäht. Die Wunde auf seiner Brust spannte, wenn den Brustkorb hob und senkte. Jedes Mal überkam ihm die Befürchtung, dass sie wieder anfing zu bluten. Die feinen Schnitte an seiner Hand brannten, was das unangenehmste war. Ein Gähnen entfuhr ihm. Müde rieb er sich über die Augen. Was tat er hier eigentlich? Er sollte in seinem Bett liegen und sich schonen oder auf der Krankenstation, wie der Arzt es eigentlich angeordnet hatte. Sein Magen knurrte. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen und getrunken? Das muss vor zwei Tagen gewesen sein und das war auch nicht viel gewesen. Innerlich schüttelte Ronald Knox nur den Kopf. In der Stellenbeschreibung stand nicht, dass er sich für den Job als Ausbilder kaputt arbeiten musste und sich selbst vernachlässigen. Er hatte sich die Arbeit wesentlich einfacher vorgestellt. Wenn seine blonden und schwarzen Haare grau werden würden, würde ihn das nicht sonderlich verwundern oder wenn sie anfingen auszufallen. Aber was tat man nicht alles für eine Person, die man liebte? Wer hätte aber ahnen können, dass er sich ausgerechnet in seinen Schützling verlieben würde? Wenn er das vorher gewusst hätte, hätte er es sich drei mal überlegt, ob er William T. Spears auf die Arbeit ansprechen sollte. Was hatte ihn an diesem Tag nur geritten? Ronald wusste genau, was ihn geritten hatte beziehungsweise eher wen. Ihr Name war Layla und sie war unglaublich gewesen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sein Büro abgeschlossen hatte und sie sich auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Ihr Körper war vor Erregung ganz heiß gewesen und sie hatte es kaum erwarten können. Sie hatte es genauso gut verstanden wie er, das Leben zu genießen. Doch mehr wie dieses eine Mal in seinem Büro war nie daraus geworden. Aber dafür hatten es nicht nur auf seinem Schreibtisch getan. Das Sofa hatte sich auch als praktisch heraus gestellt und Layla sich als sehr wendig und dehnbar. Ebenso schien sie sehr gerne oben auf zu sein. Ronald konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie ihre Hüften auf ihn hatte kreisen lassen. Ihre hochgesteckten Haare hatten sich gelöst und sind ihr auf den Rücken gefallen. Ihre Brüste waren im selben Rhythmus auf und ab gewippt, wie sie sich auf ihn bewegt hatte. Kaum hatte sie nach dieser kurzen gemeinsamen Zeit sein Büro mit noch immer zerzausten Haaren und unordentlicher Kleidung verlassen, war er zur Ausrüstungsabteilung gegangen, um seine Death Scythe zu holen. Die Glücksgefühle mussten in ihm immer noch nachgewirkt haben, denn als er die Schülergruppe gesehen hatte, war in ihm der Wunsch entstanden, auch jemanden zu haben, den er unterrichten konnte. Wer hätte ahnen können, dass dieser jemand eine Frau sein würde, in die er sich auch noch verlieben und das so viele Probleme mit sich bringen würde? Auf der anderen Seite hätte er diese Gefühle nie erfahren, die er jetzt empfand, wenn das nicht geschehen wäre. Die Erinnerung an diesen Sex ließ ihn direkt ein schlechtes Gewissen bekommen und an Lily denken. Wie erging es ihr wohl bei dem Alten? Der Gedanke daran, dass sie bei ihm gegen ihren Willen festgehalten wurde, ließ ihn innerlich aufbrodeln. Am liebsten hätte er seine Death Scythe genommen und wäre nach London gestürmt um sie zu suchen. Doch die Wunde auf seiner Brust erinnerte ihn jedoch daran, was beim letzten Mal passiert war. Diese Schmach und Niederlage steckte noch immer in seinen Knochen. Was erwartete er eigentlich? Es war noch nicht mal ganz zwei Tage vergangen, seitdem er mit dem Alten gekämpft hatte. Natürlich lag ihm das noch nahe in Erinnerung. Ronald wandte den Blick von der Maserung des Tisches ab, auf den er die ganze Zeit stumm gestarrt hatte. Das viele Rot in dem Zimmer ließ ihn fast farbenblind werden, aber es passt zu seinem Kollegen. „Was kann da schon schief gehen?“, fragte Eric Slingby halblaut in die kleine Runde. Eigentlich wusste Ronald die Antwort schon, noch ehe sie jemand aussprechen konnte. „Alles“, gab Grelle zurück und bestätigte damit seine Gedanken, als ob er sie gelesen hätte. Sein Kollege hatte sich im Sessel zurück gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Zusammen mit Alan und Eric saßen sie bei Grelle im Zimmer und berieten sich, was sie tun sollten. Tatenlos herum sitzen wollte niemand. Aber keiner wollte sich gegen Williams Anweisung wiedersetzen. Doch die Besprechung des Abends ließ deutlich erkennen, dass er vorhatte ein anderes Team nach London zu schicken. Alan und Eric waren bei ihm aufgetaucht mit dem Vorschlag, dass sie sich alleine auf die Suche machen würden. So saßen sie bereits seit einer Stunde in Grelles Wohnzimmer und diskutierten über die Folgen und Gefahren, die diese Handlung mit sich bringen würde. Genervt spielte Ronald mit dem Saum seines Jacketts. Es fiel ihm schwer ruhig zu bleiben und nicht seine Death Scythe zu schnappen und kopflos und ohne Plan auf die Jagd nach dem Bestatter zu gehen. Bisher hatte er sich gut zurück halten können, doch die Frage war, wie lange er sich noch gedulden konnte, bevor ihm die Geduld riss. Normalerweise war er froh, um diese Zeit noch schlafen zu können und keine Überstunden zu leisten und der Gedanke daran, sollte ihn sehnsüchtig aufseufzen lassen. Doch die bloße Vorstellung daran, dass er untätig herum sitzen und seine Wunden lecken sollte, anstatt auf die Suche nach seiner Schülerin zu gehen, ließ ihn hibbelig werden. Auch wenn William es ihm noch nicht wieder erlaubt hatte die Arbeit zu machen, so nannte er Lily immer noch seine Schülerin. Obwohl er wusste, dass es für ihn besser war, wenn sie es nicht wäre. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden die Arbeit mit ihr aufzugeben. Ronald sah zu Alan und Eric, denen er die Sitzung zu dieser nächtlichen Stunde zu verdanken hatte. In dem Blick seines älteren Kollegen konnte er den Drang deutlich sehen gegen den Shinigami zu kämpfen und auch bei Alan konnte er die angespannte Haltung ausmachen. Allen in der Runde juckte es nach einer Revanche. Niemand wollte die Schmach auf sich sitzen lassen. Bei dem Gedanken an den letzten Kampf verkrampfte sich sein Körper und Ronald spürte, wie sich die Haut um die Narbe spannte. Das undeutliche Brummen von seinem Kollegen Grelle riss ihn aus den Gedanken. Sein rothaariger Kollege spielte mit den Spitzen seiner Haare und betrachtete sie interessiert. „Wir sollten nur vorsichtig sein, wenn wir uns schon auf dem Alleingang begeben.