Just Kai. von lady_j ================================================================================ Kapitel 2: #5 Schreibe aus der Sicht einer Nebenfigur über den Charakter. ------------------------------------------------------------------------- Der Junge hatte das hübsche Gesicht seiner Mutter. Je älter er wurde und je deutlicher sich seine Züge formten, desto besser konnte Voltaire es erkennen. Seine Schwiegertochter war eine äußerst schöne Frau und über fünf Ecken sogar mit seinem Sohn verwandt, weswegen er, der er für das Bestehen seines Clans sorgen musste, ihre Heirat damals eher noch vorgezogen denn verhindert hatte. Natürlich war eine solche Verbindung trotzdem legitim: Die Verwandtschaft war gerade so weit entfernt, dass man alles guten Gewissens arrangieren konnte. Kai würde seine Herkunft nie verleugnen können: Er hatte die für einen Hiwatari typischen dunklen, glatten Haare und vor allem die außergewöhnliche Augenfarbe. Doch dank seiner Mutter durfte er auf ein paar andere Eigenheiten verzichten: Normalerweise hatten die männlichen Verwandten Voltaires zum Beispiel eine ziemlich große, gebogene Nase –die seines Enkels war aber sehr gerade und wirkte vergleichsweise sogar zierlich. Außerdem hatte er deutlich erkennbare Wangenknochen, anstelle derer bei vielen anderen Familienmitgliedern ein markanter Kiefer dem Gesicht den Ausdruck verlieh. Voltaire sah noch einmal kurz hin. Ja, das waren ihre Züge. Und das machte die Erziehung dieses Bengels nicht gerade einfacher, denn wenn er mal lächelte, dann war es das unwiderstehlich charmante Lächeln der Mutter. Zugegeben, er konnte ihn auch zu ihr nach Russland schicken, sie würde sich bestimmt freuen, den Jungen öfter als zweimal im Jahr zu sehen, aber das würde die vielen Fehltritte, die er sich mit Kai schon erlaubt hatte, nicht gerade ausradieren. Sein Enkel würde ihn wahrscheinlich eher dafür hassen, dass er ihn schon wieder abschob, als sich darüber zu freuen, seiner Mutter so nah zu sein, gerade jetzt, wo sie sich wieder halbwegs zusammengerauft hatten. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, wollte Voltaire Kai auch gar nicht loswerden. Allein die Vorstellung, dann ganz allein in diesem großen Herrenhaus wohnen zu müssen… Kai ließ sich zwar auch nur allzu selten blicken, aber immerhin, er tat es. Voltaire ließ die Zeitung ein Stück sinken und blickte erneut zu dem Jungen, der an der anderen Seite des Tisches saß und scheinbar in Gedanken versunken in seinem Kaffee rührte. Kai sah mitgenommen aus. Über seine Unterarme und das Gesicht zogen sich unzählige Kratzer. Seine Haut war fahl und unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkle Ringe gebildet. Aus seinem Kragen lugte ein Stück des Verbandes hervor, der sich über den ganzen Oberkörper zog und etwas verbarg, wegen dem Kai sich nur langsam und vorsichtig bewegte. Voltaire hatte es nicht sehen können, aber er wusste, der Kampf gegen Brooklyn war der bisher schwerste in Kais Karriere gewesen. Und er hatte ihn besiegt, Volkovs Super-Blader. Natürlich machte ihn das stolz, auch wenn er verdammt froh war, erst im Nachhinein von diesem Battle erfahren zu haben. Wahrscheinlich hätte er sich unangemessen große Sorgen gemacht, hätte er alles live miterlebt. Die Folgen, die das Match auf Kais Körper hinterlassen hatte, sprachen schließlich Bände. Außerdem war Dranzer seitdem aus seinem Blade verschwunden; das hatte sein Enkel ihm erzählt. Aber die Kraft des Bit Beasts war für Kai noch spürbar, als hinge sie in der Luft, die ihn umgab, also konnte es noch nicht gänzlich fort sein, sondern wartete vielleicht nur ab und leckte seine eigenen Wunden. „Großvater?“ Voltaires Blick schärfte sich wieder. Kai hatte den Kopf gehoben und sah ihn aufmerksam an; er nannte ihn nie einfach nur „Opa“, sondern sagte immer „Großvater“, manchmal sogar „Voltaire“, wenn er ganz frech wurde. Er brummte zum Zeichen, dass er zuhörte. „Ich werde mit dem Beybladen aufhören.