“ „Kollege, bist du krank?“, fragte Eric überrascht. „Wieso krank?“, fragte Grelle verwirrt und sah von den Haaren auf. „Weil du doch sonst gerne Risiken eingehst.“ „Ich denke nur an den letzten Kampf“, antwortete der rothaarige Shinigami, „Der Alte war damals schon nicht zu unterschätzen und er hat scheinbar nichts von eingebüßt.“ „Wie meinst du das?“, fragte nun Alan. „Nichts“, antwortete er schnell und ließ seine Haare in Ruhe. „Worauf warten wir noch?“, fragte Eric kampflustig. „Der Kerl wird nicht von alleine hier anspaziert kommen und sich zum Kampf stellen, oder? Wenn wir weiter hier rumsitzen, kommen wir auch zu keinem Ergebnis und Miss McNeil taucht sicherlich auch nicht von alleine auf.“ „Irgendwann wird er auftauchen. Der spaziert hier doch ständig ein und aus“, erwiderte Grelle. „Woher weißt du das?“, fragte Ronald überrascht und es war das erste Mal, dass das Gespräch seine volle Aufmerksamkeit galt. „Ich hab ihn schon öfters mit William gesehen und wie sie geredet haben“, gab er zurück und zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Wir könne hier doch nicht einfach tatenlos zusehen!“, rief Eric aufgebracht und sprang vom Sofa auf. „Was ist los mit dir, Sutcliffe? Willst du ihn einfach so davon kommen lassen und einen Kollegen im Stich lassen?“ Grelle sprang nun ebenfalls wütend von seinem Platz auf und funkelte Eric wütend an. „Wo lass ich einen Kollegen im Stich?“, brauste er aufgebracht los, „Ich hab mich für McNeil genauso eingesetzt, wie unser verliebter Grünschnabel hier! Mir so etwas zu unterstellen, ist ja eine absolute Unverschämtheit von dir, Slingby! Ich will diesen alten Zausel genauso fertig machen wie ihr. Aber ihr habt absolut keine Ahnung, was auf euch zukommt!“ „Dann mach gefälligst den Mund auf“, schrie nun Ronald sauer und funkelte Grelle wütend an. „Also…“, gluckste Grelle herum und spielte nervös mit seiner Schleife. „Wir hören, Kollege!“, sagte Ronald ungeduldig und wippte mit dem Fuß. „Das ist doch egal, woher ich das weiß! Ich weiß eben, dass er ganz schön was auf dem Kasten hat!“ „Das haben wir schon bemerkt!“, gab er sarkastisch zurück und ging ungehalten durch das Zimmer. „Ronald, hör auf mit diesem rumlaufen! Das macht mich wahnsinnig!“, fauchte sein rothaariger Kollege wütend, nachdem er ein paar Minuten ziellos von einer Ecke in die andere gewandert war. „Lass den verliebten Jungen in Ruhe, Sutcliffe! Er macht sich eben Sorgen um sein geliebtes Schätzchen!“ „Willst du es nicht noch an die Pinnwand hängen, dass ich sie liebe so laut wie du brüllst“, fuhr Ronald Eric entrüstet an. „Brüll mich nicht an, Jungchen, Grelle ist hier derjenige, der nicht den Mund aufkriegt!“ „Was hab ich jetzt damit zu tun, dass unser Ronnilein verliebt ist?“ „Wollt ihr mich noch ins Grab bringen oder wieso kreischt ihr das so laut heraus?“, schrie Ronald, „Wollt ihr das nicht direkt an Williams Büro pinnen, damit es jeder weiß und sieht?“ „Weiß das nicht eh schon jeder durch Carry?“, fragte Alan mit ruhiger, aber genervter Stimme „Fang du jetzt nicht auch noch an!“ „Du hättest es uns eben nicht erzählen sollen“, sagte Grelle und streckte ihm gleichgültig die Zunge raus. „Erzählt?“, fuhr er seinen Kollegen an. „Ich habe euch gar nichts erzählt. Ihr habt es doch alleine rausgefunden!“ „Durch dein Verhalten“, fügte Eric hinzu. „Was?“, rief er entsetzt. „Ja, natürlich“, bestätigte Alan, „Deine glänzenden Augen, deine Schreckhaftigkeit, wenn bloß ihr Name fällt, dein Desinteresse an Frauen…Das alles sind Hinweise.“ „Großartig“, murmelte Ronald. „Wirklich tolle Freunde habe ich da“ „Ich weiß, wir sind die besten der Welt!“, zwitscherte Grelle mit einem Augenzwinkern. Ronald war sich nicht sicher, ob sein Kollege das ernst gemeint hatte oder ob er ob es ironisch gemeint war. Er schüttelte den Kopf und ging zum Fenster. Ronald schob die Vorhänge ein Stückchen zur Seite und betrachte die Morgendämmerung. Ein lautes Seufzen verließ ihn. „Was soll ich denn machen?“, fragte er verzweifelt. „Ich liebe sie nunmal.“ „Das wissen wir“, sagte Eric. Diesmal klang seine Stimme nicht mehr nach Arschloch. „Wir stehen dir auch bei.“ Alan und Eric wechselten einen kurzen flüchten Blick miteinander. „Ronald, ich habe dir neulich schon gesagt, dass wir dir beistehen und ich versteh dich auch sehr gut. Aber so kommen wir definitiv nicht weiter. Irgendwas müssen wir uns auch einfallen lassen, damit es geheim bleibt.“ „Wie meinst du das?“, fragte Ronald skeptisch. „Wenn wir es schon so leicht rausgekriegt haben, dass du bis über beide Ohren verliebt bist und Schmetterlinge im Bäuchi hast, dann wird es den anderen auch auffallen. Willst du das die Gerüchteküche wieder brodelt?“, fragte Grelle mit ernster Stimme. „Natürlich nicht!“ „Also müssen wir uns was einfallen lassen, wie es geheim bleibt, dass Lily deine heiße Liebe ist“, zwinkerte er Ronald zu. Der jüngste Shinigami seufzte auf. „Was ist, Ronald?“, fragte Alan besorgt. „Bevor ihr zu mir gekommen seid, hat mein Telefon geklingelt“, fing er an und lehnte sich zurück. „Meine Mutter war dran und scheinbar hat Carry rausgefunden, wie sie sie erreichen kann und hat sie über die Umstände informiert.“ „Deine Mutter?“, fragte Alan verwirrt und zog die Augenbrauen zusammen. „Ich dachte, deine Mutter wäre schwer erkrankt und lebt inzwischen nicht mehr?“ „Scheinbar doch noch und sie kommt hierher“, beende er den Satz und konnte fühlen, wie sich sein Magen verkrampfte bei der Vorstellung ihr wieder gegenüber zu treten. „Oh nein“, entfuhr es Alan. „Wieso ist das so schlimm?“, fragte Grelle verwirrt und sah zwischen Ronald und Alan hin und her. „Ich drücke es mal höflich aus. Meine Mom und ich haben kein gutes Verhältnis zueinander. Ich habe auch seit Jahren nichts mehr von ihr gehört. Mein letzter Stand war, dass sie schwer krank sei und vielleicht nicht mehr lange leben wird. Das habe ich auch nur durch den behandelnden Arzt erfahren.“ Er konnte hören, wie seinem Kollegen der Atem stockte. „Das heißt, du brauchst dein kleines Schätzchen an deiner Seite, das dir ein wenig halt gibt“, meinte Grelle grinsend. „Auch wenn du es abstreitest.“ „Meine Mutter wird das Ganze noch verschlimmern und Lily würde gar nichts mehr mit mir zu tun haben wollen!“ „Aber wenn McNeil nicht da ist, würde es doch nur unterstreichen, was Carry deiner Mutter erzählt hat und so wie du drauf bist, würde sie sofort merken, dass du sie liebst. Also wäre es gut, wenn wir sie wieder hier her holen“, lenkte Eric ein. „Also gut, gehen wir sie holen. Ich könnte eh nicht länger rumsitzen und sie bei dem Kerl lassen.“ Ronald stand auf und streckte sich, dass seine Knochen knackten. Die anderen taten es ihm nach und standen auf. Wortlos gingen sie in den Flur und verließen leise das Wohngebäude. Stumm und ohne ein Wort zu sagen, gingen sie durch den Garten. „Hei ihr da!“, rief eine Stimme und Ronald zuckte zusammen. Langsam dreht er sich mit den anderen um und erblickte einen blonden, jungen Mann, der auf sie zukam. Er hatte ihn noch nie gesehen und der Mann schien auch in keiner Stimmung zu sein für einen kurzen Plausch. „Wer sind Sie?“, fragte Eric und trat als einziger näher an den Mann heran. „Das geht Sie nichts an!“, fauchte er zurück. „Ich suche Ronald Knox!“ Ronald zuckte zusammen und die Blicke seiner Kollegen fielen auf ihn. Abwehrend hob er sofort die Hände. „Ich weiß nicht, wer er ist. Ich kenne dieses Mann nicht!“ Der blonde Mann ging auf ihn zu und packte ihn am Kragen. „Wo ist sie?“, fragte er wütend. „Wo ist wer?“, fragte er verwirrt und schluckte schwer. „Lily!“, rief er, „Lily McNeil! Wo ist sie?“ „Jetzt lassen Sie meinen Kollegen los und erzählen uns erst einmal, wer Sie sind!“, ging Grelle dazwischen und brachte den Mann dazu, dass er den Hemdkragen von ihm los ließ. „Mein Name ist Michael“, antwortete er, „Ich suche Lily.“ „Warum suchen Sie sie?“, fragte Ronald skeptisch und richtete seine Kleidung wieder. „Weil sie verschwunden ist und ihr anscheinend unfähig seid sie zu finden“, gab Michael genervt zurück. „Ich bin immer noch ihr Mentor und ich mache mir auch Sorgen!“, gab er genervt zurück, „Wir sind zudem gerade auf der Suche.“ „Aber ohne Erfolg!“ „Der Erfolg kommt noch“, antwortet Eric für Ronald. „Dann müsst ihr euch aber ranhalten.“ „Wieso?“, fragte Ronald verwirrt und legte die Stirn in Falten. Was würde jetzt nur wieder für eine Katastrophe auf ihn zukommen? Konnte er sich irgendwann auch mal wieder ausruhen? „Ihr habt ja keine Ahnung, was passieren wird, wenn sie nicht in ein paar Stunden hier sitzt!“ „Vollständige Antworten sind wohl nicht Ihr Ding, was?“, fragte Grelle genervt. „Hör mal, Schnuckelchen, ihre Eltern sind hierher auf den Weg und wenn Lily nicht hier ist bevor sie eintreffen, ist hier die Hölle los!“ „Damit wird unser Abteilungsleiter schon fertig“, antworte Alan ruhig. Ronald warf einen Blick zu Grelle, der bei dem Wort „Schnuckelchen“ ungewöhnlich ruhig geworden war. „Ihr kennt ihre Eltern nicht!“ „Ich habe keine Angst“, sagte Ronald gelassen und klang ruhiger als er sich fühlte. Er hatte noch nie ein Elterngespräch geführt und wusste auch nicht, was auf ihn zukam. Bisher hatte er nur auf der anderen Seite als Schüler gesessen, nie als Lehrer. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Erst recht nicht bei wütenden Eltern, die ihm die Hölle heiß machen wollten, weil ihr Kind verschwunden war. „Ihr Vater wird dir den Arsch aufreißen, Junge!“ „Moment mal!“, mischte Alan ein. „Ronald hat nichts Unrechtes getan! Er hat alles getan, um sie zu retten und ein guter Mentor zu sein!“ „Das seh ich anders.“ „Wieso?“, fragte er skeptisch. „Weil Lily erst vor kurzem bei mir heulend auf dem Sofa saß und sich deinetwegen die Augen ausgeweint hat! So toll kannst du also nicht sein!“ Ronald zuckte unter den Worten zusammen. Sie fühlten sich wie ein Peitschenhieb an. Er wandte den Blick ab. „Das tut mir leid und das lag auch nicht in der Absicht als ich mich so entschieden hatte.“ „Wer es glaubt!“, gab er abfällig zurück und klang dabei wie Lily, als er versucht hatte mit ihr zu reden. „Vielleicht können Sie uns ja sagen, in welchem Verhältnis Sie zur Schülerin unseren Kollegen stehen“, lenkte Alan sachlich ein, „Denn wir dürfen keine Auskünfte an Fremde Personen heraus geben.“ Der Mann mit dem Namen Michael schüttelte nur den Kopf. „Ist das jetzt so wichtig? Ist es nicht viel wichtiger, dass wir sie finden?“ Ronald nickte. Er war einer Meinung mit diesem Mann. Sie sollten nicht länger herum stehen und die Zeit mit unnötigen Diskussionen verschwenden, sondern sich auf den Weg machen, ehe die anderen Shinigamis sich auf den Weg zur Arbeit machten und man sie entdecken würde. „Dann sollten wir jetzt gehen“, sagte er selbstsicher und nahm seine Death Scythe. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde McNeil schon finden.“ „Träumen Sie weiter“, protestierte Michael, „Ich werde mitgehen.“ „Das kommt nicht in Frage!“, fuhr Ronald ihn an. Dieser Mann raubte ihm am frühen Morgen schon die Nerven. Als wäre die ganze Situation nicht schon schlimm genug. „Und wieso nicht?“ „Weil Sie ein Zivilist sind! Wir werden bestimmt keinen Zivilisten mit in die Menschenwelt nehmen! Es ist schlimm genug, dass sich meine Schülerin dort aufhält und schutzlos ist!“ „Ich bin aber weder eine Frau, noch Lily, noch bin ich schutzlos!“ „Sie haben aber keine Ahnung von der Menschenwelt und wie man sich dort unauffällig benimmt!“ Ronald bohrte Michael seinen Finger in die Brust und starrte zu ihm herauf. Es war ihm egal, dass er um einen ganzen Kopf kleiner war. „Ich komme mit, Kleiner, damit basta!“ „Das kommt nicht in Frage!“, fuhr er ihn an und strich sich wütend einen Haarwirbel aus dem Gesicht. Genervt massierte sich Ronald die Schläfe. So musste sich William nach jeder Diskussion mit Grelle fühlen. „Hören Sie, es wäre wirklich besser, wenn Sie hier bleiben. Es könnte gefährlich werden“, mischte sich Eric ruhig ein. „Ich habe keine Angst.“ „Das ist uns allen bewusst, aber nicht einmal wir kennen die genaue Stärke unseres Gegners und hatten Probleme mit ihm. Wir möchten nicht, dass Sie ein Risiko eingehen.