“ „Hm…“, machte er langgezogen. Vor seinem inneren Auge flammte die Bladerkarriere seines Enkels auf, die zu einem nicht geringen Teil von ihm bestimmt worden war. Er hatte ihm den ersten Kreisel in die Hand gedrückt, bevor er auch nur laufen konnte. Er hatte ihm täglich die Gründe aufgezählt, warum er besser sein musste, als die anderen Jungen in der Abtei. Er hatte ihm sein Bit Beast ausgehändigt. Er hatte an seinem Krankenbett gesessen, als der Unfall mit Black Dranzer passierte und er sich zum ersten Mal ernsthaft um den Jungen sorgte. Er hatte ihm eine neue Biografie gegeben, als er sich danach an nichts erinnern konnte, was in Russland passiert war. Er hatte ihm in den Hintern getreten, damit er zum japanischen Meister und später zum Teamchef der Bladebreakers wurde. Auf der anderen Seite aber hatte er ihn auch benutzt, weil er absolut unzurechnungsfähig wurde. Er hatte ihm Black Dranzer noch einmal ausgehändigt, obwohl er genau wusste, wie traumatisch die Ereignisse seiner Kindheit sich auf Kai ausgewirkt hatten. Er hatte es riskiert, das Vertrauen seines Enkels für seine hirnrissigen Pläne zu verlieren. Und damit hatte er nicht nur ihn belogen, sondern auch seine von ihm so verehrte Schwiegertochter. Die hätte es ihm nie verziehen, wenn Kai noch einmal irgendetwas zugestoßen wäre. Auch wenn sie es ihm nicht dadurch zeigen konnte, dass sie in seiner Nähe war –das Kind war ihr größter Schatz. Schließlich war ihre Ehe damals daran gescheitert. Auch daran erinnerte Voltaire sich in diesem Moment: Sein eigener, dämlicher Sohn, Susumu, hatte ihn so sehr gehasst, dass er nie Kinder haben wollte. Er wollte seine eigene Familie praktisch ausrotten. Aber da hatte er die Rechnung ohne seine Frau gemacht, die einfach aufhörte zu verhüten und prompt schwanger wurde. Zugegeben, Susumu hatte versucht, sich an das Kind zu gewöhnen. Doch irgendwann war ihm alles zu viel geworden und er war abgehauen. Im Russland der frühen Neunziger Jahre alleinerziehend zu sein, war schier unmöglich. Also wurde er, Voltaire, zum Vormund des Kleinen, denn er hatte sehr wohl die Mittel, um ihn zu versorgen. Und jetzt war es, als hätte Kai mit seinem Ausspruch diese lange Geschichte endlich beendet. Das Beybladen und die familiären Irrungen und Wirrungen, alles hing zusammen. Musste dieser Verlust nicht eigentlich ein großes Loch hinterlassen? Schließlich hatte sich Kais Leben irgendwie immer um den Sport gedreht, ob er nun wollte, oder nicht. Er war doch erst sechzehn. Doch Voltaire kam es vor, als habe sein Enkel beschlossen, den letzten Schritt zum Erwachsenwerden zu machen: Er zog einen Schlussstrich. „Bist du dir sicher?“, fragte er deswegen. „Ja“, entgegnete Kai, „Das heißt…ich werde auf keinen Fall noch einmal an einem Turnier teilnehmen. Aber mich ganz aus der Szene zurückzuziehen…ich weiß nicht, ob ich das kann.“ „Würdest du denn gerne?“ Daraufhin musste er wohl eine Weile nachdenken, denn er blieb ein paar Sekunden lang stumm. „Ja“, antwortete er schließlich wieder, „Ich…kann einfach nicht mehr…“ Nur einen Monat später waren alle Formalitäten geklärt. Der große Kai Hiwatari hatte sich vom Beybladesport verabschiedet, so lauteten die Schlagzeilen. Kinomiya war natürlich von allen am meisten schockiert gewesen und hatte versucht, seinen Vize vom Gegenteil zu überzeugen. Aber natürlich hatte Kai die ganze Sache erst erzählt, als schon alles in Sack und Tüten war. Kurz, nachdem es offiziell wurde, schlossen sich die restlichen Mitglieder von Team NeoBorg an, die Begründungen blieben vage, doch Voltaire konnte sich denken, dass ihre Motive ähnlich denen Kais waren. Doch die BBA hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, den Abschied eines ihrer Spitzenblader gebührend zu feiern. Es war zwar ein trauriger Anlass für den ersten Event der neu gegründeten Organisation, doch die Stimmung war ausgelassen. Viele der anderen Weltmeisterschaftsteams waren angereist und saßen nun in dem gemieteten Saal zusammen und schwelgten in Erinnerungen. Wo immer ein Mitglied von NeoBorg auftauchte, wurde es lautstark gefragt, warum sie denn alle unbedingt aufhören mussten, denn natürlich hatte sich diese Nachricht in Windeseile herumgesprochen. Nur Kai ließ man damit in Ruhe, was irgendwie paradox auf Voltaire wirkte, der mit den anderen Erwachsenen zusammensaß und die jungen Leute beobachtete. Man