“ Auch wenn Erics Stimme ruhig klang, konnte Ronald an seinen angespannten Schultern sehen, wie dieser Mann auch ihm Nerven kostete. Verstohlen warf er einen Blick zu Grelle, der zu Boden sah und ungewöhnlich still war. Unauffällig sah er in die Richtung des Gartenweges, der zum Pavillion und damit zum Portal führte. Sie mussten sich beeilen. Die Wache würde bald ihre Ablösung bekommen und das war ihre einzige Chance in den nächsten acht Stunden unbemerkt durch das Portal zu kommen. „Hören Sie, wir haben es eilig und wir können keinen unerfahren Zivilsten mitnehmen. Ende der Diskussion!“, sagte Ronald streng und wandte sich zum Gehen um. „Jetzt warten sie gefälligst!“, rief Michael. „Ich habe noch immer ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen!“ Ronald seufzte genervt. Musste er jetzt wieder eine Schimpftirade über sich ergehen lassen, dass er versagt hatte? Er drehte sich halb zu Michael um. „Was?“, fragte er mit tiefer und ungehaltener Stimme. „Wollen Sie mir jetzt auch sagen, was ich doch für ein Scheißkerl bin? Wenn ja stellen Sie sich hinten an. Da gibt es noch ein paar Leute vor Ihnen. Ich habe diese Predigt jetzt zudem mehr als einmal gehört und so langsam kommt es mir zu den Ohren raus! Wenn Sie also nichts mehr weiter zu sagen haben, gehen Sie und wir können ein Fachgespräch später führen, wenn ich meine Schülerin zurück gebracht habe und dafür gesorgt habe, dass sie unverletzt und bei bester Gesundheit ist.“ „Das wollte ich nicht sagen. Das wirst du dir von ihrem Vater noch anhören müssen.“ Michael hob abwehrend die Hände und grinste ihn herausfordernd an. „Was dann?“ „Wenn ihr was passiert, kriegst du es mit mir zu tun, Grünschnabel!“ „Wollen Sie mir drohen?“ Ronald hob skeptisch eine Augenbraue und musterte den Mann vor sich. Er war groß gebaut und muskulös, aber sicherlich nicht so flink und wendig wie er. „Nein, nur klare Verhältnisse schaffen.“ „Was für Verhältnisse?“ „Lily steht mir näher als du es je sein wirst, Kleiner. Du wirst immer nur ihr Mentor sein oder ihr Arbeitskollege und ich sehe es nicht gerne, dass solche Kerle wie du so mit ihr umspringen. Behandle Sie also anständig!“ „Das tu ich.“ Michael schnaubte abfällig und sein Blick fiel auf Grelle, der inzwischen etwas abseits stand und kein Wort mehr von sich gegeben hatte. „So wie dir auffällt, dass dein rothaariger Kollege die ganze Zeit so still ist, zu Boden starrt und aussieht, als hätte er einen Geist gesehen?“ Er warf einen Blick zu Grelle, der zusammen gezuckt war. „Mir geht es gut!“, sagte er schnell und hob abwehren die Hände. „Ach wirklich, Schnuckelchen? Du bist ganz blass um dein Näschen!“ „Ja, mir geht es gut!“, beteuerte er weiter. Ronald schüttelte genervt den Kopf. „Wir müssen gehen. Grelle, wenn es dir nicht gut geht, bleib hier.“ „Ich habe doch gesagt mir geht es gut. Ich bleibe auf keinen Fall hier!“, brauste er wütend auf. Ronald nickte nur streng. Es war nicht seine Art so kalt und unhöflich zu sein, aber dieser Michael hinderte ihn daran seine Schülerin zu retten. Er hatte sich nicht so früh am Morgen aus dem Bett gequält und gefühlte Stunden mit seinen Freunden gesprochen, nur um sich dann aufhalten zu lassen von seinem Vorhaben. Dieser Mann würde ihn nicht daran hindern in die Menschenwelt zu gehen. „Dann gehen wir jetzt!“ Ronald wandte sich ein letztes Mal Michael zu. „Ach ja, Michael, im Gegensatz zu Ihnen habe ich zu tun und nicht die Zeit um mich mit Ihnen zu streiten. Wenn Lily Ihnen wirklich viel bedeutet, dann stören Sie unsere Ermittlungen nicht. Noch etwas, ich habe Ihnen nicht erlaubt mich zu Duzen und jetzt gehen Sie vom Gelände der Society. Ich bin sicher, Lily wird Sie informieren, wenn sie zurück ist.“ Ronald dreht sich um und ging mit den anderen in die Richtung des Pavillons. Er konnte Michael noch etwas murmeln hören von „Grünschnabel“, „keine Umgangsformen“, „unhöflich“ und „kann noch was erleben“. Er schüttelte den Kopf. „Ach übrigens, netter Arsch!“, rief Michael ihnen nach und Ronald drehte sich abrupt noch einmal zu ihm um. Michael hatte ihnen jedoch inzwischen den Rücken zugewandt und ging zum Eingang zurück. Vermutlich würde er warten bis sie zurück waren oder William die Hölle heiß machen, dass er ihn abgewimmelt hatte. Er schüttelte den Kopf und drehte sich wieder um und ging unbeirrt weiter. Seinen letzten Kommentar verstand er jedoch nicht wirklich und vor allem fragte er sich, an wen er gerichtet war. Wenn dieser Michael mit Lily zusammen war, warum rief er einem von ihnen so etwas nach? Wer war dieser Mann? Ein lauten Quieken riss ihn aus den Gedanken und er schaute schnell zu Grelle, der rücklings auf dem Boden lag. „Was machst du da, Kollege?“ Grelle grinste ihn breit an und schaute aber gleichzeitig etwas gequält vor Schmerz. „Grelle, du hast glaube ich den Sinn der Mission nicht verstanden“, meinte Eric scherzend, „Du sollst nachher den Shinigami zu Boden bringen und nicht dich schon im Vorfeld bevor wir überhaupt da sind!“ „Bin gestolpert…“, nuschelte er verlegen und richtete sich wieder auf. „Wieso bist du gestolpert?“, fragte Alan verwirrt. „Stein nicht gesehen…“ „Wie konntest du so einen großen Stein übersehen?“, fragte Ronald und deutete auf den unübersehbaren Stein. „Das war keine Absicht.“ „Hast du etwa Michael auf den Arsch geglotzt?“, neckte Eric ihn mit einem breiten Grinsen. „Nein!“, kam die prompte Antwort. „Ja, ja, natürlich nicht…“, murmelte Ronald und verschränkte die Arme. „Als ob du das bei deiner Lily noch nie gemacht hast!“ Er zuckte mit den Schultern. „Davon bin selbst ich nicht frei gesprochen“ Natürlich hatte er ihr schon auf den Hintern geguckt und auch aufs Dekolleté. Aber welcher Mann, egal ob Lehrer oder nicht, würde das nicht tun? „Aber ich finde es großartig, wie laut du es doch über das Gelände schreist, wohin ich doch meiner Schülerin gucke!“, fuhr er ihn an und sah sich zur Sicherheit um, ob jemand sie gehört haben konnte. Michael war auch nicht mehr in Hörweite. Erleichtert atmete er auf. Das würde ein stressiges Jahr werden, wenn Grelle so weiter machte. Seine Lizenz als Mentor würde er noch komplett verlieren, wenn William das hörte. Grelle richtete sich auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und dem Mantel und ging weiter. „Wir sollten uns beeilen!“, mahnte er und ging mit schnellen Schritten zum Pavillon. Seine Death Scythe wog schwer in der Hand, aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Sie hatten genug Zeit vertrödelt und mussten sich beeilen, ehe die Wache sich ablösen würde. Wenn er Pech hatte, hatten sie die Ablösung sogar schon verpasst. Bei dem Gedanken beschleunigten sich seine Schritte und kurz vor der Brücke hielt er erst inne. Seine Freunde waren dicht hinter ihm und sie versteckten sich alle hinter ein kleines Gebüsch. Der Wachmann sprach mit einem Kollegen die Geschehnisse ab. Sie waren also noch pünktlich, aber sie musste über die Brücke gehen und in die Mitte des Pavillons gehen, um durch das Portal zu gelangen. Aber sie mussten beide Wachmänner ablenken, um ungestört dorthin zu gelangen. Die Kühle des Morgens ließ ihn frösteln und war ein sicheres Zeichen dafür, dass bald der Winter kommen würde. Der kalte Wind biss ihn in die Haut und Ronald rieb sich kurz über die Arme. Verstohlen sah er sich nach einer Ablenkungsmöglichkeit um. Der Pavillon und der Garten waren so ruhig, wie er es noch nie erlebt hatte. Nirgendwo war auch nur ein Hauch einer Bewegung auszumachen. Selbst die Wachleute standen zu zweit vor dem Portal und unterhielten sich leise. Vorsichtig warf er einen Blick zurück zum Wohngebäude und konnte in den Fenstern einzelne Lichter ausmachen. Das Trommeln von Schritten auf dem Steg ließen seine Aufmerksamkeit zurück zu den Wachleuten lenken. „Wie geht es jetzt weiter?“, zischte Grelle leise. „Wir müssen sie irgendwie ablenken und uns vorbei schleichen“, gab Eric leise zurück. „Schaut mich nicht so an!“, gab Grelle zurück, als die Blicke auf ihm ruhen bleiben. „Soll ich mich etwa in einen Bikini schmeißen und Hula tanzen?“ „Wäre eine Möglichkeit“, antwortete Ronald trocken. „Das kommt nicht in Frage!“ „Hast du eine bessere Idee?“ „Steine werfen geht nicht, genauso wie jemanden von uns wild durch die Gegend rennen lassen“, überlegte Alan. „Wir müssen zusammen bleiben.“ „Es wird echt knifflig, wenn wir alle ungesehen durch das Portal wollen“, meinte Eric. „Warten wir bis die Wache ihren Rundgang macht. Dann haben wir vielleicht eine Chance ungesehen hindurch zu schlüpfen.“ „Ron, das ist zu Riskant!“, meinte Grelle. „Aber unsere einzige Chance!“, gab er ungehalten zurück und schlich ein wenig näher an die Wachen heran, die den Steg verließen und sich aufteilten, um die Runde um den Pavillon zu gehen. Erleichtert, dass das Gebüsch nicht raschelte, als er sich darum schlich und auf die offene Wiese ging, schutzlos den Blicken der Wachleute ausgeliefert. Ronald schulterte seine Death Scythe und lief zum Steg. Ungehalten winkte er seine Freunde heran näher zu kommen. Sein Herz pochte schnell und er zitterte ein wenig vor Anspannung. Er hatte große Mühe ruhig zu bleiben und nicht wild über den Steg zu laufen. Das Adrenalin rauschte in seinen Adern. „Komm schon, beeilt euch“, zischte er ungehalten und nervös. Er sah sich um. Die Wachmänner waren noch immer in Sichtweite und sie konnten jederzeit entdeckt werden. „Ronald, spiel dich nicht so auf, als wärst du der Anführer dieser Mission!“, sagte Grelle im vorbei gehen. Ronald knurrte. „Tu ich nicht, aber ich will Lily zurückholen und jetzt sei leise. Wir sind noch nicht durch das Portal!“ „Nein, aber in ein paar Metern“, erwiderte er und ging über den Steg. „Grelle, deine Schuhe!“, zischte Eric. „Was ist damit?“, fragte er genervt. „Sie sind so laut beim Gehen!“, antwortete Ronald. Genervt verdrehte Grelle die Augen. „Als ob die Wachen das hören!“ „Natürlich, wenn du weiter so trappelst wie ein Pferd!“, erwiderte Eric. „Ich bin kein Pferd!“, brauste Grelle empört auf. „Halt!“, rief jemand laut von der anderen Seite des Ufers. „Alle zusammen sofort stehen bleiben!“ „Großartig, Grelle, jetzt hast du es geschafft!“, knurrte Ronald ihn genervt und wütend an. Gleichzeitig hörte er Erics laute und drängende Stimme. „Lauft! Los, Leute, lauft!“ Ronald setzte sich mit den anderen Bewegung. Sein ganzer Körper zitterte noch stärker. Sie waren gesehen worden. Sie hatten die Wachleute auf den Hals und wenn sie es nicht durch das Portal schafften, würden sie sie verhaften und zu William bringen. Dann würden sie alle in den nächsten vier Wochen nicht mehr aus ihrem Zimmern können. Dann würde er gar keine Chance mehr haben Lily zu finden und wäre erst Recht zum Nichtstun verdonnert. Das konnte er nicht zulassen. Sie mussten es durch das Portal schaffen. Nur so hatten sie eine Chance noch ein wenig zu suchen, ehe William ihnen auf die Fährte kam. Seine Beine setzten sich in Bewegung und mit großen Schritten rannte er über den Steg. „Haltet sie! Haltet sie!“, rief einer der Wachmänner. „Stehen bleiben!“, rief der andere Wachmann. Ronald ignorierte die Worte und rannte weiter. Sein Blick verschwamm ein wenig vor Adrenalin und alles wirkte wie ein zu schnell abgespielter Film. Eric lief mit Alan an der Hand durch die Luftspiegelung, gefolgt von Grelle. Sie waren in Sicherheit. Sein Herz schmerzte in der Brust vom schnellen pochen und er hatte Mühe zu atmen. So viel Panik hatte sich noch nie in seinem Körper ausgebreitet. Fast glaubte er vor Angst zu sterben. Er versuchte schneller zu rennen und konnte die Lichtspiegelung erkennen. Ronald schloss die Augen und trat durch das Portal, konnte aber noch spüren, wie jemand versuchte ihn fest zu halten. Als er die Augen wieder öffnete, war er auf einem der unzähligen Dächer Londons gelandet. Keuchend sah er sich nach seinen Kollegen um und konnte sie hinter dem Schornstein ausmachen. Schnell setzte er sich in Bewegung und versteckte sich ebenfalls dahinter. „Das war knapp!“, keuchte er und ließ sich an den Ziegel herunter zu Boden gleiten. Er fasste sich an die Brust und konnte sein schnell schlagendes Herz fühlen. „Das war mehr als knapp“, bestätigte Eric und sein Atem ging nicht minder ruhiger. „Verdammt, Grelle, musstest du so laut sein?“, schimpfte Ronald wütend. „Wenn er mich nicht Pferd genannt hätte…“, fing Grelle an und deute wütend auf Eric. „Das bringt doch nichts!“, unterbrach Alan ihn. „Passiert ist passiert. Wir sollten lieber hier abhauen und uns auf die Suche machen nach Miss McNeil.“ „Genau, wenn ich mir unser Ronnileinchen so ansehe, kann er es kaum erwarten sie in die Arme zu nehmen.“ „Grelle, hör auf damit so zu tun, als hätte ich keine Selbstbeherrschung.“ „Hast du die überhaupt in ihrer Gegenwart?“, fragte er neckisch zurück. „Habe ich das nicht schon bewiesen?