akzeptierte seinen Austritt wohl stillschweigend oder traute sich nach dem ganzen Rummel, den es deswegen schon gegeben hatte, nicht mehr, ihn noch einmal danach zu fragen. Kai saß bei einer Gruppe von Leuten aus verschiedenen Teams, doch man merkte, dass vor allem die ehemaligen Bladebreakers heute seine Nähe suchten, als ahnten sie etwas. Voltaire wusste, was Kai plante: Schon morgen würde er mit NeoBorg nach Russland fliegen, um bei seiner Mutter zu wohnen. Zumindest bis zum Schulbeginn, dann würde er wieder aufs Internat gehen und in aller Ruhe entscheiden, wo er seine Ferien verbrachte. Vielleicht brauchte er dann immer noch Abstand zu Japan und vor allem den Bladern, die hier lebten. Vielleicht konnte er aber auch schon wieder zurückkommen. Man sah ihm natürlich nicht an, dass dies vorerst sein letzter Abend in diesem Kreis sein würde. Wie immer hatte Kai ein großartiges Pokerface aufgesetzt; ein wenig zu großartig vielleicht, denn er wirkte so abweisend, wie schon lange nicht mehr. Aber die Bladebreakers hatten gelernt, damit umzugehen. Sie sprachen wild gestikulierend durcheinander und stießen ihn öfter an, womöglich sagten sie dabei so etwas wie „Hey Kai, kannst du dich daran noch erinnern?“. Er nickte ab und zu. Voltaire wandte den Blick ab und seufzte. Er durchschaute seinen Enkel zwar, doch trotz allem wusste er nicht, wie aufgewühlt er wirklich war. Aber es ging ja sogar ihm, dem eisernen Firmenchef, an die Nieren, und er war hier schließlich nur eine Nebenfigur. In einem Klatschblatt hatte er einen Artikel gelesen, in dem es pathetisch hieß, nun würde „eine Ära zu Ende gehen“. Dem musste er wohl oder übel zustimmen. Kai war seit seinem achten Lebensjahr bei der BBA registriert, ein Jahr, nachdem er nach Japan gekommen war. Seitdem hatte er auch an öffentlichen Wettkämpfen teilgenommen. Mit zwölf war er japanischer Meister geworden, und spätestens von diesem Zeitpunkt an kannte die hiesige Beyblade-Gemeinschaft seinen Namen. Mindestens vier Jahre also. Das war eine verdammt lange Zeit in dieser Szene. Er hob den Kopf, als er bemerkte, dass Kai aufstand und nach draußen ging. Die restlichen Blader sahen ihm kurz nach und steckten dann wieder die Köpfe zusammen, doch Voltaire runzelte die Stirn. Der Gang seines Enkels war etwas zu abgehackt… Er wartete noch fünf Minuten, doch da Kai noch immer nicht zurückgekehrt war, entschuldigte er sich bei Dickinson und den anderen und ging ihm nach. In den Gängen war das Licht schummriger. Das Gebäude war weitläufig; wer wusste denn, wo Kai hingegangen sein könnte? Doch Voltaire besaß den Instinkt seiner Familie: Ein Hiwatari fand einen Hiwatari meist schneller, als ihm lieb war. Darauf war bis jetzt immer Verlass gewesen. Und schließlich fand er ihn, in einer Ecke weitab der Toiletten und des Ausgangs, wo man zuerst nach ihm gesucht hätte. Kai hockte im Halbdunkel, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Oh Gott, wann hatte Voltaire den Jungen das letzte Mal weinen sehen? Irgendwann, als er klein war und sich das Knie aufgeschlagen hatte oder so. Aber nein, in der Abtei hatten sie ihm beigebracht, so geringe Schmerzen einfach über sich ergehen zu lassen. –Also als Baby? Grundgütiger. Das machte die Sache nicht einfacher. Voltaire kam sich reichlich unbeholfen vor, als er sich einfach neben Kai stellte und hoffte, dass der ihn irgendwann bemerkte. Er war seinem Enkel unwahrscheinlich dankbar dafür, dass er nicht laut herumschluchzte… Tatsächlich blickte Kai kurz darauf auf. Sein Gesicht schimmerte feucht. „Versuch jetzt bloß nicht, mich zu trösten“, sagte er und seine Stimme klang ungewöhnlich dünn. „Keine Sorge“, entgegnete Voltaire, „Ich weiß, das würde alles nur noch schlimmer machen.“ Er schürzte nachdenklich die Lippen. „Aber vielleicht könnte ich dir die Schulter tätscheln, was meinst du?“ Kai schnaubte unfreiwillig amüsiert. Also ließ sich Voltaire schwerfällig neben ihm nieder und klopfte ein paar Mal kräftig auf seine Schulter. „Danke“, kam Kais sarkastischer Kommentar, „Jetzt geht es mir viel besser.“ „Ach, halt die Klappe“, brummte Voltaire. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)