“ „Mehr schlecht als recht.“ Ronald verdrehte die Augen und rappelte sich wieder auf. „Bitte, Leute, kein Wort, wenn wir sie gefunden haben!“, flehte er. „Bitte! Ich will ihr das erst nach der Ausbildung sagen, um weiteren Ärger zu vermeiden!“ „Natürlich, das wissen wir“, sagte Eric. Ronald nickte dankbar und warf Grelle noch einen mahnenden Blick zu. „Verstehst du etwa keinen Spaß?“, fragte er auf seinem Blick hin. „Nicht was das angeht!“ Innerlich schüttelte er den Kopf. Es würde ein verdammt hartes Jahr werden, um zu verheimlichen, was er empfand. Besonders, da Grelle es wusste. Immerhin war sein Kollege nicht für seine stille Art bekannt. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn keiner von ihnen es herausgefunden hätte. Andererseits hätte er niemanden gehabt, mit dem er darüber hätte sprechen können. Aber eine Lösung sollte er sich dennoch einfallen lassen. Er erinnerte sich an Williams Worte, die er mit ihm gewechselt hatte, kurz nachdem er Lily als Schülerin bekommen hatte. William hatte ihn ausdrücklich gewarnt seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und dass er noch immer ablehnen konnte. Anstatt auf seinen ehemaligen Mentor zu hören, hatte er sich von dem Hochgefühl leiten lassen und stur die Arbeit durchgezogen. Wenn Ronald daran zurück dachte, hätte er selbst damit rechnen müssen, dass er nicht widerstehen hätte können und irgendwas mit ihr anfangen wollte. Sei es nur ein One Night Stand. Aber er hatte sich selbst überschätzt und gehofft, alles würde gut gehen. Nun hatte er den Salat. Unruhig sah er sich um und überlegte, wo sie am besten anfangen sollten mit Suchen. Jetzt wo er in der Menschenwelt war, machte sich ein nervöses Kribbeln in seinem Körper breit. War er etwa aufgeregt, weil er Lily bald sehen würde? Oder war es seine Angst sie nicht zu finden, die sich da bemerkbar machte? War das der kleine Funken Panik, den er die ganze Zeit im Körper gespürt und erfolgreich unterdrückt hatte? Ronald erinnerte sich an seine erste Liebe seines Lebens und wage kam die Erinnerung wieder. Dunkel entsann er sich daran, dass er bei ihr auch so aufgeregt gewesen war, als er sie immer gesehen hatte. Erst als er mit dem Mädchen zusammen gewesen war, hatte es Stück für Stück nachgelassen. Er musste sich eingestehen, dass Lily nicht seine erste Liebe war und dass es vor ihr schon einmal jemanden gegeben hatte, der er sein Herz geschenkt hatte. Erfolgreich hatte er jedoch diesen Abschnitt seines Lebens verdrängt. Es war zwar nicht fair dem Mädchen gegenüber, aber besser für ihn selbst gewesen. Erst nachdem er sie verloren hatte, hatte er sich mehr und mehr den schnellen und flüchtigen Nächten mit verschiedenen Frauen zugewandt. „Ron…!“, rief jemand am Rande seiner Gedanken. „Ron!“ „Ronald Knox!“ Ronald schreckte aus seinen Gedanken auf. „Was ist?“ „Wir reden mit dir!“, gab Alan ungehalten zur Antwort. „Oh tut mir leid“, entschuldigte er sich schnell, „Ich war in Gedanken.“ „Das haben wir gemerkt, Träumer!“, meinte Alan und verschränkte genervt die Arme. „Er war sicherlich bei seiner Lily“, meinte Grelle und grinste breit. „Nein war ich nicht!“ „Jetzt hört auf zu streiten!“, fuhr Alan Grelle und ihn an. „Wir haben keine Zeit zu vertrödeln und sollten so schnell wie möglich hier weg! Die Wachen werden William informieren und dann sollten wir nicht mehr hier stehen, wenn er durch das Portal kommt!“ „Wo sollen wir dann hin? Direkt zu dem Dämon Sebastian?“, fragte Ronald und sah über das Dächermeer. In einem dieser Häuser war sie und er würde sie finden. Ob mit der Hilfe des Dämons oder ohne. „Vielleicht sollten wir erst einmal am Hafen suchen, wo ihr die Spur von ihm verloren habt?“, schlug Eric vor. „Dann können wir immer noch den Dämon um Hilfe bitte. Wenn wir es alleine schaffen ist Spears vielleicht nicht ganz so sauer auf uns.“ „William wird so oder so toben. Egal, ob wir ihn fragen oder nicht“, meinte Ronald, „Also können wir genauso gut direkt zu ihm gehen.“ „Ich bin derselben Meinung wie Eric. Wir sollten zuerst zum Hafen. Vielleicht ist dort wirklich eine Spur oder er ist dort in der Nähe“, sagte Alan ruhig. „Na gut, dann lasst uns zum Hafen“, willigte Ronald ein und schulterte wieder seine Death Scythe. Gemeinsam machten sie sich über den Dächern Londons auf den schnellsten Weg zum Hafen. Der Geruch von Fischöl, Salz und brackigem Wasser kam ihm schon weitem entgegen und Ronald verzog angewidert das Gesicht. Dieser Gestank war ihm auch an dem Tag in die Nase gestiegen, als er den alten Zausel bis hierhin verfolgt hatte. Sie sprangen von einem der Dächer auf die Straße und schlichen unbemerkt in eine Seitengasse. „Da wären wir. Jetzt müsst ihr zwei uns sagen, wo der Kampf war“, sagte Eric und sah dabei Ronald und Grelle an. Ronald nickte. „Dort vorn“, er deute auf die vielen Kisten etwas weiter weg, „war das Portal durch das wir gekommen sind.“ Grelle deute auf ein Haus und dessen Seitenstraße. „Dort hat er mich in das Fass mit Fischöl geworfen.“ „Dort wo die Schiffsarbeiter sind, haben wir gekämpft“, ergänzte Ronald. „Dann lasst uns dort nach Spuren suchen. Dort haben wir am ehesten Glück.“ Eric ging aus der Seitengasse hinaus und direkt auf die Arbeiter zu. „Wird er jetzt etwa die Arbeiter befragen?“, murmelte Ronald leise. „Sieht ganz danach aus“, antwortete Alan und folgte Eric ebenfalls. „Dann lass uns in der anderen Richtung suchen und Leute befragen“, schlug er vor und Grelle nickte einverstanden. Gemeinsam traten sie aus der Gasse. Die Sonne war bereits über London aufgegangen und tauchte die Häuser in ein orange-rot. Tiefe Schatten zogen sich durch die Gassen. Die Segel der Schiffe waren zusammen gehisst und an Bord war eine ruhige Atmosphäre der Mannschaft zu spüren. Selbst die Themse, die immer grünlich schimmerte, war durch das Licht tiefblau geworden. Es herrschte an den Docks rege Betriebsamkeit. Schwitzende Träger und Seeleute liefen an Kaufleute vorbei, die um die Ware feilschten, die ausgeladen und wieder verladen werden musste. Es wimmelte von Matrosen aus den verschiedensten Ländern der Welt, die in den unterschiedlichsten Sprachen durcheinander redeten. Ronald drängte sich an zwei Arbeitern vorbei und schaute in jede Seitengasse, ob dort vielleicht ein Bestattungsschild zu sehen war. „Kollege, wo sollen wir anfangen?“ Ronald drehte sich zu Grelle um und entdeckte ihn bei einem heißen Flirt mit mehreren Seeleuten. Wütend entfuhr ihm ein Knurren und seine Augenbraue zuckte gefährlich. Genervt ging er zu Grelle zurück. „Kollege, wir haben hier was zu erledigen und keine Zeit zum flirten!“ Grelles breites Grinsen verschwand bei seinem Anblick. „Ronnie, ich führe hier eine Befragung durch! Ich arbeite doch!“, trällerte er. „Sicher doch“, antworte er ironisch. „Wenn du mit deiner Süßen flirten kannst, dann gönn mir doch ein wenig Spaß bei der Arbeit mit diesen süßen Herren!“ „Sutcliffe, ich flirte nicht mit ihr!“ „Ach Ronnie, du bist ja schlimmer als William!“ „Weil wir keine Zeit haben!“ „Hei, Süßer, beruhig dich. Wenn du eifersüchtig bist, wir haben genug Leute an Bord, die Interesse an dir haben“, sagte ein Matrose und beugte sich zu ihm herunter. „Was?“, fuhr Ronald entsetzt herum. „Du hast schon gehört, Kleiner“, sprach der Seemann weiter. „Nein, kein Interesse“, erwiderte Ronald, nachdem er sich wieder gefasst hatte. „Ich steh nicht auf Männer!“ „Schade“, hörte den Matrosen noch sagen, nachdem er Grelle am Kragen gepackt und aus der Masse gezerrt hatte. „Wieso hast du das gemacht?“, jammere Grelle und sah wehmütig zu den Männern zurück, die ihnen nachsahen und zuwinkten. „Weil du für die nur ein Lustobjekt bist!“ Grelle verzog ein wenig das Gesicht. „Wann bin ich denn schon mal so begehrt?“ Ronald verdrehte die Augen. „Kapierst du es nicht? Da Frauen an Bord Unglück bringen und allgemein als kein positives Zeichen unter Seeleuten gilt, ist es nicht ungewöhnlich, dass sie auf Männer stehen!“ Grelle gab einen entzückten Laut von sich und Ronalds Hand klatschte gegen seine eigene Stirn. Genervt schüttelte er den Kopf. „Grelle, wir sind hier um Lily zu finden!“ „Das weiß ich doch, Grünschnabel. Wie könnte ich das auch vergessen, nachdem du es so oft gesagt hast?“ „Wieso flirtest du dann mit diesen Kerlen?“ Grelle grinste breit. „Ich sagte doch, ich arbeite.“ Sein Kollege wühlte in seiner Jackentasche und zog ein Stück Papier heraus. „Schau mal, was einer der Arbeiter gefunden hat und mir überlassen hat, nachdem ich ihn ganz lieb darum gebeten habe.“ Ronald nahm das Stück Papier entgegen und schaute es sich genauer an. „Ihr Ausweis von der Society?“, entfuhr es ihm überrascht. „Na, willst du mir nicht danken für diese heiße Spur?“ Sein Kollege grinste bis über beide Ohren. „Das ist super!“ „Ich hab sogar noch mehr rausgefunden.“ „Und was?“ „Der Alte hat einen ihrer Kameraden vor ein paar Stunden mit dem Wagen abgeholt und zu seinem Geschäft gebracht.“ „Wo liegt es?“, fragte er aufgeregt. „Das konnte mir leider keiner sagen. Sie sagten nur, dass er Richtung Big Ben gefahren ist.“ „Aber immerhin ein Hinweis“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu seinem Kollegen. „Motz also nicht, dass ich ein wenig geflirtet habe. Da gibt es heißere Männer als diese“, murmelte Grelle leise, dennoch konnte Ronald es verstehen. Ronald verdrehte die Augen. Er konnte sich gut vorstellen, wen er meinte und diesen Mann wollte er unter keinen Umständen hier sehen. „Was steht ihr hier so tatenlos rum!“, rief Eric etwas sauer und kam auf ihn und seinen Kollegen zu. „Alan und ich machen Massenbefragungen und ihr steht nutzlos in der Gegend. Ich dachte, du wolltest sie finden!“ „Wir waren nicht untätig!“, fuhr Grelle Eric an. „Nein, stattdessen flirtest du mit Seemännern.“ Eric verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. „Aber Grelle hat dabei etwas rausgefunden!“, verteidigte Ronald ihn und hielt Alan und Eric Lilys Ausweis unter die Nase. „McNeils Ausweis?“, fragte Alan verwirrt. „Sie muss ihn verloren haben. Außerdem behauptet einer der Matrosen, der Bestatter hätte einen seiner Kollegen heute früh abgeholt mit dem Karren und Richtung Big Ben gefahren.“ Alan nickte. „Wir haben ein paar Arbeiter und Händler gefragt und auch einige Anwohner getroffen.“ „Und was sagen sie?“ „Sie haben einen weißhaarigen Mann vor zwei Nächten durch die Straßen laufen sehen. Er trug etwas bei sich über der Schulter und hatte eine Art langen Stab dabei.“ „Klingt nach dem Alten“, sagte Grelle. Alan nickte. „Sehen wir auch so. Aber keiner konnte uns sagen, wo sein Geschäft ist.“ „Dann machen wir uns in Richtung Big Ben auf und suchen weiter!“, sagte Ronald. „Aber wenn wir auf den Dächern unterwegs sind, entgeht und vielleicht sein Schild?“, wandte Alan ein und hielt ihn damit zurück. „Aber zu Fuß brauchen wir eine Ewigkeit!“, jammerte Grelle. „Außerdem wird er kaum zu Fuß Lily verschleppt haben!“ „Aber er kennt sich besser aus! Er wird bestimmt nicht die Hauptwege genutzt haben!“ Ronald seufzte. Es war eine schwierige Situation und eine noch schwierigere Entscheidung. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war fast acht Uhr. Sicherlich würde William schon auf sein und die Wachen würden ihn informiert haben. Ronald konnte sich gut vorstellen, wie der Chef der Seelensammlungsabteilung die Society nach ihnen auf den Kopf stellte und vor Wut kochte. Die Narbe brannte und juckte ein wenig auf seiner Brust und er hielt sich zurück sie aufzukratzen. Unruhig sah er sich um und wechselte immer wieder das Standbein, während einer seiner Füße auf und ab wippten. Seine Geduld verabschiedete sich von Minute zu Minute. Er wollte endlich aktiver suchen, anstatt immer wieder herum zu stehen und zu diskutieren. „Wenn wir zu Fuß gehen, könnten mir die Absätze abbrechen!“, jammerte Grelle weiter. „Wieso ziehst du dir dann solche Schuhe an?“, fragte Eric genervt. „Weil ich eine Lady bin!“, fauchte er zurück, „Außerdem bei langen Fußmärschen bildet sich Hornhaut und das passt nicht zu einer Dame!“ „Lily ist verschwunden! Dieser Alte stellt vielleicht sonst was mit ihr an und du machst dir Sorgen, ob du Hornhaut an den Füßen kriegst?“, fauchte Ronald genervt und ein Knurren entfuhr ihm. „Wenn dir das hier so egal ist, Kollege, dann geh zurück nach Hause!“ „Grünschnabel, maul mich nicht an, nur weil du dir in deinem Kopf irgendwelche perversen Spielchen ausdenkt, die er mit deiner armen Süßen macht!“, knurrte Grelle zurück und funkelte ihn kalt an. „Der Alte wird sie schon nicht vergewaltigen!“ „Grelle, geh nicht zu weit!“, knurrte Ronald. „Es sind nun mal Fakten, dass man von langen Märschen Hornhaut bekommt und eine Lady muss nun mal eine weiche Haut haben.“ „Dann geh nach Hause und schwärm hoffnungslos weiter William an. Ihn interessiert es eh nicht!“, schrie Ronald nun und es war ihm egal, dass er sein Gegenüber damit verletzte. „Sowie es dich nicht interessiert, dass Lily mir wichtig ist und ich sie finden möchte. Nicht nur, weil ich sie liebe, sondern weil sie auch meine Schülerin ist und ich eine Verantwortung für sie habe!“ Wütend drehte er sich um und stampfte die Straße Richtung Big Ben alleine entlang. Unaufhörlich murmelte leise Flüche. „Aber es lässt mich nicht kalt“, hörte er noch Grelle sagen, ehe er in eine Nebengasse bog und außer Sicht und Hörweite war. Es war ihm egal, dass er seine Freunde dort stehen ließ und einen Alleingang wagte. „Ronald, warte!“, rief Eric hinter ihm. Ronald ignorierte ihn und ging stur seinen Weg weiter. „Jetzt warte doch, Kollege!“, rief er und er konnte seine Schritte hinter sich hören. Ronald blieb stehen und drehte sich um. „Was ist, Kollege?“ Eric holte zu ihm auf. „Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Aber das war wirklich nicht nett von dir!“ Er seufzte. „Ihr habt keine Ahnung, wie es mir damit geht!“ „Ron, wir alle wissen, wie schwer die Situation für dich ist und was für ein schlechtes Timing das alles hat, aber du kennst doch Grelle. Von ihm können wir nur solchen Unsinn erwarten, aber du solltest vernünftiger sein.“ Wieder entfuhr ihm ein Seufzen. „Du hast ja recht, aber…“ „Aber du bist voller Sorge um sie“, beende Eric den Satz. „Nicht nur das“, gab er leise zu. „Sondern?“, fragte Eric neugierig. „Was ist, wenn ich etwas Dummes mache? Was ist, wenn ich mich nicht zügeln kann und mir etwas Dummes passiert? Was ist, wenn ich mich dann tatsächlich wie ein dummes verliebtes Schaf benehme?“ Seine Stimme klang verzweifelt und glich mehr einem Krächzen. Fast hatte er das Gefühl vor Verzweiflung gleich los zu schluchzen. Doch gegen jeglicher Erwartung baute sein Kollege ihn nicht auf, sondern lachte. „Oh Junge, du hast dich vorher schon anderen Frauen gegenüber wie ein stolzer Gockel aufgeführt. Was ist daran jetzt so beschämend, wenn du dich aufführst, wie ein verliebtes Schaf?“ Mahnend sah Ronald Eric an. „Das sie es nicht merken soll, dass ich im Moment ein verliebtes Schaf bin!“ „Solltest du dir darüber nicht erst Sorgen machen, wenn sie in Sicherheit ist?“ Ronald schüttelte resigniert den Kopf und lehnte sich an seine Death Scythe. „Eric, was ist, wenn mir doch ein Ausrutscher passiert?“ „Ich kann dir ja einen Stein an den Kopf werfen, wenn du dich wie ein verliebtes Schaf benimmst und kurz vor einem Patzer bist“, schlug Eric vor. „Einen Stein nicht unbedingt, aber mich davon abhalten wäre gut. Versprochen?“ „Versprochen!“ Schon als Eric es ihm versprochen hatte, bereute er den Deal. Denn war es nicht genau das, was er wollte? Einen kleinen Ausrutscher zwischen ihnen, um seine Sehnsucht zu stillen? Würde er dann überhaupt aufhören können? Würde das vielleicht ihr Verhältnis komplett zerstören? „Wo sind Grelle und Alan?“, fragte Ronald und versuchte das Thema schnell zu wechseln. „Sie gehen diesen Sebastian suchen. Ich dachte, ein Gespräch könnte nicht schaden.“ „Wo treffen wir uns wieder?“ „Am Hafen.“ Ronald nickte, setzte sich aber noch nicht wieder in Bewegung. In seinem Kopf spielten sich die unterschiedlichsten Szenarien durch, was passieren würde, wenn er sie wieder sah. Sein liebstes Szenario war das, wenn er sie in die Arme schließen konnte und seine Lippen langsam auf ihre legte. Etwas Hartes traf ihn nur wenige Sekunden Später an der Schulter. Eric hatte ihn mit dem Ellenbogen einen harten Schlag verpasst. „Ich hab doch gesagt, ich mach es“, gab er mit einem Schulterzucken auf seinen fragenden Blick zur Antwort. „Hab ich etwa…?“ „Ja, du hast ausgesehen wie ein verliebtes Schaf.“ Ronald seufzte. Das konnte nur besser werden. Wenn er vom Kampf nicht grün und blau wurde, dann von Erics Schlägen. „Endlich habe ich Sie gefunden!“, ertönte eine kalte Stimme. Ronald zuckte zusammen. Sein ganzer Körper spannte sich an und war kampfbereit. Eric und er fuhren zu der Stimme herum. „Verzeiht wenn ich euren kleinen Plausch störe“, fuhr William monoton fort und richtete mit einer Hand seine Brille. Leichtfüßig sprang der Abteilungsleiter vom Dach des Hauses und landete neben Eric und Ronald. „Entsandte Ronald Knox und Eric Slingby, ihnen wird verschiedene Regelverletzungen vorgeworfen!“, leierte William herunter. „Zum einen Zuwiderhandlung der Chefetage, dann unerlaubtes Betreten der Menschenwelt, Missachtung der Krankenanordnung. Des Weiteren unerlaubtes Entwenden der Death Scythe.“ Mit jedem Wort, was William sagte, zuckte Ronald immer mehr zusammen. „Mr. Spears…“, fing Eric an, wurde aber mit einem kalten und emotionslosen Blick zum Schweigen gebracht. Die kalten Augen richteten sich auf Ronald und fixierten ihn. „Zu guter Letzt noch bei Ihnen Mr. Knox, Vertuschung von Wahrheiten in einem Ermittlungsverfahren. Sie wissen ja, was die Strafe ist.“ „Sie haben es gehört?“, fragte Ronald kleinlaut und konnte schon seine Kündigung auf seinem ehemaligen Schreibtisch in seinem ehemaligen Büro sehen. „Jedes Wort und wenn man ein wenig recherchiert, ist es auch gar nicht schwer.“ „Oh Gott…“, murmelte Ronald leise und fuhr sich durch die Haare. Eric warf ihm einen bemitleidenswerten Blick zu. „Sobald wir Sutcliffe und Humphries gefunden haben, werden Sie alle vier zurück zur Zentrale gebracht und einen Rechenschaftsbericht abliefern.“ Eric stöhnte und stieß einen Fluch aus. „Das haben Sie sich beide zuzuschreiben und Sie, Mr .Knox, wir zwei reden noch ein ernstes Wort miteinander!“ „Ja, Sir“, sagte er ergeben. „Wo sind Sutcliffe und Humphries?“, forderte nun William auf zu wissen. Ronald antwortete auch nicht, auch Eric schien keine Anstalten zu machen, ihren Plan zu verraten. „Ich warte!“, knurrte William. „Sie sind auf dem Weg zu Sebastian. Diesem Dämon, von dem Sutcliffe immer redet“, gab Ronald zu. „Sie wollen von ihm den Aufenthaltsort von dem Shinigami erfahren.“ „Was?“, entfuhr es William und eine Augenbraue zuckte gefährlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)